Philosophie der Muster    Buch "Atem Ich"

Klaus Neubeck

Atem-Ich

Körperliche Erfahrung, gesellschaftliches Leid

und die Heilkraft des internen Dialoges


Mit einem Vorwort von Werner Zintl

Stroemfeld/Nexus 1992 Neuauflage 2013

1. Vorwort

Zahlreich sind die Religionen, unzählig die Sekten. Alle aber beschreiten nur zwei Wege: Der eine sucht Erkenntnis, der andere die Liebe. Beide führen durch das gleiche, geheime Tor. Ist es einmal geöffnet, so entdecken wir, daß es nicht wahre Erkenntnis gibt ohne Liebe; und daß Liebe Erkenntnis ist. Das geheime Tor aber heißt der Atem. C.M.Chen

Als ich dieses Buch von Dr. Neubeck gelesen hatte, war ich froh, es nicht mehr schreiben zu müssen; ich hatte es wiederholt versucht und wegen der ausufernden Komplexität des Themas immer wieder aufgegeben. Außerdem wollte es mir nicht gelingen, jemanden zu faszinieren, der dieses Tor (im Sinne Chens) noch nicht durchschritten hat, und auf Mission wollte ich verzichten. Der Autor hat es nun versucht, und es ist ihm meines Erachtens gelungen, Zusammenhänge zu erhellen und Konsequenzen zu fordern, die leicht einzusehen sind.

Alle Atembücher, die ich kenne, sind vor allem in Bezug auf die psychischen und sozialen Zusammenhänge zu wenig differenziert. Es gibt Lehrstühle für Atemphysiologie, aber, soweit mir bekannt ist, keinen für Atempsychologie, obwohl Psyche auch Atem heißt, genauso wie Odem oder Atman. Der Atem wird in der Medizin auf ein physiologisches Problem verkürzt, in den Sozialwissenschaften überwiegend bloß therapeutisch benutzt und in der Esoterik poetisch und mythologisch behandelt. Mit dem vorliegenden Buch wird endlich der Versuch unternommen, das Defizit an wissenschaftlich orientierter psychosozialer Atemtheorie abzubauen. Dabei gelingt es dem Autor, einen Mittelweg zwischen »westlichen« und »östlichen« Atemtheorien zu finden.

Nachdem ich 1974 in eigener Primärtherapie meinen Atem als Vehikel, mich selbst wiederzufinden, entdeckt hatte, ging in meinem Bekanntenkreis das Gerücht um, ich sei verrückt geworden. Ich erlebte mich aber als authentischer und blieb bei meinen Atemübungen, die sich oft über Tage und Nächte hinwegzogen, unbeirrt, auch durch Einwände meiner Therapeuten, denn es zeichneten sich kristalline Gesetzmäßigkeiten der Seele ab, die auf so wunderbare Weise schlüssig waren; so z.B. setzte das Unbewusste nach monatelangen Pausen des »Aufatmens« immer wieder dort an, wo es offenbar wegen zu großer Schmerzhaftigkeit aufgehört hatte. Auserwähltheitsgefühle kamen wegen plötzlicher Fähigkeiten wie Hellsichtigkeit, Gedankenübertragung und verlässlicher Wunscherfüllung. Erst nach Jahren fand ich in meinem ägyptischen Sufi jemanden, mit dem ich über meine Erfahrungen reden konnte und der nicht mit Neid oder Aggression reagierte.

In meiner Arbeit als Neurologe, Psychiater und Psychotherapeut hatte ich seither Gelegenheit, den Atem in seiner sozialen Dimension, d.h. in Übertragung und Gegenübertragung, zu studieren. Unübersehbar spiegeln sich Störungen des sozialen Kontaktes in den individuellen Atemmustern: Folgt man z.B. reflexartig der Aufforderung »Halt mal gefälligst die Luft an!«, so kann das über den mangelhaften Blutrückfluss zum Herzen zu niedrigem Blutdruck und Herzrasen führen. Depressive Menschen leiden wegen quantitativ zu flacher Atmung unter Energielosigkeit, und Angstneurotiker haben wegen qualitativ trotzig-kämpferischer Atmung gegen ihre Emotionen eskalierende Panikzustände, Schwindel und andere Körpersensationen, die den medizinisch-diagnostischen Apparat ankurbeln und die Krankenkassenbeiträge hochschnellen lassen.

Nach jahrzehntelanger Erfahrung mit dem Verordnen von Psychopharmaka bin ich überzeugt, daß diese »Arzneien« lediglich aufgrund der Verhinderung des Kampfes gegen sich selbst und seine schmerzlichen Gefühle wirken (Neuroleptika, mit denen Psychotiker behandelt werden, z.B. wurden bei der Suche nach Zähmungsmitteln für Raubtiere entdeckt). Vor allem Tranquilizer, die natürlich nur von Ärzten verordnet werden, die selbst noch Angst vor der eigenen Gefühlswelt haben, unterdrücken schmerzliche Gefühle und ermöglichen damit tieferes Ausatmen, ohne von Tränen überrollt zu werden. Immer noch halten viele Ärzte Zorn für etwas Böses, Tränen oder Angst für etwas Beschämendes und Liebe in ihrer hundertfachen Variation für etwas Verbotenes.

Das Universum des Atems reicht so tief an die Nahtstelle von Leib, Seele und Geist, daß man nicht ehrfürchtig genug damit umgehen kann. Lässt man sich z.B. auf ein tiefes und schnelles Atmen ein, kommt es physiologisch zur Verschiebung des Säure-Basen-Gleichgewichts im Blut und damit zu einem extremen Stress an allen Zellmembranen des Organismus. Das Gleichgewicht von Widerstand und Abwehr kann nicht mehr aufrecht erhalten werden, so daß alte traumatische Ereignisse, sogar Geburts- und Nahe-Todeserlebnisse, reaktiviert werden. Tatsächlich benutzt z.B. Stanislav Grof seit dem LSD-Verbot den Atem als »Ersatz«. Im Vergleich zu Drogenerfahrungen sind Atemerfahrungen aber Ich-näher und damit relevanter in das Leben integrierbar.

Über die Wucht der Zusammenhänge von individuellem Leiden und Atemerfahrung kann nur jemand erschrecken, der sich auf seinen bewußten Atem im Sinne dieses Buches einlässt. Ich werde im wörtlichen Sinne selbstbewusst; an Stelle der inneren Leere, die vor allem depressive Menschen beklagen, entdecke ich mich als neuen Freund, den ich mein ganzes Leben lang behalten darf und auf den ich mich verlassen kann.

Achte ich mich so mit allen positiven und negativen Eigenschaften, mit denen ich geboren bin, bin ich eher in der Lage, auch meine Mitmenschen wirklich als Schwestern und Brüder zu achten.

Bewusstes Atmen heißt dabei nicht trotziges, kämpferisches oder manipulatives Atmen, wie es z.B. Psychotiker oder Fanatiker pflegen, um noch gewalttätiger dominieren zu können. Bei diesem Atem liegt der Schwerpunkt auf dem besitzergreifenden und hochmütigen »westlichen« Einatmen. Vielmehr geht es um das bewusste, die Naturgesetze bejahende, loslassende, eingestehende, tolerante, nüchterne, demütige »östliche« Ausatmen. Während Einatmen ein muskulär aktiver Vorgang ist, den wir bewußt gestalten können, und der damit einen hochmütigen Zugriff in die Mechanik der Schöpfung ermöglicht (»Machet Euch die Erde untertan!«), ist Ausatmen ein passiver Vorgang, der vor allem durch Elastizität von Lunge und Brustkorb gewährleistet wird. Ausatmen hat mit Hingabe, Demut, Leere und dem Eingeständnis von seelischen Inhalten, dem Akzeptieren der inneren Stimme und anderem zu tun; nur wenn wir ganz ausatmen, wird Schluchzen zu kathartischem Weinen oder kann sich ein Asthmaanfall auflösen, so wie ein Gefäß erst wieder mit neuem Inhalt gefüllt werden kann, wenn es leer ist.

Dr. Neubeck zeigt in seinem Buch, daß die Entdeckung des bewußten Atems durch das vorherrschende mechanistische Körperverständnis erschwert wird, daß aber auch geistige Anleihen an der esoterischen Atemtradition einen Irrweg darstellen. Für Menschen, die im abendländischen Denken aufgewachsen sind, kann ein bewußtes Verhältnis zum Atem nur aufgebaut werden, wenn das naturwissenschaftlich geprägte Verständnis der Atmung von innen heraus aufgelöst und mit einer revidierten naturwissenschaftlichen Atemtheorie versucht wird, die psychologischen und religiösen Einsichten über den Atem verständlich zu machen. Daraus ergeben sich Konsequenzen für ein neues Verständnis von Leib, Seele und Geist, das ein wahrhaft ganzheitliches, authentisches Denken begründen kann. Was in alten Atemmythologien als »innere Weisheit des Körpers« bezeichnet wird, kann als Ausdruck einer organismischen Selbstorganisation des Atems wissenschaftlich begriffen werden, die sich im Traum, in der Intuition, der inneren Stimme u.a. äußert und unbemerkt Fühlen, Denken und Handeln leitet.

Das Buch unterscheidet sich von allen Atembüchern darin, daß es zunächst äußerst gründlich die Wirkungsweise des Atems in psychischem und geistigem Geschehen untersucht, bevor es daraus Empfehlungen für den Umgang mit dem Atem ableitet. Zu Recht liegt das Schwergewicht der Überlegungen auf dem Versuch, am Leitfaden des Atems zu einem besseren Verständnis des Menschen zu gelangen, anstatt, wie üblicherweise, ausführlich Atemtechniken aufzuzählen. Es wird hervorgehoben, daß »richtiges« Atmen nicht durch Atemgymnastik antrainiert werden kann. Der Atem regeneriert sich mehr oder minder von selbst, wenn man mit sich selbst anders umgeht. Dies bedeutet im Kern die Wiederherstellung des Vertrauens in die innere Selbstorganisation, die durch die abendländische Zivilisation weitgehend zerstört worden ist. Dazu müssten die gewohnheitsmäßigen Reaktionsmuster, die bisher ein akzeptierendes Verhältnis zu sich selbst verhindert haben, erkannt und aufgelöst werden. Hierfür wird ein Weg vorgeschlagen, der mit seiner gesellschaftskritischen Nüchternheit die sonst üblichen euphorischen Heilsversprechungen vermeidet. Es zeigt sich, daß der richtig verstandene Atem nicht bloß ein ausgezeichnetes Therapeutikum in der Hand des Arztes, sondern auch der Königsweg der Selbsterfahrung ist.

Der Autor entdeckte das Atemthema bei seinem Versuch, ohne Brille auszukommen. Da die Augen-Selbsthilfemethoden nicht den gewünschten Effekt hatten, setzte eine jahrelange Suche nach besserer Hilfe ein, die schließlich in einen intensiven Erfahrungsprozess mit bewusstem Atem einmündete. Dabei wurde offenbar erlebt, wie menschliche Selbstheilungskräfte mit Hilfe des Atems mobilisiert werden können.

Die durch Ein- und Ausatmung vorgegebene Spannung zwischen Hochmut und Demut macht uns wirklich lebendig, allerdings auch im tiefsten Sinne verantwortlich; d.h. wir können tatsächlich mit jedem Ausatmen die lebensrichtigere Antwort erhalten, wenn wir auf uns selber hören. Auf diese Weise sind wir in der Lage, unseren neurotischen, reflexartigen, unbewusst automatischen Wiederholungszwang durch bewusste Einsichten und Erlaubnisse zu ersetzen. Beobachte ich mich z.B. beim Grübeln, stelle ich fest, daß ich sehr flach und unbewusst atme. Atme ich aber bewußt, laufen die Gedanken von alleine zielstrebig und wie auf Kugellagern. Ein- und Ausatmen sind dann wie untrennbare Halbkugeln, die fast reibungslos rollen. Das Leben wird dadurch mühelos. Drangsal und Erleichterung werden als naturgegebene Abfolge leichter akzeptabel, weil diese Polaritäten als natürlicher Fluss, wie Ein- und Ausatmen erlebt werden. Im bewußten Atem können nicht bloß alte Gewohnheiten aufgelöst, sondern auch die tiefe Einheit der Schöpfung erfahren werden.

Werner Zintl

2. Atem und Gesellschaft

Wie auch immer, wenn wir das Leben leidenschaftlich leben und wirklich lieben, hier zu sein, werden wir den Wunsch bekommen, die Tiefen des großen Wunders, das Atem heißt, zu erkunden«. (Reshad Feild) «

Atemtherapien treten mit dem Anspruch auf, das psychische Gleichgewicht wiederherzustellen und die geistige Kreativität zu steigern. »Alte negative Denkmuster werden durch den vertieften Atemprozess automatisch bewusst gemacht und durch das Atmen aufgelöst, so dass der Weg frei wird für das Positive Denken und Handeln«.1 Der Erfolg der Atemtherapien beruht zweifellos auf der unmittelbar belebenden Wirkung einer vertieften Atmung und der oft verblüffend schnellen Auflösung von Krankheitssymptomen. Er hängt sicherlich auch damit zusammen, dass angesichts des zunehmenden Zweifels an der Wirksamkeit von psychotherapeutischen Methoden große Erwartungen an die Atemtherapien mit ihrem Versprechen gestellt werden, einen alternativen körperlichen Ansatz zu besitzen, mit dem der Bruch zwischen Körper und Geist überwunden werden könne. Aber der eigentliche Grund für die Faszination des Atems besteht wahrscheinlich in der Hoffnung, dass im Atem der Kontakt zum Leben wiedergefunden werden kann.

Unübersehbar bleibt die Heilwirkung der Atemtherapie hinter ihrem hohen Anspruch zurück. Das liegt zweifellos primär daran, dass die gegenwärtigen Lebensbedingungen, die ein hohes Maß an Unterdrückung der emotionalen und intellektuellen Spontaneität verlangen, völlige psychische Gesundheit ausschließen und allenfalls eine Verringerung des Leidens zulassen. Wenn man allerdings bedenkt, dass die Atemtherapie die älteste Psychotherapie ist, stellt sich die Frage, ob die Leistungsfähigkeit der Atemtherapien nicht auch dadurch verringert wird, dass das gegenwärtig vorherrschende mechanistische Körperverständnis zu einem falschen Verständnis des Atems geführt hat und deshalb das früher nutzbare Heilungspotential heute nicht mehr zugänglich ist. Die Frage nach dem in der Natur der Atmung wahrscheinlich angelegten psychischen Heilungspotentials verlangt heute eine Atemtheorie, die die~

Funktion der Atmung bei den psychischen Heilungsprozessen ergründet.

Das Grundproblem der Atemtherapie besteht darin, dass bei ihren Protagonisten das therapeutische Interesse im Vordergrund steht. Es fehlt eine rationale Erklärung, warum psychische und geistige Störungen durch Atemübungen behoben werden können. Das liegt daran, dass sich die Atemtherapien aus der empirischen Erprobung herausentwickelt haben, ohne dabei von der Wissenschaft unterstützt zu werden. Obgleich die Wirkungszusammenhänge von Atem, Psyche und Geist empirisch nicht zu übersehen sind, kommt der Atem in der Psychologie kaum vor und ist in der Philosophie nach den Vorsokratikern kein Thema mehr. Atemtheorie ist vor die Schwierigkeit gestellt, dass sie sehr schnell an die Spaltung zwischen Körper und Geist stößt. Sie kann von der Philosophie keine überzeugenden Konzepte dafür übernehmen, wie der Atem, der nach dem allgemeinen Verständnis ein Teil des Körpers ist, den Geist beeinflusst. Dieses Wissensdefizit ist das Einfallstor für esoterische Lehren, die für die Frage nach dem Zusammenhang von Geist, Seele und Atem mythologische Antworten anbieten.

Meine Überlegungen sollen einen Beitrag dazu leisten, das Theoriedefizit über die Bedeutung der Atmung beim Denken und Handeln abzubauen. Sie werden von der Hoffnung beflügelt, dass eine Theorie, die die psychische und geistige Funktion der Atmung befriedigend erklären kann, auch helfen kann, Gewohnheiten im Denken und Verhalten erfolgreich aufzulösen und Wege aufzuzeigen, wie ein neues Körpergefühl entwickelt werden kann, das mehr autonome Lebensgestaltung zulässt. Die Grundidee ist, dass die Annahmen über die Wirkungsweise der Atmung, die in esoterischen Konzepten zu finden sind, nicht bloß mythologische Konstrukte sind, sondern stets auch einen rationalen Erfahrungskern besitzen. Diese Erfahrungsbasis der esoterischen Lehren konnte bisher von der abendländischen Philosophie nicht freigelegt werden, da sie von einem zu engen Vernunftbegriff ausging. Es soll geprüft werden, ob sich die Analyse des Atems als ein Schlüssel erweist, um den Vernunftbegriff umfassender definieren zu können.

Die vorliegende Analyse des Atems ist keine Ideologiekritik der bestehenden Atemtherapien. Der Akzent der Untersuchung liegt darauf, im Kontext einer rationalen Atemtheorie zu begründen, dass der Atem der Königsweg der Selbsttherapie ist. Wenn die normale Achtlosigkeit gegenüber dem Atem Gleichgültigkeit sich selbst gegenüber reflektiert, ist anzunehmen, dass durch Atembewusstsein der Kontakt zu sich selbst verbessert werden kann. Es geht um die Frage, ob unter den gegenwärtigen Lebensverhältnissen, die ein extremes Ausmaß an sozialer Abhängigkeit des Einzelnen von der gesamtgesellschaftlichen ~

Entwicklung herbeigeführt und ihn damit von seinen Fähigkeiten der autonomen Lebensgestaltung enteignet haben, die körperimmanenten Selbstheilungskräfte durch eine veränderte Einstellung zum Atem gestärkt werden können.

2.1. Naturwissenschaftliche und esoterische Aneignung der Atmung

Wie jede menschliche Funktion muss auch die Atmung mit kulturellen Deutungsmustern angeeignet werden. Die kulturelle Prägung ist für die Sexualität, die Ernährung, die Ausscheidung, das Sehen u.a.m. längst unbestrittener Bestandteil der Kultursoziologie. Demgegenüber wird die Atmung nach wie vor als eine physiologische Größe im somatischen Funktionskreis betrachtet. Die Atmung soll also zu den Funktionen gehören, die nicht sozialisiert zu werden brauchen. 2 Dieses stillschweigende Dogma ist Folge der Verdrängung des Atems in der abendländischen Kulturgeschichte. Wie die orientalischen Atemtraditionen zeigen, wurde der Atem immer schon zum Gegenstand philosophischer und religiöser Interpretationen gemacht, sobald er als eine Einflussgröße in der Steuerung des Verhaltens und Denkens begriffen wurde. Wie andere körperliche Funktionen kann er zum Gegenstand widersprüchlicher Bedeutungszuweisungen werden.

Im Grunde erfolgt immer schon eine soziale Aneignung der Atmung. Bevor die Funktion der Atmung für die Sauerstoffversorgung im 17. Jahrhundert entdeckt worden ist, wurde z.B. angenommen, dass der Atem das Herz kühlt, in dem die Lebensgeister erzeugt werden.3 Seit den 20er Jahren erfolgt die Aneignung der Atmung im Prinzip mit naturwissenschaftlichen und esoterischen Denkmodellen. Das populäre naturwissenschaftliche Verständnis der Atmung ist vom Biologieunterricht geprägt, in dem die Atmung als physiologischer Prozess des Austauschs von Sauerstoff und Co2 in der Lunge dargestellt wird, der nach den Regeln von Rückkoppelungsprozessen abläuft. Der Atmung wird die Aufgabe zugewiesen, die Zellen mit Sauerstoff zu versorgen, um den Verbrennungsprozess von Kohlehydraten in Gang zu halten. 4 Aus dem mechanistischen Körperverständnis~

wurden Atemtherapien abgeleitet, die mit gymnastischen Körperbewegungen die Atemmuskulatur stärken und lockern sollen. Für Atemfehlhaltungen haben solche Übungen zweifellos eine große Bedeutung. Ihre Beschränktheit liegt aber darin, dass sie dazu anhalten, die Entwicklung der Sensibilität für die inneren Empfindungen zu vernachlässigen. Wenn der Atem als ein von außen zu lenkender Prozess erscheint, der mit gekonnten Griffen eingerenkt werden kann, wird das Erlernen der Sprache der körperlichen Symptome erheblich erschwert. Solche Atemtherapien verstärken das mechanistische Grundverständnis, dessen fatale Folgen für die Gesundheit von der alternativen Medizin aufgedeckt worden ist.

Die esoterischen Atemlehren der Inder (Pranajama), der Chinesen (Qigong), der Japaner (Zen-Buddhismus), der Sufi u. a. sind Teil einer Tradition, in der die Atmung für religiöse und sexuelle Rituale, für geistige Meditation und für psychische und somatische Heilung genutzt wurde. Es ist schwierig, für die verschiedenen Traditionen einen gemeinsamen Nenner zu finden. In der aktuellen Assimilation dieser Atemlehren in Europa und Amerika spielen zweifellos die Vorstellungen der »kosmischen Energie« und des »höheren Selbst« eine tragende Rolle. Dabei wird der Atem als das Medium angesprochen, mit dem ein Kontakt zu transpersonalen Instanzen hergestellt werden kann, um an deren Weisheit teilhaben zu können. Der Atem erscheint als Tor zur Transzendenz, als Weg zur Einheit zwischen der individuellen und universellen Seele oder als Weg zur inneren Neuorientierung. Entsprechend der spirituellen Verankerung des Atems wird empfohlen, den Atem einfach kommen zu lassen, ihn geschehen zu lassen. Jede Kontrolle erschient als unzulässiger Eingriff in die spirituelle Natur des Atems. Es ist der Vorteil dieser Atemlehren, dass sie die Achtsamkeit und Wachheit gegenüber den körperlichen Empfindungen fördern. Gleichzeitig muss aber ein esoterisch-mythologisches Weltbild übernommen werden, dass mit seinen Elementen wie z.B. der Schicksalsgläubigkeit, dem Glauben an die Unsterblichkeit u. a. die Effekte verstärkter Selbstwahrnehmung wieder zunichte machen kann.

Wie die naturwissenschaftlichen und esoterischen Atemlehren zeigen, hat die dualistische Aufspaltung des Menschen in »Körper« und »Geist« auch die Selbstwahrnehmung des Atems ergriffen. In den naturwissenschaftlichen Atemlehren wird das mechanistische Weltbild und in den esoterischen Atemlehren ein idealistisch-spirituelles Weltbild auf den Atem übertragen. Beide Positionen markieren die Extreme in der Polarität von Körper und Geist. Die Analyse wird zeigen, dass diese Aufspaltung des Atems in seiner Doppelnatur angelegt ist, Teil des Körpers zu sein und der geistigen Welt der Bedeutungen~

anzugehören. Bekanntlich ist die Atmung die einzige Funktion, die vom autonomen vegetativen Nervensystem gesteuert wird und gleichzeitig willkürlich beeinflusst werden kann. Die Atmung ist insofern ein interessantes Phänomen, als sie wegen ihrer Zugehörigkeit zum körperlichen und geistigen Bereich gleichsam die Brücke zwischen den beiden Bereichen zu sein scheint. In dieser Doppelnatur liegt wahrscheinlich ihre Fähigkeit begründet, psychische und geistige Funktionen beeinflussen zu können. Es wird zu zeigen sein, dass die scheinbare Brückenfunktion der Atmung Folge des vorherrschenden mechanistischen Verständnissen von Körper und Geist ist und dass der Dualismus von Körper und Geist revidiert werden kann, wenn der Atem als das körperliche Organisationszentrum seelischer und geistiger Funktionen verstanden wird. Die folgenden Überlegungen in diesem Kapitel stellen eine kurze Skizze der Grundgedanken der vorliegenden Untersuchung dar, um einen Überblick über den theoretischen Ansatz zur Analyse der Atmung im Rahmen der Selbstregulation des Verhaltens zu geben.

2.2. Der Atem in der sozialen Interaktion

Vieles spricht dafür, dass der Atem eine bisher wenig beachtete Schlüsselrolle im psychischen und mentalen Geschehen spielt. So kann jeder an sich selbst beobachten, dass sich der Atem spontan der jeweiligen Lebenssituation anpasst. Lebensfreude ist am vollen, tiefen und regelmäßigen Atem zu erkennen. Wenn der Atem eingeschränkt wird, verringert sich das Selbstwertgefühl und das psychische Gleichgewicht. In manchen esoterischen Lehren wird behauptet, dass das Atembewusstsein die Voraussetzung dafür ist, im Hier und Jetzt zu leben. Wilhelm Reich beobachtete, dass sich psychisch belastende Erfahrungen als Atemstörungen niederschlagen. Eine Veränderung im Verhältnis zum Atem führt immer auch zu einer Veränderung des Verhältnisses zu sich selbst und auch zu einem veränderten Verhältnis zu anderen Menschen. Allgemein gilt der Atem als Spiegelbild der Stimmungen und Gefühle.

In der Atemliteratur finden sich viele Hinweise auf die den Atem prägende Kraft sozialer Erfahrungen. Es fehlen aber systematische Bemühungen, die Bedeutung des Atems für die soziale Interaktion aus der Natur der Atmung selbst abzuleiten. Das liegt primär an der traditionellen Zuordnung der Gefühle zum Reich der Seele, so dass ihr Zusammenhang mit den physiologischen Prozessen aus dem Blick geraten ist. Wilhelm Reich war der erste, der darauf hingewiesen hat, dass Gefühle mit Hilfe von muskulären Verspannungen unterdrückt werden können und folgerte, dass eine funktionelle Identität~

von körperlicher Erregung ( = Gefühle) und Atemprozess besteht. 5 Viele Argumente sprechen aber dafür, dass den Gefühlen nicht bloß bestimmte Atemmuster entsprechen, sondern dass sie darin ihre eigentliche Substanz haben. Gefühle können so als spezifische Ausgestaltungen des Atems begriffen werden. Die Gestaltbarkeit des Atems zu differenzierten Gefühlen ist damit die physiologische Basis der Vergesellschaftung. 6

Die Unterdrückung der Gefühle bedeutet in der Regel, dass mit den muskulären Verspannungen auch der Atem aus dem Bewusstsein ausgeschlossen wird. Die Folge ist, dass die Abhängigkeiten nicht mehr wahrgenommen werden, in die man sich durch die Unterdrückung der Gefühle hineinbegeben hat. Die Wut gegenüber den Unterdrückern, die sich im körperlichen Gewebe niedergeschlagen hat, kann keinen Ausdruck finden. Es setzt der Teufelskreis der Depression ein. Immer mehr Energie muss aufgewendet werden, um die Abwehr des Verdrängten aufrechtzuerhalten. Das Verdrängte lässt die Dualität von Körper und Geist entstehen, die die partielle Abtötung von inneren Lebensprozessen bedeutet. Der Dualismus ist deshalb nicht bloß Folge falschen Denkens, sondern Ausdruck tiefer körperlicher Zerrissenheit. Dieser Prozess spiegelt sich im flachen Atem. Die Auseinandersetzung mit den sozialen Verhältnissen, die den Atem in das Korsett der muskulären Verspannungen pressen und damit den freien Ausdruck von Gefühlen verhindern, wird eingestellt.

2.3. Atem und innerer Dialog

Vermutlich kann die Frage, warum Atemtherapien wirksam sein können, besser verstanden werden, wenn sie mit esoterischen Konzepten in Zusammenhang gebracht wird, die andere Wege andeuten, wie der Sprung zwischen Körper und Geist überbrückt werden könnte. Die Konzepte des »inneren Heilers«, des »höheren, wahren Selbst«, der »inneren Stimme«, der »inneren Weisheit des Körpers« u. a. machen darauf aufmerksam, dass Heilung einen Dialog verlangt, der darin besteht, dass man sich den inneren Botschaften öffnet. »Höre ich nicht auf mein wahres Selbst«, verwirkliche ich nicht den »inneren Willen«, dann verrate ich mein wahres Selbst, den »Heiler in mir«, meinen »inneren Meister«. In diesem Sinn schickt der »innere Meister« eine Botschaft und bedient~

sich dabei der »Sprache der Symptome««.7 »Wenn wir auf unsere Intuition hören und nach ihr handeln, werden wir fähig, Denken und Fühlen zu vereinigen und zu lernen, aus der Gesamtpersönlichkeit zu reagieren«.8

Die Idee des inneren Heilers hätte niemals eine so große Verbreitung finden können, wenn ihr nicht ein rationaler Kern entsprechen würde. Der Erfahrungskern hängt vermutlich mit der Erfahrung zusammen, dass man auf Fragen, die man an sich selbst richtet, verständliche, meist verbale Antworten empfangen kann. In der Regel wird angenommen, dass die Antworten von einem inneren Heiler oder vom höheren Selbst kommen; es wird deshalb gefordert, ihnen zu vertrauen. Wenn aber infrage gestellt wird, dass es übernatürliche Instanzen gibt, die zu solchen Leistungen fähig ist, muss der Nachweis geführt werden, dass der innere Heiler eine Personifizierung der alltäglichen Erfahrung ist, dass Erfahrungen zum großen Teil unbewusst verarbeitet werden und sich die daraus gezogenen Folgerungen spontan dem Bewusstsein aufdrängen. Da die Sprache zum unerlässlichen Bestandteil der überwiegend unbewusst ablaufenden Verarbeitung von subjektiven Erfahrungen geworden ist, können sich die Antworten auch in Begriffe kleiden. Den spontanen Antworten kann vertraut werden, weil sie aus der Fülle der subjektiven Erfahrungen geschöpft werden. Die Personalisierung des inneren Heilers kann dann als ein Versuch verstanden werden, damit die Erfahrung der Selbsttätigkeit der inneren Informationsverarbeitung zu erklären.

Das Konzept des inneren Heilers enthält implizit die Überzeugung, dass die Form der Kommunikation mit sich selbst und mit anderen für die Entstehung und Heilung von Krankheiten von entscheidender Bedeutung ist. Deshalb vertreten viele esoterische Lehren die Auffassung, dass Heilung davon abhängt, dass die negativen Emotionen und Glaubenssätze aufgelöst werden. Das Konzept des inneren Heilers drückt ein tiefes Vertrauen in die natürlichen Selbstheilungskräfte des Körpers aus, das selbstverständlich auch für die psychischen und mentalen Störungen angenommen wird.

Während die somatische Selbstheilung nach genetisch festgelegten Mustern abläuft, ist die psychosoziale Heilung daran gebunden, dass ein gekonnter Gebrauch der Sprache erlernt wird. Kleine Kinder sprechen ständig mit sich. Auch bei den Erwachsenen läuft auf dem Hintergrund des Bewusstseins ein ununterbrochener Strom von Selbstgesprächen ab. Offensichtlich müssen alle Erfahrungen mit Hilfe der Sprache angeeignet werden. Es gibt keine sozial~

bedeutsamen Körperregungen, die nicht sprachlich angeeignet werden. Was nicht von der Sprache erreicht wird, existiert nicht. Erst sprachlich angeeigneten Erfahrungen können für autonomes Verhalten nutzbar gemacht werden, da sie die Distanzierungsfähigkeit ermöglichen. Die von der Esoterik verwandten und auch in der Alltagssprache bekannten Formeln wie »auf den Körper hören«, auf die »innere Stimme hören«, »in sich hineinhorchen« u. a. weisen darauf hin, wie sehr das Verhältnis des Einzelnen zu sich selbst, also zu seiner inneren Natur von der verbalen Sprache geprägt ist. Wenn hingegen in einem von Angst geprägten, lieblosen Milieu die Distanzierungsfähigkeit nicht gelernt werden konnte, scheitert die vollständige sprachliche Aneignung der Erfahrungen. Die Folge ist schematisches, klischeehaftes Verhalten, das unfähig ist, sich flexibel an die Bedingungen der augenblicklichen Situation anzupassen und das deshalb zwanghaft früher gelernten Reaktionsmustern folgt.

Ebenso wie die Gefühle kann auch die Sprache nur richtig verstanden werden, wenn ihr Zusammenhang mit der Atmung begriffen wird. Sprache ist letztlich ohne Atem nicht denkbar. Die Sprache benutzt die Modulierbarkeit des Atems mit spezifischen Schwingungsmustern, die durch die Artikulation der Begriffe entstehen. Das Besondere an den Begriffen ist, dass sie eine spezifische Verknüpfung mit inneren Koordinationsprogrammen herstellen, die für alle Bewegungsvorgänge incl. der emotionalen Bewegungen gebildet werden müssen. Die beliebige Verknüpfbarkeit der Begriffe mit solchen inneren Programmen begründet die Flexibilität des menschlichen Verhaltens. Deshalb können mit Begriffen körperliche Zustände aktiviert werden. Sie enthalten aber auch die Gefahr, dass sie unbemerkt aus dem Hintergrund des Bewusstseins heraus in die Steuerung des Atems und des Verhaltens eingreifen.

Dieser enge Zusammenhang von Sprache und Atem wirft die Frage auf, inwieweit Störungen des Atems die Sprachfähigkeit und darüber hinaus auch das Denken beeinflussen. Offensichtlich ist das Denken sehr stark von der Sprachfähigkeit abhängig. Dieser Zusammenhang ist bei den Neurotikern mit ihrer blockierten Atmung offenkundig, deren Symptome sich dadurch auszeichnen, dass sie Begriffe mit den Gegenständen verwechseln. Weniger klar ist, wie sich der flache Atem der Angepassten auf das Denken auswirkt. Es zeigt sich, dass der Mangel an Kreativität im Denken in direktem Zusammenhang mit dem flachen Atem steht. Flacher Atem bedeutet stets eingeschränkte Erfahrungsfähigkeit. Der Organismus ist aufgrund der muskulären Blockaden nicht in der Lage, zwanglos auf die jeweilige Situation zu reagieren und alle Erfahrungen aufzunehmen. Aufgrund des blockierten inneren Dialoges bleibt die vollständige Verarbeitung der Erfahrungen aus. Das mechanisch gewordene Denken ist dann nicht mehr in der Lage, zwischen den inneren Impulsen~

und den gesellschaftlichen Forderungen zu vermitteln. Es verleugnet die »gefährlichen« inneren Impulse und klammert sich an gesellschaftliche Konventionen. Der innere Dialog wird nun von den Forderungen des Gewissens beherrscht; er degeneriert zum inneren Monolog, in dem die verinnerlichten sozialen Autoritäten ständig ihre Befehle, Mahnungen, Kränkungen, Demütigungen u. a. mehr oder minder bewusst wiederholen. Seitdem die Sprache die unersetzliche Vermittlungsinstanz zwischen Individuum und Gesellschaft geworden ist, sind Störungen im Gebrauch der Sprache zur Hauptquelle individuellen Leidens geworden. 9

Ganz offensichtlich reicht das geforderte bedingungslose Vertrauen in den inneren Heiler nicht aus, um die Selbstheilungskräfte zu aktivieren. Viele psychogene Störungen wachsen sich zu somatischen Krankheiten aus, weil aufgrund des blockierten inneren Dialoges die Botschaften der Frühsymptome von Störungen nicht wahrgenommen werden können. Es muss deshalb geklärt werden, welche sozialen Bedingungen den inneren Dialog schwächen und wie das Verhalten zu sich selbst beschaffen sein muss, damit sich das Vertrauen in die Selbstheilungskräfte von selbst einstellt.

Es stellt sich die Frage, wie die esoterische Mystifikation der Selbstheilungskräfte im inneren Heiler vermieden werden kann. Der »innere Heiler« kann vermutlich deshalb »ganzheitlich« heilen, weil er die bisherigen Blockaden des inneren Dialoges lockert und dadurch den Zugang zum akkumulierten inneren Erfahrungswissen erleichtert. Die »innere Weisheit des Körpers« ist nichts Angeborenes oder Übernatürliches, sondern ergibt sich aus der Fülle der subjektiven Erfahrungen und ihrer individuellen Verarbeitung. Danach wäre die bewusste Aktivierung des inneren Dialoges die zentrale Voraussetzung dafür, dass die Personalisierung der Selbstheilungskräfte in Form des inneren Heilers überflüssig wird. Diese Aufgabe kann die Atemtherapie übernehmen.

2.4. Chancen der Atemtherapie

Von jeder Psychotherapie wird letztlich erwartet, dass sie das grundlegende Symptom aller psychischen und geistigen Störungen, die Gewohnheitsbildung im Verhalten und Denken, auflösen kann. Gewohnheitsbildung ist die Fixierung des Organismus an vergangene Situationen, der Zwang zur Wiederholung von früheren Reaktionen. Sie bedeutet immer, dass die im inneren Dialog angelegte Selbstkritik aufgehoben wird. Gewohnheitsbildung ist damit die~

Fixierung an die Vergangenheit und die Unfähigkeit, sich der Gegenwart zu öffnen.

Das tiefe Ineinander von Atem und Kommunikation macht verständlich, warum von vielen Therapeuten dem Atem eine Schlüsselrolle im Heilungsprozess zugewiesen wird. Wenn sich das Bewusstsein dem Atem zuwendet, verändert sich der Bewusstseinszustand: die Sinne werden wachsamer, die Empfindungsfähigkeit für die inneren Regungen wird sensibler und der innere Dialog wird aktiver. Das hängt damit zusammen, dass das Atembewusstsein zu einer Konzentration auf die Vorstellungen und die ihr entsprechenden Empfindungen anhält, die gerade im Bewusstsein sind. Dabei wird auch Kontakt mit den Gefühlen aufgenommen, die der wahrgenommenen Situation entsprechen. So kann die Tendenz zum reaktiven Verhalten gebrochen werden. Zu Recht betonen viele Atemtherapeuten, dass in jedem Atemzug die Chance eines völligen Neubeginns angelegt ist.10

Allerdings verbietet die Tatsache, dass Gefühle und Sprache als gestalteter Atem die organismischen Impulse mit den Anforderungen der sozialen Umwelt vermitteln, ein therapeutisches Vorgehen, bei dem der Atem aus diesem Spannungsverhältnis herausisoliert wird. Weder rein gymnastische Atemübungen noch bloßes psychotherapeutisches Durcharbeiten von Vorstellungen und Gedanken können zielführend sein. Beide würden hinter die soziale Natur des Atems zurückfallen. Angemessen erscheint nur ein Vorgehen, in dem die Identität von Denken, Fühlen und Atem beachtet wird. Dabei ist es gleichgültig, ob der therapeutische Prozess bei den Gedanken oder mit Atemübungen begonnen wird. Entscheidend ist, dass ziemlich bald beide Seiten im Erleben aufeinander bezogen werden, so dass sich ein Gespür dafür entwickelt, wie mit physiologischen Mustern der Muskelanspannung und Atemkontrolle Gefühle kontrolliert werden und mit welchen Vorstellungen und Gedanken der Atem in diesen Mustern festgehalten wird.

Es ist der Vorzug des Atems, dass mit seiner Hilfe relativ leicht der Bewusstseinszustand so verändert werden kann, dass die im normalen Bewusstsein wirksamen Widerstände gelockert werden und dass deshalb auch angstbesetzte Gefühls- und Gedankenprozesse zugelassen werden können. 11 Dieser Bewusstseinszustand, der wegen der Dominanz von Alpha-Gehirnwellen häufig als Alphabewusstsein bezeichnet wird, stellt sich nach einiger Übung relativ~

leicht durch regelmäßiges, entspanntes und tiefes Atmen ein. Sobald er erreicht ist, wechselt der anfänglich aktiv geführte Atem in einen passiv geschehenden Atem, dessen Rhythmus den im Bewusstsein auftretenden Vorstellungen und Gedanken entspricht.12 Nicht zufällig entspricht er demjenigen Bewusstsein, das sich einstellt, wenn man ganz in einer Situation aufgeht. Momente der Intuition und Versunkenheit zeichnen sich gerade dadurch aus, dass ein klares Bewusstsein aller aktuell prägenden Bedingungen besteht und keine Angst den freien Ausdruck der Gefühle und Gedanken behindert. Die bewusste Führung des Atems scheint deshalb ein geeignetes Mittel zu sein, um solche inneren Bedingungen herbeizuführen, in denen der Organismus die offene Auseinandersetzung mit der Umwelt aufnimmt. 13

Das von den esoterischen Lehren geforderte Vertrauen in die »innere Führung« basiert letztlich auf der Erfahrung der Spontaneität der Gedanken, die sich im atementspannten Bewusstseinszustand einstellen. Es wird implizit angenommen, dass das Verhalten und Denken zum großen Teil auf Entscheidungen beruht, die der Organismus ohne bewusste Beteiligung des Ich vornimmt. Zum Vertrauen in die selbsttätig auftauchenden Gedanken kann man sich allerdings nicht entscheiden. Vielmehr muss die Kraft vorhanden sein, auch »gefährliche« Gedanken zu ertragen. Außerdem muss das Konzept der Selbstorganisation des Denkens akzeptiert werden können. Beides kann vom gegenwärtig vorherrschenden mechanistischen Menschenbild nicht geleistet werden.

Wenn ich mich im atementspannten Bewusstseinszustand den spontan auftretenden Vorstellungen und Gedanken öffne, stellen sich spontan Situationen ein, in denen der Dialog mit anderen Menschen nicht befriedigend verlief oder abgebrochen wurde. Nun kann der abgebrochene Dialog zu Ende geführt werden, wie es den eigenen Impulsen und Bedürfnissen entsprechen würde. So können z.B. eigene Ansprüche an das Leben eingeklagt werden oder Wut geäußert werden. Es tun sich spontan die Möglichkeiten auf, wie die misslungene Situation befriedigend aufgelöst werden könnte. Das probeweise Durchdenken von Alternativen kann zwar auch im normalen Bewusstsein durchgeführt werden. Die Erfahrung zeigt, dass dies im atementspannten Bewusstseinszustand erheblich flüssiger geht. Wegen der geringeren Abwehrmechanismen bin ich dann viel ehrlicher und sensibler. ~

Atem und innerer Dialog gehören zusammen. Der innere Dialog ist die autonome Form, in der die Aufgabe der Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt, die im Grunde immer im Medium der Atmung – nämlich über die Gefühle und die Sprache – geführt wird, bewältigt wird. Wenn die Auseinandersetzung scheitert, versucht der Organismus sein inneres Gleichgewicht durch die Blockierung der Atmung aufrechtzuerhalten. Alle Kontaktstörungen werden durch eingeschränkte Atemmuster stabilisiert, die ihrerseits den inneren Dialog einschränken. Wahrscheinlich entspricht jeder Gewohnheit sowohl ein fixiertes Atemmuster als auch ein Set von fixierten inneren Vorstellungen. Heilen durch die Befreiung von negativen Denkmustern kann wirksam sein, weil dabei wegen der Verknüpfung von Denk- und Atemmustern immer auch die Physiologie verändert wird.

2.5. Verlust der Selbstorganisation

Soziale Herrschaft kann sich nur stabilisieren, wenn sie das Bewusstsein der sozialen Abhängigkeit unterdrückt. Zu den Strategien, um Widerstandsimpulse im Keim zu ersticken, gehört, dass das psychische Leiden aus irrationalen Vorstellungen und Erwartungen oder aus der Familiendynamik abgeleitet wird. Damit verliert der Einzelne das Gespür, wie die alltäglichen sozialen Erfahrungen von Demütigung, Kränkung und Geringschätzung seine Kontaktangst, Depressionsneigung und Kontrollsucht u.a. bestätigen und bestärken. Er wird dazu angehalten, sein Leiden sich selbst zuzuschreiben und die Verantwortung dafür zu übernehmen, statt seine Wut gegen die sozialen Verhältnisse zu richten, die den lebendigen Ausdruck seiner Vitalität nicht zulassen. Die negativen Aspekte der wachsenden Vergesellschaftung wie Depression, Einsamkeit, Sucht, Kontaktängste, Panikanfälle u. a. werden zwar wahrgenommen; aufgrund der vorherrschenden Ideologien und der geringen Sensibilität können sie aber nicht mehr als Niederschlag sozialer Herrschaft im eigenen Körper begriffen werden.

Unter dem permanenten Druck der Herrschaftsverhältnisse muss sich der Organismus in einem Zustand chronischer muskulärer Verspannung halten. Der Atem wird dabei so stark eingeschnürt, dass er seine Selbstregulationsfähigkeit weitgehend einbüßt. Dies zeigt sich an der Tendenz zur Verflachung und Unregelmäßigkeit der Atmung, die ihre extreme Ausdrucksform in der weit verbreiteten depressiven Verstimmtheit, den häufigen Atemstillständen während des Schlafes, aber auch in den atembedingten somatischen Erkrankungen wie Asthma, Krebs, Kreislaufstörungen, Darmerkrankungen u. a. ~

findet. Wie die Universalität der Depression zeigt, besteht die Tendenz, dass mit der Schwächung des Atems auch die Fähigkeiten zerstört werden, die sich nur bei einer vollen Atmung entfalten können. Insbesondere betrifft dies die Einbildungskraft, die Phantasie, den inneren Dialog, die innere Stimme, das emotionale Einfühlungsvermögen u.a., alles Fähigkeiten, die auch unmittelbar das Denken berühren. Das Verlöschen des Atems ist das Symptom körperlicher und geistiger Erstarrung und steht mit der Erstarrung der gesellschaftlichen Verhältnisse in engem Wechselzusammenhang.

Soziale Herrschaft unterdrückt mit der Erfahrung der sozialen Abhängigkeit auch die Erfahrung der organismischen Selbstorganisation, die sich darin ausdrückt, dass sich der Organismus gleichsam von selbst von körperlichen und seelischen Verletzungen heilen kann. Der Verlust der erfahrenen Selbstorganisation ist die zentrale Ursache individuellen Leidens, da der Verlust der inneren Orientierung durch eine nie gelingende Kontrolle mit sozialen Normen kompensiert werden muss. Sie macht empfänglich für Illusionen und Selbstbetrug. Die Kehrseite dieser Unterdrückung ist die Entwicklung der Fiktion des »Ich«, das im Grunde der innere Stellvertreter sozialer Herrschaft ist. Es stellt den Anspruch auf, dass es das Zentrum aller Entscheidungen ist. Da nach wie vor ein großer Teil der Entscheidungen unbewusst ohne Zutun des Ichs erfolgt, muss sich das »Ich« mit ihm eigentlich fremden Entscheidungen identifizieren.

Von einem autonomen Ich könnte aber erst gesprochen werden, wenn das Verhalten im vollen Bewusstsein der Folgen des Handelns gelenkt wird. Es wäre eine falsche Konsequenz, dass das »Ich« seine Allmachtsphantasien und seinen Kontrollanspruch aufgeben oder dass es sich insgesamt auflösen muss. Vielmehr geht es darum, dass der Organismus sich darauf besinnt, dass das »Ich« ein Ausdruck der Notwendigkeit ist, im Interesse der Selbsterhaltung die inneren Impulse zu kontrollieren. Der Einzelne kann letztlich seine Identität nur im Vertrauen auf die innere Selbstorganisation finden. Dazu muss er seine Aufgabe primär darin sehen, die sozialen Behinderungen und Vorurteile zu bekämpfen, die die innere Selbstorganisation beeinträchtigen. Die Erfahrungen im atementspannten Bewusstseinszustand können einen Beitrag dazu leisten. In kritischen Alltagssituationen verringern sich dann die Selbstnegationen, so dass eine neue innere Orientierung gefunden wird.

Das von der Esoterik geforderte Vertrauen in die Kräfte des »wahren, höheren Selbst« ist zwar insofern richtig, als es das Phänomen der inneren Selbstorganisation erkennt, sein Fehler ist jedoch, dass es darüber hinwegtäuscht, dass das Vertrauen zu sich selbst nur unter Lebensbedingungen zugelassen werden kann, die jedem ein Recht auf Verschiedenheit gewähren. Die Empfehlung, ~

den Atem loszulassen, ist nicht erfüllbar, solange die Gefühle nicht uneingeschränkt zugelassen werden können. Geschehenlassen ist der utopische Zielpunkt einer Entwicklung, in der die sozialen Verhältnisse den relativ freien Ausdruck der Gefühle zulassen und deshalb das keimende Vertrauen in die psychosoziale Selbstorganisation zunehmend akzeptiert werden kann. Erst dann kann das traditionelle Meditationsziel des Einsseins erreicht werden, in dem der Organismus mit Wohlgefühl eine tiefe Identität mit sich selbst empfindet. Die Utopie der »Ichlosigkeit« wäre also erst dann zu erlangen, wenn der Organismus sich seinen spontanen, autonomen Selbstorganisationsfähigkeit anvertrauen kann.

Die Erfahrung des Zusammenwirkens von Vorstellungen und Atemmustern macht bewusst, dass das Geschehenlassen kein bloß passiver Vorgang ist, wie im dualistischen Denken unterstellt wird. Es wird deutlich, dass sich in der psychosozialen Selbstorganisation ständig aktive und passive Momente durchdringen. Die aktive Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Anforderungen ist zugleich ein passiver Vorgang, da die kritische Abwägung mit den inneren Impulsen von selbst geschieht, wenn die inneren Impulse wirklich zugelassen werden. Im atementspannten Bewusstseinszustand verliert deshalb die Unterscheidung von Aktivität und Passivität ihren Sinn.

2.6. Die Notwendigkeit einer kritischen Atemtheorie

Atemtheorie muss in mehrfacher Hinsicht kritisch sein. Wenn der Atem im Zentrum der Vermittlung von Individuum und Gesellschaft steht, muss die Atemtheorie die Widersprüche aufarbeiten, die durch das Misslingen der Vermittlung unter herrschaftlichen Lebensbedingungen entstehen. Atemtheorie muss die Spuren im Körper aufdecken, die soziale Herrschaft hinterlässt. Sie kritisiert nicht bloß die anmaßenden Heilungsversprechen und die ideologische Blindheit der gegenwärtigen Atemtherapien, die behaupten, dass Atemdefizite hier und heute beseitigt werden könnten. Sie wendet sich in erster Linie gegen die Grundtendenz des rationalen Denkens, das Bewusstsein für die soziale Abhängigkeit aus dem Denken zu verdrängen und das Leiden an der Gesellschaft zu individualisieren. Sie kann bewusst machen, dass der Organismus unter repressiven Lebensverhältnissen nur überleben kann, wenn er seine Vitalität einschränkt, d.h. sich partiell abtötet. Die kritische Atemtheorie ist auch kritisch gegenüber sich selbst, indem sie sich ständig der Grenzen bewusst bleibt, die atemtherapeutischen Bemühungen in der gegenwärtigen Gesellschaft gesetzt sind. So wie jede Theorie muss auch die Atemtheorie ihre~

sozio-kulturelle Gebundenheit reflektieren und im Bewusstsein halten, welches Menschenbild ihr implizit zugrunde liegt. Sie muss sich fragen, ob sie nicht letztlich dazu beiträgt, mit dem Erträglichmachen des Leidens die repressiven sozialen Verhältnisse zu stabilisieren.

Kritische Atemtheorie zeichnet sich dadurch aus, dass sie zur Entfaltung des Bewusstseins der Fiktivität aller Vorstellungen beiträgt. Atembewusstsein heißt, dass spontan alle Vorstellungen daran gemessen werden, inwieweit sie ein glückliches Leben unterstützen. Das ist ihr einziges Wahrheitskriterium. Dementsprechend wäre Atemtheorie ausgereift, wenn sie dem abendländischen Theoriefetischismus den Nährboden entziehen könnte.14

Die Überlegungen zur Funktion des Atems verstehen sich als Beitrag zur Entwicklung einer materialistischen Psychologie bzw. Anthropologie, die nicht mehr auf der traditionellen Abwertung des Körpers aufbaut. Es wird das grundsätzliche Problem aufgegriffen, wie sich die Menschen als vernunftfähige Wesen zu ihrer Naturhaftigkeit verhalten und wie sie den Bruch mit der inneren Natur, der durch die Sprache möglich geworden ist, heilen können. Der Ansatz der kritischen Atemtheorie besteht darin, Denken als einen körperlichen Prozess zu begreifen, ohne deshalb aber die Wirkkraft der geistigen Verhaltensaspekte in Frage zu stellen, wie dies im älteren reduktiven Materalismus der Fall ist.

Das Problem der Trennung von Körper und Geist besteht nicht in der wechselseitigen Abhängigkeit getrennt zu betrachtender Faktoren, wie es üblicherweise gesehen wird, sondern darin, wie die Einheitlichkeit im Verschiedenen verstanden werden kann. Wenn Geist und Körper als Betrachtungsweisen verstanden werden, die aus dem stets einheitlichen Verhalten, in dem Umweltaspekte mit inneren Impulsen verschmolzen werden, einen Pol auf Kosten des anderen herausisolieren, kann die dualistische Spaltung des Menschen in Körper und Geist überwunden werden. Zu Recht vermutet Uexküll, dass der Dualismus von Körper und Geist erst durch die Sprache entstanden ist, die mit ihren verdinglichenden Begriffen Trennungen schafft, die in Wirklichkeit nicht existieren. 15 Wenn der innere Dialog konstitutiv für die psychische und soziale Entwicklung des Menschen ist, kann der Dualismus als Folge eines Verstummens des inneren Dialoges, also einer Ausblendung innerer Körpererfahrungen aus dem sprachlichen Dialog mit sich selbst begriffen werden. ~

Mit der Analyse der physiologischen Grundlagen der Unterdrückung der inneren Impulse kann vielleicht der Mangel der kritischen Gesellschaftstheorie aufgehoben werden, dass sie nicht angeben konnte, woher sie die Legitimation für ihre fundamentale Kritik nimmt. Wahrscheinlich hat die gegenwärtige Bedeutungslosigkeit der kritischen Gesellschaftstheorie auch damit zu tun, dass soziale Abhängigkeit nicht mehr als körperliche Erfahrung bewusst wird und die Gesellschaftskritik sich deshalb nicht mehr mit den organismischen Impulsen, die den freien Ausdruck von Gefühlen und Gedanken verlangen, gleichsam verbünden kann. Erst wenn die soziale Abhängigkeit selbstverständlicher Teil des Bewusstseins ist, kann das verlorene Bewusstsein der Kreatürlichkeit des menschlichen Denkens zurückgefunden werden und die bisherige Arroganz des Geistes, der sich die Lenkung des Handelns anmaßt, aufgelöst werden. Dann wird der in den muskulären Verspannungen wurzelnde physiologische Leidensimpuls als Agens der Veränderung frei. Soll der weiteren Zerstörung humaner Lebensbedingungen Einhalt geboten werden, kommt es deshalb darauf an, Denken als leiblichen Prozess bewusst zu machen und seine eigentliche Funktion zurückzugewinnen – die Bedingung für lustvolles Leben wiederherzustellen. Solches Denken wäre identisch mit heilendem Denken.

Für den Begriff der Vernunft folgt daraus, dass er seine Bestimmung nicht mehr ausschließlich aus der vollständigen Erfassung der äußeren Wirklichkeit beziehen darf. Die erforderliche Erweiterung der Vernunft kann aber nicht darin bestehen, mystische Elemente ins Denken mit einzubeziehen. Vielmehr müssen dazu die auf die Muskeln und die inneren Organe bezogenen propriozeptiven Sinnesorgane aktiviert werden, damit die Resonanz des Organismus auf die Umwelt gespürt werden kann und der innere Dialog belebt wird. Selbstbesinnung heißt, sich durch die Konzentration auf die inneren Empfindungen in einen Zustand zu versetzen, in dem die inneren Sinne von sich aus im inneren Dialog einen Denkprozess in Gang setzen. Jede Erkenntnis ist Selbsterkenntnis, da sie nur gelingt, wenn sie sich den von selbst ablaufenden, intuitiven inneren Erkenntnisprozessen öffnet. Es wäre dann »vernünftig«, auf die »innere Stimme« zu hören, die die »innere Weisheit des Körpers« ausdrückt.

Von vielen Psychotherapien wird betont, dass die Aufgabe des Therapeuten nur darin bestehen darf, den Patienten zu ermuntern, die Antworten auf seine Probleme in sich selbst zu finden. Letztlich müsse der Patient sich selbst von den Fixierungen befreien, die ihm Probleme machen. Das würde bedeuten, dass Therapie immer dann notwendig wird, wenn die Fähigkeit zur Selbsttherapie verlorengegangen ist. Hauptaufgabe der Atemtherapie muss deshalb sein, sinnvolle Anleitungen zur Selbsttherapie zu geben, um die selbsttherapeutische ~

Potenz zu erhöhen. Wirklicher Kontakt zu sich selbst kann erst gefunden werden, wenn aus der Erfahrung gleichberechtigter sozialer Kontakte die Kraft gezogen wird, auf therapeutische Experten zu verzichten und stattdessen zu lernen, den eigenen, sprachmündig gewordenen Selbstheilungskräften zu vertrauen. Dann kann der unvermeidliche Konflikt zwischen Autonomie und Anpassung etwas bewusster ausbalanciert werden, ohne der Illusion zu erliegen, unter den repressiven Lebensbedingungen einen Ausgleich erreichen zu können.

Auf diese Weise kann die Atemtheorie einen Beitrag zur grundsätzlichen Aufgabe von Gesellschaftstheorie leisten, dem Leiden in der Gesellschaft eine Stimme zu geben, oder wie es Max Horkheimer ausdrückte, »der Natur ein Organ zu leihen, um ihr Leiden mitzuteilen oder, wie wir sagen könnten, die Wirklichkeit bei ihrem richtigen Namen zu nennen«.16 Bisher hat die Gesellschaftskritik ihren Anspruch, die Erinnerung an die unterdrückte Lust festzuhalten und damit zur Stimme der unterdrückten Natur zu werden, nur unzureichend erfüllt. Sie verstand sich primär als Vernunftkritik und hat damit die sinnliche Seite der menschlichen Existenz vernachlässigt. In der Atemtheorie kann diese Einseitigkeit überwunden werden, weil der Atem mit seinen Erfahrungen, dass er einerseits Spiegel der sozialen Verhältnisse ist und dass andererseits Lust vom entspannten, gelösten Atem abhängig ist17, den Gegensatz von Vernunft und Lust aufheben kann.

3. Die Macht der inneren Vorstellungen

In der gegenwärtigen Selbstheilungsliteratur dominiert die These, Krankheiten seien die Folge irrationonaler Vorstellungsbilder und könnten deshalb durch die Visualisierung gesundheitsfördernder Vorstellungsbilder geheilt werden (z.B. Wachtraumtherapie, aktive Imagination, Visualisierungstechnik, positives Denken). Die Sprache weiß schon immer, dass Vorstellungen das Verhalten steuern, sonst würde sie nicht von der Funktion der Vorbilder oder Idealbilder sprechen. Die Sprache kennt die eingebildete Krankheit und den Bildungsprozess, in dem das kulturelle Weltbild angeeignet werden soll. Es wird zu zeigen sein, dass die Vorstellungen tatsächlich nicht nur im Heilungsprozess, sondern auch im Denken und Handeln eine zentrale Funktion spielen. Um ihre Bedeutung für den Atem erkennen zu können, kommt es darauf an, ihre Rolle im Zusammenwirken von physiologischen, psychischen und geistigen Prozessen aufzudecken.

Bereits vor der historischen Entwicklung der Sprache haben die Menschen ihr Verhalten an Vorstellungen orientiert. Aber erst die Sprache hat es ermöglicht, dass mit Hilfe der Vorstellungen das Handeln einer Gruppe besser aufeinander abgestimmt und so ein planvolles Handeln organisiert werden kann. Weil die individuellen Erfahrungen ständig zu Modifikationen der Vorstellungen Anlass geben, ist die Sicherstellung der Orientierung der Gruppe an gemeinsamen Vorstellungen ein ständig gefährdeter Prozess. Das tägliche Gespräch hat die Funktion sicherzustellen, dass die Vorstellungen der Einzelnen weitgehend konform sind. Hätte jedes Gruppenmitglied völlig unterschiedliche Vorstellungen über sich und die Welt, müsste die Gruppe auseinanderfallen. Größere Abweichungen bringen den Einzelnen in die Gefahr der Isolation, erschweren seine Kommunikation mit anderen Gruppenmitgliedern und können so über Desorientierung und Angst Krankheiten auslösen. Wie stark Vorstellungen die Wirklichkeit steuern, lässt sich am dramatischsten am Voodoo-Tod demonstrieren, wie er aus Australien, Afrika und Südamerika bekannt ist. Hat~

jemand ein Tabu gebrochen, wird er mit dem Fluch belegt, sein Leben verwirkt zu haben, d.h. er wird sozial für tot erklärt und nicht mehr beachtet. Das Wissen, dass er ohne die Gruppe verloren ist, löst bei ihm einen Zustand totaler Lähmung aus und er stirbt nach wenigen Tagen.

Die Aufgabe, abweichende Mitglieder wieder in den Gruppenkonsens zurückzuführen, hatten kulturhistorisch zunächst die Schamanen übernommen. Sie erkannten intuitiv, dass das Leben über Vorstellungen gelenkt wird und entwickelten deshalb die systematische Fähigkeit, bewusst mit diesen Vorstellungen umzugehen, sie zu stimulieren, sie aufzulösen, um so die Kontrolle über sich selbst und die anderen zu erhöhen. Der Bezug der Schamanen zur »höheren Wirklichkeit« gab ihren Ratschlägen und Anweisungen die Autorität, die der Kranke braucht, um sich von seinen nicht in den Gruppenkontext passenden und daher krankmachenden Vorstellungen lösen zu können. Heute ist diese Funktion auf die Massenmedien, Bildungsinstitutionen, Psychotherapien u. a. übergegangen.

Die Funktion der Vorstellungen wurde bisher meist nicht richtig eingeschätzt. Im abendländischen Verständnis werden die Vorstellungen im allgemeinen als sinnlich, flüchtig und irrational abgewertet und dem Körper zugeordnet. Die Macht des Denkens wurde nicht der Lebendigkeit der Vorstellungen, sondern der Kraft der Gedanken zugeschrieben. Diese Geringschätzung der Vorstellungen hängt damit zusammen, dass sie sich aufgrund ihrer Bindung ans Konkrete in den komplexen Sozialverhältnissen, die mit dem Aufbau der bürgerlichen Tauschgesellschaft in der Antike entstanden sind18, nicht mehr als Bezugspunkt der Verhaltensorientierung eigneten und durch abstrakte Prinzipien – Geist, Wahrheit, Freiheit, Gerechtigkeit – ersetzt wurden. Die Folge war, dass ihre Verankerung in körperlich-sinnlichen Prozessen aus dem Blickfeld geriet. Dieser Zusammenhang muss aber wiederhergestellt werden, um das Wechselspiel zwischen »körperlichen« und »geistigen« Prozessen verstehen zu können.

3.1. Die physiologischen Grundlagen der inneren Vorstellungen

Der Philosoph Ernst Cassirer hat mit der Kennzeichnung des Menschen als animal symbolicum die Schlüsselrolle der inneren Vorstellungen hervorgehoben. Er wollte damit deutlich machen, »dass der Begriff der Vernunft höchst~

ungeeignet (ist), die Formen der Kultur in ihrer Fülle und Mannigfaltigkeit zu erfassen. Alle diese Formen sind symbolische Formen«.19 Die Symbolisierungsfähigkeit bedeutet, dass sich die Menschen mit inneren Vorstellungen und darauf aufbauenden Begriffen ein inneres Abbild der Wirklichkeit – also Symbole – schaffen können. Die Symbole repräsentieren bestimmte Bereiche der Realität, sind aber nicht identisch mit ihr. »Symbole sind nicht Stellvertretung ihrer Gegenstände, sondern Vehikel für die Vorstellung von Gegenständen. Ein Ding oder eine Situation sich vorstellen ist nicht das gleiche wie sichtbar »darauf reagieren« oder ihrer Gegenwart gewahr sein. Wenn wir über Dinge sprechen, so besitzen wir Vorstellungen von ihnen, nicht aber die Dinge selbst, und die Vorstellungen, nicht die Dinge, sind das, was Symbole direkt »meinen«. Was Worte normalerweise hervorrufen, ist ein Verhalten gegenüber Vorstellungen; dies ist der typische Denkprozess«.20 Mit der Entwicklung der Symbolfunktion ist die Möglichkeit geschaffen, jedem Ding jede mögliche Bedeutung zuzuweisen. Darin liegt die Verfügungsgewalt des menschlichen Denkens über die Natur begründet.

Um zu zeigen, welche Bedeutung den Symbolen überhaupt in der biologischen Entwicklung zukommt, wird nachstehend kurz auf die phylogenetische Entwicklung des Nervensystem eingegangen. Das Grundmuster der phylogenetischen Entwicklung ist eine erhöhte Bewegungsfähigkeit unter artspezifischen Lebensbedingungen, um besser mit den Einwirkungen des Milieus auf den Körper umgehen zu können. Bei den Einzellern ist die motorische Reaktion fest an die von den Sinnesflächen in der Zellmembran aufgenommenen Reize gekoppelt. Die sensorischen Bereiche haben die Funktion, den motorischen Bereich auf eine Weise zu lenken, dass die strukturelle Koppelung mit dem Milieu erhalten bleibt. Die motorischen Oberflächen der Zellen erfüllen so die Funktion, die durch die einwirkenden Reize gestörte Ruhe wiederherzustellen.

Die vielzelligen Organismen können ihr Bewegungsvermögen gegenüber der Umwelt steigern, indem sie dem Nervensystem die Informationsübertragung zwischen dem sensorischen und motorischen Bereich, die bei den Einzellern über festgelegte Stoffwechseltransformationen verläuft, übertragen. Das Nervensystem, das selbst wie die anderen Bereiche aus spezialisierten Zellen besteht, schafft eine Vielfalt von sensomotorischen Konfigurationen. Es hat sich aus der Interaktion des Organismus mit dem Milieu als Antwort auf~

veränderte Lebensbedingungen herausgebildet. Der entscheidende Impuls für die Weiterentwicklung des Nervensystems kam aus dem dauerhaften Zusammenleben in größeren sozialen Verbänden, so dass die individuelle Reproduktion nicht nur vom Stoffwechsel mit dem natürlichen, sondern auch von dem sozialen Milieu abhängig wurde. Bei den Menschen kamen zusätzliche Entwicklungsanstöße von der veränderten Nahrungssituation durch den aufrechten Gang (Transportmöglichkeit von Nahrung), der verlängerten Pflege der Kinder und der saisonunabhängigen Sexualität.

Das neue Strukturprinzip des Nervensystems besteht in einer umfassenden neuronalen Verschaltung der sensorischen und motorischen Bereiche. Im menschlichen Nervensystem wurde eine weitgehende Entkoppelung der Sinnesorgane von den Bewegungsorganen erreicht. Deshalb sind für alle Bewegungsabläufe innere Vorstellungen als koordinierende Funktion notwendig geworden. 21 22 Die neuronale Verschaltung erfolgt auf eine Weise, dass alle Aktivitäten rückbezüglich organisiert werden. Wenn ich mich bewege, weiß ich, dass ich mich bewege. Dadurch wird es möglich, nicht nur neue Verhaltensweisen durch Nachahmung zu lernen, sondern auch aufgrund eigener Erfahrungen zu korrigieren. Das Bewusstsein ist letztlich Ausdruck dieser Rückkoppelung. Die umfassende Verschaltung stellt ein gewaltiges Potential an Fähigkeiten und Verhaltensmöglichkeiten bereit, so dass eine flexible Anpassung an Veränderungen des sozialen und natürlichen Milieus möglich wurde. Das rückgekoppelte Gewahrsein und die Plastizität des Verhaltens begründen die Erfahrungs- und Lernfähigkeit der Menschen. Nahezu das ganze Verhalten ist zum Produkt der kulturellen und individuellen Erfahrungsgeschichte geworden. Die inneren Vorstellungen basieren auf den Sinneswahrnehmungen, die der Organismus von seiner Umwelt und sich selbst wahrnimmt. Wie die Welt erfahren wird, hängt nicht nur von der Art der Reize ab, sondern auch davon, welche Reize der Organismus auswählt, miteinander verknüpft und wie er sie in innere Empfindungen umwandelt. Die Sinnesorgane fühlen entsprechend ihren Bauprinzipien mit Bewegungen des Zellplasmas die Reize der Außenwelt ab und bilden zusammen eine innere Antwort auf die Eindrücke der Welt in Form von Empfindungen.

Wie Untersuchungen über den Zusammenhang von sozialer Kommunikation~

und Blutkreislaufsystem zeigen, ist der Körper keine von der Außenwelt abgegrenzte, in sich abgeschlossene, nach physikalischen Gesetzen funktionierende, homöostatische, selbstgesteuerte und zur Selbsterhaltung bestimmte Maschine, sondern reagiert mit allen Organen, also mit der Atmung, dem Blutkreislauf, dem Verdauungssystem, dem Drüsen- und Nervensystem und den Muskeln u. a. äußerst sensibel auf die Umwelt.23 Insbesondere die Atmung reagiert äußerst feinfühlig auf Änderungen in der Umwelt. »Laboruntersuchungen haben gezeigt, dass bereits die einfache sinnliche Erfahrung eines Gegenstandes, sein Wiedererkennen und das Erinnern des mit ihm assoziierten Namens sich allesamt in gleichzeitig vorgenommenen Monitoraufzeichnungen der Atemtätigkeit nachweisen lassen«.24 Wie sehr der ganze Körper eine Reaktionseinheit ist, zeigen Versuche, dass unterschiedliche Worte unterschiedliche elektrische Spannungszustände auf der Hautoberfläche hervorrufen.

Der Organismus »weiß« von seiner Umwelt nur so viel, wie von den äußeren und inneren Reizen durch die phylogenetisch bestimmten Funktionsweisen der Sinnesorgane und des Nervensystems in innere Empfindungen umgeformt wird. Was man also von der Welt wahrnimmt, kann man nur erfahren, indem man sich auf seine Empfindungen von ihr bezieht. »Da die Selbstempfindung tatsächlich alle Empfindungen färbt, da die Empfindung überhaupt das Sieb ist, durch das die Welt sich uns offenbart, bestimmt die Art der Empfindung die Art der Wahrnehmungen und Urteile«.25

Die inneren Vorstellungen stellen einen Versuch dar, die Empfindungen, mit denen der Organismus auf die Umwelt reagiert, zu strukturieren. Zu diesem Zweck werden die Empfindungen auf den sozialen Kontext bezogen, in dem die Erfahrungen gemacht wurden. Die Einheitlichkeit der Situation erlaubt es, die situationsbezogenen Reize zu einem ganzheitlichen Komplex zusammenzufassen. Die Situation wird somit zum untrennbaren Bestandteil der inneren Vorstellungen. Die inneren Vorstellungen dürfen deshalb nicht als etwas »Geistiges« von der Situation abgelöst werden.

Die sinnlich-neuronalen Verbindungen von einzelnen Sinneswahrnehmungen machen die geistige Bedeutung der Vorstellung aus. Die Bedeutung ergibt sich somit allein aus der Art der miteinander verbundenen Reize. Sie ist ein relationaler Begriff. Bedeutung gehört nicht zu einer eigenständigen »geistigen«~

Dimension; vielmehr wurzelt die »geistige« Dimension in der flexiblen Verschaltbarkeit von Sinneswahrnehmungen. Der hergestellte Kontakt der Reize untereinander bedeutet zugleich, dass ein bewusster Kontakt zur Außenwelt aufgenommen wird. Jede Verbindung stellt eine Erfahrung dar: Die Welt wird berechenbar und kontrollierbar. Alles wird umso vertrauter, je mehr Verbindungen vorgenommen werden.

Die inneren Vorstellungen beschränken sich keineswegs nur auf visuelle Reize. Unter inneren Vorstellungen ist vielmehr ein komplexes Muster aus visuellen, akustischen, olfaktorischen, kinästhetischen und sonstigen Reizen zu verstehen, die in der Erfahrungssituation wahrgenommen werden. So sind z.B. auch die Stimmen der Bezugspersonen ein zentraler Bestandteil der inneren Vorstellungen. Vermutlich können innere Vorstellungen nur deshalb Gefühle lebendig halten, weil mit ihnen auch die für das Erleben charakteristischen Geräusche erinnert werden. Töne sind die eigentliche Tiefendimension der Vorstellungen, weil sie emotionale Zusammenhänge herstellen.26 Der Begriff der inneren Vorstellungen umfasst außerdem das ganze Spektrum dessen, was mit Meinungen, Ansichten, Überzeugungen, Glaubensvorstellungen, Vorbildern u. a. bezeichnet wird. Sie sind jeweils komplexe Vorstellungsgebilde, die aus den subjektiven Erfahrungen abgeleitet wurden.

Der Organismus stellt so von der Situation gleichsam eine innere Kopie her, die alle emotionalen, motorischen, mentalen, physiologischen und energetischen Aspekte der Situation enthält. Vorstellungen repräsentieren damit den Gesamtzustand des Organismus in einer spezifischen Situation. Von entscheidender Bedeutung ist, dass in die inneren Vorstellungen motorische Antriebsimpulse integriert werden. Die Fülle der für eine spezifische Bewegung erforderlichen motorischen Impulse verschmilzt mit den sensorischen Vorstellungen zu einer untrennbaren Einheit. Bewegung und Vorstellung können sich deshalb wechselseitig aufrufen. Wenn bestimmte Bewegungen ausgeführt werden, treten mehr oder weniger bewusst die Vorstellungen ins Bewusstsein, die mit der Bewegung verbunden wurden. Umgekehrt wird durch das Aufrufen eines Bewegungsbildes sofort auch der Impuls an die Muskeln gesandt. Die Erregung bleibt weit unter der Aktionsschwelle des Muskels. Ein Paradebeispiel solch unwillkürlicher, geringer Erregung durch Vorstellungen sind die schnellen Augenbewegungen beim Träumen. Vermutlich entstehen Traumbilder dadurch, dass die Augen sich so bewegen, als würden sie die Bilder direkt sehen. Analog bewegt sich auch der Körper bei Vorstellungen virtuell, so als würde er die Handlung vollziehen. Auf diesem Zusammenhang beruht das~

von dem Physiologen Carpenter formulierte ideomotorische Gesetz, das besagt, dass eine vorgestellte Bewegung in sich einen Antrieb enthält, sie auch ohne bewusste Beteiligung des Willens körperlich auszuagieren.

Die Synthese der inneren Vorstellungen gelingt, indem der Organismus den inneren Zusammenhang der einzelnen Reize durch die Abspeicherung der Bewegungsschritte zwischen ihnen festhält. Dies wird besonders deutlich an der Arbeitsweise des Auges, das ja bekanntlich nicht nach dem Modell des Fotoapparates arbeitet, sondern mit winzigen, äußerst raschen Bewegungen das Gesichtsfeld abtastet und dann das Gehirn aus den zeitlich aufeinanderfolgenden Wahrnehmungspunkten ein Gesamtbild zusammensetzt. Sehen ist damit nicht lediglich ein inneres Abbilden, sondern ein äußerst subtiler Bewegungsvorgang. Er entzieht sich der bewussten Wahrnehmung. In den inneren Vorstellungen findet praktisch eine innere Verdoppelung der Bewegungen auf der Ebene des Nervensystems statt. Die Synthese der unendlich vielen punktuellen Wahrnehmungen in einer einheitlichen Vorstellung ist nicht beliebig. Der Organismus erfährt, dass die Sinneseindrücke Teil der äußeren Realität sind und deshalb nur einen gewissen Spielraum für Verbindungen lassen.

Die Art der inneren Vorstellungen bestimmt das Verhalten, wie umgekehrt das Verhalten innere Vorstellungen verursacht, die Anlass geben, entweder die früheren Vorstellungen zu modifizieren oder zu bestätigen. Im Handeln bringt so der Organismus in Form der inneren Vorstellungen eine innere Welt hervor, die ein angepasstes Verhalten in der Außenwelt sichert. Der Anstoß zu neuen Vorstellungen geht meist davon aus, dass beim Vergleich der inneren mit der äußeren Realität bewusst wird, dass die alten Vorstellungen die Realität nicht mehr richtig erfassen. Der Anstoß kann aber auch aus dem Vergleich mehrerer Vorstellungen kommen.

Die inneren Vorstellungsbilder können letztlich auf körperliche Prozesse einwirken, weil sie von Anfang an die Aufgabe haben, sich mit vegetativen Prozessen zu verbinden. Der Eindruck, dass ein selbstständiger ‚Geist« auf den »Körper« einwirkt, konnte wahrscheinlich erst entstehen, als die Desensibilisierung des Körpers so weit fortgeschritten war, dass die tiefe Verschmelzung von Vorstellungen mit motorischen Impulsen nicht mehr direkt wahrgenommen werden konnte.

Die inneren Vorstellungen lassen die Einbildungskraft entstehen, die es den Menschen möglich macht, sich etwas vorzustellen, was gegenwärtig nicht da ist. Während die Tiere ausschließlich in der Gegenwart leben und von den Reizen der Außenwelt je nach ihrem inneren Zustand angetrieben werden, können sich die Menschen mit Hilfe der inneren Vorstellungen von der gegenwärtigen Situation abkoppeln. In der Einbildungskraft lassen sich beabsichtigte~

, aber nicht ausgeführte Bewegungen nachholen und neue Bewegungen versuchsweise ausprobieren. Die inneren Vorstellungen begründen damit die Kreativität des Verhaltens. Da jede Vorstellung den Körper in einen Zustand versetzt, als ob er real handeln würde und der Organismus zwischen den auf die Realität bezogenen und den von der Einbildungskraft geschaffenen Vorstellungen keinen Unterschied macht, können bewusst veränderte Vorstellungen körperliche Wirkkraft entfalten. Die imaginative Kraft befähigt so den Menschen, die Wirklichkeit in Richtung der imaginierten Vorstellungen zu verändern. Die Imagination ist die schöpferische Kraft des Menschen, mit der er sich von unbefriedigenden Verhältnissen lösen kann. Sie ist das Potential psychischer oder sozialer Veränderung. Allerdings setzt sie die Entwicklung der Sprache voraus, mit deren Hilfe die inneren Vorstellungen, die spontan in der Situation entstehen, durch Vorstellungen aus dem Gedächtnis ersetzt werden können.

Ob die inneren Vorstellungen ein direktes oder verfälschtes Abbild der Realität sind, ist für den Organismus gleichgültig, solange sie das Überleben gewährleisten. In fortwährender Rückkoppelung mit der Außenwelt hat er gelernt, bestimmte Empfindungen mit bestimmten Sinneseindrücken der Außen- und Innenwelt zu verbinden. Er erfährt, dass er nicht beliebig über die inneren Vorstellungen verfügen kann. Indem er mit seinem Handeln ständig die Realität erschafft, erfährt er unmittelbar, ob seine Empfindungen ein angepasstes Verhalten ermöglichen.

Nicht erst die Sprache, bereits die inneren Vorstellungen sind als Symbole zu betrachten. Wenn Symbole sich dadurch auszeichnen, dass sie nicht identisch mit der Realität sind, sondern sie lediglich auf eine Weise, die der Struktur des Nervensystems entspricht, repräsentieren, muss bereits den inneren Vorstellungen Symbolqualität zugeschrieben werden. Sie können die Realität vertreten, wie das von Freud berichtete Beispiel des Kindes zeigt, das mit der weggeworfenen und am Faden zurückgeholten Garnrolle die Trennung von der Mutter verarbeitete.27

3.2. Das Konzept der Selbstorganisation

Die Produktion von inneren Vorstellungen ist weitgehend eine unbewusste Angelegenheit. Innere Vorstellungen entstehen, wenn sich der Organismus den Reizen einer Situation mit ungeteilter Aufmerksamkeit überlässt. In sie~

fließen viele Reize ein, die sich der bewussten Wahrnehmung entziehen. Dieses Phänomen weist daraufhin, dass die inneren Prozesse, wie Reize aufgenommen und zu Erfahrungen verarbeitet werden, weitgehend automatisch und unbewusst ablaufen. Die von Maturana und Varela entwickelten Theorie der autopoietischen Selbstorganisation ist für das Verständnis solcher Prozesse hilfreich, weil sie mit ihrer Betonung spontaner Anpassungsprozesse an die Umwelt ein Gegenmodell zum abendländischen Konzept des Geistes und der Ich-Kontrolle anbietet.

Maturana und Varela definieren Lebewesen als Einheiten, die »sich dadurch charakterisieren, dass sie sich – buchstäblich – andauernd selbst erzeugen. Darauf beziehen wir uns, wenn wir die sie definierende Organisation autopoietische Organisation nennen (griech. autos = selbst; poein = machen).«28 Alle Lebewesen haben die Tendenz, die Autopoiese aufrechtzuerhalten. Es werden solche Interaktionen mit der Umwelt gewählt, die die Selbstorganisation nicht gefährden und so die Integrität des Organismus sichern. Die Wahrnehmungen sind ein integraler Teil der Anpassungsreaktionen. In der strukturellen Koppelung mit der Umwelt sind die internen Zustandsänderungen des Organismus ausschließlich von der Notwendigkeit bestimmt, die Selbstorganisation aufrechtzuerhalten. Der Organismus ist in dem Sinne autonom, dass Umweltveränderungen nicht strukturelle Veränderungen des Organismus bedingen, sondern nur geeignete Strukturveränderungen auslösen. Wie ein bestimmter Organismus auf eine bestimme Milieuveränderung reagiert, hängt davon ab, welche Anpassungsformen er in seinen bisherigen Interaktionsformen mit der Umwelt gelernt hat. Die gesamte Natur erscheint als ein Selbstorganisationssystem, dessen Baupläne nicht für alle Ewigkeiten fixiert sind, sondern sich ständig weiter entwickeln.

Der zentrale Mangel der bisherigen Selbstorganisationstheorien besteht darin, dass sie mit ihrem naturwissenschaftlich geprägten Vokabular gesellschaftliche Kommunikationsprozesse nicht erfassen können, die gerade durch die inneren Vorstellungen der beteiligten Menschen mitbestimmt werden. Angstbesetzte Vorstellungen können die individuelle Selbstorganisation verhindern oder sogar zu zerstörerisch ablaufenden individuellen und kollektiven Rückkoppelungsprozessen führen. Die Selbstorganisationstheorie muss deshalb den von inneren Vorstellungen geprägten Umweltkontakt in ihr Grundverständnis einbeziehen und erklären, wie die inneren Vorstellungen entstehen und verändert werden können. ~

Einen geeigneten Ansatzpunkt bietet dafür die Transaktionsanalyse, die die prägende Kraft der inneren Vorstellungen hervorhebt. Nach der Theorie der Transaktionsanalyse veranlassen die spezifischen Erfahrungen des Kleinkindes, einen »Lebensplan« aufzustellen29. Sein Inhalt sind Entscheidungen, welcher Weg am Geeignesten erscheint, um mit den negativen Erfahrungen fertig zu werden und in einer feindseligen Welt zu überleben. Die negativen Erfahrungen bedingen keineswegs eine bestimmte Reaktion, vielmehr kann das Kind aufgrund seiner früheren, auch vorgeburtlichen Erfahrungen sich für seinen eigenen Weg entscheiden. In jeder mit Stress empfunden Situation neigt der Organismus dazu, sich nicht entsprechend den Bedingungen der Situation, sondern gemäß diesem Lebensplan zu verhalten. Wenn z.B. ein Kind wiederholt den Vorwurf hört, »Du kannst nicht denken«, kann es sich schließlich entscheiden, daran zu glauben und in Problemsituationen die Hoffnung aufgeben, durch eigenes Denken einen Ausweg zu suchen. Ein Lebensplan kann auch darin bestehen: »Mit mir stimmt etwas nicht. Man lehnt mich ab und meine Geschichte wird damit enden, dass ich traurig und einsam sterbe.» Der Lebensplan enthält die Hoffnung, dass mit den Grundentscheidungen das zentrale Bedürfnis erfüllt werden kann, das in der früheren Kindheit unbefriedigt geblieben ist, nämlich, wie bedingungslose Liebe und Zuwendung gefunden werden kann. Diese Sichtweise der Transaktionsanalyse bestätigt die große Bedeutung der inneren Vorstellungsbilder. Denn der Lebensplan ist im Grunde die Gesamtheit der inneren Vorstellungsbilder, die im Zusammenhang mit emotionalen Interaktionserfahrungen gebildet werden.

Der Begriff der Selbstorganisation steht in der Tradition der Begriffe des »Willens« von Schoperhauer, des »Selbst« von Nietzsche und des »Es« von Groddeck, mit denen zum Ausdruck gebracht werden sollte, dass hinter der Bühne der rationalen Vernunft eine Triebkraft wirkt, die das Leben eigentlich regiert. Diese Auffassung ist besonders prägnant von Groddeck ausformuliert worden: »Ich bin der Ansicht, dass der Mensch vom Unbekannten gelebt wird. In ihm ist ein Es, irgend ein Wunderbares, das alles, was er tut und was mit ihm geschieht, regelt. Der Satz »Ich lebe« ist nur bedingt richtig. Er drückt ein kleines Teilphänomen von der Grundwahrheit aus: Der Menschen wird vom Es gelebt. Wir kennen von diesem Es nur das, was innerhalb unseres Bewusstseins liegt. Weitaus das meiste ist unbetretbares Gebiet«.30 Während die erwähnten Konzepte die Triebfeder allen Handelns und Denkens im Inneren des Organismus~

ansiedeln, geht das Konzept der Selbstorganisation davon aus, dass die Gestaltung des Inneren sich aus dem Austausch mit der Umwelt ergibt, wobei nicht bestimmt werden kann, welche der beiden Seiten mächtiger ist. Die personifizierende Tendenz der historischen Vorläufer des Begriffs der Selbstorganisation ist offenkundig. Die Selbstorganisationstheorie entzieht sich ihr, da sie den Akzent auf den Dialog mit der Umwelt legt, die ihrerseits eine eigene geschichtliche Dynamik hat.

In dem Austauschprozess der sich selbsterzeugenden und selbstorganisierenden Lebewesen nimmt die Atmung eine Schlüsselstellung ein. Atmen ist die zentrale Funktion, durch die der Organismus die Art seines Austausches mit der Umwelt erlebt. Am stockenden, beengten Atem merkt er seine Angst, am regelmäßigen, ruhigen und tiefen Atem seine Ausgeglichenheit. Im Atem organisiert der Organismus spontan sein Verhältnis zur sozialen Umwelt. Es wird zu zeigen sein, wie der Organismus mit Hilfe der Sprache und der Gefühle die Kommunikation mit der Umwelt in einem bisher in der Evolution nicht dagewesenen Ausmaß reichhaltiger gemacht hat. Das Atemorgan ist damit zum Dreh- und Angelpunkt der menschlichen Selbstorganisation geworden. Die Funktion der Atmung für den sozialen Kontakt wird im nächsten Kapitel ausführlich behandelt.

3.3. Der Lernprozess von inneren Vorstellungen

Alles Lernen ist innerer Nachvollzug der äußeren Realität. Beim Kleinkind beginnt die aktive Auseinandersetzung damit, dass es zunächst die bedeutsam erscheinenden Bewegungen seiner Umwelt, also direkte Körperbewegungen, emotionale Ausdrucksbewegungen und später auch die Sprachbewegungen nachahmt. Das Neugeborene spürt seine psychosozialen Bedürfnisse und die darauf antwortenden Befriedigungsformen zunächst ausschließlich auf der tonischen Ebene als Anspannung und Entspannung körperlicher Muskeln. Die emotionalen Bewegungsformen der Mutter 31 beim Füttern, bei der Körperpflege, bei Liebkosungen u. a. rufen beim Säugling einen tonischen Widerhall in Form der Kontraktion spezifischer Muskeln hervor. Auch jede Äußerung des Säuglings gegenüber der Mutter wie z.B. das Lächeln oder Laute lassen~

eine Wechselbeziehung zwischen den Reaktionen der Mutter und seinem eigenen Körpererleben entstehen. Von Anfang an werden die tonischen Empfindungen mit Vorstellungen der äußeren Welt verknüpft. Dadurch werden sie mit konkreten Erwartungen verbunden und erhalten eine bestimmte Zielrichtung.

In den emotionalen Bewegungen der Bezugspersonen findet das Kind also Muster, um seine eigenen inneren Zustände auszudrücken. Es lernt, in den Bewegungsmustern der Bezugspersonen eine bestimmte affektive Botschaft zu sehen und versucht dann, analog seine innerlich erfahrenen ähnlichen Empfindungen mit diesen Bewegungsgestalten zu übersetzen. Wie das Schicksal des unter Tieren aufgewachsenen Kaspar Hauser zeigt, entwickelt sich bei einem Mangel an menschlichen Bezugspersonen weder der aufrechte Gang noch das emotionale und sprachliche Ausdrucksverhalten.

Zu Recht wurde der affektive Austausch zwischen Mutter und Kind als tonischer Dialog bezeichnet32, Wie im verbalen Dialog wird ein Inneres, die körperlichen Empfindungen, mit einem Äußeren, den auf die äußeren Objekte bezogenen Vorstellungen, verbunden. Der Organismus stellt mit seinen Impulsen im Grunde Fragen an die Umwelt. In seinen inneren Vorstellungen legt er sich fest, wie er sich gegenüber der Umwelt verhalten will und was er von den anderen erwartet; er formuliert damit sozusagen seine eigene Antwort. Aus den Antworten formt er so seine innere Struktur, die in neuen Situationen zu neuen Fragen führt. In diesem Prozess wächst der Besitz an Vorstellungen und Interaktionsmustern, die einen sicheren Kontakt zur Umwelt gewährleisten, weil sie sich als tauglich erweisen, Befriedigung zu erlangen und sein gestörtes physiologisches Gleichgewicht wiederherzustellen33. Dieser Vorgang, in dem die inneren Impulse mit den auf die Außenwelt bezogenen Vorstellungen verknüpft werden, kann als sinnliche Vergesellschaftung bezeichnet werden kann.

In der frühen Phase der kindlichen Entwicklung, in der sich die inneren Vorstellungen naturwüchsig aus den Kontakten mit der Umwelt aufdrängen und gleichsam auf den Organismus einströmen, kann das Kind noch nicht zwischen den Vorstellungen von seinem eigenen und dem Verhalten anderer~

Menschen unterscheiden. In der harmonischen Verschränkung von Mutter und Kinder, in der die Mutter die Bedürfnisse des Säuglings fast vollkommen erfüllt, kann sich die Illusion entwickeln, dass die Brust ein Teil des Kindes ist. Da die Brust immer dann erscheint, wenn die Vorstellung der Brust auftaucht, stellt sich beim Kind die Erfahrung der magischen Kontrolle ein, ein Gefühl der Omnipotenz.34 Diese Erfahrung ist wahrscheinlich die Wurzel des magischen Bewusstseins, das für die psychische und geistige Selbstorganisation von zentraler Bedeutung ist.

Es wäre aber nicht zutreffend, das mangelnde Differenzierungsvermögen des Kindes als Unfähigkeit zu verstehen, zwischen innerer und äußerer »Realität« zu unterscheiden. Denn in Wirklichkeit gibt es keine äußere »Realität«. Alles, was wir von der Realität wissen, ist nur in den inneren Vorstellungen von ihr präsent. Es gibt keine unmittelbare Erfahrung der Realität, da jede Erfahrung durch subjektiv geprägte Vorstellungen vermittelt ist. »Objektiv« ist nicht eine Eigenschaft der Realität, sondern selbst nur eine Vorstellung von ihr. Vorstellung und Realität unterscheiden sich deshalb nur insofern, als die entsprechenden Vorstellungen einen unterschiedlichen Charakter haben. Im Verlauf der Entwicklung wird der erste Bereich als psychische Innenwelt und der zweite als »Realität« erlebt.

Eine der zentralen Fragen der psychischen Entwicklung besteht darin, wie innerhalb der geschlossenen Welt der inneren Vorstellungen eine Differenzierung erfolgt, so dass das Kind zwischen den verschiedenen Vorstellungen unterscheiden kann. Auf der einen Seite stehen die Vorstellungen, die auf das eigene Verhalten bezogen sind und dessen Ablauf sie bestimmen. Sie enthalten die Erfahrungen, wie die organismischen Impulse, d.h. die Bedürfnisse befriedigt werden. So sehr sie sich auch als Erfahrung aufdrängen, sind sie mehr oder minder ein Produkt subjektiver Tätigkeit und können in gewissem Umfang verändert werden. Auf der anderen Seite geht es um die Vorstellungen, die die Reaktionen festhalten, die der Organismus auf seine Verhaltensweisen gegenüber sich und der Umwelt auslöst. In diesen Vorstellungen werden die Erwartungen aufbewahrt, wie die Umwelt auf ein bestimmtes Verhalten reagieren wird und welche Anforderungen sie an das eigene Verhalten stellen. Im Gegensatz zu den verhaltensbezogenen Vorstellungen sind diese Vorstellungen subjektiv nicht verfügbar. Sie können zwar auch durch die Einbildungskraft verändert werden, aber dies hat keinen Einfluss auf die von ihnen festgehaltenen Reaktionen der Umwelt. Das Kind merkt an dem Verhalten der Mutter, dass es diese zwei verschiedenen Arten von Vorstellungen gibt: Wenn es die Mutter~

aus Wut in seiner Vorstellung zerstört, aber die Mutter überlebt, kann es spüren, dass ein Teil der Vorstellungen seinen bewussten Absichten folgt, also gestaltet werden kann und ein anderer Teil sich der Beeinflussung entzieht. Wenn die Reaktionen der Umwelt Anforderungen an das eigene Verhalten enthalten, steht das Subjekt vor der Aufgabe, ob sie unverändert oder an die eigenen Bedürfnisse angepasst übernimmt. Diese innere Verarbeitung kann als Assimilation bezeichnet werden. Treffender erscheint die Metapher der Verdauung, da es darum geht, etwas Fremdes so umzuwandeln, dass es akzeptiert werden kann.

Diese Unterscheidung zwischen verhaltensbezogenen und reaktionsbezogenen inneren Vorstellungen wird nicht richtig getroffen, wenn man die üblichen Formulierungen wählt, dass »die Vorstellungen von den Objekten getrennt werden«, oder dass »das Objekt aus dem Subjekt herausgestellt wird«, oder dass »die innere von der äußeren Realität unterschieden wird«. Denn die Objekte sind auch nur als Vorstellungen gegeben. Bei der Unterscheidung in innere und äußere Realität kann es nur darum gehen, dass eine innere Differenzierung zwischen den verhaltensbezogenen und den auf die Reaktionen der anderen bezogenen Vorstellungen vorgenommen wird.

In der psychischen Innenwelt muss eine weitere Differenzierung zwischen dem aktiv fragenden und entscheidenden Bewusstsein einerseits und dem selbsttätigen Teil andererseits gelernt werden. Es gibt Vorstellungen, Gefühle und Gedanken, die sich von selbst im Bewusstsein einstellen, wenn man sich bestimmten Situationen aussetzt. Sie können sich als Traum, innere Stimme, intuitiver Einfall oder emotionale Stimmung äußern. Sie haben mit den Vorstellungen von der »äußeren Realität« gemeinsam, dass sie sich selbsttätig einstellen; sie unterscheiden sich davon, dass sie letztlich, wenn auch unbewusst, vom Subjekt in der inneren Verarbeitung von Erfahrungen selbst produziert werden.

Die innere Differenzierung muss misslingen, wenn die Eltern auf den Ausdruck von Wut als Folge von verletzten Bedürfnissen nicht verständnisvoll und gelassen, sondern bestrafend reagieren. Wahrscheinlich werden viele Vorstellungen, die sich im Zusammenhang mit dem Fehlen von Zuwendung, Nahrung, Ruhe u. a. herausbilden, zunächst vom Kind selbst als etwas Fremdes und Bedrohliches empfunden, das nicht zum eigenen Körper gehört. Es stellen sich Vorstellungen der Zerstörung der Mutter ein, die mit Angst verbunden sind, die Mutter dadurch zu verlieren. Diese »bösen« Vorstellungen setzten deshalb das Kind in anhaltende massive Unruhe und lösen das Bestreben aus, sich von ihnen zu befreien. Demgegenüber verschwinden die »guten« Vorstellungen von selbst, sobald die Befriedigung erlangt ist. Was es bedeutet, dass die ersten~

Vorstellungen, die der Organismus in seiner Anpassung an die soziale Umwelt bildet, zunächst einen bedrohlichen Charakter haben, den sie aber bei ausreichender Befriedigung verlieren, kann nur schwer eingeschätzt werden.

Wenn nun die Mutter auf die Äußerung von Wut mit Liebesentzug oder körperlichen Strafen reagiert, wird die Angst, dass es mit seinen Zerstörungsphantasien die Mutter vernichten könnte, bestätigt.35 Jedes Mal, wenn sich wieder körperliche Impulse melden, die früher versagt wurden, tauchen auch die »bösen« Vorstellungen auf und bringen das Kind erneut in Unruhe. Der Organismus sucht deshalb nach Wegen, um sein gestörtes Gleichgewicht zurückzufinden. Dazu muss die Assoziationskette von der Vorstellung, wie die Befriedigung für die Impulse zu finden ist, zu der Zerstörungsphantasie unterbrochen werden. Dem Kind steht die mit der Sprache gegebene Möglichkeit noch nicht zur Verfügung, die unmittelbar auf die Impulse bezogenen Vorstellungen umzudefinieren und die Befriedigung auf einem anderen Wege zu suchen. In der vorsprachlichen Phase hat das Kind nur die Möglichkeit, die »bösen« Vorstellungen von der mit ihnen verbundenen Motorik abzukoppeln und mit den auf die Reaktionen der Mutter bezogenen Vorstellungen zu verknüpfen. Sie werden damit aus dem Bereich der subjektiven Disposition herausgenommen und erscheinen nun als Teil der Vorstellungen, die sich auf die Reaktionen der Umwelt beziehen. Mit dieser inneren Umschaltung, gewöhnlich als Projektion bezeichnet, scheinen jetzt die Aggressionen von der Mutter auszugehen. Da aber das Kind auf eine liebevolle Mutter angewiesen ist, muss es die Mutter in die »gute Mutter« und die »böse Mutter« aufspalten.

Durch diese Manipulationen werden praktisch verhaltensbezogene Vorstellungen zu Eigenschaften des Objektes, sie werden entsubjektiviert. Es findet eine Entfremdung in dem Sinne statt, dass die Vorstellungen, die eigentlich als etwas Fremdes als Teil von sich selbst zu verarbeiten wären, auf die Vorstellungen von dem Bereich der Realität, der unverfügbar ist, übertragen und damit zu etwas Fixem, Unveränderlichem werden. Da aber die verhaltensbestimmenden Vorstellungen nach wie vor ein Bestandteil der psychischen Innenwelt sind und hintergründig das Verhalten leiten, entsteht zwangsläufig der Eindruck, von den anderen Personen abhängig zu sein. Dieser Eindruck beruht auf dem Verzicht, sich mit den eigenen Vorstellungen auseinanderzusetzen und sie zu verdauen. Im Grunde macht man sich von sich selbst abhängig, indem ein innerer Prozess stillgestellt wird.

Es ist ein eigentümliches Paradoxon, dass die auf andere Personen bezogenen Vorstellungen zunächst gar nicht als etwas Fremdes, sondern eher als etwas~

Vertrautes erscheinen, während die auf das eigene Verhalten bezogenen Vorstellungen als etwas Fremdes wahrgenommen werden. Das hängt damit zusammen, dass die verlässlichen Reaktionen der Umwelt Ruhe und Gleichgewicht bringen. Demgegenüber zeichnen sich die verhaltensbezogenen Vorstellungen gerade dadurch aus, dass immer Unsicherheit besteht, ob sie ein richtiges Verhalten gewährleisten. Sobald Vorstellungen, die den Kernbereich des eigenen Verhaltens bestimmen, dem Bereich der reaktionsbezogenen Verhaltensvorstellungen zugeschrieben werden, geht die Differenz verloren, die das Gefühl der Fremdheit gegenüber sich selbst entstehen lässt. Der Stimulus der inneren Auseinandersetzung zwischen den inneren Impulsen und den sozialen Anforderungen erlischt, so dass die inneren Vorstellungen nicht mehr bewusst verdaut werden können. Der Kontakt zur Wirklichkeit geht verloren, wenn die beiden Vorstellungsgruppen ineinander verschwimmen.

Symptom der inneren Entdifferenzierung ist die Schwierigkeit, sich abzugrenzen. Der Begriff der Abgrenzung beschreibt anschaulich die Aufgabe, dass Grenzen zu setzen sind, indem Unterscheidungen getroffen werden. Nach der hier entwickelten Theorie besteht die wesentliche Grenzziehung in der Unterscheidung zwischen den verschiedenen Arten der inneren Vorstellungen. Diese innere Differenzierung ist ein spontaner Nebeneffekt bei der Erlernung autonomer Handlungsfähigkeit. Die Grenzen verschwinden, wenn dieser Prozess blockiert wird und die mit den eigenen Handlungen verbundenen Ängsten abgewehrt werden.

Wenn das Kind wiederholt die Erfahrung macht, dass die »bösen« Vorstellungen die Beziehung zur befriedigenden und Zuwendung gewährenden Mutter nicht beeinträchtigen, kann es sich mit ihnen identifizieren und als Teil der inneren Realität akzeptieren. Sie verlieren damit ihren bedrohlichen Charakter. Je mehr die inneren Vorstellungen als Teil von sich selbst akzeptiert werden, desto mehr bilden sie eine Grundlage für autonomes Handeln. Auf der Übereinstimmung von Verhalten und inneren Vorstellungen kann sich das Gefühl der Identität entwickeln, das die Kraft gibt, sich seine Unsicherheit und Unwissenheit eingestehen zu können. Es ist zu spüren, dass die eigenen Vorstellungen etwas Fremdes sind. Daraus entsteht das Motiv, sich genau zu beobachten, um sich besser kennenzulernen. Andere Personen können in dem Maße als eigenständiges Subjekt von Bedürfnissen anerkannt werden, in dem man sich selbst als autonomes Subjekt erfahren kann. Zu Recht hebt deshalb Benjamin den Begriff der Anerkennung als den Zentralbegriff der intersubjektiven Theorie hervor. »Anerkennung ist die entscheidende Reaktion, die ständige Begleitmusik der Selbstbehauptung«.36

3.4. Das Schwingungskonzept

Die inneren Vorstellungen müssen am Anfang der Atemanalyse stehen, da sie gleichsam das Bindeglied zwischen den Sinnesorganen und den handlungsausführenden Organen sind. Sie enthalten die Summe aller Erfahrungen, Gefühle und Handlungsimpulse, mit deren Hilfe der Organismus einen Verhaltensplan entwirft. Sie legen das Maß der Vitalität des Körper fest.

Aus physikalischer Sicht sind die inneren Vorstellungen Teil eines Organismus, der als ein komplexes System von Schwingungsmustern auf verschiedenen Ebenen begriffen werden kann. Jedes Atom besteht nach der Superstringtheorie aus vibrierenden subatomaren Energiefäden, die sich in der Art und Weise ihrer Vibration von anderen Atomen unterscheiden. Die Energiefelder aller Atome bilden im menschlichen Organismus ein in sich geschlossenes, vernetztes Energiesystem. Jedes Atom und Molekül besitzt dabei eine charakteristische Frequenz, bei der Strahlung sowohl absorbiert als auch emittiert wird. Höhere Organe sind Schwingungsmuster, die sich aus diesen Bausteinen aufbauen. Nicht nur das Ohr, sondern jede Zelle besitzt dieses Schwingungsvermögen und ist daher imstande, Schwingungen aus der Umwelt aufzunehmen und abzugeben. Jede Zelle kann in Resonanz mit den anderen Zellen treten, die auf eine gleichartige Grundfrequenz eingestellt sind. Der Körper kann so als ein lebender Bio-Oszillator bzw. Gleichstromsystem verstanden werden, das mit der Stärke und der Flussrichtung seine Abläufe steuern kann und das Geräusche und Schwingungen aus der Umwelt aufnimmt und mit ihnen schwingt.37

Jeder Sinnesreiz ist eine spezifische Schwingung elektrisch geladener Teilchen, und da Vorstellungen sich aus Sinnesreizen zusammensetzen, können sie auch als komplexe Schwingungsmuster verstanden werden. Auch die Gefühle und Begriffe können unter diesem Gesichtspunkt betrachtet werden. Wie im nächsten Kapitel ausführlicher dargestellt wird, werden die Schwingungen der Vorstellungen, Gefühle und Begriffe von der Atmung produziert. Das geschieht dadurch, dass die von den Sinnesorganen aufgenommenen Schwingungen mit Hilfe der Atemmuskulatur in differenziertere Schwingungsmuster umgesetzt werden, die z.B. bei der Trauer oder dem Lachen den ganzen Körper erfassen können. Die dafür erforderlichen inneren Druck- und Spannungsmuster werden vom Atemzentrum erzeugt.

Der Zusammenhang von Schwingung und Atmung ergibt sich aus der ~

fundamentalen Bedeutung, die der Atemprozess bei der Erhaltung des Lebens hat. Die Atmung muss für alle Lebenssituationen die dafür notwendige Energieversorgung sicherstellen. Dies gelingt nur durch ein komplexes Zusammenwirken der über den ganzen Körper verteilten Atemmuskeln. An allen am Atemprozess beteiligten Muskeln befinden sich Rezeptoren, die die Veränderungen der Muskelspannungen messen. Über die Atmung kann so jede Veränderung registriert und nach dem Muster eines selbststeuernden Systems jeder geringsten Störung entgegengearbeitet werden. Alle organischen Prozesse wie Stoffwechsel, Blutkreislauf, Nervensystem sind mit dem Atemprozess synchronisiert und profitieren, solange der Atemprozess nicht durch äußere Einwirkungen blockiert wird, von den im Atemprozess ständig wechselnden Druckverhältnissen. Viele Körperbewegungen wie z.B. der Saugrhythmus des Säuglings, die Augenbewegungen, das Laufen und alle sportlichen Bewegungen usw. sind über ganzzahlige Frequenzverhältnisse in die Atemmotorik eingebunden. Auch die Motorik ist unmittelbar mit der Atmung gekoppelt, so dass eine Anspannung der Muskeln unmittelbar das Atemzentrum stimuliert.38 Jede Änderung der Umwelt, jede Änderung im emotionalen und geistigen Verhalten ist so mit einem veränderten Atemrhythmus verbunden.

Das Schwingungsmodell entstand bereits in Griechenland im 6. Jahrhundert v. Chr. bei Pythagoras und Hermes Trimegistos in Form der Überzeugung, dass alles, was existiert, letztlich eine Schwingung ist. Heute wird sie immer mehr zur Erklärung von bisher rätselhaften Phänomenen herangezogen, da sie mit naturwissenschaftlichen Vorstellungen der Atomtheorie kompatibel ist und deshalb plausibel erscheint. So sucht die Homöopathie eine Erklärung ihrer Wirkungsweise darin, dass mit einem Gemisch von Wasser und Alkohol die Moleküle potenziert und so deren Schwingungsmuster »herausgearbeitet« werden kann. Teilweise wird die Zukunft der Medizin darin gesehen, dass organisch-anatomische Schäden als Störungen im elektromagnetischen Geschehen des Körpers verstanden werden.

In der Sprache ist das Bild der Schwingung in vielfacher Weise enthalten. So ist die Rede vom »Einklang mit der Welt«, vom »Gleichklang der Seelen« oder davon, dass man sich auf den anderen einschwingt und eine harmonische Beziehung hat. Sogar der Begriff der Person gehört dazu, da er sich vom lateinischen personare (= durchtönen) ableitet. Solche Begriffsbildungen haben mehr als nur poetische Bedeutung; sie sind Ausdruck eines archaischen Menschenverständnisses, das dem Klang eine zentrale schöpferische Rolle zuschreibt. In vielen mythologischen Vorstellungen sind die Götter reiner~

Klang, werden Welt und Menschen als aus dem göttlichen Klang geschaffen vorgestellt, enthält die vom Menschen erschaffene Musik Botschaften der Götter oder wird jeder Mensch mit einem je spezifischen Klang identifiziert. Musik gilt als göttlichen Ursprungs mit magischen Charakter. Durch die stimmliche Nachahmung der Klänge der Götter, Geister oder Ahnen kann mit ihnen Kontakt aufgenommen und Einfluss auf sie ausgeübt werden. Musik wurde so als Teilhabe an der natürlichen und übernatürlichen Welt verstanden. Die Chinesen sagen, dass es die Natur des Ohres ist, die Töne zu lieben. Wie am Beispiel der Gehörlosen nachzuvollziehen, ist die Sensibilität für Schwingungen vermutlich erst unter Kultureinfluss weitgehend verlorengegangen: Gehörlose reagieren auf Schwingung noch äußerst sensibel.39

Das Schwingungskonzept – obwohl auch nur eine gedankliche Konstruktion – hat den Vorteil, kein rein begriffliches Konzept zu sein, sondern tief bei den sinnlichen Erfahrungen anzusetzen. Es kann die Einheitlichkeit in der Verschiedenheit des Lebendigen verständlich machen. Mit dem Modell der Schwingung können die verschiedenen Dimensionen menschlicher Existenz auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden: Körperempfindungen, Emotionen, Vorstellungen und Begriffe können sich als Schwingungsmuster überlagern und beeinflussen, indem sie sich wechselseitig in Resonanz bringen. Daraus leitet sich die Überzeugung ab, dass die Resonanz das Grundphänomen des Lebendigen ist, so dass sich der Organismus im naturgemäßen Zustand befindet, wenn alle Zellen im je eigenem Rhythmus schwingen und damit harmonisch zusammenklingen. Disharmonien äußeren sich als Unwohlsein, Verhaltensstörungen oder Krankheiten. Die Redewendung »im Einklang mit sich und der Welt« enthält die Erfahrung dieses Zusammenklangs zwischen Mensch und Natur.

3.5. Inneres Hören

Schwingungen sind das Grundphänomen des Lebens. Nicht zufällig ist das Ohr der Sinn, der sich in der Embryonalentwicklung am frühesten entwickelt. Hören bedeutet, dass Außengeräusche im Körper Resonanz auslösen. Nicht bloß das Ohr, sondern der ganze Körper schwingt mit den Außenreizen mit. Die Qualität des mitschwingenden Kontakts bestimmt sich danach, wie vollständig oder unvollständig das Mitschwingen mit der Frequenz des Umweltobjektes gelingt. Suggestibilität bedeutet, dass man sich der Resonanz~

der Schwingungsmuster, die von den Gefühlen anderer oder von Objekten der Umwelt ausgehen, nicht entziehen kann. Die beruhigende und entspannende Wirkung des Meeres z.B. ist sicher auch darauf zurückzuführen, dass sich der Körper auf den Rhythmus der Brandung einschwingt.40 Nicht-zuhören-Können bedeutet Unfähigkeit zur Resonanz.

Grundsätzlich gilt, dass Organismen deshalb in einen Austausch mit der Umwelt treten und sich mitteilen können, weil ihre spezialisierten Sinnesorgane die Schwingungen aus der Umwelt empfangen, in innere Empfindungen und Vorstellungen übersetzen und damit die Resonanz zu einem Bewusstseinsphänomen werden lassen.

Die phylogenetische Grundlage dafür ist das innere Sinnesorgan der propriozeptiven Fähigkeiten. Darunter versteht man, dass alle Muskeln mit dem zentralen Nervensystem rückgekoppelt sind und zwar so, dass der Tonus, den die Muskeln bei der Erledigung der Aufgaben und auch bei ihrer Beteiligung an den Vorstellungen jeweils annehmen, zurückgemeldet wird. Diese propriozeptive Selbstwahrnehmung ist die Basis der körperlichen Selbstbewusstheit. Sie besitzt als inneres Sinnesorgan weit mehr Nervenenden als alle anderen Sinnesorgane zusammen und ist deshalb das zentrale Organ der körperlichen Selbstorganisation.

Die propriozeptive Selbstwahrnehmung ist eine Funktion des Vestibularapparates (Gleichgewichtsorgan) im Innenohr. Mit allen Muskeln verbunden kann der Vestibularapparat die geringsten bewegungsmäßigen Zustands- und Spannungsveränderungen im Körper registrieren. Er arbeitet mit Schwingungen, die in einem Frequenzbereich unter der Schwelle des menschlich Hörbaren liegen. Da das Ohr erst Schwingungen über 16 Hertz wahrnehmen kann, bleibt ihm der »Klang des Körpers« verschlossen. Dieser Klang wird allerdings vom archaischen Teil des Ohres, dem Gleichgewichtsorgan gefühlt. Dieses Organ besteht aus einer Fülle von Haarzellen (Cortizellen), die mit ihren winzigen Haaren auf unterschiedliche Schwingungsfrequenzen eingestellt sind und das Nervensystem auf diese Weise in die Lage versetzen, äußere Reize in nutzbare Informationen zu übersetzen.

Der Vestibularapparat stellt in der phylogenetischen Entwicklungsgeschichte den ersten Versuch dar, einen Dialog des Körpers mit sich selbst und mit der Außenwelt herzustellen, und hat sich aus dem Seitenlinienorgan, mit dem sich Fische im Raum orientieren, entwickelt. »Nach meiner Auffassung handelt es sich um ein zentrales Organ, um das herum sich alles andere organisiert, vereint. Seine Grundfunktionen machen es zum Ordnungs- und~

Organisationsprinzip des gesamtes Nervensystems«.41 Die Ausdifferenzierung des Gleichgewichtsorgans zum hörenden Ohr erfolgte phylogenetisch mit dem Übergang zum Landleben und später zum aufrechten Gang, weil parallel dazu in der Schnecke des Innenohres die Mechanismen des Gleichgewichtsorgans weiter verfeinert wurden. So nimmt der Vestibularapparat alle Bewegungen als zusammenhängendes, sinnvolles Bewegungsmuster mit je bestimmten affektiven Bedeutungen wahr und speichert sie im Gedächtnis.42 Auf diese Weise können Bewegungen dann wiedererkannt werden, wenn eine bestimmte Bewegung die abgespeicherten Bewegungsmuster des Vestibularapparates reaktiviert und sie damit innerlich nachvollzogen wird. Die dabei ablaufenden Prozesse sind so subtil, dass sie sich der bewussten Wahrnehmung entziehen. Da das innere Ohr praktisch das Kontrollorgan für alle Veränderungen des Körpers ist, kann die innere Selbstwahrnehmung und die Entschlüsselung von Bewegungen durch das Innenohr als ein »inneres Hören« bezeichnet werden. Mit einer derart differenzierten Decodierung kann der Dialog mit der Umwelt erheblich verbessert werden.

In dem von Schwingungen geprägten Körperverständnis kommt der Musik eine herausragende Rolle zu. Sie holt das körperliche Klangphänomen in den Bereich des Hörbaren. Die Faszination der Musik beruht darauf, dass sie in einen Bewusstseinszustand versetzen kann, in dem das klangliche Wesen des Körpers zu erfahren ist. So scheint sie der inneren Natur des Menschen zu entsprechen. Wenn der Musik etwas Göttliches zugeschrieben wird, liegt das an ihrer Fähigkeit, den Zugang zum inneren Kern des Menschen zu erwecken und so den Körper in Einklang mit sich selbst zu bringen.

3.6. Verlust der Gegenwart

Die menschliche Wirklichkeit besteht zentral aus den Vorstellungen von der Wirklichkeit. Alles was jemand über die Realität weiß, ist in seinen inneren Vorstellungen abgebildet. Deren Übereinstimmung mit der Realität ist grundsätzlich nicht überprüfbar, da die Wirklichkeit nie unmittelbar gegeben ist. Der Philosoph Malebranche hat diesen Zusammenhang bereits Ende des 17. Jahrhunderts auf die Formel gebracht, dass Wahrnehmen heißt, sich etwas einzubilden, nämlich das Wahrgenommene in sich selbst als Vorstellung~

nachzuvollziehen.43 Erkennen basiert so auf innerem Nachvollzug und ist ein produktiver Akt, weil bei diesem Nachvollzug aus bisherigen Erfahrungen neue Vorstellungen geschaffen und fremde Erfahrungsbereiche angeeignet werden. Für Malebranche war deshalb die Einbildungskraft ein Erkenntnisvermögen.

Die Wirklichkeit kann nur vollständig angeeignet werden, wenn sich die Sinne ihr gegenüber uneingeschränkt öffnen können. Der größte Feind für Erfahrungsoffenheit ist Angst. Wenn der Kontakt mit anderen Personen oder dem eigenen Körper Angst auslöst, hat der Organismus die Tendenz, solchen bedrohlichen Situationen auszuweichen und sie möglichst nicht zur Kenntnis zu nehmen. In dem Maße, wie die soziale Kommunikation gestört wird, wird auch der Erfahrungs- und Lernprozess behindert. Angst führt so in den Teufelskreis abnehmender Kommunikations- und Erfahrungsfähigkeit.

Wie Mario Erdheim zeigt, ist die zentrale Strategie sozialer Herrschaft die Herstellung von Unbewusstheit.44 Anhaltende soziale Unterdrückung stört die innerkörperlichen Kommunikationsprozesse, die für einen gelungenen Austausch mit der Umwelt notwendig sind. Soziale Herrschaft bedeutet körperlich die Zerstörung der Einheit des Körpers, indem Teile des Körpers –Empfindungen, Gefühle, Vorstellungen – der bewussten Erfahrung entzogen werden. Herrschaft braucht die Zerstörung der Erfahrungsfähigkeit, um sich dauerhaft etablieren zu können.

Die Theorie, dass sich die Welt über die inneren Vorstellungen von ihr konstituiert, ist schwierig nachzuvollziehen, da es nicht leicht ist, den eigenen gestaltenden Anteil daran zu erfahren. Wahrscheinlich liegt das daran, dass im neuzeitlichen mechanistischen Denken die Welt als eigenständiges, fremdes Objekt erscheint, das durch eine objektive, distanzierte und affektfreie Beziehung zu erkennen sei. Die Objektivierung der Welt hat offensichtlich eine starke psychodynamische Funktion. Sie entsteht in direktem Wechselbezug zur Unterdrückung der inneren Natur. Da alles Lebendige an die Unterdrückung der eigenen Lebendigkeit erinnert, muss der Kontakt zur äußeren Natur versachlicht werden.

Im Prozess der Entmythologisierung wurde die Wirklichkeit von allen Geistern, Hexen, Dämonen u. a., die die Einbildungskraft hervorgebracht hatte, gesäubert. Mythologische Wesen hatten die Funktion, die Wirklichkeit in den Bereichen zu erklären, wo Erfahrungswissen nicht ausreichte. So wurde Fremdes durch Mythen vertraut gemacht. Zugleich wurde die Angst vor den eigenen~

Gefühlen gebändigt, indem sie in den mythologischen Wesen vergegenständlicht wurden. Der Preis dafür war, dass sich die Vorstellungen verselbständigten und die Fiktionen der Geister, Hexen und Dämonen als Realität angenommen wurden. Im Prozess der Aufklärung wurden diese Versuche der Angstabwehr als imaginär durchschaut. Seitdem werden die Produkte der Einbildungskraft ins Reich der Poesie, Kunst, Fiktion und Phantasie abgeschoben und entwertet. Erst in jüngster Zeit beginnt die alte Erkenntnis von Malebranche, dass die Welt aus Vorstellungen besteht, wieder an Einfluss zu gewinnen.45

Im Zusammenhang mit dem Erlernen der inneren Vorstellungen wurde darauf hingewiesen, dass zur Abwehr von Ängsten die angstauslösenden Vorstellungen mit den inneren Vorstellungen von äußeren Objekten verbunden und damit entschärft werden. Dadurch wird die subjektive Vorstellung zur Eigenschaft des Objektes objektiviert. Die bedrohlichen Vorstellungen werden zu einem Bestandteil des Objektes. Damit werden auch aggressive Impulse, die ursprünglich wegen der Versagung gegen ein andere Personen gerichtet wurden, mit ihnen verbunden. Die Folge dieser Projektionen ist, dass die andere Person nicht mehr als getrenntes und eigenständiges Wesen angesehen werden kann. Denn die zu Eigenschaften des anderen objektivierten Vorstellungen sind nach wie vor Bestandteil des eigenen Inneren. Wenn die Distanz zu den eigenen verhaltensbezogenen Vorstellungen verlorengeht, verschwimmt auch die Grenze zu den Vorstellungen über andere Personen. Dies wirkt sich darin aus, dass man sich von ihnen bedroht fühlt. Es entsteht der Eindruck, einerseits von ihnen abhängig zu sein und bestimmt zu werden und andererseits für deren Gefühle verantwortlich zu sein. Dieser Vorgang bedeutet im strikten Wortsinn eine Entfremdung: die Vorstellungen hören auf, etwas Fremdes zu sein. Die subjektive Distanz zu ihnen geht verloren, weil sie nicht mehr als etwas Subjektives, sondern als Teil des Objektes erscheinen .

Die Folge der Entsubjektivierung der inneren Vorstellungen ist, dass sie mit der Realität verwechselt werden. Sie werden als unmittelbares Abbild der Realität genommen. Dabei wird der subjektive Anteil an ihrer Produktion verdrängt. Als Eigenschaften der Objekte erscheinen sie als etwas Unveränderbares. Stattdessen richten sich nun die Hoffnung darauf, dass sich das Objekt ändert. Die Identifizierung der Vorstellungen mit der Realität hat so den psychischen Vorteil, dass der Einzelne nicht die Verantwortung für seine Vorstellungen zu übernehmen braucht und jederzeit ein Objekt hat, dem er die Verantwortung für seine Defizite zuschreiben kann. Dies ist der Mechanismus der Mythologie und jeder Sucht.~

Die Verwechslung der inneren Vorstellungen mit der Wirklichkeit bedeutet, dass die Sinneswahrnehmungen, die eine Korrektur der Vorstellungen nahelegen könnten, ausgeblendet werden müssen. Die propriozeptiven Fähigkeiten müssen desensibilisiert werden, um die Umformung der Reize in innere Empfindungen und Vorstellungen zu verhindern. Dabei spielt die Atmung eine wesentliche Rolle. Denn Atmen und Wahrnehmen hängen eng zusammen. Wie körperliche Aktivitäten im Rhythmus der Atmung schwingen, sind auch die Leistungen der Sinnesorgane an den Rhythmus der Atmung gekoppelt. Dabei gehen alle aufnehmenden Impulse mit der Einatmung und die abgebenden Impulse mit der Ausatmung zusammen. So wird eingeatmet beim tastenden Ergreifen von Dingen, beim schnuppernden Riechen von Gerüchen, beim aufmerksamen Vernehmen von Geräuschen oder beim saugenden Trinken und schmeckenden Einverleiben von Speisen. Da Aufmerksamkeit stets eine Einatmung bewirkt, ist sie nach Dauer und Intensität eine Funktion der Aufmerksamkeit und also des Interesses. Wird dem sinnlichen Eindruck besonders intensiv nachgespürt, so als hätte man Angst, den Eindruck in der folgenden Ausatmung wieder zu verlieren, so dehnt und vertieft sich die Einatmung. Beobachtet man etwas mit gespannter Aufmerksamkeit, hält man sogar oft den Atem an. Auch das Denken, das Eindrücke der Umwelt aufnimmt und verarbeitet, ist an die Phase der Einatmung gebunden. Das Wort Intuition (Eingebung) drückt nicht zufällig die Erfahrung aus, dass durch die bewusste tiefe Einatmung intensivere Erfahrungen gemacht und nachhaltige Erinnerungen aktiviert werden können. Offensichtlich tauchen auch bei bewusster Einatmung intuitiv Gedanken auf. Auch die Sprache veranschaulicht, dass die neugierige Konzentration mit dem Einatmen verbunden ist: so heißt es z.B. »er kam nur zum Schnüffeln«.

In der Einatmung wird die Umwelt beobachtet und aufgenommen, um die richtigen Objekte für die eigenen Bedürfnisse zu finden und um sich gegen Gefahren zu schützen. Alle aufnehmenden Sinnesorgane öffnen sich dabei. Sogar in den Lippen entsteht das Gefühl, dass man die Eindrücke gleichsam mit dem Mund einsaugt. Das Auge leitet den Prozess der Aufnahme ein, indem es zunächst das Blickfeld überfliegt, um eine möglichst vollständige und sowohl in den individuellen Einzelheiten wie auch in der Gesamtheit umfassende Vorstellung zu erhalten. Dann fokussiert es einen zentralen Punkt von besonderem Interesse. Alle Sinnesorgane sind daran interessiert, das Besondere und Einmalige zu erfassen, ohne jedoch das Gesamtbild zu verfehlen. So wird ein Gesamteindruck mit klaren Konturen für das Wesentliche gewonnen.

Die Fähigkeit, in einem einzigen Atemzug eine Situation in ihrer ganzen Komplexität zu erfassen, ist eine stammesgeschichtlich vom Menschen erworbene Leistung, die sein Überleben sichern sollte. Durch schnelles, flexibles~

und sicheres Verarbeiten von Umweltinformationen kann der Organismus leichter mit Gefahren fertig werden. Dieser Vorgang läuft weitgehend unbewusst ab. Offensichtlich wurde in der phylogenetischen Entwicklung der ganzheitlichen, aber unbewusst ablaufenden Wahrnehmung und Verarbeitung der Umweltreize der Vorzug gegeben, da sie weniger störanfällig sind.

Die erstaunliche Leistung des Wahrnehmungsvermögens kann bei der blitzartigen Wahrnehmung beobachtet und geübt werden. Dabei wird in der Einatmung für einen kurzen Moment eine Person oder ein Gegenstand mit dem Ziel fixiert, möglichst viel zu erfassen. In der Ausatmung erfolgt dann eine Überprüfung des Erfassten anhand des Vorstellungsvermögens. Im nächsten Atemzyklus kann die Vorstellung weiter differenziert werden.

Das aufnehmende Wahrnehmen ist ein Aspekt der ausgreifenden und assimilierenden Öffnung des Organismus beim Einatmen. Hier wird der für den Stoffwechselprozess der Zellen unentbehrliche Sauerstoff aufgenommen. Parallel dazu erfolgt auch die Gesamtwahrnehmung aller den Stoffwechsel begleitenden Umstände. Die Einatmung ist so im umfassenden Sinn die mimetische Aneignung der äußeren Natur. Alles, was beim Einatmen aufgenommen wird, ist im übertragenen Sinne »Nahrung«. Ist der Zusammenhang zwischen Einatmung und Aufnahme von Umweltreizen nicht mehr bewusst, geht auch das Gefühl dafür verloren, dass das eigene Weltbild Resultat selbst aufgebauter innerer Vorstellungen ist.

Während sich der Organismus in der Einatmung für den Sauerstoff und die Umweltreize öffnet, ist er in der Phase der Ausatmung auf die Abgabe von Fremdstoffen und auf Reaktionen gegenüber der Umwelt, also nach außen eingestellt. Die Ausatmung hat physiologisch die Funktion, die beim Stoffwechsel in der Zelle entstehenden giftigen Abfallprodukte wie das Kohlendioxyd u. a. aus dem Körper zu entfernen. Mit der körperlichen Reinigung entspannt sich gleichzeitig die von der Einatmung beanspruchte Muskulatur. Da die Ausatmung weitgehend passiv ist und sich auf die Elastizität der beteiligten Gewebe stützt, werden instinktiv alle körperlich anstrengenden Aktivitäten in diese Phase gelegt. Ein effektiver Arbeitsrhythmus besteht deshalb aus kurzen Unterbrechungen während der Einatmung, um alle Energien auf eine kraftvolle Einatmung zu konzentrieren. Aggressives Schlagen z.B. orientiert sich ganz von selbst an der Ausatmung. Und auch bei der Zerlegung von Dingen in Einzelteile und deren konzentrierte Betrachtung herrscht von selbst die Ausatmung vor.

Wenn aus Angst die Sinneswahrnehmung blockiert wird, entsteht die Unfähigkeit, sich auf die gegenwärtige Situationen einzulassen. Die ängstlich festgehaltenen Vorstellungen geben dem Atemzentrum falsche Impulse, so dass das~

Verhalten misslingen muss. Dadurch entsteht der Teufelskreis zwischen schwacher Atmung, dem Festhalten unangemessener Vorstellungen, tatsächlichem Versagen und neuer verstärkter Angst. Die Wirkung der Angst auf die Wahrnehmungsfähigkeit zeigt sich besonders deutlich an den Augen. Kurzsichtige schränken die Beweglichkeit ihrer Augen und damit den Kontakt zur Außenwelt ein und nehmen so relativ weniger visuelle Informationen auf. Die Augen wollen mit einem starrenden Blick alles auf einmal aufnehmen. Der Glanz ihrer Augen geht aufgrund der geringeren Augenbeweglichkeit verloren. Die Wirklichkeit wird nur verschwommen oder auf wenige Punkte reduziert wahrgenommen. Für die Kurzsichtigkeit ist jedoch nicht so sehr der Wunsch maßgebend, den Kontakt mit der als bedrohlich erlebten Umwelt einzuschränken – also dass man nicht sehen kann, was man nicht sehen will –, als vielmehr der Versuch, eine Erinnerung an angstbesetzte Vorstellungen zu vermeiden.

Wenn der Organismus seine inneren Vorstellungen mit der Realität gleichsetzt, wird seine Sensibilität für die Gegenwart geschwächt. Dinge und Personen werden auf Distanz gehalten. Er bleibt in seinen inneren Vorstellungen stecken und merkt nicht, dass diese nur ein Ersatz der Wirklichkeit sind. Bei alten Menschen, von denen es treffend heißt, dass sie oft »in der Vergangenheit leben, wird dies besonders deutlich. So bezahlt der Mensch für den Vorteil hoher Verhaltensflexibilität, die er durch die inneren Vorstellungen gewonnen hat, den Preis, das Leben im Moment, in der Gegenwart zu verlieren.

Die Entfremdung von den eigenen Vorstellungen hat die fatale Folge, dass sich die Illusion entwickelt, die Vorstellungen beliebig steuern und damit die Kontrolle über sich und andere ausüben zu können. Denn Entfremdung bedeutet, dass einerseits das Gespür verlorengeht, dass die inneren Vorstellungen als Ausdruck der äußeren, eigenständigen Realität zwar gestaltbar sind, sich aber letztlich dem subjektiven Zugriff entziehen. Andererseits geht durch die Entfremdung die Fähigkeit verloren, die inneren Impulse als gestaltbar zu erleben. Die Impulse werden nicht mehr als etwas Fremdes und Eigenständiges akzeptiert, das respektiert werden muss. So wie andere Menschen zum Mittel der eigenen Bedürfnisse instrumentalisiert werden und aufhören, etwas Selbständiges zu sein, so wird auch der eigene Körper instrumentalisiert. Es entsteht sogar die Illusion, den Atem beliebig manipulieren zu können. Auf diese Weise wird die Erfahrung des letztlich unfassbaren, unbegreiflichen Lebensstromes in sich verdrängt. Es ist aber für ein ausgeglichenes Selbstgefühl wichtig, dass die eigene Atmung als etwas Fremdes erlebt wird, die zwar durch aufmerksames Beobachten kennenzulernen ist und deren Kraft benutzt werden kann, um mit dem Leben besser umgehen zu können, über die aber nicht~

verfügt werden darf, um nicht ihre lebenssichernde und heilende Wirkung zu verlieren.

3.7. Auflösung von inneren Vorstellungen

Die inneren Vorstellungen sind Hauptbestandteil des selbsttätigen Bewusstseinsstromes, der ständig auf dem Hintergrund des Bewusstseins wie ein Film abläuft, alle Aktivitäten begleitet und ständig einen Teil des Bewusstseins absorbiert. Unbemerkt »programmieren« sie mit ihren Aktionsmustern den ganzen Organismus. Da in repressiven Gesellschaften die inneren Vorstellungsbilder überwiegend mit Ängsten verbunden sind, halten sie den Organismus in einem ständigen Spannungszustand. Denn jeder fixierten Vorstellung entspricht eine spezifische körperliche Verspannung, die die Aufgabe hat, die Impulse, die in den Vorstellungen zum Ausdruck drängen, unter Kontrolle zu halten.

In der esoterischen Literatur wird die Grunderfahrung, dass Bilder zwar notwendig sind, aber zugleich das Leben verstellen können, als Befangenheit in Ideen, Bildern, Empfindungen und Gefühlen gedeutet, eine Befangenheit, die Menschen »wie im Traum« leben lasse. Die Menschen seien deshalb eigentlich nur im Traum und in der Intuition in direktem Kontakt mit der Wirklichkeit. Die esoterischen Techniken sehen ihre Aufgabe darin, den Menschen zum Erwachen aus ihrem »Schlafzustand« zu verhelfen. Die esoterische Metapher des Erwachens speist sieh aus der Meditationserfahrung, in der die innere Lebendigkeit unmittelbar ohne Vermittlung durch Bilder und Begriffe wahrgenommen werden kann. Wenn das Bewusstsein ganz im Gewahrwerden der Rhythmen des Pulsschlages, des Energiestromes, der Atmung u. a. aufgeht, tritt ein Glückszustand ein, der als innere Leere und zugleich als innere Fülle erscheint. Leere, weil die normalen mentalen Bewusstseinsinhalte aufgegeben sind, Fülle, weil dieser Zustand mehr Lebendigkeit vermittelt als jeder normale Bewusstseinszustand.

Mit der Metapher des Erwachens wird gefordert, dass der Einzelne, mit der Leere und Nichtigkeit des Daseins konfrontiert, sich in der geforderten »Klarsicht« von allen das Dasein verschleiernden Illusionen, Täuschungen und Zwangsvorstellungen befreien solle. »Wir brauchen keine Bilder, wenn wir lebendig sind, denn dann erfahren wir die lebendige Wirklichkeit, indem wir einfach sind«.46 Es wird unterstellt, dass das eigentliche Leben jenseits der in~

den Bildern sich darstellenden Welt der Erscheinungen stattfindet.47 Solche Vorstellungen verfallen dem Irrtum, Wirklichkeit sei unmittelbar zu fassen. Wie oben gezeigt wurde, sind die inneren Vorstellungen aus physiologischen Gründen für das Handeln unverzichtbar. Nur in den kurzen Momenten des meditativen Nicht-Handelns kann der Ausstieg aus der Welt des Scheins gelingen. Es gibt auch keine objektiven Kriterien, »richtige« Vorstellungen von Fiktionen und Illusionen zu unterscheiden. Aus der Einsicht in die Notwendigkeit der inneren Vorstellungen kann nur die Schlussfolgerung gezogen werden, dass zu versuchen ist, die Distanz zu den inneren Vorstellungen zu bewahren, die Bilder als Bilder wahrnehmen zu können und so die Identifizierung mit ihnen zu vermeiden. In der philosophischen Sprache ausgedrückt kommt es darauf an, am Schein im Wissen festzuhalten, dass es nur Schein, aber immerhin ein notwendiger Schein ist.

Nur die sinnliche Lust ist darauf angewiesen, dass man sich von den inneren Vorstellungen löst, um ein Höchstmaß an sinnlicher Erregung zu erreichen. Zwar muss auch das sexuelle Verhalten durch innere Vorstellungen koordiniert werden. Wenn aber ein bestimmtes Erregungsniveau erreicht ist, können Bilder störend wirken, da sie das unmittelbare Aufgehen in den Erregungsempfindungen verhindern. Alle bisherigen Deutungsversuche des Orgasmus haben mehr mit den Projektionen der subjektiven Wünsche als mit realen Erfahrungen zu tun: sie reflektieren die Angst, den Erregungsprozess nicht ertragen zu können. Deutungsbilder wie die einer Wiedervereinigung von Mann und Frau zur ursprünglichen Einheit, der Rückkehr zur Mutter, der Vereinigung mit dem Kosmos oder dem Göttlichen, der Entladung überschüssiger Energie u. a. degradieren den Orgasmus zum Mittel für einen Zweck und verhindern die lustbetonte Konzentration auf den Augenblick. Unter dem Druck unerfüllbarer Erwartungen muss der sexuelle Akt misslingen. Hingabe verlangt letztlich die Aufgabe der Bilder und des damit einhergehenden kontrollierenden Bewusstseins. Sinnengenuss ist dann am stärksten, wenn man sich, befreit von distanzschaffenden Bildern, lustvoll den inneren Erregungen überlassen kann. Sexuelles Glück besteht so im Verlöschen von inneren Vorstellungen.

Der menschliche Organismus besitzt eine Fülle von Mechanismen, um sich von körperlichen Spannungen, entstanden durch angstbesetzte innere Vorstellungen, zu befreien. Im Vordergrund stehen die spezifischen Ausatmungsformen wie Lachen, Weinen und Schreien, mit denen die Atmung durch den Wechsel ihres Rhythmus verfahrene emotionale Situationen auflösen kann. Bei starken Schmerzen hat z.B. der spontane Schrei die Funktion, die Überspannung~

abzubauen, die sich spontan mit dem schmerzbedingten Anhalten des Atems aufgebaut hat. Vermutlich ist auch der Geburtsschrei darauf zurückzuführen 48

Seufzen und Stöhnen sind ebenso Versuche des Organismus, sich mittels der Atmung von Spannungen zu befreien. Es handelt sich beim Seufzen um eine rasche, intensive Einatmungsbewegung, der eine kurze Atempause und anschließend ein hörbares, druckloses Ausatmen folgt. Mit dem unwillkürlichen Seufzer vertieft sich die Atmung und kompensiert die depressiv bedingte flache und unregelmäßige Atmung. Beim Stöhnen wird mit dem Ausatem ein Ton erzeugt und dadurch die Entlastung von innerem Druck verstärkt. Bekannt ist, dass das Stöhnen Schmerzen erleichtern kann. Stöhnen entspannt die schmerzhaften Muskeln und führt ihnen vermehrt Sauerstoff zu.49

Alle diese Maßnahmen versetzen den Organismus in eine tiefe Ausatmung. Dadurch wird zunächst das parasympathische Nervensystem aktiviert, das für eine Entspannung der inneren Organe sorgt. Die tiefe Ausatmung löst auch eine tiefere Einatmung aus, die den verspannten Muskeln mehr Sauerstoff. zuführt und damit zur Auflösung der muskulären Verspannungen beiträgt. Sie stellt so die physiologischen Bedingungen bereit, damit sich der Organismus von seinen Spannungen befreien kann. Da die muskulären Verspannungen, mit denen die Vorstellungen fixiert werden, vom gehemmten Atem produziert werden, besteht auch der umgekehrte Weg, dass die inneren Vorstellungen vom entspannten Atem aufgelöst werden können. Sie verlieren dann ihre Fixierung in den muskulären Verspannungen. Sie können als subjektiv gebildete, auf das eigene Verhalten bezogene Vorstellungen angenommen werden. Damit verändert sich ihr energetisches und hormonales Gefüge. Eine Befreiung von Vorstellungen kann ohne einen sie begleitenden physiologischen Entspannungsvorgang nicht stattfinden.

Das Gefühl, dass man sich selbst wieder auffangen kann, wenn man sich gefühlsmäßig verrannt hat, basiert auf dem Vertrauen in die Fähigkeit der Atmung zur Entspannung.50 Die selbstregulatorischen Entspannungsmechanismen~

der Atmung funktionieren aber nur, solange die in den inneren Vorstellungen eingebauten Ängste immer gleich nach jeder Konfliktsituation aufgelöst werden. Wenn aber zur Angstabwehr chronische Muskelverspannungen zu Hilfe genommen werden müssen, werden auch die Entspannungsmechanismen der Atmung beschädigt. Die Befreiung von negativen Vorstellungen muss scheitern, weil die physiologischen Voraussetzungen des Loslassens fehlen. Fixierte Vorstellungen und blockierter Atem sind Ausdrucksformen eines Organismus, der sich in dem verzweifelten Versuch, die Angst vor Liebesverlust oder vor Sanktionen zu bewältigen, partiell stillstellt. Beides gehört zusammen, weil die inneren Vorstellungen und der Atem die zentralen Bindeglieder sind, um den Organismus in seine Umwelt zu integrieren.

Innere Vorstellungen allein ermöglichen noch kein autonomes Handeln. Erst wenn die inneren Vorstellungen mit Hilfe der Sprache subjektiv verfügbar gemacht werden können, verliert das Handeln seine Zwanghaftigkeit, die dem Reagieren nach angeborenen Reflexmechanismen gleicht. Das gewohnheitsmäßige Verhalten kann in gleichförmigen Situationen funktionieren, muss aber in kritischen Situationen zusammenbrechen. Für flexibles Verhalten ist die Entwicklung einer Distanzierungsfähigkeit erforderlich, um sich aus der Unmittelbarkeit der Situation herauszunehmen und von ungeeigneten inneren Vorstellungen befreien zu können. Dieser Zusammenhang soll in den nächsten beiden Kapiteln behandelt werden, die sich mit der Abhängigkeit der Gefühle und der Sprache vom Atem beschäftigen.

4. Die Macht der Gefühle

Zentrale Prämisse der psychosomatischen Medizin ist, dass krankmachende Vorstellungen erst aufgelöst werden können, wenn die soziale Situation aufgedeckt wird, in der sie sich gebildet haben. Denn die krankmachenden Vorstellungsbilder sind Ausdruck gestörter Kommunikationsmuster, die ihrerseits durch unterdrückte Gefühle bedingt sind. Wiederholte Einschränkungen der Bedürfnisse werden mit emotionalen Verhaltensmustern wie Selbsthass und Selbstzerstörung beantwortet, in denen sich der Organismus, unterstützt von entsprechenden negativen Vorstellungsbildern, selbst negiert.

Diesen Zusammenhang von irrationalen Vorstellungen und sozialen Erfahrungen haben die Schamanen intuitiv erfasst. In ihre Heilrituale werden deshalb die übrigen Gruppenmitglieder mit einbezogen. Die Freunde oder Familienmitglieder werden z.B. daran beteiligt, den Kranken durch gemeinschaftliches Singen oder Summen in eine entspannte Situation zu bringen. Ihre dabei gesammelten inneren geistigen Kräfte kann nach ihrer Auffassung der Schamane dann in sich konzentrieren und auf den Kranken lenken, um den Dämonen, der in Form der Krankheit vom Kranken Besitz ergriffen hat, dazu zu bewegen, den Körper des Kranken zu verlassen. Die Gruppenmitglieder bestärken im Heilritual ihre Verbundenheit mit dem Erkrankten und geben ihm das Vertrauen, dass er nach der Heilung von der Gruppe wieder aufgenommen wird. Sie verändern sich selbst dabei.

Den Schamanen wird eine extrem hohe Sensibilität zugesprochen. Häufig haben sie diese außerordentliche Sensibilität durch schwere Krankheiten, durch Nah-Todeserlebnisse, durch körperliche Gebrechen (z.B. Blindheit) oder durch ihre isolierte Stellung in der Gesellschaft erworben. Die Sensibilität befähigt die Schamanen, sich in die Kranken einzufühlen. »Oft geht seine Einfühlung in den Patienten so weit, dass er dessen Krankheitssymptome oder Schmerzen an sich selbst fühlt und auf diese Weise ein besonderes Gespür für die Ursache der Krankheit erhält. Nicht selten finden wir Berichte, in denen~

es heißt, die Schamanen übernähmen das Übel des Kranken und vernichten es in sich selbst«.51 Diese Erfahrung wird auch von Geistheilern bestätigt. »Wenn ich mich gegenüber dem Kranken öffne, ihn gleichsam »in mich aufnehme«, treten in meinem eigenen Organismus die gleichen Empfindungen auf, die der Patient hat«.52 Die Sensibilität geht so weit, dass die feinsten Störungsfelder des Kranken, ohne dass diese ihm bewusst sind, gefühlt werden können. Indem der Schamane seinen eigenen Organismus als Diagnoseinstrument benutzt, können gestörte emotionale Kommunikationsmuster aufgelöst und durch neue ersetzt und nachfolgend auch die krankmachenden Vorstellungen verändert werden.

4.1. Der soziale Charakter der Gefühle

Jeder kennt die Erfahrung, wie schwierig es ist, sich der ansteckenden Wirkung des Lachens oder der Trauer anderer Menschen zu entziehen. Auch Ängste und Depressionen teilen sich auf fast unwiderstehliche Weise mit, so dass man unweigerlich in den Bann der Gefühlswelt des anderen gezogen wird. Die ganze Stimmung, in der sich ein Mensch befindet, teilt sich dem anderen auf eine direkte, nonverbale Weise mit und es kostet viel Kraft, sich dagegen abzuschirmen. Die Suggestibilität für die Gefühle anderer ist eine Eigenschaft des Nervensystems, die ein unmittelbares Nacherleben der Gefühle anderer ermöglicht und damit ein unmittelbares Verstehen des anderen begründet. Einfühlungsvermögen ist nichts anderes, als dass die natürliche Empfänglichkeit für die Gefühle anderer Menschen erhalten geblieben und nicht durch Strategien des Sich-Abschirmens oder Sich-Zurückziehens unterdrückt worden ist.

Gefühle entstammen dem gemeinsamen Leben. Sie sind ihrem Wesen nach vom zwischenmenschlichen Austausch abhängig und können deshalb nur aus dem sozialen Kontext heraus angemessen verstanden werden. Lange vor der Entfaltung der Sprache haben die Menschen ihr Zusammenleben mit den Gefühlen organisiert. Gefühle waren sozusagen die Sprache unserer Vorfahren. Die Redewendung von der »Sprache der Gefühle« ist deshalb mehr als eine bloße Metapher. Untersuchungen zur Bedeutung der nonverbalen Kommunikation haben nachgewiesen, dass es nach wie vor so ist, »dass die Wirkkraft~

nonverbaler Kommunikation die der verbalen weit übersteigt«.53 Die emotionale Sprache des Körpers ist ein unerlässliches Moment jeder Kommunikation, da nur über sie ein eindeutiger und genauer sozialer Dialog möglich ist.

Die Gefühle haben die Funktion, den inneren Gemütszustand, der sich in den inneren Vorstellungen niederschlägt, nach außen sichtbar auszudrücken. Wenn man sich angegriffen, ausgeglichen, verletzt oder gerührt fühlt, erfährt man in sich Signale, die Erfolg oder Misserfolg der eigenen Handlung anzeigen. 54 Wenn sie mit den Gefühlen des Ärgers, der Freude, der Wut, des Mitgefühls, der Angst u. a. ausgedrückt werden, werden den anderen Gruppenmitgliedern Signale vom eigenen Zustand gegeben, an denen sie ihr Verhalten orientieren können. Gefühle können aber auch Signale nach innen sein. So ist z.B. die Trauer die Aufforderung, den Verlust von Bezugspersonen zu verarbeiten, oder das Schuldgefühl der Hinweis darauf, dass man sich selbst verraten hat. Auch die Gefühle der Nervosität, der Müdigkeit, der Langeweile, des Neides weisen als Warnsignal auf einen kritischen Zustand des Organismus hin. Nach innen gerichtete Gefühle übernehmen die Funktion, auf Spannungen und Belastungen im Verhältnis zu den Gruppenmitgliedern aufmerksam zu machen. Allen Gefühlen ist gemeinsam, dass sie primär auf die anderen Gruppenmitglieder gerichtet sind und dass sie die Funktion haben, auf ein gestörtes Verhältnis hinzuweisen, um so ein harmonisches Zusammenleben sicherzustellen. Dass die Empfindungen auf der Körperoberfläche mit spezifischen motorischen Aktionen dargestellt werden können, hat den entscheidenden Vorteil gebracht, dass die in Herden zusammenlebenden Lebewesen sich wechselseitig viel präziser und konkreter ihre innere Befindlichkeit mitteilen und so aufeinander einwirken können. Über Gefühlssignale kann sich der Einzelne leichter an Gruppenregeln anpassen und Spannungen, die aus dem Zusammenleben resultieren, abbauen. Die Gefühle sind so für die Orientierung im sozialen Raum unersetzlich.

Die Gefühle sind in der menschlichen Erbsubstanz nur als Potenz vorgegeben; ihre konkrete Ausgestaltung erfolgt erst in der sozialen Interaktion des Säuglings und Kleinkindes mit den Bezugspersonen, in der die emotionalen Reaktionsimpulse mit spezifischen inneren Vorstellungen verbunden werden. Es ist von zentraler Bedeutung, dass die Ausgestaltung der Gefühle davon abhängt, wie die ursprünglichen Funktionen der Selbsterhaltung, wie also die Atmung, die Nahrungsaufnahme, die Ausscheidung und der Wunsch nach~

Körperkontakt von der Umwelt aufgenommen werden. Da der Säugling in allen primären physiologischen Funktionen von seiner Umwelt abhängig ist, macht er mit jeder Funktionsäußerung zugleich soziale Kontakterfahrungen. Es macht für das Vertrauen zur Welt und den eigenen Fähigkeiten einen gewaltigen Unterschied aus, ob die primären Bedürfnisse bestätigt und ohne Aufschub erfüllt oder vernachlässigt, abgelehnt und negiert werden. Wenn z.B. der erste Atemzug nach der Geburt in einem Krankenhausmilieu stattfindet, das mit einer Fülle von unangenehmen Reizen wie Kälte, grelles Licht, fehlender mütterlicher Hautkontakt, störende Körpereingriffe u. a. verbunden sein kann, verbindet der Organismus bereits den ersten Atemzug mit negativen Erfahrungen von Trennungsangst, die lebenslang das Verhalten prägen, wenn sie nicht im weiteren Verlauf durch einen dauerhaft liebevollen Kontakt wiedergutgemacht werden. Der Schrei, zunächst nur ein Mittel zur Abreaktion innerer Unruhe, wird bald als Mittel entdeckt, um die Mutter rufen zu können. Muss er unterdrückt werden, weil er nichts bewirkt oder gar mit Liebesentzug bestraft wird, bestimmt die erforderliche Verkrampfung der Atemmuskulatur die weitere Entwicklung der Atmung, der Stimme und damit des ganzen Organismus.

In der Interaktion mit den Bezugspersonen wird allmählich gelernt, dass mit bestimmten emotionalen Bewegungsformen deren Verhalten beeinflusst werden kann. Kinder suchen solange nach einem Verhaltensmuster, bis sie die gewünschte Reaktion der Erwachsenen erreichen. Ihre Wirkung beruht darauf, dass die Bezugsperson die emotionalen Bewegungen als Hinweis auf einen bestimmten affektiven Zustand .verstehen und die Bereitschaft vorhanden ist, die Regungen in sich aufzunehmen und mit ihnen in Resonanz zu treten.

Wenn Magie damit definiert wird, dass mit dem Bewusstsein Wirkung erzielt wird, dann entsprechen die Emotionen genau dieser Definition. Emotionen haben magische Wirkung, weil sie die Erfahrung vermitteln, wie das Verhalten anderer ohne direkte Eingriffe beeinflusst werden kann. Jedes Mal wenn man mit den früh gelernten emotionalen Mustern auf schmerzhafte Erfahrungen reagiert, hält man an dem magischen Glauben fest, dass sich die Mutter und der Vater ändern und ihre Liebe zurückkehrt. Vermutlich sind diese Erfahrungen der Macht der Gefühle das Muster für jede Form der Magie.

4.2. Gefühle als Atemmuster

Gefühle sind ein spontanes Geschehen, an denen die ganze Person mit ihren Erfahrungen und sprachlichen, psychischen, kinästhetischen und imaginativen~

Fähigkeiten beteiligt ist. Gefühle entstehen im simultanen Zusammenwirken all dieser Faktoren. »Ob uns in einer bedrohlichen Situation plötzlich »der Atem stockt« oder uns etwas die »Kehle zusammenschnürt«, ob wir die »Zähne zusammenbeißen« oder etwas Unangenehmes »hinunterschlucken« müssen, ob einem etwas »an die Nieren« geht oder ob wir uns über etwas »den Kopf zerbrechen« oder uns eine Sache sehr »zu Herzen nehmen« oder ob wir schlicht etwas oder jemanden »zum Kotzen finden«: immer ist etwas Psychisches gemeint, das sich sprachlich ganz körper- und organbezogen ausdrückt.55 Gefühle werden überhaupt erst dem Bewusstsein offenkundig, wenn sie als körperliches Bewegungsmuster erscheinen. Die Gefühle können ihre suggestive Wirkung deshalb entfalten, weil sie eine eindeutige körperliche Gestalt haben und so ihre Nachahmung möglich machen.

Die übliche Gleichsetzung der Begriffe Emotion und Gefühl ist problematisch. In dem Begriff der Emotion steckt die uralte Erfahrung, dass Gemütszustände mit bestimmten körperlichen Ausdrucksbewegungen einhergehen. Dagegen bezieht sich der Begriff des Gefühls auf die subjektiv erlebte Seite der Emotionen. Wird die emotionale körperliche Empfindung subjektiv erfahren, mit inneren Vorstellungen verbunden, sprachlich fixiert und mitgeteilt, wird daraus ein Gefühl. Gefühle sind so symbolisch vermittelte Körperempfindungen. Insofern haben Tiere und Menschen Emotionen gemeinsam, aber nur die Menschen haben die Fähigkeit, ihre Emotionen symbolisch als Gefühl mitzuteilen.

Es ist auffallend, dass Gefühle häufig mit körperbezogenen Sprachwendungen aus dem Bereich der Atmung verbunden werden. Im Zustand der Angst »stockt der Atem«, muss »nach Atem gerungen werden«, beim Erschrecken »bleibt einem die Luft weg« oder ein Lachanfall führt dazu, dass nach einiger Zeit der Bauch wehtut. Atemmessungen haben die in der Umgangssprache enthaltene Einsicht über den Zusammenhang von Gefühl und Atmung bestätigt. Atemmessungen haben folgendes Ergebnis gezeigt: »Bei Lustigkeit war die Atmung verflacht und beschleunigt, bei Freude war die Atmung regelmäßig, ebenfalls etwas beschleunigt und verflacht, ... Hoffnung zeigt eine etwas unregelmäßige, rasche Atmung und Enttäuschung eine verlangsamte niedrige Atmung. Schrecken führt zu einer Hemmung der Atmung, bei der Aufregung wird die Atmung rascher und niedriger«.56 Bereits Kant stellt fest, dass »viele~

Affekte, ja die mehresten, ihre Hauptstärke im Zwerchfell äußern«.55 Beobachtungen zeigen, dass sich bei Angst die Muskeln der Brust und des Zwerchfells zusammenziehen und verkrampfen. Durch den Mangel an Luft in der Lunge entsteht die Empfindung der Angst, die im lateinischen Wortstamm von Angst (lat. angusta = Enge) ausgedrückt wird. Auch die Angst vor Sexualität zeigt sich darin, dass der Hauptatemmuskel, das Zwerchfell, nur geringe Bewegungen macht und man deshalb nicht tief durchatmet. Dagegen weist das Zwerchfell bei Freude und Erregung einen großen Hub auf. Es vibriert beim Lachen und entspannt sich rhythmisch beim Seufzen und Weinen. Lachen ist ein schneller Wechsel zwischen kräftigem Anspannen bei der Einatmung und Loslassen bei der Ausatmung; dabei ist der Brustkorb weit und gespannt. »Lachen ist gesund«, weil es das Zwerchfell kräftig trainiert. Beim Weinen folgen auf kurze Einatmungsstöße längere intensive Ausatmungsbewegungen. Durch diese kurzen Atemstöße wird das Zwerchfell regelmäßig erschüttert, da es sich beim Weinen rhythmisch auf und ab bewegt. Um das Weinen zu unterdrücken, muss der Atem angehalten werden.

Überlegungen, die das Verhältnis von Körper und Gefühl so beschreiben, als sei der Atem ein seismographische Gerät, an dem die Veränderungen des emotionalen Zustandes abgelesen werden können, sind nicht überzeugend. Auch das Bild des Körpers als einem Musikinstrument, auf dem die Seele ihre Gefühle zum Klingen bringt, ist irreführend. Diese Bilder unterstellen, dass die Gefühle in einem seelischen Zentrum erzeugt werden und sich im Atemprozess nur ausdrücken.

Es trifft nicht zu, dass die Emotionen lediglich bestimmte Atemmuster erzeugen. Wenn man die Entstehung der Emotionen analysiert, drängt sich der Eindruck auf, dass beides vielmehr funktionell identisch ist. Der Begriff der funktionellen Identität wird nicht im Sinne von Reich gebraucht, der damit ausdrücken wollte, dass psychische und muskuläre Prozesse die gleiche Funktion haben, einander ergänzen und gegenseitig beeinflussen können. Vielmehr soll gezeigt werden, dass die beiden Prozesse dasselbe sind und die Begriffe psychisch (Emotionen) und körperlich (Atemmuster) nur unterschiedliche Betrachtungsweisen desselben Phänomens darstellen.

Mit jedem Atemzug werden die inneren Räume des Körpers im Rachen, Kehlkopf, Brust und Becken geöffnet, um die eingesaugte Luft aufzunehmen. Dabei ist die ganze Muskulatur dieser Bereiche beteiligt, die ihrerseits auch die Gliedmaßen einbeziehen. Ohne Übertreibung kann deshalb das Atmen als ein den ganzen Körper einbeziehender Vorgang der rhythmischen An- und Entspannung~

aller Skelettmuskelgruppen beschrieben werden. Der Organismus nutzt offensichtlich die atembedingte Motilität aus, um für jedes Gefühl ein bestimmtes Atemmuster zu bilden, das sich aus dem am Zusammenspiel aller an der Atmung beteiligten Muskelgruppen, Rhythmus, Volumen und Frequenz der Atmung zusammensetzt. Der Atem ermöglicht es, die Vielzahl der zu einer Emotion gehörenden Teilbewegungen als einen einheitlichen Bedeutungskomplex zu erleben. Dadurch ist es möglich geworden, dass die emotionalen Ausdrucksbewegungen subjektiv als ein bestimmtes Gefühl erlebt werden. Gefühle sind nichts anderes als die bewusstseinsmäßige Seite der emotionalen Atemmuster. So kann z.B. beim Lächeln, das sich in hochgezogenen Mundwinkeln und angespannten Augenringmuskeln ausdrückt, auf eine ganze bestimmte Empfindung geschlossen werden, weil man die entsprechende Empfindung in sich durch die Nachahmung der sichtbaren Bewegungen in sich erzeugen kann.

Dass Atem und Gefühl identisch sind, zeigt sich auch daran, dass in vielen Kulturen der Atem zum Ausdruck von Verbundenheit und Zuneigung benutzt wird. Bei vielen Völkern ist es noch immer eine Geste tiefer Freundschaft, »den ausgeatmeten Atem eines Freundes zu genießen«.57 Bei den Eskimos wird der Kuss nicht benutzt, um Zärtlichkeit auszudrücken, sondern es werden die Nasen aneinander gerieben, um ihren Atem auszutauschen. Der Atem wird so noch unmittelbar als Träger des Austauschs von Zuneigung erfahren.

Ein weiterer Beleg für die Identität von Emotion, Gefühl und Atemmuster besteht darin, dass man sich durch bestimmte Atemübungen jeweils in die affektiven Zustände versetzen kann, die den Atemmustern entsprechen. Nimmt man sich vor, innerlich zu lächeln, wird der Organismus von selbst das Atemmuster des Lächelns einnehmen und nach einiger Zeit kann sich tatsächlich eine heitere Gestimmtheit einstellen. Ebenso kann man das mit dem Weinen verbundene Gefühl leicht erzeugen, wenn man traurige Gedanken mit stoßweisem Ausatem koppelt. Nur aus der Identität von Gefühl und Atemmuster heraus sind die Versprechungen der Atemtherapie überhaupt verständlich, dass einerseits durch ruhiges, gleichmäßiges Atmen ein inneres Gleichgewicht herzustellen ist oder dass andererseits durch tiefes Atmen unterdrückte Gefühle freigelegt werden können.

Die Erfahrungen des inneren Zusammenhangs von Atem und Gefühlen führte wahrscheinlich auch dazu, dass der Begriff der Psyche aus dem griechischen Verb psycho (atmen) entstand. Ursprünglich bezeichnete es »schlicht die~

Eigenschaft, das Eigentümliche dieses physischen Objekts da drüben – eines Objektes, das Mensch oder Tier genannt wird –, dass es atmet und bluten kann und noch einiges andere mehr: ein Eigentum, das ihm entrissen werden kann wie eine Trophäe«.58 Erst durch die spätere Substantivierung des Verbs atmen wurde daraus eine Instanz, die entscheiden, fühlen, sich erinnern kann u. a. Wenn gelegentlich die Seele als die luftigere Daseinsform des Leibes bezeichnet wird, schwingt dabei der Ursprung der Seele aus dem Atem noch mit.

In der Umgangssprache und in der poetischen und esoterischen Literatur wird häufig das Herz und nicht der Atem, wie meine These lautet, als der Sitz der Gefühle angesprochen. In unzähligen Sprachformeln wird das Herz in Zusammenhang gebracht mit Gefühlen der Liebe, der Verbundenheit, mit Hass oder Isolierung und Enttäuschung. So heißt es, das Herz müsse sich z.B. »öffnen, um liebevollen Kontakt zum anderen zu finden zu können«, es »verkrampft sich aus Angst« oder »rast vor Aufregung«. Die Sprache enthält damit das Wissen, dass das Herz sehr sensibel auf soziale Interaktionen reagiert.59 Da das Herz mit seinem Pulsschlag in der subjektiven Erfahrung sehr präsent ist, ist es verständlich, wenn das Herz als Gefühlszentrum erscheint.

Atem- und Herzaktivität sind eng miteinander gekoppelt. In jedem Atemzyklus schwanken das Schlagvolumen, das Herzminutenvolumen sowie der arterielle Blutdruck auf charakteristische Weise. Im gesunden Organismus sind Kreislauf und Atmung synchronisiert. Unter normalen Bedingungen führt verkürztes Einatmen und verlängertes Ausatmen zu einer Unregelmäßigkeit des Herzrhythmus, die als respiratorische Sinusarhythmie bezeichnet wird. Dagegen bewirken Atemstörungen aufgrund von massiven Ängsten, dass sich das Herz nicht mehr an die unregelmäßigen Atemrhythmus anpassen kann und gleichmäßig schlägt.60

Auch die Tatsache, dass das Herz anatomisch mit dem Zwerchfell verbunden ist und sich die Stärke des Zwerchfell voll zunutze macht, zeigt, dass die Atmung die eigentliche Schaltzentrale zur sozialen Umwelt und das Herz lediglich eine darauf reagierende Größe im Energiekreislauf ist. In der synonymen Verwendung des griechischen Wortes »diaphragma« für das Zwerchfell~

und die Seele, drückt sich die Beobachtung aus, dass das Zwerchfell der eigentliche Gestalter jeglichen affektiven Ausdrucks ist. Die Schlüsselrolle der Atmung zeigt sich auch daran, dass durch bewusstes, regelmäßiges Atmen der Blutdruck kontrolliert und durch tiefes, entspanntes Atmen gesenkt werden kann.

Das Herz ist ein geeigneter Barometer für Gefühlsschwankungen, weil es aufgrund seiner dramatischen Sprache für das bewusste Erleben des Körpers sehr präsent ist und ein jäher Blutdruckanstieg oder -abfall mit massiven Ängsten verbunden ist. Allerdings wird diese Sprache des Herzens von vielen psychogen Erkrankten (z.B. Bluthochdruck) nicht mehr wahrgenommen. Bei ihnen ist der Körper mit seinen Empfindungen regelrecht von der subjektiven Erfahrung abgeschnitten.

Systematische Messungen des Blutdrucks haben bestätigt, dass Blutdruck und Atmung im Zustand entspannter Aufmerksamkeit optimal zusammenarbeiten. Wenn ich mich konzentriert einer Sache widme, auf den anderen höre und mich dabei vergesse, sinkt der Blutdruck und vertieft sich gleichzeitig die Atmung. Jede Gewöhnung kann den verhängnisvollen Zirkel auslösen, dass Neues als Gefahr empfunden wird und über die Abwehrmechanismen des Atem- und Herzapparates gerade die Fähigkeit geschwächt wird, sich mit dem Neuen auseinanderzusetzen. So wird häufig sozialer Kontakt aus Angst vor einem als bedrohlich erlebten Anstieg des Blutdrucks vermieden. Andererseits können bei stabiler Atmung auch emotional belastende Gespräche geführt werden, ohne dass es zu akutem Bluthochdruck kommt. Aus diesen Zusammenhängen ist zu schließen, dass das Atmungs- und Kreislaufsystem für ihr optimales Funktionieren eine Lebenseinstellung verlangen, in der das Leben als permanenter Lernprozess in dem Sinne erfahren wird, dass in jeder Situation neue Reize wahrgenommen werden, die den Organismus herausfordern, sich diesen Reizen voll zu öffnen.

4.3. Atem und soziale Autonomie

Der Organismus, der von Natur aus auf sozialen Austausch mit anderen Menschen angelegt ist, verlässt sich weitgehend auf die selbsttätig wirkenden Gefühle. Selbstvertrauen bedeutet, dass das Vertrauen vorhanden ist, spontan im Sinne der Gemeinschaft richtig zu handeln. Die Rolle der Atmung für die soziale Kommunikationsfähigkeit zu verstehen, verlangt, die soziale Kommunikation als einen körperlichen Austauschprozess zu begreifen. Es soll im Folgenden~

gezeigt werden, dass das Selbstvertrauen in der wirksamen Selbstregulierungsfähigkeit der Atmung begründet ist.

Gefühle zeichnen sich durch ihre Spontaneität aus. Sie werden als authentisch erfahren, wenn sie völlig spontan sind. Wenn ich weine, entscheide ich mich nicht dazu, sondern werde von der Situation so überwältigt, dass ich weinen muss. Obgleich dieses Verhalten zwanghafte Züge enthält, wird es zu Recht als spontan erfahren, da der Organismus sich im Weinen völlig seinen Gefühlen überlässt. Zwanghaft wird das Weinen erst, wenn es unterdrückt wird, weil es als Schwäche empfunden wird, sich nicht beherrschen zu können. Ein Verhalten wird also erst dann als zwanghaft empfunden; wenn Widerstand im Spiel ist.

Emotionen werden als körperliche Äußerungsformen gelernt, um mit der Umwelt in Kontakt zu treten. Sie stellen die Form dar, mit denen der Körper gelernt hat, mit seinen angenehmen und unangenehmen Empfindungen umzugehen. In jeder Situation werden in die Vorstellungsbilder, die im Zusammenhang mit dem Entwurf der Reaktionsmuster gebildet werden, auch die emotionalen Ausdrucksbewegungen integriert. Die Emotionen legen die Zielrichtung der Vorstellungsbilder fest. Man fühlt sich sicher, wenn alle Empfindungen in einen emotionalen Ausdruck umgesetzt werden können. Probleme entstehen, wenn die sozialen Umweltanforderungen im Widerspruch zu den inneren Impulsen stehen und die bisher gelernten Methoden versagen, mit diesem Widerspruch umzugehen. Das gewohnheitsmäßige Verhaltensmuster wird dann als die eigene Sicherheit gefährdend empfunden. Der Konflikt ruft innere Spannungen hervor, die wegen der Unsicherheit des Verhaltens als Angst empfunden werden. Es bleibt nur die Form des inneren Widerstandes übrig, die sich als Unterwerfung unter die Verhaltensanforderung oder als Trotz gegen sie äußert. Beides Mal ist das Verhalten zwanghaft, da ich etwas tue, obwohl ich genau weiß, dass ich lieber etwas anderes tun würde. Wenn der Widerspruch als zu stark empfunden wird, bleibt häufig nur der psychische Zusammenbruch als der letzte Ausweg bestehen.

Gefühle stellen die Kommunikation her, nicht Worte. Da authentische Gefühle nicht erzwungen werden können, kann auch die Kommunikation mit einem anderen Menschen nicht gemacht werden. Kommunikation gelingt nur, wenn ich mich gegenüber dem anderen öffnen und dem anderen zuhören kann. Wie oben dargestellt, kann ich aber nur zuhören, wenn ich die Einwirkung des anderen auf mich selbst spüren kann. Ich trete dann in Resonanz mit dem anderen. Dies äußert sich als Wohlbefinden oder Geborgenheit. Wahrscheinlich ist der emotionale Kontakt mit anderen ein elementares Bedürfnis, da er die Erfahrung der Resonanz, des Eins-Seins mit anderen Menschen ~

vermitteln kann. Er wird zum zwanghaften Bedürfnis nach Geselligkeit, wenn die inneren Empfindungen aus Angst nicht voll ausgedrückt werden können. Das Gefühl der Einsamkeit ist also nicht primär der Mangel an Kontakt, sondern die Folge dessen, dass ich mich selbst vom Dialog mit den inneren Empfindungen abgeschnitten habe und deshalb den Kontakt zu anderen Menschen meide.

Die psychotherapeutische Richtung der NLP (Neuro-Linguistische-Programmierung) macht sich das spontane Resonanzbedürfnis zunutze, indem sie den Kontakt zum Patienten dadurch herstellt, dass sich der Therapeut auf dessen Atemrhythmus einstellt. Wenn Synchronizität hergestellt ist, könne der Therapeut durch eine Veränderung seines Atemrhythmus unbemerkt Einfluss auf den Patienten nehmen.61

In seiner Theorie des kommunikativen Handelns behauptet Habermas, dass Verständigung ein Ergebnis des rationalen Austauschs von Argumenten sei.62 Dabei übersieht er, dass die eigentliche Basis der Verständigung nur die emotionale Resonanz sein kann und dass deshalb keine noch so entfalteten diskursiven Fähigkeiten den Mangel, sich auf andere einzulassen, kompensieren können. Wenn dennoch die Fiktion der zwanglosen Verständigung festgehalten werden kann, dann liegt das daran, dass aus früheren Kommunikationsbeziehungen Erinnerungsspuren eines harmonischen Dialoges fortbestehen. Im emotionalen Dialog mit der Mutter erfolgt unter glücklichen Umständen in der Tat eine zwanglose wechselseitige harmonische Verschränkung, in der Verständnis nicht das bewusste Ziel war, sondern sich spontan einstellte. Verständigung kann nur begriffen werden, wenn sie als wechselseitige Verschränkung von Nachahmung und Einfühlung verstanden wird. Einigung folgt aus der Einfühlung in die Bedürfnisse des anderen und dem bewussten Abgleich mit den eigenen. Das Ziel muss nicht in jedem Fall Harmonie sein. Bei einem Scheitern der Einigung kann auch Einigkeit darüber erzielt werden, wo künftig die Grenzen zwischen den Bedürfnissen beider Partner akzeptiert werden sollen. Jede Verständigung muss aber misslingen, wenn die emotionale Verständigung durch Einfühlung gestört ist. Verständigung degeneriert zu ihrem Gegenteil, zur Unterwerfung.

Das Ziel der Erziehung besteht darin, mit Widersprüchen zwischen inneren Impulsen und äußeren Anforderungen umgehen zu können. Wenn jemand einen gekonnten Umgang mit Konflikten gelernt hat, sagt man, dass er die Verantwortung für das übernommen hat, was er tut. Man stellt sich darunter vor,~

dass er fähig ist, sich im Konfliktfall für eine Verhaltensweise zu entscheiden und auf Lust zu verzichten oder Missbilligung in Kauf zu nehmen, wenn er den Anforderungen nicht gehorcht. Diese Vorstellungen sind problematisch, da sie eine Ich-Instanz unterstellen, die das emotionale Verhalten steuert, während die Erfahrung gerade dafür spricht, dass gefühlsmäßige Entscheidungen im Konfliktfall spontan ohne Ich-Einfluss erfolgen und die Gefühle durch das »Ich« eher verfälscht und zwanghaft werden. Im Grunde ist die Fähigkeit, die Verantwortung für sein eigenes Verhalten zu übernehmen, weniger ein aktiver als ein passiver Vorgang. Verantwortung basiert auf dem Vertrauen, dass ich über die Kraft verfüge, spontan, ohne Nachdenken richtig zu reagieren und dass ich mich deshalb auf mich verlassen kann. Ich weiß spontan, auf wie viel Lust ich verzichten und wie viel Missbilligung ich in Kauf nehmen kann, um mein als richtig erkanntes Verhalten durchzuführen. Ich kann mich mit meinen Reaktionen identifizieren, weil ich der organismischen Selbstregulation vertrauen kann. Da die Emotionen spezifische Atemmuster sind, kann gefolgert werden, dass Verantwortung bedeutet, Vertrauen in die Selbstregulierungsfähigkeit der Atmung zu besitzen. Darin liegt der Kern des Selbstvertrauens.

Das Vertrauen in die Selbstregulierungsfähigkeit der Atmung bildet sich in einem langwierigen Erziehungsprozess, in dem man lernt, mit den angenehmen und unangenehmen Empfindungen, die in der Konfrontation der Körperimpulse mit den Anforderungen der sozialen Umwelt entstehen, umzugehen. Dieser Lernprozess wird immer wieder von schmerzhaften Erlebnissen unterbrochen, die das Selbstvertrauen erschüttern. Zu Recht wird von »psychischer Verletzung« gesprochen. Jede Verletzung ist körperlicher Schmerz, weil sie Verspannungen hervorruft und die spontane Selbstorganisation des Organismus unterbindet. Wenn die Handlungsmuster des Einzelnen von der Umwelt respektiert werden, geht er mit gestärktem Selbstvertrauen aus dem Konflikt hervor.

Das Vertrauen kann sich aber nicht entfalten, wenn aus Angst vor den Folgen des Gefühlsausdrucks die Gefühle verdrängt werden. In ähnlichen Situationen wird man dazu neigen, die von der Situation stimulierten Gefühle wieder zu unterdrücken. Da auf diese Weise der Umgang mit den eigenen Emotionen nicht gelernt werden kann, werden sie als absolute Bedrohung erfahren. Es stellt sich das Gefühl der Panik ein, ausweglos und hoffnungslos einer Situation ausgeliefert zu sein, aus der man nicht weiß, wie man herauskommen kann. Die ständig neu verdrängten Gefühle führen so zu einer ständig drohenden Fragmentierung des zerbrechlichen Selbstvertrauens. Man verlässt sich dann auf die Unterstützung und Hilfe durch andere Personen und wird dadurch aber noch gefährdeter. ~

Das Selbstvertrauen begründet die emotionale Autonomie, die die Fähigkeit bedeutet, in jedem Moment entscheiden zu können, ob man sich mit seinen Emotionen identifiziert und sie in Handeln umsetzt oder sie zurückhält und ihren Ausdruck unterdrückt. Die dafür erforderliche Distanz sich selbst gegenüber ist in der Natur der emotionalen Bewegung angelegt. Um die flexible Anpassungsfähigkeit des Organismus zu gewährleisten, sind die emotionalen Atemmuster so organisiert, dass sie prinzipiell eine bewusste Entscheidung brauchen, bevor sie ausagiert werden. Denn alle Emotionen sind mit inneren Vorstellungen verbunden, so dass sie bewusst eingesetzt und gesteuert werden können. Wie jede Bewegung können auch die emotionalen Bewegungen von ihrer Ausführung abgekoppelt werden und nur in der Einbildungskraft ausagiert werden. Die innere Distanz ist der Ausdruck dieses durch die Vorstellungsbilder entstandenen Spalts zwischen dem Plan einer Handlung und seiner Ausführung. Die Distanzierungsfähigkeit setzt aber voraus, dass der Organismus sich den Eindrücken des Augenblickes überlassen kann und daraus eine situationsgerechte Entscheidung ableitet. Der Organismus fühlt sich dann als autonom, wenn die propriozeptiven Rückmeldungen des Körpers zeigen, dass Plan und Ausführung identisch sind. Das Verhalten ist dann authentischer Ausdruck der eigenen Impulse. Fehlende Übereinstimmung wird dagegen als Kontrollverlust erfahren.

Wenn Situationen sich wiederholen, neigt der Organismus dazu, das bewusste Moment der Entscheidung aufzugeben. Die Gefühle neigen dazu, sich zu Gewohnheitsmustern zu fixieren, nachdem sie einmal situationsspezifisch festgelegt wurden. Wenn ich aufhöre, die verfügbaren Reaktionsmuster ständig zu überprüfen und entsprechend den geänderten Anforderungen zu modifizieren und mich an sie in der Hoffnung klammere, dass mit ihnen auch in veränderten Situationen das Überleben gesichert werden kann, geht die innere Distanz verloren. Damit wird auch die Autonomie geschwächt, die in der emotionalen Fähigkeit besteht, sich seiner aktuellen Gefühle bewusst zu sein, ohne sich von ihnen beherrschen zu lassen.

Selbstvertrauen gibt Kraft zum Widerstand. Gleichgültig ob die Opposition mit körperlichen Gesten oder überwiegend verbal ausgedrückt wird, sie bezieht ihre Kraft aus einem Atem, der sich nicht aus dem Rhythmus bringen lässt. Der Organismus ist nicht bereit, die geforderte Einschränkung der Atmung vorzunehmen. Kritikfähige Menschen können deshalb in jeder Situation »durchatmen«. Opposition ist somit das Gegenteil von Negation: sie ist ein uneingeschränktes positives Verhältnis zu sich selbst und die Fähigkeit, auf sich zu hören. Sie ist eine Weigerung, gegenüber sich selbst eine negative Einstellung einzunehmen. Opposition ist ein Sich-Zulassen, das Gegenteil von Selbstkontrolle.~

Auch das Gefühl der Hoffnung wurzelt in der Atemdynamik. Hoffnung besteht solange, wie das Vertrauen vorhanden ist, über genügend Kräfte zu verfügen, um mit den Problemen fertig zu werden. Wenn das beschädigte Selbstvertrauen mit einer Projektion auf überirdische Mächte noch gerettet werden kann, ist dies ein Zeichen dafür, dass die Atmung noch relativ stabil ist. Depressive Hoffnungslosigkeit ist stets mit extrem eingeschränkter Atmung verbunden.

Es ist hervorzuheben, dass die Organismus die ersten Erfahrungen mit der Selbständigkeit am Atem macht. Er spürt, wie er durch Veränderungen des Atems seinen Erregungszustand beeinflussen kann. Damit wird der Atem zum prägenden Muster für die Entwicklung der Selbständigkeit. Die Entwicklung des Säuglings steht von Anfang an unter der Spannung des Verlustes des Kontakts zur Mutter und den ersten Versuchen der Selbständigkeit. Diese Spannung kann nur positiv verarbeitet werden, wenn einerseits der Kontaktverlust durch intensiven Hautkontakt und stimmliche Zuwendung kompensiert wird und andererseits alle Regungen der Selbständigkeit von der Mutter zugelassen und bestätigt werden.

Alle Atemstörungen wie chronische Bronchitis, Asthma, Emphysem und Hyperventilation haben mehr oder weniger mit Konflikten zwischen den Bedürfnissen nach Kontakt und nach selbständiger Abgrenzung zu tun. Der Konflikt wird meist in frühen Entwicklungsphasen durch eine bevormundende, vereinnahmende Mutter ausgelöst, die entweder die Regungen der Selbständigkeit nicht unterstützt oder sogar behindert einerseits oder zu wenig Kontakt und Nähe gibt andererseits.63 Die ersten Erfahrungen mit dem selbständigen Atem, z.B. Schreien, verbinden sich mit der Angst, verlassen zu werden. Der Asthmatiker unterdrückt symbolisch den Schrei, der die Mutter herbeirufen soll, aus Angst, von ihr zurückgewiesen zu werden. Während sich in einer normalen Entwicklung die beiden Wünsche nach Nähe und Selbständigkeit nebeneinander entwickeln können, geraten sie bei den atemgestörten Menschen in einen unlösbaren Konflikt, da sich beides im Erleben der Betroffenen einander ausschließt. Der Konflikt kann als so ausweglos erscheinen, dass asthmatische Patienten nur noch den Tod als Lösung sehen.

Die Atmung ist auch der Erfahrungsbereich für Geborgenheit und Aufgehobensein. Wahrscheinlich wird die primäre Kommunikation mit der Mutter in der symbiotischen Phase auch darüber hergestellt, dass der Säugling die Resonanz mit dem Atem der Mutter wahrnimmt. Ihr hörbarer Atem gibt die~

Gewissheit, dass sie da ist und im Gleichklang der Atemrhythmen kann sich der Säugling beruhigt seinen inneren Rhythmen überlassen. Das Gefühl der Verlassenheit regt sich, wenn der eigene Atem keine Resonanz findet und der Geruch der Mutter vermisst wird. In der eigenen Atmung wird so das Unbehagen bei Trennung und die Entspannung bei Wiedervereinigung erfahren. Ist der Atem der Mutter unregelmäßig und durch Nervosität oder Depression gestört, überträgt sich die innere Spannung der Mutter auf das Kind, da es aus dem Resonanzbedürfnis diese gestörten Atemmuster übernimmt. Ab einem bestimmten Punkt versucht das Kind, sich von den als schmerzhaft empfundenen Atemrhythmen abzukoppeln. In diesem bewussten Weghören ist der Ursprung des Desinteresses an der Umwelt angelegt. Insgesamt besteht aus der Sicht der Atmung der Ablösungsprozess von der Mutter darin, dass das Kind so viele Fähigkeiten für den aktiven Umgang mit der Umwelt lernt, dass es die unmittelbar beruhigende Resonanz mit dem Atem der Mutter nicht mehr für das eigene Selbstgefühl braucht.

Die Atmung vermittelt so den Austausch des Menschen mit seiner Umwelt. Sie markiert die Grenze zwischen dem Körper und der Umwelt und hebt sie zugleich auch wieder auf. Im Zustand des gelösten Atems tritt der Organismus in Resonanz mit seiner Umwelt und stellt die Einheit wieder her, die mit der Ablösung von der Mutter aufgehoben werden musste. Die Einheit wird bewusst erfahrbar durch das Bewusstsein der Grenze. Die Einheitserfahrung kann bejaht werden, weil im eigenen Atem eine sichere Grenze aufrechterhalten werden kann. Wenn dagegen der Atem unbewusst ist und nicht losgelassen werden kann, wird jede Nähe als Bedrohung erlebt, weil keine Grenzen existieren, die vor dem Zusammenbruch schützen. Jede Resonanzerfahrung erinnert dann an die tiefen Schmerzen, die aus der behinderten Ablösung resultieren. Während alle archaischen Kulturen versuchen, mit ekstatischen Ritualen den Schmerz der Individuation erträglich zu machen, mutet die abendländische Kultur dem Einzelnen zu, mit diesen Schmerzen aus eigener Kraft fertig zu werden. Ihre Verleugnung führt zu einem tiefsitzenden Hass auf das Leben.64

Aus diesen Überlegungen geht hervor, dass sich das soziale Schicksal des Einzelnen, der mit seinen Gefühlen zum sozialen, auf Kommunikation angewiesenen Wesen wird, eigentlich im Atem abspielt. Von einigen Atemtherapeuten wird erahnt, dass die Gefühle Ausdrucksformen des Atems sind, wenn darauf hingewiesen wird, dass der Atem die »Auswirkung unserer derzeitigen Gemüts-, Gedanken- und Wesensart« ist und dass dementsprechend die ~

Voraussetzung für die Veränderung des Atems eine innere Neuordnung, eine veränderte seelische und geistige Gesamtverfassung sei. Zu Recht wird festgestellt, dass man mit Hilfe des Atems auf die Spuren »unserer seelisch-körperlichen Hemmung und Verkehrtheiten« kommen kann. Da aber die soziale Funktion der Gefühle nicht begriffen wird, bleibt es auch unklar, warum man sich »vorn Atem belehren« lassen könne.

4.4. Abtötung der Gefühlsfähigkeit

Die Vorstellung der Seele als Sitz der Gefühle ist ein relativ spätes Produkt der Geschichte. Noch bei Homer wurden die Gefühle als leibliche Ereignisse erfahren, die in Veränderungen des Herzen, des Zwerchfell, der Leber u. a. bestehen. Sie wurden als von außen den Menschen ergreifende Mächte verstanden, die häufig als von den Göttern geschickt verstanden wurden. »Zeus gibt dem Menschen Stärke und Zeus verhindert sie, wie es ihm gefällt, da seine Macht alles übertrifft«.65 Damit wird von Homer indirekt auch der kommunikative Charakter der Gefühle bestätigt. Es fehlt aber bei Homer noch völlig die Vorstellung einer alle Gefühle organisierenden zentralen Instanz.

Nach der Auffassung von Hermann Schmitz ist die »Entdeckung der Seele« in der Antike identisch mit der Verdrängung des menschlichen Leibes.66 Sobald sich die Seele als eine innere autonome Instanz herausgebildet hatte, in der sich die Gefühle bilden sollen, wurde die Verdrängung des Bewusstseins für die leiblichen Begleiterscheinungen der Gefühle eingeleitet. Die Gefühle, die früher auf die Götter projiziert wurden, werden wieder in den eigenen Körper zurückgenommen, allerdings um den Preis, dass sie vorn Bewusstsein abgespalten werden.

Die Seele ist Ausdruck der menschlichen Tendenz, die als selbsttätig erlebten inneren Kräfte als quasi personhafte Kräfte, Instanzen oder Wesen anzusehen, die mit Eigenständigkeit ausgestattet sind. Wie Jaynes nachweist, erfolgt die Strukturierung des Bewusstseins auf die gleiche metaphorische Weise wie die der Außenwelt, mit dem Unterschied, dass der Erfahrungsgrund der psychischen Instanzen nicht sinnlich vermittelbar ist.67 Da der Mensch sich nie~

unmittelbar wahrnehmen kann, ist er gezwungen, die innere Struktur nach seinen Erfahrungen im sozialen Kontakt zu bilden. Im alltäglichen Erleben ist die Erfahrung der Abhängigkeit von anderen Personen so dominant, dass alle inneren Kräfte nach diesem Modell wahrgenommen werden. Wenn der Mensch Kräfte und Stimmen in sich spürt, die er nicht unmittelbar bekannten Personen zuordnen kann, liegt es nahe, die ursprüngliche Erfahrung der sozialen Abhängigkeit auf sie zu übertragen und sie zu personifizieren, zunächst als überirdische Wesen wie Geister oder Dämonen.68 Das hat zugleich den Vorteil, dass sie danach weniger bedrohlich erscheinen. Seitdem die Aufklärung solche Personifizierung nicht mehr zulässt, ist an ihre Stelle die Seele getreten, die Teil des Menschen, aber auch unabhängig von ihm sein soll. Wie der Begriff der Götter verdeckt auch der Begriff der Seele die Erfahrung der Selbsttätigkeit der Gefühle und verhindert so die Entstehung eines Körpergefühls, das im Vertrauen in die innere emotionale Selbstorganisation gründet.

Zum vollständigen Verständnis der Entstehung der Seele müsste die Entwicklung des Tauschprinzips in der Antike dargestellt werden, um das Bewusstsein dafür zu schärfen, wie stark das gesamte Weltbild durch das Tauschprinzip verändert worden ist. Die zunehmende Produktion für einen anonymen Markt und der wachsende über das Geld vermittelte Warenaustausch haben ein instrumentelles Denken entstehen lassen, das alles primär unter dem Aspekt des Mittels für andere Zwecke ansah. Dieses instrumentelle Denken ist allmählich aus dem Bereich des Warentausches auf das körperliche Selbstverständnis übergegangen. So wie der Tauschverkehr dazu veranlasste, alles ausschließlich unter dem Blickwinkel zu sehen, ob es Profit einbringt und dabei andere humane Gesichtspunkte hintangestellt werden mussten, so wurde der eigene Körper zum Mittel für vorgegebene gesellschaftliche Zwecke. Nicht mehr das Wohlbefinden motiviert den pfleglichen Umgang mit dem Körper, sondern das abstrakte Ziel der Gesundheit oder der Leistungssteigerung. In diesem zweckrationalen Verhalten zu sich selbst bildet sich das »autonome Ich« heraus, das die Verantwortung für die spontan auftretenden Gefühle übernehmen muss.69

Gegenwärtig hat der Begriff des Selbst den älteren Begriff der Seele in den Hintergrund gedrängt. Das Selbst wird seit C.G. Jung in der Regel als ein umfassender Begriff benutzt, der das Unbewusste und das »rationale, bewusste Ich« umfasst. Es besteht die Vorstellung, dass hinter der Maske der Persönlichkeit~

mit ihren Handlungsprogrammen, Vorurteilen, Abwehrmechanismen u. a. ein tieferes persönliches Zentrum liegt, das von Haus aus im Einklang mit der Natur arbeitet und dass durch die Ich-Struktur daran gehindert werden kann. Das Selbst wird als das eigentliche kreative Zentrum des Menschen verstanden: es soll die autonome Instanz des Menschen sein. Häufig wird das Selbst auch als Manifestationsform des »kosmischen Prinzips« verstanden, so dass die Erfahrung des Selbst als eine transzendente Erfahrung begriffen wird. Stets gilt, dass man nur glücklich leben kann, wenn man aus dem Zentrum lebt. Der Mensch sei identisch, wenn Selbst, Ich und Körper miteinander harmonieren.

Die Faszination des Selbstbegriffs beruht darauf, dass er an die Erfahrung anknüpft, dass seelisches Gleichgewicht dadurch zu finden ist, dass man in Kontakt mit der inneren Selbstorganisation gelangt. Nicht zufällig versieht die Sprache alle Eigenschaften, die innere Sicherheit kennzeichnen, mit dem Beiwort Selbst: Selbstsicherheit, Selbstwertgefühl, Selbsterkenntnis, Selbstbewusstsein, Selbstverantwortung u. a.70 Die Sprache bezeichnet damit Reaktionen, die in Übereinstimmung mit den vegetativen autonomen Prozessen stehen und deshalb als authentisch erfahren werden. Jemand ist also selbstbewusst, wenn er sein Handeln unmittelbar von seinen Empfindungen leiten lässt. Nietzsche, der die Wichtigkeit des Körpers erkannt hat, mahnt die Verächter des Leibes: »Es ist mehr Vernunft in Deinem Leibe als in Deiner besten Weisheit«.71

Die Begriffe der Seele und des Selbst sind Ausdruck der zunehmenden Vergesellschaftung, die den Einzelnen zwingt, die Verantwortung für sich zu übernehmen, ihm aber die Fähigkeit dazu nimmt. Die zunehmende Abhängigkeit des Einzelnen von ökonomischen und politischen Machtinstanzen steigert das Aggressionspotential, verlangt aber gleichzeitig die Unterdrückung von Gefühlen der Wut, des Widerstandes gegen Unterdrückung, Bevormundung und Demütigung. Die Disziplinierung des Körpers zum Instrument der Arbeit konnte gelingen, da in Tauschgesellschaften die Angst, im Überlebenskampf zu unterliegen, praktisch allgegenwärtig geworden ist, während sie früher nur in kurzen Momenten der akuten Gefahr den Körper bewegte. Die unterdrückte Wut erzeugt eine latente Zerstörungsbereitschaft, die wiederum einen ständigen inneren Abwehrkampf erforderlich macht, in dem die Fähigkeit der emotionalen Selbstregulierung untergeht. Die Begriffe der Seele und~

des Selbst drücken so die misslungene Autonomie gegenüber den Gefühlen aus, von denen man sich abhängig fühlt.

Bei der Unterdrückung der das Überleben störenden Gefühle hat die Atmung eine zentrale Funktion. Sie wurde schon immer als Mittel wahrgenommen, die körperlichen Erregungen unter Kontrolle zu halten, damit die sozial geforderte Selbstdisziplin leichter zu verwirklichen ist. Wilhelm Reich hat beobachtet, dass die Gefühle unterdrückt werden, in dem der Atem gehemmt wird. »Kinder pflegen dauernde und qualvolle Angstzustände, die sie im Oberbauch empfinden, dadurch zu bekämpfen, dass sie den Atem anhalten. Das gleiche tun sie, wenn sie Lustempfindungen im Bauch oder in den Genitalien verspüren und Angst davor haben«.72 Er hat seine Beobachtungen zu der bedeutsamen Erkenntnis verallgemeinert, dass die psychische Verdrängung ohne den Atem nicht verstanden werden kann. »Denn es war nun klar, dass die Atembremsung als der physiologische Mechanismus der Affektunterdrückung und Affektverdrängung auch der Grundmechanismus der Neurose überhaupt ist«.73

Das wichtigste Mittel der Angstunterdrückung ist das Atemanhalten. Das Atemanhalten nach der Einatmung ist eine Fähigkeit, die bei vielen Alltagssituationen kurzfristig spontan eingesetzt wird. In der Austreibungsphase der Geburt setzt das Atemanhalten spontan ein, um mit dem dadurch erzeugten Druck im Bauchinneren den Fötus –unterstützt durch das Zwerchfell – durch den Geburtskanal zu pressen. Für die schmerzfreie Geburt ist es wichtig, fähig zu sein, den Atem ohne Mühe anzuhalten, während die Bauchdecke und der Beckenboden gelockert werden. Analog kann das Atemanhalten willkürlich beim Stuhlgang eingesetzt werden. Im Alltag erfolgt das Anhalten instinktiv beim Lauschen, bei kurzer, starker Anstrengung der Aufmerksamkeit, bei sehr feinen und genauen Leistungen der Hände. Durch das Atemanhalten kann eine ekstatische Erregung von einem Moment zum anderen zum Stillstand gebracht werden, wenn dies die Situation erfordert.

Das Atemanhalten hat normalerweise eine produktive Funktion. Die Anspannung während des Atemanhaltens bewirkt, dass augenblicklich das Nervensystem vom überwiegend parasympathischen in den sympathischen Zustand umgeschaltet wird. Dadurch wird die mit der Einatmung aufgebaute Erregung gestoppt, neutralisiert und wahrscheinlich über die Darmperistaltik~

entladen. Die Erregung kann sich nicht über den ganzen Körper ausbreiten. Durch das Atemanhalten wird die Erregung festgehalten und die Energie auf ein bestimmtes Ziel konzentriert. Das Atemanhalten, das normalerweise nur in aktuellen Anlässen eingreift, kann aber auch zur chronischen Abwehrhaltung gegenüber sinnlicher Erregung überhaupt umfunktioniert werden.

Der Zusammenhang von Gefühlsunterdrückung und Atmung kommt dadurch zustande, dass jedes Gefühl ein bestimmtes Atemmuster ist. Um ein Gefühl zu unterdrücken, muss der Atem ein Atemmuster aktivieren, das den Ausdruck des zu unterdrückenden Gefühls behindert. Diese Arbeit wird von unbewussten Vorstellungen übernommen, die die nervalen Impulse für die Muskeln enthalten, die den Gefühlsausdruck blockieren können. So werden z.B. bei der Unterdrückung von Wut die Bauchmuskeln angespannt, die stärkeres Einatmen verhindern sollen. Durch eine ständig angespannte Atemmuskulatur können so Wutreaktionen völlig vermieden werden, allerdings um den Preis, dass der Organismus, der sich nicht mehr mit Energie aufladen kann, in den Zustand der Depression gerät. Denn die Unterdrückung der Gefühle bedeutet, dass die emotionalen Anteile der inneren Vorstellungen, die die Lebendigkeit des Handelns ausmachen, an ihrem Ausdruck gehindert werden.

Symptome der blockierten Atmung sind Störungen im Blutkreislauf (Hochdruck, niedriger Blutdruck, kalte Hände und Füße), Kopfschmerzen oder Depression. Der aufgenommene Sauerstoff reicht nicht für eine volle Versorgung des Gesamtkörpers aus, so dass nur die inneren Organe versorgt werden und die peripheren Organe unterversorgt bleiben müssen. Es ist nicht überraschend, dass unter den Symptomen des niedrigen Blutdrucks vornehmlich Frauen leiden, da sie als Ehefrauen praktisch einem doppelten sozioökonomischen und psychischen Herrschaftsdruck ausgesetzt sind. Aber auch Männer in abhängigen Positionen sind von diesen Symptomen betroffen. Dies steht nicht im Gegensatz zu der Beobachtung, dass Männer überwiegend unter Bluthochdruck leiden. Bei Männern führen die Stressfaktoren zu einer Störung des Atemzentrums, so dass die durch die flache Atmung bedingte Kontraktion der Kapillaren chronisch wird.

Bei starkem Anpassungszwang und Hoffnungslosigkeit, ein größeres Maß an Selbständigkeit zu erreichen, besteht offenbar der einzig wirksame Abwehrmechanismus darin, das Energieniveau insgesamt herabzusetzen. Die radikale Unterdrückung der Sinnlichkeit gelingt dadurch, dass durch die Hemmbarkeit des Atemprozesses das gesamte Energieniveau des Körpers reduziert wird. Dieser Abwehr- und Anpassungsmechanismus ist eine Form des bei den Tieren zu beobachtenden Totstellreflexes. Vielleicht ist es so zu erklären, dass bei jungen Menschen der Atemmechanismus noch relativ intakt ist und deshalb ohnmächtige~

Wut über soziale Demütigungen sich noch auf andere Ersatzobjekte umlenken lässt, während bei älteren Menschen mit inzwischen völlig blockierter Atmung die Aggressionsbereitschaft wesentlich geringer zu sein scheint. Das Maß der sozialen Unterdrückung kann so unmittelbar am Atemvolumen/Minute abgelesen werden. Die Atmung ist damit der zentrale Mechanismus, mit dem der Organismus seine spontanen Ausdrucksformen blockieren kann. Sie macht verständlich, warum der Organismus, der von Natur aus Entfaltung und Bejahung will, sich selbst negieren kann, wenn ihm eine feindliche Umwelt gegenübertritt.

Die Verflachung der Atmung wird durch vielfältige kulturelle Maßnahmen weiter unterstützt. Durch Einwickeln des Säuglings, durch Korsette, durch enge Hosen und Gürtel u. a. wird die Zwerchfellatmung gehemmt. Die schlechte Luft in den Großstädten lähmt die volle Atmung. Die Unterdrückung des Singens beeinträchtigt die volle Atmung. Das tief sitzende Desinteresse an der Umwelt und anderen Menschen wirkt sich negativ auf die Einatmung aus. Es entsteht ein sich selbst verstärkender Teufelskreis von verflachter Atmung und Kontaktverlust zur Umwelt. Auch die gesellschaftlich geforderte Unterdrückung der Aggressivität gelingt mit dem Mechanismus der Atemunterdrückung. Der Ausdruck der Aggressivität ist an heftige Beckenbewegungen nach vorn bei einer ruckartigen, scharfen Ausatmung gebunden. Die ruckartige Kontraktion der Bauchmuskeln setzt eine erhebliche Muskelstärke voraus, die ihrerseits nur entwickelt werden kann, wenn eine starke Zwerchfellatmung ein großes Atemvolumen besorgt. Der Ausdruck der Wut kann nur zurückgehalten werden, indem die Einatmung früh gestoppt wird. Die Verflachung der Atmung führt zu einer Umstellung der tiefen Bauchatmung in eine oberflächliche, flache Brustatmung. Dadurch erschlaffen die Bauch und Beckenmuskeln; das Becken kippt nach vorn. Die Rückenmuskeln verkrampfen sich, um das gestörte Gleichgewicht wiederherzustellen. Rückenschmerzen und Bandscheibenerkrankungen sind die direkte Folge der partiellen Leblosigkeit des Becken. Die verminderte Stimulierung des Darms durch die Atembewegungen führt zur chronischen Verstopfung und zur Gasbildung, die auf das Zwerchfell drücken und die Zwerchfellatmung zusätzlich lähmen. Das Zwerchfell büßt seine den Rückstrom des venösen Blutes unterstützende Funktion ein, so dass auch der Blutkreislauf beeinträchtigt wird. Der versteifte Unterleib verliert so seine Fähigkeit, Aggressionen auszudrücken. Damit ist der ganze Körper Aggressionen hilflos ausgeliefert. Er vermeidet deshalb aggressionsauslösende Situationen. Folgenreich ist, dass durch die Zurückhaltung der aggressiven Strebungen der ganze Unterleib auch als Quelle der sexuellen und ekstatischen Empfindungen stillgestellt wird.~

Ich vermute, dass bei Frauen eher die Einatmungsreaktion blockiert wird und das Hauptaugenmerk auf die Ausatmung gelegt wird. Dadurch, dass der Körper niemals mit Energie voll aufgeladen wird, können Wutreaktionen völlig vermieden werden. Die Folge blockierter Einatmung ist Depression. Die Gewohnheit, dass bei der weiblichen Atemblockierung die Einatmungsmuskulatur ständig entspannt gehalten wird, hat Rückwirkungen auf den Gefühlsausdruck, da die Gefühle der Selbstbehauptung, des Widerstandes, des Sich-Durchsetzens ihre körperliche Ausdrucksform verlieren. Bei Männern, die im Konkurrenzkampf mehr konkreten Ängsten ausgesetzt sind, ist dagegen zu vermuten, dass die Einatmung zur Energieaufladung zwar erfolgt, aber erst bei der Ausatmung die Blockierung aus Angst einsetzt, um den Ausdruck der Gefühle zu vermeiden. Die Folge ist eine chronisch flache Brustatmung. Die Brust wird in der Einatmungsposition festgehalten, damit der Ausatmung die Kraft genommen wird. Dadurch wird aber letztlich auch die Einatmung geschwächt.

Nach der bürgerlichen Vorstellung kann sich das Individuum nur verwirklichen, wenn es lernt, die als irrational zu erfahrenden Gefühle und Triebe zu beherrschen. Die Kontrolle soll durch die Verinnerlichung der sozialen Anforderungen an angemessenes Verhalten hergestellt werden. Wie oben dargestellt wurde, ist der Preis der Selbstbeherrschung ein blockierter Atem in einem verspannten Körper. Der Organismus ist dann nicht mehr fähig, Gefühle der Zuneigung, des Vertrauens, der Freundschaft, der Liebe, der Fürsorge, Hingabe, des Verständnisses, des Mitleidens, der Trauer, der Solidarität usw. zu empfinden. Die Abspaltung der Gefühle betrifft damit den ganzen Bereich der Gefühle, die affektive Beziehungen zu anderen Menschen begründen. Unfähig zur Resonanz werden die sozialen Beziehungen als gleichgültig, beliebig, oberflächlich und austauschbar empfunden. Andere Menschen werden nur in ihrem Wert für die eigenen Ziele gesehen; deren Bedürfnisse können nicht als eigenständige akzeptiert werden. Die ganze Welt wird aus der Perspektive ihrer Nützlichkeit und Verwertbarkeit gesehen. Nichts geschieht mehr um seiner selbst willen. Das Spielerische, das Nichtstun und Geschehenlassen wird als störend und irrational disqualifiziert.

Die Redeweise von den »verdrängten Gefühlen« ist im Grunde falsch, da sie unterstellt, dass die Gefühle irgendwo in der Psyche weiter existieren. Wenn jemand keine Gefühle der Liebe, Fürsorge, Achtung u. a. zeigt, bedeutet dies, dass sie nicht gelernt werden konnten, so dass keine entsprechenden Reaktionsmuster vorhanden sind. Wenn sich der Körper vor Angst verhärtet und erstarrt, können sich weder Gefühle bilden, noch können die evtl. schwach ausgeprägten Gefühle aufgrund der beschädigten Selbstwahrnehmungsfähigkeit

erlebt werden. Das Verdrängungsmodell gilt im Grunde nur für die »negativen« Gefühle der Wut, Aggression u. a. Diese emotionalen Handlungsimpulse, die in den Vorstellungen der Zerstörung und Vernichtung enthalten sind, werden durch die Blockierung der von ihnen benötigten Muskeln, die ihrerseits mit unbewussten inneren Vorstellungsbildern erfolgt, unwirksam gemacht. Dies muss jedes Mal erneuert werden, wenn diese inneren Vorstellungsbilder aktiviert werden. Die schmerzlichen Gefühle können aber jederzeit wieder durchbrechen, wenn in kritischen Situationen die muskuläre Abwehr nicht aufrechterhalten werden kann.

Der Organismus kann die Gefühlskontrolle mit Hilfe der Atemsteuerung nur wirksam erledigen, wenn dieser Vorgang unbewusst bleibt. Um den Dauerkonflikt mit sich selbst zu vermeiden, muss er sich selbst betrügen und die Kontrolle ins Unbewusste abschieben. Damit wird der Atem aus dem bewussten Erleben herausgedrängt. Der Atem wird nur noch in Extremsituationen, in denen der Körper an seine Leistungsgrenze stößt, bewusst erlebt. Chronische Muskelverspannungen stumpfen die Wahrnehmungsfähigkeit ab, so dass schließlich selbst starke Verspannungen nicht mehr wahrgenommen werden können. Dies bedeutet für die organismische Selbstregulation eine empfindliche Schwächung, da die Selbsthilfefunktion der Atmung in Konfliktsituationen, in denen gerade die Bewusstmachung der Atmung für das Gelingen von zentraler Bedeutung wäre, nicht mehr zur Verfügung steht.

Mit Hilfe der Atemkontrolle werden die Anregungen, die von der Umwelt ausgehen, zensiert. Sie können nicht mit angemessenen Reaktionen beantwortet werden. Der Organismus lässt sich weder von lustvollen Empfindungen wie Freude oder Begeisterung noch von schmerzlichen Empfindungen wie Entsetzen oder Trauer ergreifen. Nicht bloß das Leiden anderer Menschen, auch das eigene Leiden wird gleichgültig. Dadurch entsteht das Gefühl, nicht vollständig lebendig, nicht wirklich oder getrennt zu sein, Gefühle, die in der Schizophrenie ihren extremen Ausdruck finden. Das Gefühl für die Grenze zwischen Innen und Außen verschwimmt; Teile des Außen werden so behandelt, als wären sie ein Teil des Innen (Introjektion); Teile des Innen werden als etwas Fremdes angesehen (Mystifikation).

Der unbewusste Atem bewirkt vor allem, dass der Einzelne sich in seiner gesellschaftlichen Bestimmtheit nicht mehr erkennen kann. Er verliert die Gewissheit über die Richtigkeit seiner körperlichen Impulse, die ohnehin im Warentausch meist störend sind . »Das Licht der ratio geht auf mit der Verdunkelung des eigenen Seins für die Menschen. Sie entsteht als das gesellschaftlich~

unentbehrliche Mittel, die Produktion nach den Bedingungen der vollendeten Entfremdung zu organisieren. Wenn die Produktion zu ihrer Ermöglichung der theoretischen ratio bedarf, sind die gesellschaftlichen, lebensnotwendigen Beziehungen zwischen den Menschen unkontrollierbar geworden, blindes Resultat der ökonomischen Kausalität des Wertgesetzes«.74 Daraus resultiert eine tiefe Unsicherheit. Durch die zwanghafte Orientierung an gesellschaftlichen Normen und Prinzipien, vorrangig des Reichtums und der Macht, kann sie nur scheinbar aufgehoben werden. Meist erfolgt eine Überidentifikation mit den gesellschaftlichen Normen, um das Gefühl der Unsicherheit zu verdrängen. Die Wut gegen alles Abweichende zeigt, wie wenig die Identifikation mit den gesellschaftlichen Normen Sicherheit bringt.

Die Gefühlskontrolle wird sehr wirksam dadurch unterstützt, dass die Beweglichkeit der Augen eingeschränkt wird. Wenn der visuelle Kontakt reduziert wird, reduziert sich die Gefahr, dass spontan Vorstellungsbilder auftauchen, die Angst auslösen. Sehstörungen bedeuten deshalb stets, dass man sich selbst nicht sehen will. Blindheit ist die letzte Manifestation dieser Selbstnegation. Da die Verspannungen der Augen fortlaufend erneuert werden müssten und damit keine sichere Lösung bieten, hat der Organismus die Möglichkeit gefunden, den Augenkontakt dauerhaft durch die Veränderung der Form des Augapfels und des Krümmungsverhältnisses der Hornhaut zu verändern. Die Augen gelten zu Recht als das Tor der Seele.

Die Behinderung des emotionalen Ausdrucks raubt damit den Emotionen ihre eigentliche kommunikative Qualität, mit der sie die Welt im Sinne der eigenen Bedürfnisse zu beeinflussen versuchen. Die Abhängigkeitsprozesse haben nicht nur die Sensibilität gegenüber den Gefühlen beeinträchtigt, sondern auch Misstrauen ihnen gegenüber gebracht, so dass sie nicht mehr zur spontanen Selbststeuerung des Verhaltens herangezogen werden und durch rationale Prinzipien wie Macht, Geld, Gerechtigkeit u. a. ersetzt werden müssen.

Wenn die Atmung nicht im Zentrum des Identitätsgefühls steht, herrscht ein unersättliches Bedürfnis nach Ersatzabgrenzungen wie z.B. durch Erfolg, sozialen Status, Konkurrenz u. a. vor. Die sozialen Beziehungskräfte wandeln sich beim kontrollierten Atem in Abspaltungskräfte um, da die Abgrenzung nur gegen die anderen Menschen, die nur noch als Mittel zur Bedürfnisbefriedigung wahrgenommen werden, zu erreichen ist. Demgegenüber schließt die auf dem Atembewusstsein basierende Identität die Gemeinschaft mit anderen ein, weil sie das Recht des anderen auf Eigenart anerkennt und das Fremde in sich selbst und dem anderen bewahrt. ~

4.5. Exkurs: Todesangst

Der ständige Kampf des Individuums gegen die körperliche Impulsivität hinterlässt das tiefe Gefühl, nicht wirklich lebendig zu sein. Das Leben, das nicht mehr mühelos aus den inneren Antrieben herausfließt, sondern vom »bewussten Willen« gesteuert werden muss, wird zur Last. Da der Einzelne nicht die Verantwortung für sein Leben übernehmen kann und sich als Opfer erfahren muss, erscheint auch der Tod als zwangsläufig und unvermeidlich. Alles Lebendige, das an die eigenen Defizite an Lebendigkeit erinnert, zieht Wut auf sich. Die stärkste Erinnerung an den Verlust an Lebendigkeit geht aber vom Tod aus. Er vernichtet die Illusion, dass man sich in der Zukunft Kompensation für die Einschränkungen und Versäumnisse holen kann. Er macht bewusst, dass das versäumte Leben nicht nachgeholt werden kann und das Leben nur im Augenblick stattfindet. Auch wenn die Einsicht in erforderliche Verhaltensänderungen vorhanden ist, sind diese schwer durchzuführen, weil die damit verbundene Lebendigkeit die Todesangst weckt. Jede Verhaltensänderung ist auch ein Eingeständnis, dass das bisherige Leben erstarrt war. Der Schrecken des Todes ist der Schrecken vor dem Tod im Leben.

Die Todesangst ist die zwangsläufige Kehrseite der Individualisierung. Bereits die gewaltsame Ablösung des Mannes von seiner Mutter ist die erste und folgenreichste Zerstörung von Lebendigkeit. Aufgrund seines männlichen Identitätszwanges kann er sich nicht mit seinem positiven Mutterbild identifizieren. Die Abspaltung von der Mutter ist Zerstörung von Leben im Mann, sozusagen ein kleiner Tod. Der Zwang, Aggressionen und Liebesbedürfnisse unter Kontrolle zu halten, ist ein weiterer Abtötungsschritt. Das partiell abgetötete Leben zeigt sich auch daran, dass viele Menschen bei geringsten Anstrengungen der Aufmerksamkeit und bei kleinsten Änderungen des inneren und äußeren Lebens einen kurzfristigen Atemstillstand erleiden75, der aber nicht wahrgenommen wird. Sehr viele Menschen haben während des Schlafes Atemstillstände. Wie die gewaltsame Ablösung von der Mutter kann auch der vorübergehende Atemstillstand als ein »kleiner Tod« bezeichnet werden.

Weil Tod ständig stattfindet, kann seine Realität als Beendigung des Lebens nicht ertragen und anerkannt werden. Die leistungsfixierte Arbeitsorganisation und Produktionswut erhält aus der Verdrängung des Todes seine Zwanghaftigkeit: das ständige Machen, Herstellen, Organisieren und Aktivsein vermittelt nur den Schein von Lebendigkeit. Das Arbeitsverhalten wird suchtartig, weil genau gespürt wird, dass das Leben nicht das angestrengte Verfolgen~

von Zielen, sondern auch Muße, Geschehenlassen, Bei-sich-Selbstsein ist. Die Todesangst ist identisch mit der Angst, im Augenblick intensiven Lebens die totale Kontrolle über das Leben zu verlieren. Die Todesangst verdeckt die Angst vor dem Leben.

Die Behauptung, dass die Angst vor dem Tod geringer sei, wenn man in Harmonie mit den natürlichen Abläufen lebt und mit sich identisch ist, wird im Blick auf die Atmung verständlich. Tod und Leben werden in dem Atmungsrhythmus als Auf und Ab einer einzigen Bewegung erfahren. In der Einatmung nimmt der Organismus Lebenskraft auf und verbindet sich mit dem Leben, während er in der Ausatmung sich zurückzieht und von der Welt gleichsam kurzfristig Abschied nimmt. »Im Ausatmen wird der Körper, der Geist und die Seele in die Leere entlassen«. Der Tod ist in der Erfahrung präsent, dass das Leben in der Atempause zu Ende gekommen ist und von einem Neuanfang noch nichts zu spüren ist. »Wer ganz und gar im Augenblick lebt, hat das beglückende Gefühl, immer wieder aus dem Nichts in die Existenz gerufen zu werden. Alles ... bekommt in der Gestimmtheit intensiver Gegenwart die Morgenfrische einer Neuschöpfung. Das Nichts als Hintergrund des Lebens ist die Ursprungserfahrung der Schöpfung«.76 »Bei jedem Ausatmen bedingungslos dem Tod nachgeben heißt, mit jedem Einatmen wieder geboren zu werden«.77 Das tiefe Ausatmen vermittelt so das Lebensgefühl, die Welt mit jedem Atemzug neu zu erfahren. Diese Erfahrung gründet in einer körperlichen Identität, die sich von dem Rhythmus des Atems tragen lässt. Wenn das Leben in jedem Augenblick zugelassen werden kann, verfügt man auch über die innere Kraft, das Leben aus freier, bewusster Entscheidung zu beenden.

Im Normalfall sind die ersten Atemerfahrungen nach der Geburt mit so viel Schmerzen verbunden, dass die vielfältigen alltäglichen Erinnerungen an die Geburt aus dem Bewusstsein ausgeblendet werden und der Blick systematisch in die Zukunft und auf den Tod gerichtet wird, um nicht an die Geburt denken zu müssen. »Die Angst vor dem Tod ist nichts anderes als eine Projektion der Angst, die mit unserem ersten Augenblick anhebt«78 Je entfremdeter das Leben ist, umso mehr muss die Erinnerung an die Geburt verhindert werden.~

4.6. Gefühle und innerer Dialog

Mit den Gefühlen entsteht die erste Erweiterung des inneren Dialoges, der bereits mit den inneren Vorstellungen beginnt. Der innere Dialog wurde notwendig, weil nach der Entkoppelung des motorischen vom sensorischen System keine festen Verhaltensprogramme nach dem Reiz-Reaktionsmechanismus mehr zur Verfügung stehen. Solange die inneren Vorstellungen nicht sprachlich mitgeteilt werden konnten, hat der Organismus sie in der Sprache der Gefühle ausgedrückt. Da die Aufgabe, einen sozial wirksamen Gefühlsausdruck zu finden, scheitern kann, muss ständig geprüft werden, ob die verfügbaren emotionalen Bewegungsgestalten geeignet sind, die innere Empfindung in verständliche, sozial konforme Bewegungsformen zu übersetzen. Dafür steht die innere Spannung zwischen Körperempfindung und Körperausdruck als Informationsquelle zur Verfügung.

Der innere Dialog enthält die Bereitschaft, gelerntes Verhalten ständig zur Disposition zu stellen, wenn es sich als untauglich erweist, die inneren Empfindungen mit sozial angepassten Verhalten zu verbinden. Treffend sagt die Sprache, dass man mit »seinen Gefühlen in Kontakt kommen« muss, um Orientierung zu finden. Dazu müsste aber ihr Ausdruck zugelassen werden. Denn wenn sie aufgrund von Ängsten unterdrückt werden, erstickt der innere Dialog in der »inneren Leere«.

Die wichtigste emotionale Atemselbstregulation ist das Weinen. Jeder Verlust schnürt die Atmung ein, schneidet den Kontakt mit den inneren Empfindungen ab und führt zum Rückzug aus sozialen Kontakten. Trauer und Schmerz bei dem Verlust eines Menschen sind meist damit verbunden, dass die stützende Zuwendung, die man sich von dem anderen Menschen erwartet hatte, verlorengegangen ist und man jetzt Angst hat, dem Leben nicht mehr gewachsen zu sein. Das Weinen ist das einzig wirksame Mittel, um die Spannungen, die aus dem Verlust von Liebe resultieren, restlos aufzulösen. Das Atemmuster des Weinens besteht aus mehreren kurzen Einatemstößen und längeren intensiven Ausatmungsbewegungen. Durch die kurzen Atemstöße wird das Zwerchfell regelrecht erschüttert, so dass es sich rhythmisch auf und ab bewegt. Der ganze Körper gerät in eine unwillkürliche konvulsivische Wellenbewegung, die genau dem Atemorgasmusreflex entspricht.79

Lowen meint, dass das Weinen allein keine körperliche Entlastung bringt. Der Tränenfluss würde nur die Spannungen in den Augen abführen. Das Weinen bewirkt erst eine volle Lösung des Schmerzes, wenn es zum Schluchzen wird, ~

bei dem die inneren Verspannungen als Töne entladen werden. Erst der Ton bewirke, dass der Körper durch die Aktivierung des Zwerchfells bis tief in den Unterleib in die konvulsivische Wellenbewegung einbezogen wird. »Jeder Schluchzer ist eine Pulsation oder Welle, die durch den Körper fließt und das Becken nach vorne bringt, sobald die Welle den Beckenboden erreicht hat. Schluchzen ist eine stimmliche Spannungsabfuhr, die die Welle des Ausatmens überlagert. Zwischen den Schluchzern sind Lücken für ein kurzes Einatmen, in denen das Becken sich nach hinten bewegt. Bei heftigem Weinen sind die Beckenbewegungen ebenso unwillkürlich wie beim Orgasmus«.80 Auch der Ausdruck von Wut führt nicht zu der Entspannung, die das Weinen bewirken kann. Wer in der Lage ist, Wut auszudrücken, ist nicht notwendigerweise auch fähig zu weinen. Nach dem reinigenden Schluchzen ist die Atmung tief, weich, mühelos und fließend.

Das schluchzende Weinen kann die verspannungsbedingten inneren Wunden heilen, da durch die intensive Aktivierung des Zwerchfells und die Auslösung des Atemorgasmusreflexes der Atem in ein natürliches Atemmuster gerät und das Atemvolumen so groß wird, dass einerseits in die verspannten Körperzonen viel Sauerstoff fließt und andererseits alle Körperteile in die reflexhafte Wellenbewegung hineingezogen werden. Die verbesserte Sauerstoffversorgung bewirkt eine Schmerzlinderung. Schmitt weist nach, dass Schmerzen stets mit Sauerstoffmangel zusammengehen, da durch den Sauerstoffmangel in den Zellen der anaerobe Stoffwechsel in den Zellen einsetzt und dabei atemhemmende Schmerzstoffe produziert werden.81 Das Atemmuster des Weinens sorgt so für eine Revitalisierung des gestörten Zellstoffwechsels.

Ein rigider Körper ist unfähig zu weinen. Die tiefe Atmung wird durch das Stillstellen des Beckens und des Zwerchfells blockiert; das Weinen wird durch Verspannungen in der Kehle, im Kiefer und in den Muskeln um die Augen herum unterbunden. Das unbewusste Verbot zu weinen wird vor allem durch das Anhalten des Atems erreicht. Wenn der Verlust eines Menschen nicht ausreichend betrauert wird, entwickelt sich eine Neigung zu Depressionen.

Die befreiende und entspannende Wirkung des Lachens und Lächelns beruht ebenfalls auf einem unwillkürlichen Atemreflex. Der schnelle Wechsel zwischen anspannendem Einatem und entspanntem Ausatem bedeutet eine intensive Erschütterung des Zwerchfells, die bei längerem Lachen als schmerzhaft empfunden werden kann. Lächeln wird deshalb auch als »Tanz der~

Atmung« bezeichnet. Wenn man mit sich in Fühlung gekommen ist, kann man auch vor Freude weinen. Auch intensive Freude kann den Körper in eine unwillkürliche rhythmische konvulsivische Wellenbewegung versetzen.

In jedem Fall versuchen die Atemreflexe, eine tiefe, den Körper erfassende Atembewegung wiederherzustellen. Sie stellen die Bejahung des Lebens wieder her und heben den vorübergehenden Verlust des Selbstvertrauens, mit den eigenen Problemen fertig zu werden, wieder auf. Wenn das Atemzentrum leicht erregbar ist, kann der Organismus viel intensiver an allen Lebensvorgängen teilhaben, weil die damit verbundenen Erregungen ihn nicht ängstigen können. Der Organismus kann sich auf alles einlassen, weil er mit der Atmung jederzeit einen Mechanismus hat, um sich wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Insbesondere kann er sich mit dem Atem rasch aus der Arbeitseinstellung des sympathischen Nervenzustandes in die Erholungseinstellung des parasympathischen Zustandes umschalten. »In dem selben Maße, wie wir fähig werden zu weinen, wird unser Körper fähig, unser Selbst auszudrücken. Wenn wir wieder weinen lernen, wächst in uns die Bereitschaft und die Fähigkeit, freudvoll zu lieben«.82

Der freie Gefühlsausdruck kann zwar Konflikte mit anderen Menschen herbeiführen; er stellt aber zugleich ein angemessenes Mittel dar, um die Konflikte zu lösen. Mit dem Gefühl der Wut kann eine Einschränkung in der Gegenwart abgewehrt, mit der Angst eine drohende Einschränkung verhindert und mit dem Gefühl der Trauer eine Einschränkung in der Vergangenheit verarbeitet werden. Da ein freier Gefühlsausdruck identisch ist mit voller Resonanzfähigkeit, ist stets ein Verständnis des anderen gegeben, so dass die angemessenen Gefühle gefunden werden können, um zum Einklang mit dem anderen zurückzukehren. Auch wenn die Menschen die sprachlichen Mittel der Verständigung einsetzen, die Konflikte bleiben solange ungelöst, wie nicht auch die Gefühle ins Spiel kommen. Die Gefühle statten so die Menschen mit Grundmechanismen aus, um Konfliktfälle im sozialen Umfeld zu bewältigen.

Wenn aber in der frühen Kindheit Wut, Angst und Trauer nicht ausgelebt werden können, entstehen Ersatzgefühle wie Eifersucht, Neid, Einsamkeit, Frustration, Selbsthass u. a., von denen der Organismus gleichwohl überzeugt ist, mit ihnen seine Probleme lösen zu können. Wenn aber der Kontakt zu den Emotionen behindert wird und die früheren emotionalen Interaktionsmuster nicht mit Hilfe der Sprache kritisch reflektiert werden können, hat der Organismus die immanente Tendenz, an den einmal getroffenen Entscheidungen, wie er auf negative Erfahrungen reagiert, festzuhalten. Die Psychoanalyse~

spricht vom Wiederholungszwang, die Transaktionsanalyse von »ins Skript gehen«. Die Menschen bleiben in ihren zwanghaften Ersatzgefühlen stecken. Die Unterdrückung der Gefühle zerstört so die Fähigkeit der autonomen Problemlösung.

Wenn mit den erlernten Emotionen die Kontaktprobleme nicht ausreichend bewältigt werden können, wird die infantile Erwartung, mit den emotionalen Mustern magisch alle Probleme lösen zu können, auf Schamanen, Priester oder Ärzte übertragen. Von ihnen wird erwartet, dass sie die innere Entspannung herbeiführen, die aufgrund der eigenen Gefühle nicht mehr gelingt. Deren Heilkompetenz wurzelt letztlich in einer stark ausgeprägten Fähigkeit zum Mitempfinden, mit der sie in ihrem eigenen Körper erkennen, was der Kranke braucht. Diese Fähigkeit ist das in jedem Menschen angelegte Außergewöhnliche. Die Frage ist bloß, ob die normalen Lebensbedingungen es erlauben, sie sich zu bewahren. In einer repressiven Gesellschaft, die vom Einzelnen ein hohes Maß an Unterdrückung von inneren Impulsen verlangt, ist die Zerstörung der Resonanzfähigkeit unvermeidlich. Es können sich praktisch nur die Menschen ihre natürliche Sensibilität bewahren, die aus welchen Gründen auch immer sich dem gesellschaftlichen Konformitätsdruck entziehen können.

Wenn auch die Schamanen und Ärzte versagen, bleibt der Ausweg, den Glauben an ihre Fähigkeiten ins Innere zurückzunehmen und in dem »inneren Heiler« zu bewahren. Aber der innere Heiler hat den erheblichen Nachteil, dass die soziale Gruppe, in der man lebt und die im schamanistischen Ritual einbezogen wurde, ausgeklammert wird. Seine Fähigkeiten sind deshalb zwangsläufig beschränkt. Der »innere Heiler« erscheint aus dieser Sicht als Ersatz für die misslungene emotionale Autonomie. Es wird mit ihm versucht, eine infantile Form der Realitätsbewältigung zu retten, die im direkten Umgang mit den Eltern gescheitert ist. Daraus resultiert die starke Tendenz zur mystischen Überhöhung des inneren Heilers.

Kann schließlich auch der »innere Heiler« nicht zur Hilfe gerufen werden, flieht der Organismus in organische Krankheiten. Bei der Somatisierung der psychischen Konflikte fällt der Organismus in frühe Anpassungsformen an die Umwelt zurück, die in der Veränderung von vegetativen Funktionsmustern besteht. Typischerweise werden die Organe für Krankheitssymptome ausgewählt, die in früheren Entwicklungsphasen unmittelbar Belastungen ausgesetzt worden waren, wie z.B. das Ohr beim Geburtsvorgang, die Schleimhäute aufgrund des Entzuges von Hautkontakt, der Atemapparat infolge von früheren Kontaktkonflikten u. a. Diese Funktionsänderungen waren ursprünglich der Hilfeschrei an die Umwelt, dass sich der Organismus beeinträchtigt fühlt.~

In der präverbalen Welt des Kleinkindes waren die Symptome eine primitive, aber angemessene Körpersprache. An die Organe knüpfen sich so Erwartungen, dass durch die Erkrankung die verlorene Zuwendung zurückerlangt werden kann. Deshalb kann auch ein Symptom das andere ersetzen, weil es letztlich nur um die zentrale Botschaft an die Umwelt geht, dass der Organismus liebende Unterstützung braucht.

Gefühle zeichnen sich durch ihre Spontaneität aus; sie sind teils Ausdruck der Naturhaftigkeit des Menschen, teils Ausdruck seiner Vergesellschaftung, da sie im Interesse des Überlebens im Ausdruck unterdrückt werden können. Von zentraler Bedeutung ist, dass in den Gefühlen die Tendenz des Organismus, sich unter ungünstigen Lebensbedingungen einzuschränken oder gar sich zu zerstören, eine neue Entwicklungsstufe erreicht hat. Das Phänomen der Selbstblockierung ist in der Selbstregulation der Atmung angelegt. Autonomie gegenüber den Gefühlen kann erst ins Spiel kommen, wenn gegenüber den inneren Vorstellungen, die die Gefühle organisieren, eine weitere Reflexionsebene entwickelt wird, die Ebene der begrifflichen Vorstellungen der Sprache. Die Distanzierungsfähigkeit, die oben als die zentrale Entwicklungsaufgabe des Menschen dargestellt wurde, setzt den gekonnten Umgang mit der Sprache voraus. Deshalb soll im folgenden Kapitel dargestellt werden, wie sich durch die Sprache die Selbstorganisation verändert hat.

5. Die Entstehung der inneren Stimme

In der psychosomatischen Medizin setzt sich immer mehr die Erkenntnis durch, dass gestörte Sprachfähigkeit die zentrale Ursache für Erkrankungen ist. Wenn die »Sprache des Körpers«, auf deren Existenz die Redewendungen wie »auf den Körper hören« oder »der Körper weiß die Antwort« hinweisen, nicht mehr verstanden wird, können die Botschaften der Krankheitssymptome, die ein gestörtes Gleichgewicht melden, nicht mehr wahrgenommen werden. Krankheiten wären aus dieser Sicht die Folge des stillgestellten inneren Dialoges.

Die Heilkraft der Schamanen beruht zweifellos darauf, dass sie in der Lage sind, die Vorstellungen und Körpersymptome der Kranken als Botschaften zu entschlüsseln. Die Schamanen haben ein feines Gespür dafür, wie sie die Sprache benutzen können, um die innere Vorstellungswelt des Erkrankten so zurechtzurücken, dass der Erkrankte die Kontrolle über sich zurückerlangt. Der Schamane übernimmt die Aufgabe, die sozialen Erfahrungen, die der Erkrankte sprachlich nicht ausdrücken kann, für ihn stellvertretend in Worte auszudrücken, um ihm die Richtigkeit seiner Erfahrungen zu bestätigen. Dazu gehören die mystischen Erfahrungen der Einheit und Verbundenheit mit allen anderen Lebewesen und dem ganzen Kosmos, der absoluten Sinnlosigkeit des Daseins, der tiefen Entfremdung vom Leben, eines inneren Todes u. a.. Der Schamane bietet spirituelle Erklärungen an, in denen diese beängstigenden, die Integrität auflösenden Gefühle ausgedrückt und so integriert werden können.

Auch in Erfahrungsberichten von Geisteskranken wird bestätigt, dass der Weg der Selbstheilung in dem Moment beginnt, wie die Wahnvorstellungen z.B. als symbolische Botschaften des Unbewussten verstanden werden und damit der innere Dialog wieder aufgenommen wird.83 Die Misserfolge der Psychiatrie~

erscheinen in dieser Perspektive darin begründet zu sein, dass sie das heilende Gespräch verweigert.

Im Folgenden soll die Hypothese diskutiert werden, dass die »Sprache des Körpers« keine metaphorische Redeweise ist. Sie ist Ausdruck des inneren Dialoges, der sich auf der Basis der Sprachfähigkeit entwickelt und die innere Koordination radikal verändert hat. Im inneren Dialog werden alle Erfahrungen aufbereitet, abgespeichert und zur inneren Problemlösung zur Verfügung gestellt.

5.1. Die Erfindung der Sprache

Im Abendland gilt die Sprache als die Fähigkeit, die den Menschen vom Tier unterscheidet. Sprache wird als eine Ausdrucksform des Geistes angesehen, der einer eigenen Sphäre außerhalb des Animalischen angehört. Demgegenüber ist auf die Untersuchung von Fester hinzuweisen, dass sich die Sprache in einer langen Entwicklungsgeschichte aus einer kleinen Zahl von Ur-Wörtern heraus entwickelt hat, die ursprünglich den Charakter von intentionalen Zurufen hatten.84 Diese Ur-Wörter lösten die mimisch-gestischen Signale der Primaten ab und machten die Kommunikation in dunklen Höhlen, die die Menschen im nördlichen Klima zur Behausung wählten, möglich. Der Schritt zur Sprache, die sich darüber hinaus für die Informationsübertragung eignet, vollzog sich nach der Überzeugung von Jaynes erst, als die Menschen durch beträchtliche Temperaturschwankungen zu gewaltigen Wanderbewegungen gezwungen wurden und ihre bisherigen Kommunikationsstrukturen verändern mussten. »Da die Sprache Infomationsübertragung großen Stils ermöglicht, bringt sie notwendigerweise dramatische Wandlungen in der menschlichen Aufmerksamkeitsorientierung gegenüber Personen wie Sachen mit sich; infolgedessen muss sie in einer Zeitperiode entstanden sein, für die derartige Wandlungen archäologisch bezeugt sind. Eine solche Periode ist das späte Pleistozän: grob umrissen die Zeitspanne von 70.000 bis 8.000 v. Chr.«.85 Dies würde bedeuten, dass die Sprache keineswegs zum Wesen des Menschen gehört, wie es seit der Antike als Dogma verkündet wird.

Nach einer langsamen Entwicklung nahm in der Antike die verbale Sprache unter dem Einfluss der Ausweitung der sozialen Beziehungen durch den~

zunehmenden Warenhandel ihre heutige Gestalt an. Die schnelle Ausdifferenzierung der Sprache steht in enger Rückkoppelung mit der Vergrößerung der Sozialgruppen, die dank der reichhaltigen Informationsübertragung durch die Sprache ermöglicht wurde. Sprache macht aber nicht nur einen höheren Grad an Arbeitsteilung, sondern auch die soziale Kontrolle größerer Menschenmengen möglich. Aus der wechselseitigen Abhängigkeit von Sprachfähigkeit und sozialer Geschichte ist abzuleiten, dass offensichtlich das phylogenetische Potential der verbalen Sprache schon lange Zeit vor ihrer konkreten Entfaltung vorlag, so dass eine biologische Erklärung der Sprache zu kurz greifen würde.

Die Leistungen der Sprache beruhen darauf, dass für bestimmte innere Vorstellungen ein als Begriff bezeichnetes Klangsymbol geschaffen wird. Damit werden die inneren Vorstellungen in den Begriffen verdoppelt. Die Symbole erleichtern die Kommunikation, da mit ihnen komplexe Vorstellungen relativ treffsicher übermittelt werden können. Sie können jederzeit aufgerufen und miteinander in Verbindung gebracht werden. Zugleich kann man sich deshalb auch leichter von ihnen distanzieren. Mit den verbalen Begriffen können die Vorstellungen von der Situation, auf die sie sich beziehen, abgelöst und verallgemeinert werden. Auch die Emotionen können als Symbole der ihnen zugrundeliegenden Empfindungen betrachtet werden. Aber während die emotionalen Symbole sich auf innere Prozesse beziehen, werden mit den Begriffen Symbole für Objekte geschaffen, die außerhalb des Körpers liegen. Mit den Emotionen eignet der Organismus sich primär selbst an; demgegenüber kann er sich mit der Sprache auch die äußere Realität aneignen.

5.2. Sprache und Atem

Jeder Begriff ist körperlich gesehen eine besondere Abfolge von Vokalen und Konsonanten, die mit Hilfe von spezifischen Kontraktionen innerhalb der Atemmuskulatur gebildet werden. Middendorf beobachtete, »dass jede Volkalschwingung ihren Atembewegungsraum im Körper hat, und zwar gleichbleibend bei jedem neuen Ansatz«.86 So klingt das »u« im Beckenraum, das »o« in der Mitte des Rumpfes, das »e« in den Flanken, das »i« im oberen Schultergürtel und beansprucht das »a« den ganzen Körperraum.87 Die Konsonanten haben~

keine ausgesprochenen Atembewegungsräume, sondern haben eher den Charakter von Anschlägen, Zentrierungen, Antrieben, Verbindungen und Lösungen in der Gesamtheit der Körperwand. So erhält z.B. das »f« seinen Charakter durch den Beckenbodenmuskel, die Konsonanten »p, t, k, b, d und g« kommen durch das Zusammenwirken des Zwerchfells mit unterschiedlichen Rippenpaaren zustande, bei »s«, »sch«,«z« und ›c« ist dominant die Bauchdecke beteiligt, das »n« beansprucht den Schultergürtel usw.88 In der menschlichen Sprache bilden die Konsonanten das Gerüst und geben den Vokalen ihre Prägung. Die Konsonanten geben der Sprache ihren Bedeutungsgehalt. Im emotionalen Bereich übernimmt der Konsonant die Funktion, eine innere Bewegtheit zum Ausdruck zu bringen. Die Konsonanten funktionieren so als Regler der Atmung.89

Im Zentrum der Begriffsbildung steht das Zwerchfell. Es ist ein äußerst bewegungsfähiger Muskel, der mit seiner differenzierten Spannungsdynamik einerseits die Atmung unterstützt, indem er bei seiner Abwärtsbewegung einen Unterdruck in dem Brustkorb entstehen lässt, der die Atemluft ansaugt und bei seiner Entspannung in der Aufwärtsbewegung die Ausatmung zulässt. Andererseits kann der Bewegungsablauf des Zwerchfells so gesteuert werden, dass der Körper einen bestimmten emotionalen Ausdruck erhält (z.B. Lachen, Seufzen, Weinen, Angst u. a.) oder der Klang der Stimme eine bestimmte Tonhöhe und Tonstärke, eine bestimmte Klangfärbung oder Melodie erfährt. Der Kehlkopf ist direkt mit der Zwerchfellbewegung gekoppelt. Die Stimmritze öffnet sich für die Ein- und Ausatmung umso weiter, je kraftvoller das Zwerchfell an der Atembewegung beteiligt ist. Bei der Tonerzeugung und noch mehr beim Sprechen wird der Ausatemstrom durch den annähernd vollständigen Stimmbandverschluss gebremst. Töne können nur entstehen, wenn die Atmung kurzfristig einhält. Das Zwerchfell hält die Ausatmung beim Sprechen und Singen soweit wie möglich zurück. Dadurch wird der Luftstrom oberhalb und unterhalb der Stimmbänder in Schwingung gebracht. Es entsteht ein Rückstau, der sich vermindert, wenn die Stimmbänder den Ausatemstrom wieder freigeben. Das Zwerchfell ist über die Erfahrung der tönenden Luftsäule und ihre Vibrationen mit dem Lautbildungsprozess rückgekoppelt. Die Atemluft wird so in Klänge verwandelt. Atemanhalten und -freigeben müssen natürlich äußerst schnell aufeinanderfolgen, um die sprachlichen Klänge produzieren zu können und setzen deshalb ein ungeheuer exaktes~

Zusammenspiel der Muskeln im Kehlkopf und im Zwerchfell voraus. Optimale Tonerzeugung gelingt nur bei optimaler Zwerchfellleistung.

Die von den Begriffen benötigten minimalen Spannungsveränderungen der Atemmuskeln überlagern die Grundspannung der Atmung, die sich aus der jeweiligen emotionalen Gestimmtheit des Körpers ergibt, die wiederum davon abhängig ist, mit welchen inneren Vorstellungen man sich auf die äußere Situation bezieht. Die Begriffe können sich deshalb der emotionalen Dynamik nicht entziehen. Wenn der Atem stockt, hört das Denken auf; wenn der Atem rast, kann man keine klaren Gedanken fassen.

Für jeden Begriff wird somit in der Atemmuskulatur ein spezifisches körperliches Bewegungs- und Spannungsmuster gebildet. Die Schwingungsmuster der Begriffe werden mit denen der inneren Vorstellungen verbunden. Es werden also die im Funktionskreis Zwerchfell, Kehlkopf und Rachenraum gebildeten Bewegungsmuster mit den in den inneren Vorstellungen aufgehobenen Bewegungsmustern verknüpft. Das Wesen der Begriffe besteht deshalb darin, dass sie eine Verbindung von verschiedenen Bewegungsmustern herstellen, bei der ihre jeweilig unterschiedlichen Schwingungen überlagert werden. Es ist der gleiche Vorgang, der bereits bei dem Lernen von Bewegungen durch die Verknüpfung von Bewegungsimpulsen mit inneren Vorstellungen erfolgt. Es macht die Prägekraft der Begriffe aus, dass sie ein Bestandteil der Schwingungsmuster der Empfindungen, Bewegungen und Emotionen werden können.

Sprechen erfolgt durch die Reproduktion von spezifischen Atemmustern, die in den Klangbildern der Worte als komplizierte feinmotorische Bewegungsfolgen aufbewahrt werden, eine Leistung, die sich dem Vorstellungsvermögen entzieht. Es finden Höchstleistungen in Millisekunden statt: es werden etwa 15 Laute pro Sekunde oder zwei Begriffe pro Sekunde gebildet. Wie bei jeder Bewegung muss auch der Begriff in seiner konkreten Körperlichkeit abgehört werden. Im Sprechen wird der Klang der Begriffe vernehmbar.

In Analogie zu den vorgestellten Bewegungen, bei denen alle entsprechenden Muskeln innerviert werden, ohne dass die Bewegung ausgeführt wird, reicht es auch aus, wenn die entsprechenden Atemmuskeln nur virtuell »angesprochen« werden. Damit wird aus dem Sprechen das Denken. »Denken ist ein lautloser Dialog des Ichs mit einem anderen in derselben Person und meist sogar eines vorwiegend sprechenden Ichs mit einem vorwiegend hörenden Ich, und außerdem ist es nichts«.90

Denken besteht aus der Neuverbindung von inneren Vorstellungen und ist damit ebenso ein Bewegungsvorgang wie normale motorische Bewegungen.~

Das Material des Denkens sind alle sinnlich produzierten Vorstellungen ganz gleich ob sie vom Ohr, vom Geschmack, von der Nase, von den Augen oder von der propriozeptiven, kinästhetischen Selbstwahrnehmung stammen. Das Denken des Tänzers mit seinen kinästhetischen Vorstellungen, des Ingenieurs mit technischen Bildern, des Kochs mit Geschmackseindrücken oder des Musikers mit Klangbildern ist dem verbalen Denken des Philosophen völlig ebenbürtig. Auch im Traum und bei der intensiven Problemlösung wird gedacht, da beides Mal neue Bilder geschaffen werden. Es ist ein patriarchales Vorurteil, dass Denken stets ein begriffliches Denken sei. Im Lauf der abendländischen Entwicklung ist dem verbalen Denken völlig zu Unrecht das Monopol des Denkens zugeschrieben worden und das bildhafte, sinnesbezogene Denken vernachlässigt worden. Dabei wurde übersehen, dass auch im verbalen Denken im Grunde nur sensorische Vorstellungen manipuliert werden. Die Begriffe sind lediglich Werkzeuge, um leichter mit den inneren Vorstellungen umgehen zu können. Analog zu den technischen Werkzeugen geben sie die Potenz, durch ihre neue Verbindung neue Wirklichkeiten zu schaffen.

Denken setzt also voraus, dass sich der Atem zur Sprache ausdifferenziert und damit neue Möglichkeiten der denkenden Kombination und Änderung von inneren Vorstellungen eröffnet. Denken kann nicht vom Atem losgelöst werden. Es benutzt nicht bloß den Atem zur physischen Manifestation. Denken ist ein ganzheitlicher Vorgang, an dem der Körper als ganzer beteiligt ist. Er ist das Ergebnis eines komplizierten Zusammenspiels der Atmung mit den anderen Sinnesorganen, insbesondere dem Hören, der Großhirnrinde, dem Nervensystem, den Gliedmaßen, insbesondere den Händen u. a., in dem es keine monokausale Abhängigkeiten gibt, sondern nur ein wechselseitiges Zusammenwirken. Ebenso wenig wie beim Verhältnis von Atem und Gefühl gesagt werden kann, was das Erste ist, kann ein Zentrum bestimmt werden, von dem aus das Denken organisiert wird. Auch die Metapher, dass das Gehirn die Atmung als Instrument benutzt, um sich zu artikulieren, wird dem Denken als ganzheitlichem Vorgang nicht gerecht.

Vermutlich verdankt sich die Entwicklung der Sprache des Körpers der doppelseitigen Ausbildung des Gehirns, die wahrscheinlich aus der Aufgabe entstanden ist, die doppelte Wahrnehmung der Realität durch die paarweise angeordneten Sinnesorgane der Augen und des Ohres zu koordinieren. Denn beim Sprechen müssen zwei Prozesse parallel bzw. zeitlich kurz hintereinander ablaufen: zunächst müssen die Vorstellungen, Erfahrungen, Empfindungen, Gefühle präsent gehalten werden, auf die sich die Sprache beziehen soll und dann müssen parallel dazu die richtigen Wörter artikuliert werden. Nicht zufällig wird die Sprache erst in der Ausatmung artikuliert, nachdem zuvor~

vom Organismus im Einatmen die Situation aufgenommen wurde. Während in der Einatmung die rechte Gehirnseite eine ganzheitlich-intuitive Wahrnehmung der Situation leistet, kann sich das linke Gehirn in der Ausatmung darauf konzentrieren, dafür den angemessenen sprachlichen Ausdruck zu finden oder evtl. den Eindruck durch Betrachtung der Einzelheiten der Situation, die das logische, analytische, lineare Vorgehen der linken Gehirnhälfte erfordern, zu differenzieren. Im Sprechen zeigt sich, wie ständig beide Seiten des Gehirn zusammenwirken müssen.

5.3. Sprache und sinnliche Interaktionsformen

Der Erwerb der Sprache baut auf den vorsprachlichen sinnlichen Interaktionsmustern auf, die das Kind bereits vor der Entwicklung der Sprache entwickelt hat und mit denen ein befriedigender Austausch organisiert werden konnte. Wie gezeigt stellen die Interaktionsformen eine Kombination von motorischen Abläufen und inneren Vorstellungen dar. Beim Erlernen der Sprache werden die Begriffe, deren Bedeutung durch ein spezifisches Bündel von inneren Vorstellungen bestimmt wird, mit den schon eingespielten Interaktionsformen, die selbst mit inneren Vorstellungen verbunden sind, verknüpft.91 In der Sprache werden also zwei Vorstellungshorizonte aufeinander bezogen. Interaktionsmuster, die nach wie vor auf den ursprünglichen sinnlichen Reaktionsmustern beruhen, können nun eine Modifikation durch die inneren Vorstellungen der Sprache erfahren. Mit ihren Situationsdefinitionen zensieren, rationalisieren oder negieren sie ein bestimmtes Verhalten. Sprache und sinnliche Interaktionsmuster verschmelzen im Laufe der Entwicklung so stark, dass Lorenzer von symbolischen Interaktionsformen spricht.

Uexküll hat diesen Vorgang als Bedeutungskoppelung von körperlichen Symbolen mit umweltbezogenen Sprachsymbolen bezeichnet.92 Es ist aber problematisch, die Bedeutungskoppelung als ein Übersetzungsproblem zu verstehen. Es geht nicht darum, die Sprache des Körpers in die Sprache der sozialen Lebenswelt zu übersetzen. Die somatischen Impulse müssen mit Hilfe der Sprache so umstrukturiert werden, dass sie sich in die soziale Lebenswelt einfügen. Dabei verändert sich nicht bloß ihr Objekt, sondern sie werden~

auch umgestaltet und ausdifferenziert. Misslingt ihre sprachliche Aneignung, ist die Folge der Verlust einer verlässlichen Umwelt.

Es ist ein Charakteristikum der Sprache, dass zwangsläufig eine Spannung zwischen dem Sprachsymbol und dem sinnlichen Interaktionsmuster bestehen bleibt: Sprache kann die Interaktionsmuster nie vollständig erfassen; widersprüchliche Erfahrungen, Ambivalenzen bleiben in der Regel ausgeklammert; außerdem hebt sie bestimmte Momente zu Lasten anderer hervor. Die Spannung liegt darin begründet, dass die inneren Vorstellungen der sinnlichen Interaktionsmuster in Konkurrenz zu den inneren Vorstellungen der Begriffe treten können. Während die verhaltensbezogenen inneren Vorstellungen aus subjektiven Erfahrungen hervorgehen, sind die symbolisch vermittelten inneren Vorstellungen kollektiv vorgegeben. Ihre Übereinstimmung gelingt wahrscheinlich in der Regel nur dadurch, dass die subjektiven Vorstellungen zugunsten der kollektiven in den Bewusstseinshintergrund gedrängt werden.

In der ersten Phase der Sprachentwicklung sind die Begriffe magische Zeichen, mit denen in der Einbildungskraft Objekte hervorgebracht werden können. Ebenso wie die Vorstellungen implizieren die Begriffe die Distanz zu den Dingen und den Wunsch, einen Mangel aufzuheben. Die Worte werden als Ersatz für das Wunschobjekt genommen und können es dem Kind imaginär zur Verfügung stellen. Die Entwicklung der Sprache ist erst abgeschlossen, wenn die Begriffe endgültig zu symbolischen Zeichen für die Objekte geworden sind.

Tendenziell werden alle sinnlichen Erfahrungen mit begrifflichen Symbolen verbunden. »Der Herd ist heiß«. Damit eignet sich der Körper ein breites Wissen an, dass in neuen Erfahrungssituationen verfügbar ist. Aufgrund der engen Verknüpfung der sinnlichen Erfahrungen mit Symbolen können sie sich wechselseitig aufrufen. Wenn sich die Aufmerksamkeit auf einen Körperteil richtet, werden spontan alle symbolisch gefassten Erfahrungen geweckt. Man kann sogar z.B. mit der Haut sprechen, weil alle Erfahrungen, die Haut gemacht hat, bewusst und unbewusst mit Symbolen verknüpft wurden. Im Traum wird die ständige automatische innere Verarbeitung von zunächst nicht vereinbaren, unverständlichen Reizen fortgesetzt. Indem begriffliche Symbole in die Verarbeitungsprozesse der Erfahrungen mit einbezogen werden, wird die innere Problemverarbeitung auf ein neues Niveau gehoben. Damit wird die Metapher von der »Sprache des Körpers« zur zutreffenden Kennzeichnung.

Die Aneignung der Sprache bedingt die fundamentale Verinnerlichung der ihr implizit zugrundeliegenden Werte. Die Sprache fixiert ein bestimmtes kulturell erworbenes Körperverständnis und formt das körperliche Selbstverständnis. Sie greift in die Selbstwahrnehmung ein und legt fest, was man wahrnimmt~

und wie man sich selbst wahrnimmt. Bereits bei dem Erlernen der sinnlichen Interaktionsmuster wird das Kleinkind unbewusst von gesellschaftlichen Zielen und Wertvorstellungen geprägt, da sie unmittelbar mit dem nachgeahmten Verhalten der Bezugspersonen übernommen werden. In den sinnlichen Interaktionsmustern des Kleinkindes findet deshalb stets eine Verschmelzung von sinnlicher Basis und gesellschaftlichen Zielen statt. Die persönliche Entwicklung besteht letztlich darin, sich mit der Sprache die Vorstellungen anzueignen, die die eigenen sinnlichen Reaktionsmuster geprägt haben.

Alle versprachlichten Erfahrungen wirken auf den Körper zurück, da dadurch differenziertere Reaktionen möglich werden. Es nimmt nicht bloß die Sensibilität für die organismischen Reaktionen zu. Gleichzeitig werden durch die Begriffe neue differenziertere Reaktionen geschaffen. Die mit den Begriffen verbundenen Vorstellungen greifen tief in die Physiologie des Körpers ein, so dass zu Recht behauptet werden kann, dass sich durch die Sprache die Physiologie des Menschen geändert hat.93 Es findet praktisch eine Versprachlichung des Körpers statt; Versprachlichung aber nicht im Sinne einer Vergeistigung, sondern als die Entwicklung einer neuen Bewegungsform zur Differenzierung des kommunikativen Austauschs. Kontakt zu sich selbst herstellen bedeutet nun, die Erfahrungen, die sich in den Empfindungen niedergeschlagen haben, sprachlich artikulieren zu können.

Die Verdoppelung der inneren Vorstellungen durch die Begriffe hat den entscheidenden Vorteil, dass gegenüber den primär gelernten Vorstellungsbildern ein distanziertes Verhältnis eingenommen werden kann. Die inneren Vorstellungen der sinnlichen Interaktionsmuster lassen Distanz nicht zu. Sie bedingen ein bewusstloses, reflexartiges Verhalten, sobald die in den inneren Vorstellungen festgelegten Auslösebedingungen situativ gegeben sind. Dagegen begründen die begrifflich aufgenommen inneren Vorstellungen eine höhere Reflexionsebene, da die primären Vorstellungen mit den begrifflichen Vorstellungen verglichen werden können. Die handlungsauslösende Kraft der primären Vorstellungen kann blockiert werden, wenn der Organismus in den begrifflichen Vorstellungen ein realitätsgerechtes, angepassteres Verhalten erkennt. Die begrifflichen Vorstellungen, zunächst kollektiv aufgenommen, können in einem inneren Reflexionsvorgang, in dem sie mit den eigenen Impulsen gespiegelt werden, ständig verändert werden. In diesem möglich gewordenen Wechselspiel zwischen den beiden Vorstellungshorizonten ist die »Macht des Geistes« begründet, die im Grunde nichts anderes ist, als dass der Organismus erfahrungsbezogene mit mental angeeigneten Vorstellungen spiegeln~

kann. Auch die Autonomie bezieht sich darauf, dass das Verhalten durch die in den Begriffen aufgehobenen Vorstellungen veränderbar geworden ist.

Die Sprache enthält das Potential, dass sich ein Bewusstsein für Konflikte zwischen den gesellschaftlichen Anforderungen und der eigenen inneren Natur bildet, die in der vorsprachlichen Erziehungsphase unbewusst verarbeitet werden müssen. Mit der Sprache kann damit eine kritische Potenz erschlossen werden. Man würde aber die Bedeutung der Kraft des Denkens überschätzen, wenn jede Verhaltensveränderung von der Reflexion abhängig gemacht wird. Die Sprache ist als Vermittlungsstufe für Verhaltensveränderung nicht unbedingt erforderlich. Denn bereits auf der Stufe der präverbalen sinnlichen Interaktionsmuster wird bei neuen Erfahrungen spontan das Verhalten verändert.

5.4. Die Entstehung der inneren Stimme

Normalerweise wird die Sprache im täglichen Gebrauch so selbstverständlich, dass auch die Erfahrungen, die nicht durch bewusstes Denken verarbeitet werden, im Bewusstseinshintergrund sprachlich nachverarbeitet werden. Offensichtlich entwickelt sich das innere Sprechen wie das intuitive Denken zum selbsttätigen Vorgang, der auch ohne bewussten Anteil des Bewusstseins abläuft. Es ist davon auszugehen, dass sich die Sprache zur automatisch ablaufenden Routine für die innere Verarbeitung von Eindrücken entwickelt, wenn sie ausreichend trainiert worden ist. Analog zu den muskulären Bewegungen genügt ein geringer Auslösereiz, um den ganzen Gedankenprozess ablaufen zu lassen. Das Neue am Denken ist, dass die Denkprozesse sowohl durch die äußere Situation als auch mit Hilfe der Einbildungskraft aktiviert werden können.

Piaget hat beobachtet, dass bei den Kleinkindern in der Phase zwischen zwei und sechs Jahren die Sprache scheinbar überwiegend keine kommunikative Funktion hat. Sie begleitet ihre Handlungen, ohne sie direkt zu beeinflussen. Wygotski weist nach, dass dieses von Piaget als egozentrisch bezeichnete antikommunikative Sprachverhalten die Vorstufe zur endgültigen Verinnerlichung der Sprache ist. »Diese Sprache stellt einen notwendigen Bestandteil des kindlichen Denkens dar und beginnt so ein Mittel zur Bildung einer Absicht und eines Planes bei einer komplizierten Tätigkeit des Kindes zu werden«.94 ~

Der innere sprachliche Bewusstseinsstrom wird ständig dadurch in Gang gehalten, dass jedes Gespräch und jeder Kontakt den Organismus in einen Spannungszustand versetzt, weil Erwartungen angesprochen, Konflikte oder Ängste usw. ausgelöst und Bedürfnisse geweckt werden. Die Auseinandersetzung mit der ausgelösten Unruhe wird auf der imaginalen Zwischenebene einschließlich der des Traumes solange fortgesetzt wird, bis eine »Lösung« gefunden ist. Indem alle Probleme stundenlang verbal nachbearbeitet werden müssen, kann jedoch die Konzentrationsfähigkeit auf die körperlichen Empfindungen verlorengehen. Durch die Worte werden die nonverbalen Energien und Impulse der vegetativen Lebensschicht mehr oder minder zugedeckt. Der oben beschriebene Verlust der Gegenwart durch die inneren Vorstellungen kann so durch die verbalen Verarbeitungsmechanismen extrem verstärkt werden.

Der verbale Bewusstseinsstrom wird durch die Art der sozialen Kommunikationserfahrungen geprägt. Ich spreche mit mir selbst auf dieselbe Weise, wie die Pflegepersonen mit mir gesprochen haben. Die sinnlichen Interaktionsformen werden über ihren inneren Nachvollzug zu prägenden Faktoren des inneren Dialogs. Die Art und Weise, wie man seinen eigenen Körper wahrnimmt und aneignet, wird deshalb entscheidend von der Interaktion mit den Pflegepersonen geprägt. Ist diese Interaktion geprägt von Achtung meiner spontanen Impulse, werde ich mir selbst gegenüber ehrlich und einfühlsam sein. Das Denken ist beweglicher, wenn der frühe vorsprachliche Dialog mit der Mutter offen und angstfrei war. Ich kann nur Fragen an mich richten, wenn ich Toleranz für meine Fragen an andere erfahren habe. Bei einer strengen, autoritären Bezugsperson werde ich auch mir selbst gegenüber unnachsichtig, gleichgültig und unterdrückend sein.

Häufig äußert sich im inneren Dialog eine innere Stimme, die sich beratend oder mahnend Gehör verschafft. Das Phänomen der inneren Stimme hat eine lange Tradition. Am berühmtesten ist die von Sokrates daimonion genannte innere Stimme, die er als göttliche Stimme verehrte. Sokrates fühlte sich mit seiner inneren Stimme von der Hand einer göttlichen Macht getragen. Mit dem Vertrauen in seine innere Stimme setzte sich Sokrates vom Gehorsam gegenüber den Stimmen ab, in denen sich die äußeren Autoritäten äußerten.

Die Sprache weiß, dass es richtig ist, auf die innere Stimme zu hören. Sie fordert, auf den Körper zu hören. Ein Verhalten ist stimmig, wenn es im Einklang mit der inneren Stimme ist. Sich selbst bestimmen heißt, der eigenen inneren Stimme zu folgen. Das kleine Kind ist bereit, sich von der Mutter bestimmen zu lassen, um die freundliche Stimmung der Mutter zu erhalten.

Nach der Theorie von J. Jaynes wurde das Bewusstsein in der historischen Phase zwischen der beendeten Sprachentstehung, die etwa~

8000 v. Chr. abgeschlossen ist, und der beginnenden ökonomischen Umwälzungen der antiken Gesellschaft im Zuge der Ausbreitung der Tauschgesellschaft etwa um 2000 – 1000 v. Chr. sehr stark von den inneren Stimmen geprägt.95 In diesem Zeitraum zerfiel die traditionelle stammesgeschichtliche Sozialordnung und begann die Geburt des auf sich selbst gestellten Individuums. Jaynes weist mit überlieferten Schriften nach, dass in der Phase der theokratischen Herrschaftssysteme in Mesopotamien und im Mittelmeerbereich die Menschen in neuartigen Entscheidungssituationen, die von der Alltagsroutine abwichen, innere Stimmen hatten, die ihnen Direktiven gaben. Diese inneren Stimmen wurde als die Sprache der Götter angesehen; es wurde ihnen deshalb bedingungslos gehorcht. Es bestand kein Anlass, sie in Frage zu stellen oder über sie zu reflektieren. Wenn jedes Handeln auf Befehle von Göttern zurückgeführt wird, besteht kein Raum für Verantwortung, Schuld, Alternativen, Reflexion der Selbstbestimmung. Dieses Selbstverständnis ist mit dem gegenwärtigen Verständnis vom Bewusstsein als eines aktiven Zentrums, in dem das »Ich« oder das »Selbst« die notwendigen Entscheidungen selbstverantwortlich trifft, so weit entfernt, dass Jaynes es ablehnt, es als Bewusstsein zu bezeichnen. Es ist für ihn ein reflexhafter Gehorsam gegenüber kulturell interpretierten Hinweisreizen auf einer neuen, der Sprachentwicklung angepassten Entwicklungsstufe.

Es entspricht einer archaischen Neigung des Menschen, alle Kräfte, die er als fremd, selbständig und dem Ich nicht verfügbar erlebte, entweder Göttern oder Dämonen zuzuschreiben. In dem Maße, wie der Mensch als arbeitendes Wesen seine willensbestimmten Potenzen erfahren hatte, mit denen er die Welt gestalten kann, entstand ein Bruch zwischen den dem »Willen« zugänglichen und dem ihm unzugänglichen Bereichen. Diese innere Zwiespältigkeit konnte er offensichtlich nur ertragen, wenn die fremden Kräfte personifiziert und als eine Einwirkung von äußeren Kräften angesehen werden. Deshalb war es konsequent, dass die innere Stimme als göttliche Stimme verehrt wurde. Die Vergöttlichung der inneren Stimme war eine folgenreiche Metapher, weil sie die Frage nach den Ursachen und der Verantwortung des Handelns aufwarf.

Die historische Bedeutung der inneren Stimme hängt damit zusammen, dass in den vorschriftlichen Gesellschaften der soziale Austausch mit anderen Menschen hörorientiert war. Die Übernahme der kulturellen Tradition war lange Zeit ausschließlich an das Hören gebunden. Die gesellschaftlichen Gebote wurden durch die Verinnerlichung der Stimmen der sozialen Bezugspersonen gelernt. Über die introjizierten Stimmen waren die Bezugspersonen ständig~

präsent. Da im inneren Reden alle Eindrücke verarbeitet werden, kann angenommen werden, dass die introjizierten Ratschläge, Befehle, Verbote u. a. mit den intuitiven Erkenntnissen zur inneren Stimme verarbeitet werden, die dann nicht mehr einer bestimmten Person zugeordnet werden kann. Da die kritische Auseinandersetzung mit den introjizierten sozialen Stimmen unterblieb, war es nahezu unvermeidlich, dass sie sich als gleichsam fremde Stimmen verselbständigten.

Im Verlauf der tiefgreifenden sozialen Umwälzungen im Zeitraum zwischen 2000 und 500 v. Chr. infolge von durch natürliche Katastrophen ausgelösten umfangreichen Völkerwanderungen, von kriegerischen Eroberungsfeldzügen, von zunehmendem Warenaustausch mit den damit verbundenen kulturellen Kontakten mit fremden Völkern und vor allem infolge der Benutzung der Schrift als staatlichem Herrschaftsinstrument verstummten die Stimmen der Götter. Während das Gehör unmittelbaren Gehorsam erzwingt, da es zu den Sinnesorganen gehört, denen gegenüber man sich am wenigsten verschließen kann und das am wenigsten beherrschbar ist, kann man sich von dem, was die Augen gelesen und gesehen haben, viel leichter distanzieren. Die innere Stimme der Götter erschien damit nicht mehr als erfolgstauglich. Die Säkularisierung des Lebens nimmt von diesen Erfahrungen ihren Ausgang.

Im Zuge des sozialen Individualisierungsprozesses wurden die inneren Anpassungsleistungen, die im Prinzip selbsttätig erfolgen, dem Ich als eigenständige Leistung zugesprochen und das Ich mit einem Autonomieanspruch ausgestattet. Dem Ich wurde zugemutet, die Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Es darf nicht mehr die Verantwortung auf soziale Autoritäten oder die Götter projizieren. Der Einzelne gerät damit in den Widerspruch, dass er einerseits von der Gesamtheit der sozialen Lebensbedingungen abhängig ist, aber so handeln soll, als wäre er frei davon. Im Grunde war das Selbstverständnis des Einzelnen in der Phase der inneren Stimme realitätsnäher, da die individuellen Gedanken als eine Anmaßung gegenüber den Göttern und damit implizit alle Gedanken aus dem sozialen Kontext begriffen wurden. In dem Maße, wie das Bewusstsein die Funktion der Götter übernimmt, verliert es aber die der göttlichen Stimme inhärente Verhaltensgewissheit. In die Leerstelle der göttlichen Stimme tritt die Moral. Moral ist der immer unzureichende Ersatz der Selbststeuerung durch soziale Außensteuerung mit verinnerlichten Befehlen.

Am Ende eines langen historischen Entwicklungsprozesses resultiert aus dem Verlust der göttlichen inneren Stimme das subjektive Bewusstsein, das sich selbst die Entscheidungen zuschreibt und die Verantwortung dafür übernimmt. Es bildet sich aus der Metapher des inneren Raumes, der mit bestimmten~

Eigenschaften ausgestattet ist, die gleichsam personale Qualitäten haben: die Kraft der Entscheidung, die schnelle Auffassungsgabe, das tiefe Einfühlungsvermögen usw.. Die Bausteine und Eigenschaften des subjektiven Bewusstseins bezogen sich historisch zunächst auf in der Außenwelt beobachtbare Verhaltensweisen und wurden zunehmend zur Bezeichnung von mentalen Vorgängen herangezogen, denen schließlich die Verursachung von Handlungen zugeschrieben wurde. So bezog sich der griechische Begriff »nous« für Geist zunächst auf die äußere Wahrnehmung, bevor er zur zentralen Bewusstseinsfunktion wurde. Die von den Menschen selbst geschaffenen Metaphern prägen so nicht nur sein Verhältnis zur Außenwelt, sondern auch zu sich selbst. Auffallend ist, dass die aus der visuellen Sphäre stammenden Ausdrücke für die Beschreibung des Bewusstseins überwiegen: man sieht z.B. mit dem »geistigen Auge«. Denn in der Phase des subjektiven Bewusstseins hat das Auge innerhalb der Sinnesorgane die dominante Rolle eingenommen, die in der Phase der inneren Stimme das Gehör beanspruchte.

Wie sehr sich in diesem Transformationsprozess die Struktur der Sprache verändert hat, soll im Folgenden an dem Aspekt hervorgehoben werden, dass in der gegenwärtigen Struktur der Sprache das aktive Verhältnis zur Welt in Form der aktiven Verben dominiert. Dies entspricht der übermächtigen Tendenz zur Kontrolle der sozialen Beziehungen und der Beherrschung der Natur. Daneben besitzt die Sprache noch die passive Zustandsform von Verben, um das Erleiden, Erdulden, Lassen u. a. auszudrücken. Schöfer weist daraufhin, dass die Sprache seit der Antike die frühere Verbform des Mediums verloren hat, mit der auch die Gleichzeitigkeit von Aktiv und Passiv ausgedrückt werden konnte.96 Damit wird das Bewusstsein für die Fülle der Erfahrungen blind, die gerade darin bestehen, dass aktive und passive Momenten miteinander verschmolzen sind. Das gilt z.B. für die Intuition, bei der gedankliche Anstrengung mit passivem Empfangen von Ideen durchsetzt ist; für den Tanz, bei dem man ab einen bestimmten Punkt das Gefühl hat, getanzt zu werden; für den inneren Dialog, in dem auf aktive Fragen spontane Antworten kommen; für das Gebären, bei dem der selbsttätige Vorgang durch das aktive Pressen unterstützt werden kann oder für das Atmen, bei dem sich stets Willkürliches und Unwillkürliches untrennbar miteinander vermischen. Die dichotome Struktur der Sprache lässt die falsche Vorstellung entstehen, dass sich die Menschen entweder rein aktivisch oder rein passivisch verhalten und dass ein aktives Verhältnis erstrebenswert sei. Dies widerspricht der Erfahrung, dass~

jede Handlung immer eine untrennbare Einheit von beiden Elementen ist und dass das Verhalten umso mehr gelingt, je mehr passive Elemente wie Gefühle, Empfindungen oder Intuitionen zugelassen werden können. Mit der Ausblendung des Mediums behindert so die Sprache auf sehr subtile Weise, ein angemessenes Verhältnis zu sich selbst und zur Welt zu finden. Dieser Vorgang reflektiert sich in der traditionellen Logik, die mit ihrem Grundsatz des auszuschließenden Dritten jede Form der Mischung der verschiedenen Aspekte des Lebens im Denken ausschließt, um, wie Klaus Heinrich ausführt, durch ihre logische Trennung voneinander die Angst vor »der Vermischung der Geschlechtermischung und Mischung als dieses aus Leben und Tod Gemischte« 97 abzuwehren.

Das im Abendland entwickelte subjektive Bewusstsein veränderte das Verhältnis der Menschen zur Atmung. So wenig wie es in den früheren historischen Phasen ein Bewusstsein in dem heutigen Verständnis gab, so wenig wurde der Atmung bewusste Aufmerksamkeit zugewendet. Erst als durch das Ausbleiben der inneren Stimme der Entscheidungsstress in ungewohnten Situationen größer wurde, traten die damit verbundenen physiologischen Begleiterscheinungen der Gefäßveränderungen, des Herzklopfens oder Herzflatterns und der Veränderungen der Atmung ins Blickfeld. Jaynes vertritt die Auffassung, dass für die entsprechenden Leibempfindungen erst in der Entstehungsphase des subjektiven Bewusstseins eigene Worte gebildet wurden.98 Die Atmung wurde danach erst in einem historischen Entwicklungsstadium zum Gegenstand bewusster Wahrnehmung, als der vegetative Bereitschaftsreflex die automatische Verhaltensanpassung nicht mehr gewährleistete, sondern die Selbststeuerung durch bewusste Eingriffe des Bewusstseins unterstützt werden musste. Die bewusste Wahrnehmung der Atmung wurde erforderlich, um den Bruch, den das nach außen orientierte subjektive Bewusstsein mit der eigenen inneren Natur zwangsläufig immer wieder herbeiführt, rückgängig zu machen. Das Atembewusstsein ist das Korrektiv für die Entfremdungsprozesse des subjektiven Bewusstseins. Es benutzt die vegetativen Reize und Impulse, die in der Phase der inneren Stimme noch automatisch mit den sozialen Imperativen zusammenverarbeitet wurden, als bewusste Information, um damit die verlorene Verhaltenssicherheit wiederzugewinnen.

Die innere Stimme hat keineswegs nur eine historische Übergangsrolle bei der Entstehung des Bewusstseins gespielt, wie Jaynes behauptet. Dieser Eindruck~

konnte entstehen, da jede soziale Herrschaft die innere Stimme massiv abwertet. Die innere Stimme ist mit ihrem Anspruch der Selbstbestimmung mit sozialer Herrschaft prinzipiell unvereinbar. Die innere Stimme 99 meldet sich aber nach wie vor nicht nur in Zuständen der Ruhe und Gelassenheit, sondern ist in allen Reaktionen und Entscheidungen im Alltag mehr oder minder allgegenwärtig. Auch wenn man keine Worte verlauten lässt, spricht man ständig mit sich selbst, ob man liest oder hört, einer Arbeit nachgeht oder sich entspannt. Perls weist darauf hin, dass das Übergewicht des verbalen Denkens in der patriarchalen Lebensform sich in einem ununterbrochenem inneren Geplapper äußert, dem nur mit großer Mühe Einhalt zu bieten ist.100 Die innere Stimme reagiert prompt und zuverlässig, allerdings meist außerhalb der bewussten Wahrnehmung. Wenn man sie überhaupt wahrnimmt, dann nur als kurze Regung, da sie sofort von den Gedanken des Ich« vertrieben wird.101 Ihre Existenz erscheint als unvereinbar mit dem Anspruch des selbstverantwortlichen, rationalen Ich.

Die innere Stimme ist als Ausdruck des inneren Dialoges zu verstehen, der seit der Entwicklung der entfalteten Sprache für die Aneignung aller sozialen Erfahrungen unentbehrlich geworden ist. Im inneren Dialog werden ständig alle Erfahrungen, die sich primär als Zustandsveränderungen der inneren Physiologie bemerkbar machen, mit verbalen Begriffen gekoppelt.«Statt mit den Dingen umzugehen, unterhält sich der Mensch in gewissem Sinne dauernd mit sich selbst«.102 Da alle Erfahrungen mit Sprache verbunden werden, ist es eigentlich ganz konsequent, dass bei der inneren selbstorganisatorischen Informationsverarbeitung die abgespeicherten Begriffe verwendet werden.

Im inneren Dialog wird das Gespräch, das mit der Umwelt aufgenommen wurde, fortgesetzt. Dabei wird versucht, die inneren Impulse mit den Anforderungen der sozialen Bezugspersonen abzustimmen. Da der innere Dialog aus der Introjektion des äußeren Dialoges hervorgeht, tauchen die Strukturen des äußeren Dialoges auch im inneren auf. Wenn der äußere Dialog einfühlsam,~

respektierend und liebevoll ist, wird man auch im inneren Dialog rücksichtsvoll mit sich sein und die Fähigkeit entwickeln, im inneren Dialog den gestörten sozialen Kontakt zu heilen. Ist demgegenüber der äußere Dialog geprägt von Befehlen, Anweisungen, Verboten u. a., wird man im inneren Dialog genauso mit sich umgehen. Der autoritäre Kommunikationsstil verhindert so die Entwicklung der Fähigkeit, sich mit dem inneren Dialog zu stabilisieren und die Abstimmung mit den sozialen Anforderungen vorzunehmen. Es bildet sich ein rigides Gewissen, das den freien inneren Dialog in einen zwanghaften, grüblerischen Monolog verwandelt. Statt Abstimmung herrschen dann Selbstvorwürfe und Selbstverachtung vor. Man wird abhängig von Ersatzangeboten wie der Religion oder der Psychotherapie, die den inneren Dialog mit vorgegebenen Inhalten fremdbestimmen.

In repressiven Gesellschaften läuft der innere Dialog meist unbewusst ab. Jeder hat eine Fülle von körperlichen, emotionalen und sexuellen Misshandlungen erfahren; die dabei gehörten sprachlichen Verbote, Ermahnungen und Demütigungen haben sich mit den inneren Vorstellungen verbunden und wiederholen sich spontan, wenn man sich an frühere traumatische Situationen erinnert und die Angst ausgelöst wird, erneut verletzt zu werden. Der Betroffene wehrt sich dagegen und drückt im inneren Dialog seinen trotzigen Widerstand aus. Da er aber von Anfang an mit seiner Niederlage rechnet, ist der innere Dialog so belastend, dass der Organismus sich dadurch zu schützen versucht, dass er ihn aus dem Bewusstsein verdrängt.

Die zunehmende Verbreitung der Selbstnegation, die sich in Selbstbestrafungswünschen, Selbsthass, Selbstverachtung, Minderwertigkeitsgefühlen, Selbstmitleid, Selbstzerstörung u.ä. ausdrückt, ist im wesentlichen ein Produkt des Gebrauchs, den man von der Sprache macht. Zwar kann die Selbstnegation bereits auf der vorsprachlichen Entwicklungsstufe auftreten, da massive Ablehnung zu Vorstellungen führen kann, die mit Selbstvernichtung verbunden sind. Aber durch die Sprache konnten sich die täglichen Einschränkungen, die bis in die sublimsten Bereiche des Verhaltens und Denkens hineinreichen, vervielfältigen. Seit der Entwicklung der inneren Stimme hat die Selbstdisziplinierung eine völlig neue Dimension erhalten. Durch sie konnte eine systematische Selbstnegation hergestellt werden, ohne dass der Einzelne merkt, wie er sich ständig selbst zerstört.

Die innere Stimme setzt einen inneren Dialog voraus, der relativ unbelastet von einem destruktiven Gewissen ist. Die innere Stimme kann ihre ganze Kreativität entfalten, wenn sie offenes Gehör findet und durch die innere Aufmerksamkeit anerkannt wird. Sie kann die Funktion übernehmen zu warnen, wenn man sich über seine eigenen Interessen hinwegsetzen will. Die innere~

Stimme kann direkt angesprochen werden, indem sie gezielt mit einem anschaulichen Problem konfrontiert wird. Sie kann auch direkt dadurch aktiviert werden, dass z.B. ein Körpersymptom befragt wird, was es sagen will. Angesichts der Versprachlichung des Körpers sind solche Fragen durchaus sinnvoll und dürfen nicht als bloß rhetorisch oder metaphorisch missverstanden werden.

Auch die innere Stimme konnte sich nur entfalten, weil im Gehirn zwei getrennt existierende Bereich existieren, von denen sich einer als »Sprecher«. und der andere als »Zuhörer« ausdifferenziert hat. Die Gehirnforschung bestätigt, dass parallel zum Wernicke-Zentrum in der linken Gehirnhälfte eine entsprechendes Zentrum auf der rechten Seite existiert, das die Sprache versteht und die innere Stimme produziert. Beide Zentren sind miteinander durch einen Nervenstrang verbunden. Sie sind offensichtlich der Träger des inneren Dialoges.

5.5. Leibliches Denken

Die inneren, auf Bewegungsvollzüge ausgerichteten Vorstellungen sind die Grundlage allen Denkens. Wie Piaget nachgewiesen hat, ist Sprache ohne den Bezug zu den Programmen, die sich auf wahrgenommene Bewegungen beziehen, nicht vorstellbar. Denken besteht letztlich darin, dass die inneren Vorstellungen neu aufeinander bezogen werden. Freud hat treffend das Denken als probeweises Handeln gekennzeichnet. So wie die früher gebildeten inneren Vorstellungen spontan durch die jeweilige Lebenssituation reaktiviert werden und eine bestimmte Interpretation der Situation nahelegen, reagiert auch das Denken spontan. Wegen der Situationsbezogenheit aller Vorstellungen ist das Denken zunächst spontan kontextbezogen. Denken hat seine Hauptaufgabe darin, die Erfahrungen aus der Bewältigung von Konflikten so aufzuarbeiten, dass sie künftig eine mühelose Bewältigung ähnlicher Konflikte sicherstellen. Die Neigung des Organismus, alle Bewegungsprozesse zu automatisieren, wird genutzt, um in gefährlichen Situationen blitzschnell reagieren zu können.

Die Erfahrung, dass das Denken sich selbsttätig organisiert, wurde schon oft der rationalistischen Philosophie entgegengehalten. Der Urheber der »Es denkt«-Tradition ist Georg Christoph Lichtenberg: »Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt«.103 Nietzsche und Groddeck sind weitere Exponenten dieser Denkrichtung. »Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein Bruder~

, steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser und er heißt Selbst. In deinem Leib wohnt er, dein Leib ist er ». Groddeck war überzeugt davon, dass das Wahrnehmen, Sprechen und Denken Ausdrucksformen des Es seien, das für das Unpersönliche im Menschen steht. »Es gibt gar kein Ich, es ist eine Lüge, eine Entstellung , wenn man sagt: ich denke, ich lebe. Es sollte heißen: es denkt, es lebt. Es, nämlich das große Geheimnis des Lebens«.104

Der Gedanke des »Es denkt« konnte sich bis heute nicht durchsetzen, weil es der vorherrschenden Fiktion widerspricht, dass Geist und Seele die Zentren sind, von denen die Befehle für das Denken und das Fühlen ausgehen. Die Ursachen für diese Fiktion werden weiter unter dargestellt. Hier soll gezeigt werden, dass tatsächlich nicht die Gedanken für das Handeln und Fühlen ausschlaggebend sind, sondern dass die inneren Vorstellungen bestimmen, wie eine bestimmte Situation erlebt wird. Denn die inneren Vorstellungen enthalten eine ganzheitliche Sicht der Entscheidungssituation, die bestimmte Reaktionsneigungen einschließt. Eine evtl. erforderliche gedankliche Modifikation wird in der Regel erst in der nachträglichen Verarbeitung der Situation geleistet.

Auch die Verknüpfung der Begriffe beim Denken wird im wesentlichen durch die inneren Vorstellungen hergestellt, da sie eine bestimmte Sichtweise der Situation vorgeben. Die Begriffe sind Brücken zwischen den Vorstellungen. Sie werden von den inneren Vorstellungen herbeigerufen, die sich in einer Situation spontan einstellen und verweisen ihrerseits auf andere Vorstellungen, die wiederum bestimmte Begriffe herbeizitieren. Charakteristischerweise aktivieren Begriffe typische soziale Erfahrungen, die durch die dominanten gesellschaftlichen Konstellationen hervorgerufen werden. So ist es nicht überraschend, dass im politischen Denken militärische Bilder, im ökonomischen Denken Bilder von Raub, Übervorteilung und Äquivalententausch und im sozialen Denken Bilder von Herrschaft, Strafe und Vergeltung u. a. überwiegen. Gegenwärtig wird das Denken über das Denken stark von den im Umgang mit dem Computer entwickelten Vorstellungen geprägt.

Die inneren Vorstellungen enthalten stets typische soziale Spannungskonstellationen, die zwangsläufig die Atmung beeinflussen, da im denkenden Bezug auf die inneren Vorstellungen der Organismus sich völlig auf die in ihnen repräsentierte Situation bezieht. Da die inneren Vorstellungen von vornherein so ausgewählt werden, wie sie der eigenen inneren Verfassung entsprechen, können die Vorstellungen unmerklich über die Veränderung der Grundspannung der Atmung den Gedankenfluss bestimmen. ~

Bei der Manipulation von inneren Vorstellungen können auch solche Begriffe geschaffen werden, die sich nicht auf Objekte, sondern auf andere Vorstellungen beziehen. Dabei entsteht das, was normalerweise mit »Symbol« oder »Metapher« bezeichnet wird. Solche Symbole schaffen eine Meta-Bilderebene. Symbole werden benutzt, um mit den Mitteln der Analogie oder Entsprechung komplexe, vielschichtige, schwer zu erfassende Sachverhalte darzustellen. So wurde z.B. die mythologische Figur des Androgynen zum Symbol für die menschliche Verkörperung des Ganzheitsprinzips, das im historischen Verlauf in die Polarität des männlichen und weiblichen Prinzips auseinandergefallen ist. Im Grunde ist die ganze Mythologie der Versuch, für die zentralen Erfahrungen in der historischen Selbstveränderung der Menschen, die sich nicht an äußerlich wahrnehmbaren Erscheinungen festmachen lassen, Metabilder zu schaffen, mit denen sie mitteilbar werden.

Überhaupt ist jedes Verstehen nichts anderes, als dass etwas Unbekanntes mit dem Bild eines vertrauten Gegenstandes verbunden wird. »Eine Sache verstehen bedeutet, sich diese Sache mit Hilfe einer Metapher vertraut zu machen«.105 Lakoff und Johnson weisen nach, dass die Sprache und die Denkprozesse vermutlich über 90 % metaphorisch sind.106 Das Gefühl der Vertrautheit ist identisch mit dem Gefühl, etwas verstanden zu haben.

Verstehen ist ohne Hören nicht möglich. Ob ich etwas verstanden habe, spüre ich daran, dass ich mit dem, womit man mich beschäftigt, eins bin. Ich spüre, dass ich einverstanden sein kann, weil ich mit ihm eins sein kann. Die Erfahrung der Einheit mit einer Person oder einem Gegenstand gelingt aber nur über das Ohr: es nimmt die Schwingungen auf und schwingt mit, wenn es eine Identität erfährt. Es tritt Resonanz ein. Das Ohr ist das einzige Organ, das zu direkter Resonanz mit entfernten Objekten fähig ist. Das Ohr macht auf diese Weise Einheit von Verschiedenem erlebbar. Die Resonanzfähigkeit von allem Natürlichen ist die biologische Voraussetzung für die Nachahmung. Jede Nachahmung ist letztlich der Versuch, mit dem Nachgeahmten in Resonanz zu gelangen. Denken, das seine Aufgabe darin hat, die zerstörte Einheit wiederherzustellen, kann deshalb sein Ziel nur durch inneres Hören erreichen. »Wenige Handlungen entwickeln den Aktualitätssinn in solchem Maße wie das Hören auf das eigene Denken«.107~

Sich selbst zu erkennen wurde zu Recht immer so verstanden, dass man auf sich selbst hören muss. Nur im Auf-sich-selbst-Hören kann man sich selbst gehören, weil man dann hört, was der Körper braucht. Mit sich in Kontakt sein heißt, auf sich zu hören. Die Sprache benutzt deshalb häufig im Zusammenhang mit der Selbsterkenntnis Wendungen wie »auf die inneren Signale lauschen«, »in sich selbst hineinhören«, »auf die innere Stimme achten« u. a..

Die sprachliche Mitteilung ist nicht der Transport und der Austausch von Vorstellungen. Indem man einen Begriff ausspricht, wird bei dem Zuhörer die dem Begriff zugehörende Vorstellung geweckt. Diese Vorstellung veranlasst ihn, sich auf den gleichen Sachverhalt zu beziehen, über den man etwas mitteilen will. Er schwingt sein Verstehen ein auf einen gemeinsamen Bezugspunkt. Die Verständigung ist so ein gemeinsames Hören.

Gutes Zusammenleben ist davon abhängig, dass man den anderen zuhören kann. Nur dann kann man feststellen, ob die eigenen Vorstellungen mit denen der anderen übereinstimmen. Die große Bedeutung des Hörens zeigt sich daran, dass die Sprache für gelungenes Zusammenleben Begriffe wie Harmonie, Gleichklang, gleiche Wellenlänge, also Begriffe aus der Sphäre der Musik verwendet. Berendt weist nach, dass das Wort gehorsam ursprünglich »mit Aufmerksamkeit auf den Zusammenklang zu hören«, »dem Hören gehorchen« bedeutete und dass es erst später seine heutige Bedeutung der Unterordnung unter fremde Instanzen angenommen hat. Auch die Sprachwendung »es gehört sich, bestimmten Geboten der Gemeinschaft zu folgen«, verweist darauf, dass in der Gemeinschaft auf das Hören nicht verzichtet werden kann. Man verhält sich taktvoll, wenn man sich im »Takt« mit den sozialen Geboten verhält. Für das vorpatriarchale Denken war es selbstverständlich, dass das Hören die Grundlage des Denkens ist. Im chinesischen Denken war das Gehör »der einzige Sinn, dem die Fähigkeit des Verstehens gegeben ist«. 108

Eine gestörte Beziehung ist stets damit verbunden, dass die Partner nicht bereit sind, ihre narzisstischen Erwartungen aufzugeben und sich nicht die Zeit nehmen, auf die Bedürfnisse des anderen zu hören. Konflikte sind stets das Ergebnis von Nicht-Zuhören. Psychische Verletzungen resultieren daraus, dass man von der Teilnahme an Geschehnissen ausgeschlossen wurde und nicht zuhören darf, oder dass man nicht hören kann, was andere denken und welche Gefühle sie von einem haben. Zu den häufigsten Klagepunkten gestörter Beziehungen gehört deshalb, dass der andere nicht zuhört. An dem unterschiedlichen Verhalten von Blinden und Taubstummen wird die überragende Bedeutung des Hörens offenkundig: während Blinde, die sich ganz auf das~

Gehör verlassen müssen, sich rücksichtsvoll und verständnisvoll verhalten, entwickeln Taubstumme ein hohes Maß an Aggressivität.109

Die verbreitete Unfähigkeit zuzuhören ist darin begründet, dass die eigenen Ängste es nicht zulassen, sich selbst dabei zuzuhören, welche Empfindungen die Stimmen der anderen auslösen. Die Resonanz mit dem anderen wird unbewusst verweigert, um zu vermeiden, dass dadurch etwas in einem selbst ausgelöst werden könnte, dass das bisherige Gleichgewicht in Frage stellt. Die Unfähigkeit zuzuhören wird häufig durch ständiges Reden zugedeckt; Schweigen wäre als ein Zustand totaler Resonanzlosigkeit absolut unerträglich. Richtiges, offenes Zuhören setzt deshalb immer voraus, dass man sich selbst zuhören kann. Zum Wesen der Angst gehört aber gerade, die unangenehmen inneren Impulse, Stimmen und Bilder aus dem Bewusstsein herauszudrängen. Ängste bringen das innere Hören zum Schweigen.

Das Ohr hat gegenüber dem Auge den Vorzug, dass es die Empfindung unmittelbarer Gewissheit vermitteln kann, vergleichbar mit der Tastempfindung. Das allein vom Auge geleitete Denken stößt vor das Problem, dass es sich seiner Ergebnisse niemals restlos sicher sein kann, weil erfahrungsgemäß das Auge eine Quelle großer Täuschungen und Irrtümer ist. Das okulare Denken beharrt deshalb wahrscheinlich so aggressiv auf der Einhaltung logischer Regeln, weil es in ihnen einen gewissen Halt finden kann. Da das Auge sich des Gesehenen niemals völlig gewiss sein kann, neigt es zum Dogmatismus. Es bleibt dem anderen gegenüber gleichgültig, da es sich nie mit ihm identifizieren kann. Im Gegensatz dazu ist das hörende Denken toleranter, da es die Richtigkeit seiner Gedanken unmittelbar verspürt. Es verfällt nicht dem Begründungszwang des okularen Denkens. Es kann konzedieren, dass man aufgrund anderer Vorerfahrungen zu anderen Einsichten kommen kann und nimmt die Differenz als Aufforderung, noch genauer hinzuhören. Das hörende Denken ist daran interessiert, sich ganz dem anderen hinzugeben, um die Glückserfahrung der Einheit immer wieder zu finden. Das Ohr löst die Subjekt-Objekt-Spaltung, die das Auge vornimmt, immer wieder auf und ermöglicht dadurch insgeheim das Funktionieren des okularen Denkens.

Das Sehen hat beim Denken offensichtlich nur eine Hilfsfunktion. Das Sehen ist wichtig zur Orientierung im Raum, zur Wahrnehmung der Objekte und des Ausdrucks anderer Menschen. Das Gesehene wird aber erst dann handlungsrelevant, wenn man es in Bewegungsmuster übersetzt. Man kann den emotionalen Ausdruck einer anderen Person nur verstehen, wenn man das entsprechende Bewegungsmuster in sich selbst reproduziert, um die damit~

verbundenen Gefühle nacherleben zu können. Gefühle können nur erlebt werden, wenn die sie tragenden Bewegungsmuster aktiviert werden. Sehen und Hören fallen deshalb bei personenbezogenem Denken und Handeln zusammen.'110

Das am Hören orientierte Denken kann als leibliches Denken111 bezeichnet werden. Es behält den bewussten Kontakt zu den dem Denken zugrundeliegenden tieferen Prozessen der Emotionen und inneren Vorstellungen. Es stellt eine Synthese zwischen der nicht beweisbaren Intuition und der Vernunft her, indem es die innere Stimme zulässt und das Wissen anderer in das Denken einbezieht. Im leiblichen Denken ist die Wahrheit abhängig vom Kontext, in dem die denkenden Menschen stehen. Es besteht das Bewusstsein, dass unterschiedliche Sichtweisen und soziale Interessen unterschiedliche Antworten erzeugen und die Überzeugung, dass die subjektiven Antworten den anderen mitgeteilt werden müssen, um sich in ihrer Richtigkeit von den anderen bestätigen zu lassen. Wenn alles Wissen als relativ begriffen wird, besteht das Bedürfnis zu wissen, warum jemand zu seiner Meinung gekommen ist und dem anderen mitzuteilen, wie man selbst zu seiner Meinung gelangt ist. Das Medium der Erkenntnis ist das Einfühlungsvermögen und die aufmerksame Anteilnahme am Leben anderer und an sich selbst. »Die Fähigkeit, mit anderen zu sprechen und ihnen zuzuhören, während man gleichzeitig mit sich selbst spricht und sich zuhört, ist eine Leistung, die es möglich macht, dass sich ein Gespräch ... eröffnet« 112

Das leibliche Denken erfährt, dass alles Denken ein stets vom Scheitern bedrohter Versuch ist, vorbegriffliche Erfahrungen in mitteilbare Vorstellungen und Begriffe zu übersetzen. Die Gedanken sind ein stets unzureichender Reflex der affektiven Vorgänge. Nicht zufällig enthält der häufig synonym für Denken gebrauchte Begriff »reflektieren« den Hinweis auf die Spiegelfunktion des Denkens. Die Vorstellungen müssen mitgeteilt werden, da sie erst dann, wenn sie von den anderen verstanden und geteilt werden, ihre Funktion, Verständnis und Einverständnis zu schaffen, erfüllen. Die Vorstellungen haben nur in ihrer jeweiligen sozialen Welt Bedeutung und haben mit~

der Realität direkt nichts zu tun. Gleichwohl verändern sie die Realität, wenn sich das Verhalten der Menschen daran orientiert. Das leibliche Denken zeichnet sich durch eine hohe Toleranz gegenüber dem Denken anderer, gegenüber Mehrdeutigkeiten und Widersprüchen aus, außerdem durch eine große Bereitschaft, sich mit sich selbst zu beschäftigen und die Fähigkeit, auf den anderen zu achten und sich trotz großer Unterschiede mit ihm verbunden zu fühlen, wenn auf der affektiven Ebene in Einverständnis besteht. Es sieht in den Gedanken ein magisches Hilfsmittel, auf andere Einfluss zu nehmen, ohne zu verzweifeln, wenn es misslingt.

Nur wenn die Gedanken als in den körperlichen Empfindungen wurzelnd erfahren werden, können sie als wahr empfunden werden. Erst durch die Empfindungen und Emotionen erhalten die Gedanken Realitätsgehalt. Je nach Sensibilität ist das Körperempfinden nur vage, unbestimmt, diffus und nur eine nichtssagende Ahnung oder hat bereits Konturen, deren Sinn rasch verstanden wird. Die Körperempfindungen sind im ersten Augenblick zunächst gleichsam nackt und müssen anschließend mit den kulturell anerkannten Symbolen, die sich in tänzerischen Bewegungsformen, in Körpersprache oder in begrifflicher Sprache konkretisiert haben, interpretiert werden. Dabei liegen die entscheidenden persönlichen Unterschiede in der Fähigkeit, sich auf unbestimmte Empfindungen einzulassen, mit ihnen in Kontakt zu kommen, sie festzuhalten und ihre Bedeutung zu erspüren, ohne sie durch vorgefasste, stereotype Gedanken und Gefühle zu verfälschen. Dafür ist wichtig, ob man bei den unscheinbaren oder unbehaglichen Körperempfindungen in dem Vertrauen verweilen kann, dass der Körper zur rechten Zeit »sprechen« wird. Hierin liegt wahrscheinlich die entscheidende Quelle für Kreativität. Normalerweise werden die Körperempfindungen in starre Schemata gepresst, weil man die Erfahrungen nicht mit den kulturellen Mustern ein Einklang bringen kann. Die Frage ist also nicht, ob man Intuitionen hat, sondern ob man die Kraft hat, ihren Bedeutungsgehalt für sich zu realisieren.

Das Ziel des Erkennens besteht letztlich immer darin, innere Spaltungen aufzuheben und die ursprüngliche Einheit und Verbundenheit wieder herzustellen. Im Erkenntnisakt kann die Einheit nur begriffen werden, wenn sie unmittelbar in der Verschiedenheit erfahren wird. Die physiologische Basis der Einheitserfahrung ist der gelöste Atem, der sich auf den Atem anderer Menschen einschwingen kann und dabei die wechselseitige Verbundenheit spürt. Der körperliche Kontakt durch Berührung ist die Urform der einheitsstiftenden Kommunikation. Am intensivsten wird die Einheit im geschlechtlichen Einswerden mit dem geliebten Menschen erfahren, wenn sich die Atemrhythmen der beiden Menschen miteinander synchronisieren. Zu Recht wird~

die Liebe als die Voraussetzung jeder Erkenntnis bezeichnet, da nur das liebevolle Sich-auf-den-anderen-Einlassen den eigentlichen Sinn von Erkenntnis erfüllen kann. Wahrheit hat deshalb nicht die Struktur eines Aussagesatzes, sondern ist eine Art der Erfahrung, in der bisherige Fixierungen und Spaltungen losgelassen werden. Wahrheit ist keine Angelegenheit des begrifflichen Denkens, sondern bildet sich im Konsensus gemeinsamen Fühlens und Empfindens. Sie kann nicht festgestellt, sondern muss gelebt werden. Zu Recht wird von »wahren« Gefühlen gesprochen, wenn sie in den körperlichen Empfindungen wurzeln. Diese Zusammenhänge sind durch das patriarchale Gebot verschleiert worden, dass von jeder Erkenntnis verlangt wird, dass sie sich reflexiv objektivieren und objektiv überprüfen lassen müsse. Dieses Gebot pervertiert das Denken zur Reproduktion von isolierten Gedanken, zur Produktion von immer mehr Getrenntem.

Für Marcuse hat die Phantasie die Aufgabe, die Erinnerung an das Urbild der unmittelbaren Einheit zwischen Allgemeinem und Gesondertem festzuhalten. »Phantasie sieht das Bild der Wiederversöhnung des Einzelnen mit dem Ganzen, des Wunsches mit der Verwirklichung, des Glücks mit der Vernunft«.113 Aus der Sicht der Atmung bedeutet dies, dass die Phantasie die Erinnerung an einen Zustand des Organismus festhält, in dem er völlig gelöst und entspannt funktionieren konnte. Marcuse bezeichnet die Phantasie zu Recht als Denkvorgang, weil diese Erinnerung den Organismus in die Lage versetzt, den jetzigen Zustand mit früheren Erfahrungszuständen zu vergleichen und in diesem Licht die jetzige Situation zu bewerten. Es ist Kennzeichen freien Denkens, dass es den Mut hat, neue ungewohnte Verbindungen von Vorstellungen vorzunehmen und ihre Wirkung auszuprobieren.

Kritisches Denken hat sein physiologisches Substrat in der Erinnerung an den gelösten Atem in Phasen der Entspannung und Geborgenheit. Darin liegt auch das einzig mögliche Fundament kritischer Theorie. Sie war bisher nicht in der Lage, sich eines normativen Fundamentes ihrer Kritik an der Gesellschaft zu vergewissern, da sie Kritik nur als geistigen Akt und nicht als leiblichen Impuls verstehen konnte. Allerdings muss gegen Marcuse eingewendet werden, dass diese Erinnerung nichts anthropologisch Gesichertes ist, sondern nur in einem relativ wenig gepanzerten Körper wachgehalten werden kann. Die Sehnsucht nach dem Gefühl der innigen Verbundenheit und Einheit kann nicht zerstört werden, wohl aber die Fähigkeit, sich auf die Suche nach ihm zu begeben.~

5.6. Exkurs: Intuitives Atmen

Mit der Methode des intuitiven Atmens kann jederzeit eine Bestandsaufnahme gemacht werden, welche subjektiven Vorstellungen sich hinter den Begriffen verbergen. In der Einatmung wird die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Schlüsselreiz gerichtet, ein Begriff, eine Person, ein Gegenstand u.ä.. In der Phase der Ausatmung wird der Assoziationsprozess beobachtet, der durch den Schlüsselreiz in Fluss gebracht wurde. Welche Gefühle sind in ihnen enthalten, welche weiteren Vorstellungen und damit verbundene Gefühle werden ausgelöst? Die Aufmerksamkeit konzentriert sich völlig auf die auftauchenden Vorstellungen und überlässt es dem Atem, von sich aus den Einatemimpuls zu geben. Der Schlüsselreiz sollte in jeder Einatemphase wiederholt werden, verbunden mit der Frage, an was er noch erinnert.

Der Atem besteht dabei aus einem tiefen, saugenden und bewussten Einatmen und einem lang hingezogenen, schwebenden, tiefen Ausatmen. Die Methode des intuitiven Atems macht sich die Erfahrung zunutze, dass das intuitive Denken mit der Einatmung verbunden ist. Wegen der ursprünglichen Verbindung zwischen der Wahrnehmung und der Einatmung, deren älteste Umweltkontakte das Riechen und das Saugen sind, ist die Qualität der Wahrnehmung wesentlich intensiver, wenn man so tut, als würde man den Begriff regelrecht in sich einsaugen. Alles was interessiert, kann eingeatmet werden. Alles wird interessant, wenn es mit Bewusstsein eingeatmet wird.

5.7. Verhexung des Denkens durch die Sprache

Die Grundgefahr des Denkens besteht darin, dass die den Begriffen zugrundeliegenden inneren Vorstellungen als die Wirklichkeit selbst genommen werden. Da das begriffliche Denken mit inneren Vorstellungen arbeitet, kann es auch von der oben beschriebenen Tendenz betroffen werden, die subjektiven Vorstellungen zu Eigenschaften der Dinge zu objektivieren und damit vom Bereich der subjektiven Gestaltbarkeit abzuspalten. Dann wird vergessen, dass die Basis der Begriffe die subjektiven Vorstellungen sind, die ihrerseits aus den Empfindungen der Sinnesorgane hervorgehen. In der Abspaltung wird die Verknüpfung wieder aufgelöst, die zwischen den Vorstellungen der sinnlichen Interaktionsmuster, insbesondere der Emotionen, und denen der Begriffe hergestellt wurde. Das Denken verliert damit die Chance, die sinnlichen Interaktionsmuster zu erreichen und mit neuen Vorstellungen zu verbinden. Es wird mechanisch, da die Vorstellungen in den Begriffen nicht mehr mit den Vorstellungen~

der Interaktionsmuster verglichen werden können. Das Denken wird an die in seinen Begriffen vorgegebenen Verknüpfungsmöglichkeiten fixiert. Die Phantasie erlahmt; sie kann sich nicht mehr von den konkreten Wahrnehmungen des Hier und Jetzt lösen und neue Kombinationen vornehmen, die mehr Glück und Wohlbefinden bieten. Das Denken verliert die Kraft, das Verhalten auf der höheren Repräsentationsebene der verbalen Sprache zu reflektieren und zu lenken.

Die Abspaltung des Denkens von den Gefühlen bedeutet, dass das Denken nicht mehr auf die eigenen Vorstellungen, in denen die emotionalen Erfahrungen des Körpers im Umgang mit der Welt gespeichert sind, zurückgreifen kann. Der Kontakt zu den Gefühlen geht verloren. Man ist sich seiner Gefühle nicht mehr bewusst. Wenn der Kontakt zu sich selbst verlorengeht, bedeutet dies, dass Teile der Erfahrungen aus dem inneren Dialog herausgenommen werden. Das Denken verharrt in der Trotzhaltung, mit der versucht wird, sich trotz der zunehmenden Abhängigkeit von anderen Menschen, in die man aufgrund der Abspaltung der inneren Vorstellungen gerät, zu behaupten, mit der Folge, dass die Kommunikation mit der Umwelt tendenziell abgebrochen wird. Da regelmäßig dabei auch der Zugang zur sinnlichen Lust verlorengeht, bedeutet die Einschränkung des Spielraums für bewusstes Verhalten die zunehmende Unfähigkeit, sich aktiv Lust und Entspannung zu verschaffen. Sucht ist der Inbegriff der fixierten Vorstellungen, wie Lust ersatzweise zu erlangen sei, wenn der natürliche Zugang zur sinnlichen Lust versperrt ist.114 Trotz im Denken und Sucht im Verhalten sind deshalb die unvermeidlichen Symptome der Abspaltung eines Teiles der inneren Vorstellungen aus der subjektiven Verfügung.

In der patriarchalen Sprache drückt sich die Abspaltung des Denkens von den Gefühlen in der bilderlosen Sprache aus, die allgemein als abstrakt bezeichnet wird. Lorenzer bezeichnet diese Lösung der Verbindung zwischen Gedanken und inneren Vorstellungen treffend als Desymbolisierung.115 Alle abstrakten Begriffe haben die Aufgabe, Funktionen, die für die Autonomie des Einzelnen unentbehrlich sind, wie Intuition, Phantasie, Einfühlungsvermögen u. a. als irrational abzuwerten. Abstrakte Begriffe wie Vaterland, Staat, Tapferkeit, Männlichkeit sollen die emotionalen Bindungen an die Familie oder Sippe untergraben. Alle abstrakten Begriffe haben die Gemeinsamkeit, dass sie die sinnlich-konkreten, also auch emotionalen Erfahrungen ausblenden.~

Damit werden alle Erfahrungen ins Abseits gedrängt, die nicht mit den geltenden rationalen Normen begründet werden können. Das Denken wird formelhaft, reproduktiv und klischeehaft. Es beweist die enge Koppelung von Denken und Körpergeschehen, dass starre Denkgewohnheiten stets mit einer steifen Wirbelsäule zusammengehen. Wenn die inneren Vorstellungen für die Wirklichkeit selbst genommen werden, geht der Kontakt zur Wirklichkeit verloren, da die Differenz zwischen innerer Vorstellung und Wirklichkeit nicht mehr wahrgenommen werden kann.

Die Abspaltung wird häufig auch als Mystifikation, als Verdinglichung oder als Fetischisierung bezeichnet; es soll damit ausgedrückt werden, dass etwas Abhängiges zu etwas Selbständigem gemacht wird. Eine Mystifizierung findet also statt, wenn das, was ursprünglich nur als Hilfsmittel der Verständigung mit den Gruppenmitgliedern geschaffen wurde, als die Wirklichkeit selbst genommen wird. Das Denken fällt dann in die magische Phase der infantilen Sprachentwicklung zurück, in der die Begriffe als magische Kräfte erlebt wurden, die die Objekte direkt hervorbringen. Obgleich es sich der vielfältigen Abhängigkeiten von der jeweiligen Lebenssituation nicht bewusst sein darf, wird ihm die omnipotente Kapazität zugesprochen, völlig unabhängig von anderen körperlichen Vermögen die Wahrheit zu erkennen und danach das Leben zu orientieren.

Dass sich das Denken vom Einfluss der Gefühle und körperlichen Begierden befreien soll, gilt im Patriarchat als ein anzustrebendes Ideal. Wahrheit sei nur zu erreichen, wenn man ganz objektiv an den Erkenntnisgegenstand herangeht und sich von jeglichem Gefühl »reinigt«. Zwischen den Gefühlen und Gedanken dürfen aber keine starren Grenzen gezogen werden. Seit der Erfindung der Sprache sind auch die Gefühle zu sprachlich geprägten Ausgestaltungen der Empfindungen geworden. Es gibt keine Gefühle, die nicht durch die Sprache mitgeprägt werden. Sobald irgendein Gefühl aufsteigt, versucht man herauszufinden, was es bedeutet. Das geschieht durch die Verbindung mit inneren Vorstellungen und durch das sprachliche Benennen. Umgekehrt ist selbst in den scheinbar reinen, abstrakten Sprachschöpfungen stets ein emotionaler Kern enthalten. Gedanken sind mit den Mitteln der Begriffe ausartikulierte Gefühle.

Wenn man sich »mehr vom Verstand als von den Gefühlen« leiten lässt, bedeutet dies in Wirklichkeit, dass man den inneren Vorstellungen, die gesellschaftlichen Anforderungen repräsentieren, den Vorrang gibt. Mit dem »Verstand« wird meist ein Verhalten gerechtfertigt, das sich über die eigenen Empfindungen hinwegsetzt. In dem Konflikt zwischen Verstand und Gefühl geht es also nicht um die Frage des richtigen Denkens, sondern um die Frage~

authentischen oder sozial konformen Verhaltens. Die Unterdrückung der Gefühle erfolgt um den Preis, dass die Atmung abgeschwächt wird, so dass sie ihre Reagibilität gegenüber den sozialen Lebensumständen verliert. Die Frage, von welchem Entscheidungszentrum im Körper die disziplinierende Kontrolle ausgeht, wurde mit dem immateriellen Geist beantwortet. Um die Herrschaft des »Geistes« abzusichern, musste aber der Atem als die eigentliche Grundlage des Denkens aus dem Bewusstsein ausgeblendet und seine zentrale Funktion bei der körperlichen Selbstregulation verleugnet werden. Die vorpatriarchalen Atemmythen wurden deshalb aus der Tradition getilgt. Die Fetischisierung des Denkens zum immateriellen, vom Körper unabhängigen Geist kann deshalb als die unmittelbare Folge der Instrumentalisierung der Atmung verstanden werden, die notwendig wurde, um den Körper zu disziplinieren.

In vielen alten Sprachen wird behauptet, Atem und Geist seien letztlich dasselbe. Diese These ist überraschend, da sie ein »geistiges« mit einem »körperlichem« Phänomen gleichsetzt. Für die Identität von Atem und Geist in den älteren Sprachen gibt es viele Belege. Das lateinische Verb spirare (atmen), das im Zusammenhang mit der Atmung in den Worten Respiration (Atmung) und Exspiration (Ausatmung) gebraucht wird, geht mit seinem Wortstamm in die Wörter Spirit (Geist) und Inspiration ein. Die Griechen benutzten das Wort Diaphragma (Zwerchfell), um sowohl den Geist als auch den Atem zu benennen. Das deutsche Wort Atem ist mit dem indischen »Atman» , das für Geist und die individuelle Seele steht, verwandt.116 Die deutsche Übersetzung des Bibelwortes »Am Anfang war das Wort« müsste korrekt eigentlich lauten »Am Anfang war das Ausatmen«, Ausatmen verstanden als das göttliche Ausatmen, als Emanation des göttlichen Geistes.

Ebenso bemerkenswert ist, dass in früheren Perioden offensichtlich eine tiefe Verwandtschaft zwischen Atem und Energie und zwischen Atem und Seele empfunden wurde. In der indischen Lehre vom Prana wird mit dem Sauerstoff des Atems gleichzeitig Energie aus der universellen Quelle der kosmischen Energie, die als geistige Energie aufgefasst wird, aufgenommen. Auch der chinesische Begriff »chi« für Atem bedeutet gleichzeitig Energie. Der griechische Wortstamm für Psyche leitet sich von dem Verb psycho = atmen ab.117 Der Begriff Pneuma, der ursprünglich Luft und Hauch meint, erhält bei den Vorsokratikern die Bedeutung von Seele und Geist. In der christlichen Gnosis~

wird das Pneuma zum unsterblichen göttlichen Punkt im Menschen, über den Bezug zum göttlichen Pneuma hergestellt werden kann. Im Zen-Buddhismus ist das völlig natürliche Erleben des Atemrhythmus gleichbedeutend mit tiefer Spiritualität.

Die Verwandtschaft der Begriffe Seele, Geist und Energie mit dem Atem weist auf tiefe Zusammenhänge hin. Unübersehbar stehen Atemerfahrungen am Anfang vieler Kosmologien, die den Atem als das Urelement bezeichnen, aus dem alles besteht. Wenn in der christlichen Gnosis der Begriff Pneuma und in den orientalisch-semitischen Kosmologien der Begriff der Seele im Zentrum steht, werden Atemerfahrungen nur noch in den Kernbegriffen tradiert und im übrigen durch komplizierte mythologische Konstrukte verdeckt. Es wäre eine interessante Aufgabe, die leitenden Vorstellungen dieser Kosmologien am Leitfaden des Atems zu dechiffrieren. So werden wahrscheinlich die Grundideen der christlichen Gnosis 118 transparenter, wenn sie als verschlüsselte Atemtherapie gelesen werden.

Diese Zusammenhänge regen zu der spekulativen Überlegung an, dass der Geist eine Mystifikation des Atems ist, der sich zur Fähigkeit des Sprechens und Denkens ausdifferenziert hat. Der Begriff des Geistes verdeckt, dass unter dem Einfluss der Sprache die Physiologie beträchtliche Veränderungen erfahren hat, die sich insbesondere in der Entstehung des subjektiven Bewusstseins und des inneren Dialogs äußern. Er verschleiert das in der Atemdynamik entstandene naturgeschichtliche Kontinuum, das zur Kommunikation mit Gefühlen und Begriffen geführt hat. Wenn in den archaischen Sprachen für Atem und Geist der gleiche Begriff verwendet worden ist, wird die Erfahrung des Ursprungs des Denkens aus dem Atem festgehalten.

Der Begriff des Geistes ist nur ein Beispiel dafür, dass unter den repressiven Lebensbedingungen der patriarchalen Gesellschaften des Abendlandes das Potential der Sprache, die körperlichen Verspannungen zu beseitigen und damit die Vitalität zu erhöhen, ins Gegenteil verkehrt wurde und zur weiteren Verhärtung des Körpers geführt hat. Die Verleugnung der unbewussten Erfahrungsverarbeitung löst die von der Psychoanalyse aufgedeckte Dialektik aus, dass der Mensch umso mehr der unmittelbaren Steuerung durch den vegetativen Körper ausgeliefert ist, je mehr er vom Kontakt zu diesem Teil seiner Wirklichkeit abgeschnitten ist. Narzisstische Allmachtsphantasien und paranoide Projektionen verdrängen die Erfahrung, dass man nicht »Herr im Haus« ist. Sie ersetzen die~

primäre unerschütterliche Sicherheit und Selbstgewissheit, die aus dem direkten Kontakt zu den inneren Empfindungen und Vorstellungen kommt.

5.8. Sprache und innerer Heiler

Die Vorstellung des inneren Heilers ist ohne Zweifel ein Produkt der Entstehung der Sprache. Sie konnte sich erst entwickeln, nachdem sich im Prozess der sozialen Arbeitsteilung der Beruf des Heilers in der Gestalt des Schamanen herausgebildet hatte, der den Zusammenhang zwischen sprachlich vermittelten sozialen Erfahrungen und somatischen Erkrankungen erkannt und für die Heilung im Dialog mit dem Erkrankten nutzbar gemacht hatte. Ohne Zweifel ist der innere Heiler aus der Introjektion des Schamanen entstanden. Er wurde sein Ersatz und konnte ihn gleichsam vertreten, wenn die Hoffnung bestand, die Beschwerden aus eigener Kraft zu beseitigen. Die Vorstellung des inneren Heilers stellte sich als geeignet heraus, jederzeit über das im Körper gesammelte Erfahrungswissen zu verfügen.

Der innere Heiler ist das Produkt der Erfahrung, dass der innere Dialog von zentraler Bedeutung für das psychische und somatische Wohlergehen ist und dass jede Störung der sozialen Kommunikation den inneren Dialog bei seiner Aufgabe stört, die innere Natur mit der sozialen Umwelt abzustimmen. Denn seine eigentliche Funktion bestand darin, die Blockaden des inneren Dialoges aufzuheben. Er kann diese Funktion übernehmen, weil er das Vertrauen in die eigenen Selbstheilungskräfte stärkt und veranlasst, die Aufmerksamkeit den inneren Stimmen zuzuwenden. Grundlegend ist die Erfahrung, dass das Erfahrungswissen des Organismus so abgespeichert wird, dass es mit Begriffen aktiviert werden kann. Alle im Medium der Sprache gelernten Vorstellungen werden stets auf die entsprechenden Problembereiche des Körpers bezogen, so dass der Eindruck entstehen kann, als wären die Erfahrungen in dem betreffenden Körperteil abgespeichert. So akkumuliert sich gleichsam in jedem Körperteil alles ihn betreffende Erfahrungswissen. Da auch die sprachlich vermittelten Erfahrungen in die Erfahrungsverarbeitung einbezogen werden, ist die Schlussfolgerung nicht von der Hand zu weisen, dass die einzelnen Körperteile »sprechen« können und das individuelle Wissen durch bewusste Zuwendung der Aufmerksamkeit mobilisiert werden kann.119 Die innere Weisheit des Körpers~

ist nichts anderes als das vom Organismus bewusst oder spontan aufgenommene und verarbeitete Erfahrungswissen.

Die abendländische Mystifizierung des Denkens zum autonomen Geist hat sich nachteilig auf die Nutzbarmachung der inneren Weisheit des Körpers ausgewirkt. Im Grunde hat sich der Geist bzw. das Selbst alle Kompetenzen angeeignet, die früher dem inneren Heiler zugesprochen wurden, wie z.B. die Lösung von psychischen Problemen durch die Kraft des Geistes oder die Heilung von somatischen Krankheiten durch die Entwicklung der medizinischen Wissenschaft. Seitdem bleibt für die innere Stimme und damit auch für den inneren Heiler kein Platz mehr. Konsequenterweise wurde der innere Heiler von Theologie, Philosophie und Medizin diskriminiert.

Wenn akzeptiert werden kann, dass die einzelnen Körperteile gleichsam sprachbegabte Wesen sind, braucht nicht mehr auf das Hilfsmittel der Personalisierung zurückgegriffen zu werden. Mit der Vorstellung des versprachlichten Körpers kann die Autonomie der einzelnen Körperzellen akzeptiert werden. An die Stelle der Personalisierung, die entsprechend den sozialen Herrschaftserfahrungen dafür eine zentrale innere Instanz postuliert, kann der freie, wechselseitige innere Dialog treten, an dem nicht mehr Autoritätspersonen, sondern gleichberechtigte Partner teilnehmen. Modellvorstellung ist die dialogische Gemeinschaft von Zellen, in der jede einzelne Zelle autonom ihr Leben so organisiert, dass sie in Frieden mit den anderen zusammenleben kann. Letztlich kann der Dialog nicht anders als in personalisierender Weise vollzogen werden; er muss aber so geführt werden, als ob das Gegenüber, der Gesamtorganismus oder ein Teil von ihm, ein sprachbegabtes Wesen wäre. Die Personalisierung wird als notwendiges Hilfsmittel durchschaubar. Damit wird ein respektierendes, aber zugleich kritisches Verhältnis zu sich möglich. Der »innere Heiler« wird damit aufgehoben und durch den inneren Heildialog ersetzt.

5.9. Dualismus als gestörter Dialog

Das Ergebnis der bisherigen Überlegungen ist, dass charakteristisch für alle Prozesse, die den sozialen Kontakt ermöglichen, körperliche Bewegungsvorgänge sind. Dabei ist bemerkenswert, dass alle Kommunikationsformen diejenigen Muskeln benutzen, die auch für den Atem von zentraler Bedeutung sind: die Emotionen benutzen z.B. die grobmotorischen Muskeln der Atemmuskulatur des Bauchs, des Zwerchfells und der Brust. Sie können deshalb als eine Ausdrucksform des Atems verstanden werden. Die Sprache benutzt~

darüber hinaus auch die feinmotorischen Muskeln des Kehlkopfes, der Zunge und der Lippen.

Im Prinzip unterscheiden sich die symbolischen Bedeutungen der Begriffe nicht von den somatischen Bewegungen, da die begrifflichen Symbole selbst auch nur differenziertere Bewegungsmuster sind und jede Bewegung eine bestimmte Bedeutung hat. So sind körperliche Gesten ebenso Bedeutungsgebilde wie begriffliche Klanggebilde. Beide streben mit gleichartigen Mechanismen das gleiche Ziel an, innere Ungleichgewichtszustände aufzuheben. Beiden liegen innere Vorstellungen zugrunde, die »Körper« und »Geist« vermitteln können, da sie einerseits die vegetativen Steuerungsimpulse für das Nerven-, Immun- und Energiesystem enthalten und andererseits eine bedeutungsvolle Kommunikation mit anderen Menschen ermöglichen. Denken hat sich aus dem sozialen Dialog heraus entwickelt und hat sein ursprüngliches Ziel darin, mit den Mitteln der Sprache den gestörten Austausch mit der Umwelt zu heilen und den Dialog zu verbessern, um mehr in der Welt zu sein. In dieser Perspektive hat es keinen Sinn mehr, von »Körper« und »Geist« zu sprechen. Es gibt nur unterschiedliche Kommunikationsmuster mit der Umwelt, in denen stets Bewegungen mit Bedeutungen integriert werden. »Körper« und »Geist« sind verzerrende Betrachtungsweisen, die bei den Bewegungen ihre implizite Bedeutung und bei den Bedeutungen ihren Bewegungsanteil ignorieren. Angemessener wäre von einem Handeln mit körperlichen Bewegungen und von einem Handeln mit inneren Vorstellungen zu reden. Zu Recht sprach Freud vom Denken als Probehandeln.

Die alte Weisheit, dass alles Leben Bewegung und dass alles Leben Klang sei, kann in einem neuen Licht gesehen werden. Der menschliche Organismus entfaltet beim phylogenetischen Sprung vom Fühlen zum Denken eine Fülle von Bewegungsformen, um sich seiner Umwelt besser mitzuteilen. Die begrifflichen Symbole spiegeln auf der höheren Ebene der Begriffe kommunikative Prozesse, die bereits auf der tieferliegenden vegetativen Ebene existieren. Die bewegungsmäßigen Ausdifferenzierungen stellen hinsichtlich ihrer Bedeutung im wesentlichen nichts Neues dar; sie lassen bloß die Bedeutung klarer artikulieren. Gefühle und Denken sind deshalb miteinander identisch und doch verschieden. Ihre Verschiedenheit betrifft aber nur das Medium, nicht die Botschaft. Wahrscheinlich beruht darauf die archaische Erfahrung der Identität von Atem und Geist. Der ganze Organismus reagiert stets als Einheit, da alle Prozesse seinen inneren Zustand ausdrücken. Eine ganzheitliche Betrachtung verlangt deshalb, dass in allen Teiläußerungen der Gesamtzustand des Organismus gesehen wird.

Kommunikation ist in dem versprachlichten Körper das Selbstverständliche.~

Spaltungen sind das Erklärungsbedürftige. Der Dualismus entsteht, wenn der sprachliche Kommunikationsprozess mit sich selbst unterbrochen wird. »Geist« bedeutet, dass der Organismus sich selbst nicht mehr zuhört. Es werden die körperlichen Signale entwertet und ihnen der Bedeutungsaspekt genommen. Die Folge ist, dass sich die Gefühle verselbständigen und nicht mehr der bewussten Selbstorganisation zugänglich sind. Die Blockierung des inneren Dialoges entzieht so Teile des eigenen Körpers der bewussten Koordination und macht sie praktisch zum inneren Ausland. Der Dualismus kann deshalb als Folge einer gestörten Kommunikation mit sich selbst bestimmt werden, die ihrerseits auf einen gestörten Austauschprozess mit der Umwelt zurückzuführen ist. Das Rätsel des Sprunges vom »Geist« zum »Körper« löst sich auf, wenn das Denken als subtiler Körperbewegungsvorgang begriffen wird, der die Funktion hat, physiologische Spannungen zu bewältigen. Es zeigt sich, dass tatsächlich die Symbolisierungsfähigkeit »den innersten Kern des immer noch »geheimnisvollen Sprungs« vom Tier zum Menschen (in der Biologie) und vom Soma zur Psyche (in der Psychoanalyse)« repräsentiert, wie es Reiche vermutet.120

Solange die Erfahrung der inneren Stimme akzeptiert werden konnte, hat sie die Kommunikation mit den inneren Prozessen ermöglicht.121 Im Verlauf der historischen Entwicklung wurde aber die Grenzschicht zwischen der bewussten Welt und den »dunklen« Kräften des vegetativen Körpers aufgrund der Unterdrückung der schmerzhaften Gefühle immer undurchdringlicher. Das Verdrängte konnte seitdem nur noch mit Begriffen wie »Rückkehr zum Ursprung«, »Kontakt zum Zentrum« oder »Kontakt mit der Mitte« mystifiziert werden. Diese abstrakten Formeln konnten aber die leibhaftige Aufgabe, das Denken und Fühlen als Teil der selbstorganisatorisch ablaufenden Lebensprozesse zu akzeptieren, nicht leisten.

Die bisherigen Versuche zur Überwindung des Dualismus scheiterten daran, dass sie die dialogische Struktur des menschlichen Organismus nicht erkannt haben. Wenn Geist/Psyche und Körper als Manifestation eines einheitlichen Prinzips begriffen werden (z.B. das Es bei Groddeck oder die kosmische Intelligenz in esoterischen Konzepten), wird die faktische Zerrissenheit des Organismus bloß wegdefiniert. Auch die systemtheoretischen Ansätze, die Körper~

und Geist als verschiedene Systemebenen mit unterschiedlichen Sprachen begreifen, machen den historisch entstandenen Bruch zu etwas Natürlichem. Im Grunde wird stets daran festgehalten, dass Geist und Körper unterschiedliche Realitätsbereiche mit je eigenem Wesen sind. So kann nicht gesehen werden, dass »Körper« und »Geist« keine eigenständigen Gegenstandsbereiche sind, sondern bloß verschiedene Handlungsformen sind, mit denen der Organismus den Austausch mit der Umwelt organisiert.

Das mechanistische Körperverständnis ist Folge der Entsprachlichung des Organismus. Es legitimiert den fremd gewordenen Körper. Im Grunde konnte sich das mechanistische Körperverständnis nur durchsetzen, da in hierarchischen Gesellschaftsstrukturen die tägliche Erfahrung von Befehl und Gehorsam längst den inneren Dialog erstickt hat, so dass das Handeln zwanghafte und mechanische Züge angenommen hat. Der erzwungene Gehorsam gegenüber Befehlen ist leichter zu ertragen, wenn der Körper als Maschine verstanden wird, da damit der im inneren Dialog angelegte Widerspruch unterdrückt werden kann.

In der Kritik am Dualismus wird in der Regel die Auffassung vertreten, dass der Dualismus ein rein geistiges Phänomen sei. Mehr oder minder wird Descartes die Verantwortung angelastet, dass er durch die radikale Unterscheidung der räumlichen res extensa (Körper) und der nichträumlichen res cogitans (Geist) den Dualismus hervorgebracht hat. Daraus wird geschlossen, dass durch ein Umdenken der Dualismus rückgängig gemacht werden könne. In Wirklichkeit ist aber der Dualismus eine geistige Antwort auf chronische körperliche Spannungszustände, die der Körper zur Abwehr von schmerzhaften Erfahrungen der Einschränkung, Behinderung und des Verlustes selbst herbeigeführt hat. Insofern ist der Dualismus das Ergebnis einer körperlichen Selbstblockade. Der innere Spannungszustand ist ein dynamischer Vorgang. Da es in der Natur der Muskeln begründet liegt, dass sie nach kurzer Kontraktion sich entspannen, müssen zur Aufrechterhaltung der inneren Spannung ständig neue Impulse gegeben werden. Daraus resultiert der ungeheure Energieverbrauch von inneren Spannungszuständen und die mit ihnen verbundene Depression. Die Kehrseite der inneren Spannungszustände ist die latente Bereitschaft, sich von ihnen durch aggressive Entladung zu befreien. Die philosophischen Bilder des dualistischen Körpers haben die Funktion übernommen, diese Selbstblockade zu verschleiern. Aus diesen Überlegungen folgt, dass der Dualismus nicht durch bloßes Umdenken zu ändern ist, sondern eine totale Neuorganisation des Umgangs mit sich selbst erfordert, in dem nicht nur das Denken, sondern vor allem der Umgang mit den Emotionen neu geordnet wird. Die Frage, in welcher Richtung der Umgang mit sich selbst~

verändert werden muss, soll im folgenden Kapitel am Problem der Individualität vertieft werden.

6. Individuum und Krankheit

In der Psychotherapie hat sich in den letzten Jahren das Dogma durchgesetzt, dass man die Verantwortung für die eigene Krankheit übernehmen müsse, um Heilung zu finden. Man müsse sich den Gefühlen stellen, um zu vermeiden, dass sie auf andere projiziert werden und ihnen die Verantwortung für die eigenen abgewerteten Gefühle gegeben wird. Zu Recht wird festgestellt, dass man sich solange in der Opferrolle sieht und unbewusst eine Veränderung von außen erwartet, wie die Verantwortung den Eltern oder anderen Instanzen und Verhältnissen angelastet wird. Heilung bedeutet die Trennung von krankmachenden Illusionen und Introjekten. Diese mit Trauer verbundene Loslösung könne nur gelingen, wenn man aufhört, die Schuld für die Krankheit bei anderen zu suchen.

Offensichtlich bürdet die Forderung nach Verantwortung für die eigene Krankheit dem Einzelnen eine große Last auf. Die Krankheit ist gerade ein Symptom dafür, dass die Fähigkeit verloren wurde, die Verantwortung zu übernehmen. Damit der Begriff der Verantwortung überhaupt einen Sinn in der Diskussion des Heilprozesses haben kann, muss er aus dem Kontext der Moral herausgenommen werden. Es ist zu prüfen, worin sein physiologisches Substrat besteht, wo seine Grenzen liegen und ob der in einem alternativen Heilkonzept rehabilitiert werden kann.

Für das Verständnis der Verantwortung ist die schamanische Praxis bedeutsam, dass der Kranke sich vorübergehend völlig in die Abhängigkeit des Schamanen zu begeben hat. Er muss sich völlig seinen Ritualen überantworten, d.h. er hat aufzuhören, auf sich selbst zu hören und muss sich während der Phase der freiwilligen Abhängigkeit von den Antworten des Schamanen führen lassen. Damit wird praktisch die frühkindliche Abhängigkeit von der Eltern wiederhergestellt. Der Kranke wird von der Aufgabe entlastet, auf die sozialen Abhängigkeiten, mit denen er nicht mehr fertig wurde, zu reagieren. In diesem umsorgenden, beschützenden Milieu können einengende Vorstellungen~

aufgegeben und der Blick für mögliche Alternativen geöffnet werden.

6.1. Entwicklung der individuellen Autonomiefiktion

Die Formulierung, jemand müsse die Verantwortung für sich und seine Krankheit übernehmen, impliziert, dass es ihm aufgrund seiner Freiheit möglich sei, sich vernünftig zu entscheiden. Das bürgerliche Verständnis sieht in dem Individuum eine Person, die autonom nach selbstgesetzten Wertmaßstäben handelt und deshalb die Verantwortung für sich selbst übernehmen kann. Das »Ich« hat nach der bürgerlichen Vorstellung bestimmte Fähigkeiten, mit denen es sich über die Empfindungen, Triebe und Bedürfnisse hinwegsetzen kann, wenn sie nicht seinen Zielen entsprechen. Verhaltensfehler und psychische Erkrankungen werden so erklärt, dass das Ich einen ungeschickten, unzureichenden Umgang mit dem Instrumentarium seiner psychischen Kräfte hat. Es wird deshalb davon gesprochen, dass »ich meinen Körper habe« oder dass »ich wenig Energie« habe. Das ganze Reden über den Körper enthält implizit die Annahme, dass es ein imaginäres, abstraktes Ichzentrum gibt, das die Verantwortung trägt.

Dieses Dogma der individuellen Autonomie hat eine lange Vorgeschichte, die wahrscheinlich bis zum Schamanismus zurückreicht. Der Schamane konnte einen relativ souveränen Umgang mit den kulturellen Symbolen entwickeln. Obwohl er letztlich vom Gruppenkonsens abhängig war, konnte er die Interpretation der Symbole verändern, wenn dies Veränderungen in den Lebensumständen notwendig machten. In dem Maße jedoch, wie Schamanen und Priester ein Monopol bei der Interpretation der zentralen Lebensfragen beanspruchten und bestimmte Fragen tabuiert wurden, ging bei den anderen Gruppenmitgliederen die Fähigkeit zur produktiven Auseinandersetzung mit den inneren Vorstellungen verloren.

Die Vorstellung der subjektiven Autonomie hat sich paradoxerweise in einer historischen Phase entwickelt, in der sich mit der Herausbildung der bürgerlichen Tauschgesellschaft in der Antike die gesellschaftliche Abhängigkeit des Einzelnen gegenüber der traditionellen Sippengemeinschaft potenziert hat. Dabei haben sich die Abhängigkeiten völlig verändert: an die Stelle der unmittelbaren Abhängigkeit von persönlichen Autoritätspersonen ist die Abhängigkeit vom ökonomischen Gesamtprozess des Marktes getreten. Wie oben dargestellt wurde, wurde in diesem Prozess die Verantwortung, die früher den göttlichen Stimmen zugeschrieben wurde, auf das Subjekt übertragen. Während im~

zentralen Bereich der ökonomischen Reproduktion die Abhängigkeit so stark zugenommen hat, dass eine autarke Existenz absolut unmöglich geworden ist, konnten in den privaten, früher streng tabuisierten Bereichen wie der Sexualität, der Freizeit, des Konsums, der Kultur u. a. gewisse Verhaltensspielräume geöffnet werden.

Soziale Abhängigkeit ist seit etwa 2 Jahrtausenden die Grundkategorie sozialen Zusammenlebens. Der Begriff »abhängig« stammt etymologisch von »herabhängen« und meint etwas, was keinen eigenen Stand hat, nicht in sich wurzelt und deshalb aus seinem Schwerpunkt heraustreibt. Von anderen abhängig zu werden bedeutet stets auch, sich von sich selbst »abzuhängen«. Die inneren Impulse und Empfindungen dürfen dann nicht mehr wahrgenommen werden, damit Konflikte mit mächtigeren Menschen vermieden werden. Abhängigkeit ist damit die Wurzel für Selbstnegation und Selbstentzweiung. Sie lässt das Gewissen als Verinnerlichung der gesellschaftlichen Gebote entstehen, also die inneren Stimmen, die »Ich kann nicht« und »Ich darf nicht« sagen. Die vertrauten Schlüsselbegriffe wie Naturbeherrschung, identifizierendes Denken, Rationalisierungsprozess u. a. sind in dieser Perspektive nur Ausdrucksformen der historisch wachsenden Abhängigkeitsverhältnisse. Die spezifische Form, die die Naturbeherrschung angenommen hat, erklärt sich daraus, dass sie immer auch dem Versuch herrschender Gruppen entspringt, Abhängigkeitsverhältnisse mit Hilfe neuer Techniken zu stabilisieren. Sie hat mit der Institutionalisierung objektiver Lebensumstände ein »ehernes Gehäuse der Hörigkeit« (Max Weber) entstehen lassen, in dem die herrschenden Gruppen tendenziell auf direkte Gewaltanwendung zur Erzwingung von Gehorsam verzichten können. Die Entwicklung des identifizierenden Denkens und die Rationalisierung der Lebensformen durch Gesetze haben diesen Prozess unterstützt. Das geheime Ziel des Zivilisationsprozesses liegt nicht in zunehmender Rationalität, sondern in wachsender sozialer Abhängigkeit.

Der vorherrschende Charakter der gewandelten Abhängigkeitsverhältnisse ist ihre zunehmende Abstraktheit. Sie geht auf den Warentausch zurück, der von den Marktteilnehmern ein abstraktes Denken erzwingt, weil die Vergleichbarkeit der Waren nur in dem abstrakten Maß der für ihre Produktion aufgewendeten Arbeitszeit und der daraus resultierenden Wertbestimmung herzustellen ist. Die Abstraktion ist also nicht Wirkung des menschlichen Denkens, sondern Ergebnis seines Handelns. Sohn-Rethel spricht deshalb von einer Realabstraktion.122 Wenn die Einheit der Gesellschaft mit Hilfe des Geldes über den Markt mit seinen Abstraktionsleistungen hergestellt wird~

(synthetische Gesellschaftsform), ist auch der Zusammenhang der Gesellschaft ein abstrakter geworden. Sohn-Rethel weist nach, wie das vom Tausch erzwungene abstrakte Denken das Denken insgesamt prägt und die Verabsolutierung des Geistes im philosophischen Idealismus der Antike und der Neuzeit nur auf dem Hintergrund der Spaltung des Verhältnisses von Produktion und Konsumtion durch das Tauschprinzip verstanden werden kann.

Die Beteiligung am Warentausch erzwingt ein Verhalten, in dem alle Dinge und Personen unter der Perspektive der Nützlichkeit und Verwertbarkeit gesehen werden. Dinge oder Menschen werden nicht mehr emotional besetzt, sie können nicht in ihrem Eigenwert respektiert werden. Man kann sich nicht mehr mit ihnen identifizieren, wenn man sie nur als Mittel zum Zweck sieht. Die Dinge bleiben äußerliche, objektive, fremde und ausbeutbare Natur. Der Warentausch erzwingt so eine ausschließliche Orientierung an der abstrakten Vermehrung des Reichtums. Das Tauschprinzip führt so zu einer zielorientierten, zweckrationalen, quantifizierenden, nützlichkeitsdominierten Denkweise, die dazu anleitet, die eigenen Interessen absolut zu setzen und die Ziele selbst nicht in Frage zu stellen. Das Ergebnis ist das abstrakte Individuum, das weder aus sich heraus noch aus dem Familienverband heraus handeln kann und deshalb im Grunde verhaltensunsicher ist.

In der neuen bürgerlichen Gesellschaft wurde anstelle der sichtbaren Bindung an die Stammesgruppe die Bindung an unsichtbare Tugenden gesetzt: die Polisidee, die Staatsidee, Vaterlandsliebe, Männlichkeit, Freiheit u. a.123 An den Ideen der Männlichkeit und Freiheit wird besonders deutlich, dass eigentlich damit die Verleugnung der Abhängigkeit von der Familie und die Abkehr von Sippeninteressen gemeint war: der soziale Sinn der Ideen erschließt sich aus ihrer negativen Abgrenzung gegen die zu überwindenden Sozialverhältnisse, die der Entfaltung der Tauschgesellschaft entgegenstanden. Die Abstraktheit der Ideen rührt aus ihrer Funktion, Distanz zur Sippengemeinschaft herzustellen, die Menschen von ihren Sippengenossen zu trennen und das Bedürfnis nach Nähe und Wärme zu verleugnen. Die neuen Gemeinschaftsformen der Vereinzelten, der aus ihren Familien herausgerissenen Einzelpersonen konnte nur durch allgemeingültige Begriffe hergestellt werden. Der Transformationsprozess wurde durch die Entwicklung der Schriftsprache, die ebenfalls ein Nebenprodukt des Tauschprinzips ist, ermöglicht, weil durch sie die Begriffe als »Gesetz« festgeschrieben werden konnten.

Der Autonomieanspruch des Individuums reflektiert seine Erfahrungen im~

Tauschverkehr. In der Tat ist der Einzelne im Überlebenskampf auf dem Tauschmarkt auf sich allein gestellt und muss eigenverantwortlich handeln. Aber seiner Freiheit sind enge Grenzen gezogen. Er muss sich mit der Logik des Tauschprinzips identifizieren, um nicht im Konkurrenzkampf unterzugehen. Die isolierten Einzelnen können nur in dem Maße eine bestimmte Autonomie erhalten, wie sie den Gesetzen der Ökonomie gehorchend dadurch ökonomische Macht gewinnen, mit der sie ihren Willen anderen aufzwingen können. Die Tauschgesellschaft gewährt außerdem insofern Autonomie, als jeder versuchen kann, mit neuen Produkten, Ideen, Techniken oder Organisationsformen Einfluss auf den ökonomischen und sozialen Prozess zu nehmen, um seinen Reichtum und seine Macht zu vermehren. Aber auch im Bereich der Kreativität ist die Autonomie in das Zwangskorsett der Tauschökonomie eingesperrt. Der Autonomieanspruch ist damit nur verständlich aus seinem Abgrenzungsversuch gegenüber einem an den Interessen der Gemeinschaft und der Idee eines lebenswerten Lebens orientierten Selbstverständnis.

Das zweckrationale Denken führt zu einem instrumentellen Verhältnis zum eigenen Körper. Dieses Selbstverständnis wurde durch das mechanistische Menschenbild unterstützt, das das Kontrollverhalten gegenüber dem Körper legitimiert und die Wahrnehmung von Erfahrungen, dass der Organismus sich nach wie vor in der Krankheit, im Leiden, im Glück, im Druck der Triebe, im Tod u. a. fremden Kräften ausgeliefert fühlt, ausblendet. Von Anfang an war die Verdrängung des Widerspruchs zwischen dem Autonomieanspruch und der Erfahrung konkreter sozialer Abhängigkeit Kennzeichen der Individualität. In der hochgradig arbeitsteiligen Industriegesellschaft ist der Widerspruch so stark geworden, dass er vom Einzelnen kaum noch bewusst ausbalanciert werden kann.

Das Ich-Sagen und damit das ausgeprägte instrumentelle Verhältnis zu sich selbst ist wahrscheinlich erst mit dem Entstehen des privaten Eigentums entstanden. In der bürgerlichen Gesellschaft hat das Eigentumsdenken eine so starke Bedeutung erlangt, dass es auch in das körperliche Selbstverständnis eingedrungen ist und alles Denken über die »psychischen« Vorgänge beeinflusst. Archaische Völker kennen das »Ich« nicht.

Das »Ich« erscheint als etwas Dauerhaftes, Beständiges. Diese Fiktion steht im Widerspruch mit dem primären Erleben, dass man nur im Augenblick lebt und jeder Augenblick neu ist. Der Einzelne wird aber in der Erfahrung des Augenblicks ständig umgeformt, so dass die Kontinuität eher im Wandel als in etwas Identischem liegt. Dem Erleben wäre ein Selbstverständnis der Brüche und Diskontinuitäten angemessener. Wenn das bürgerliche Ich trotzdem ein starkes Bedürfnis nach etwas Beständigem hat, ist dies darin begründet, dass es~

aufgrund des geschwächten Kontakts zu seinen Empfindungen nicht voll in der Gegenwart leben kann. Das bürgerliche Individuum schafft sich seine Dauerhaftigkeit dadurch, dass es sich mit früheren Ichzuständen, seinen als Ichideal zusammengefassten Wunschbildern und seinen äußeren Besitzständen identifiziert. Aus Angst vor neuen Erfahrungen hält es die früheren Erfahrungen fest und verschlechtert dadurch seine Erfahrungsfähigkeit. Es spürt, dass es im Moment der Entscheidung nicht über alle früheren Erfahrungen verfügen kann, so dass es dazu neigt, zwanghaft und schematisch zu reagieren und in Allmachtsphantasien zu fliehen. Während der archaische Mensch sich trotz aller Erfahrungsbrüche seiner selbst sicher war, weil ihm, der Situation sich überlassend, die ganze Fülle seiner früheren Erfahrungen präsent war und er sich im Augenblick auch neuen Erfahrungen öffnen konnte, braucht das bürgerliche Ich die Fiktion des Beständigen, um sich über seine Unsicherheit, die aus der Unfähigkeit resultiert, sich auf die Gegenwart einzulassen und die Erfahrung, nicht wirklich real zu sein, hinwegzutäuschen. Der archaische Mensch findet seine Identität in der Präsenz der vergangenen Erfahrungen und in der Kontinuität seiner Strömungsempfindungen; das bürgerliche Ich braucht die Fiktion des Beständigen, um den Verlust der Erfahrungen, die einzig Identität bilden können, zu ersetzen.

Das bürgerliche Ich versteht die Verantwortung als das Ergebnis eines rationalen Denk- und Entscheidungsprozesses. Verantwortung kann nur übernommen werden, wenn man sich bewusst entscheiden kann. Da in der bürgerlichen Gesellschaft vernünftiges Verhalten stets mit der Unterdrückung von Gefühlen verbunden ist, wird letztlich Verantwortung mit der Kontrollfähigkeit gegenüber den Gefühlen identifiziert. Die bürgerliche Kategorie der Verantwortung ist damit ein repressives Prinzip.

6.2. Verantwortung Autonomie und Schuld

Der Begriff der Verantwortung leitet sich davon ab, dass man sich der inneren Antwort bewusst ist, die sich spontan auf eine Erfahrung bildet. Ich antworte richtig, weil ich die Situation richtig erfasst habe. Dafür muss ich meiner ganzen Empfindungen gewahr sein. Sobald Teile der Situation aus Angst vor der Wiederkehr von Schmerzen ausgeblendet werden, wird die Kompetenz eingeschränkt, angemessen zu antworten. Das bedeutet, dass die Verantwortung in dem Maße verlorengeht, wie die Erfahrungsfähigkeit eingeschränkt wird.

Verantwortung bekommt ihren Sinn dadurch, dass menschliches Verhalten prinzipiell nicht festgelegt ist. Der Mensch steht unter dem Zwang, sich für~

effizientes Handeln situationsangemessene Vorstellungen und emotionale Reaktionsmuster zu entwickeln. Da jede Situation mehrdeutig ist und sich nie in der gleichen Form wiederholt, muss das Verhalten fortwährend der Situation angepasst werden. Wenn die Situation mit wachem Bewusstsein wahrgenommen wird, entsteht deshalb das Gefühl, über mehrere Handlungsalternativen zu verfügen. Das Gefühl der inneren Distanz drückt die Notwendigkeit aus, zwischen den Alternativen eine Entscheidung zu treffen. Dabei kann der Eindruck entstehen, als würde ein »innerer Beobachter« unbeteiligt dem Geschehen zuschauen.124 Dieser Eindruck resultiert aus dem inneren Gewahrsein, wie sich der Organismus die verschiedenen Alternativen leibhaftig vergegenwärtigt, um ihre Brauchbarkeit zu überprüfen. Dadurch kann der Organismus die Gewissheit erlangen, welche Alternative die beste ist. Das innere Prüfen der als möglich erscheinenden Alternativen setzt aber voraus, dass nicht von vornherein bestimmte Alternativen aus Angst vor Strafe oder Liebesverlust ausgeklammert werden. Angst engt die Handlungsfreiheit ein und macht dadurch Verantwortung unmöglich.

Die Fähigkeit des Menschen, sich von sich selbst zu distanzieren, ist – wie oben gezeigt wurde – die Folge der physiologischen Entkoppelung der motorischen Reaktion von den Sinnesreizen durch die inneren Vorstellungen. Da der Mensch von jedem Verhalten Vorstellungsbilder entwerfen muss, nach denen er sein Verhalten tatsächlich organisiert, kann er sich sein Verhalten bewusst machen. Dieser Bewusstseinsvorgang ist die innere Distanz. Indem die verschiedenen Handlungsmöglichkeiten ins Bewusstsein treten, erschließt die innere Distanz die Möglichkeit, sich auch anderes zu verhalten. Die innere Distanz ist keineswegs das Privileg der Therapeuten, sondern eine selbstverständliche Fähigkeit eines Organismus, der sich angstfrei entwickeln konnte. Sobald man sich auf den Atem konzentrieren kann, stellt sich das innere Gewahrsein für die inneren Entscheidungsprozesse ein.

Verantwortung setzt damit voraus, dass man sich aller Einflussfaktoren bewusst ist, die das Handeln beeinflussen. Im Mittelpunkt steht das Bewusstsein der Abhängigkeit, die sich in den inneren Vorstellungen, die von anderen übernommen werden, niederschlägt einerseits und in den emotionalen Interaktionsmustern, die die anderen für die eigenen Bedürfnisse unersetzlich machen, andererseits. Dazu gehört auch, dass man sich der Wirkungen des Handelns auf die anderen bewusst sein muss. Wenn von vornherein die Einflussfaktoren des~

Handelns transparent sind, können die Folgen des eigenen Handelns leichter beachtet werden. Im Gegensatz zum bürgerlichen Verständnis, dass Verantwortung auf der individuellen Freiheit basiert, hat sie also ihre eigentliche Grundlage in einem ausgeprägten Bewusstsein der Abhängigkeit. Man kann für sich einstehen und die Verantwortung übernehmen, weil nichts in die Handlung einfließt, was nicht ein bewusster Teil von einem selbst ist.

Verantwortung entsteht dadurch, dass die Emotionen mit inneren Vorstellungen und Begriffen verbunden werden. Sie werden dadurch gestaltbar und steuerbar. Denn die Begriffe erlauben eine innere Distanz zu den Gefühlen. Wenn man sich z.B. dessen bewusst ist, dass man gerade traurig ist und diesen Zustand mit dem Begriff der Trauer verbinden kann, ist eher die Chance gegeben, dass man sich überlegt, wie man den Trauerprozess zu einem produktiven Ende bringt, als wenn man sich blind den Emotionen überlässt. Selbstverständlich kommt nur ein produktiver Prozess zustande, wenn der subjektive Begriff der Trauer Vorstellungen enthält, wie man am besten mit der Trauer umgeht.

Wenn Verantwortung dagegen als eine moralische Kategorie aufgefasst wird, wird ihr eigentliches physiologisches Fundament in der inneren Achtsamkeit, der inneren selbstbezüglichen Sensibilität zugedeckt. Der Begriff der Verantwortung wurde in dem Maße zur moralischen Kategorie hypostasiert, wie die Entwicklung die reale Verantwortlichkeit erschwert bzw. unmöglich gemacht hat. Im Grunde zwingen die blockierten Autonomieprozesse jeden Einzelnen, sich mehr oder minder von anderen abhängig zu machen. Es entsteht die Erwartungshaltung, dass der andere das bringen soll, was man selbst nicht leisten kann. Das ungelebte Leben wird auf den anderen projiziert und von ihm die Erfüllung erwartet. Jeder, der so auf Kosten des anderen lebt, muss sich zwangsläufig als Opfer begreifen. Zumindest macht sich das Gefühl breit, dass man vom anderen oder von den Verhältnissen bestimmt wird.

Die Fähigkeit, Vorstellungen für sein Verhalten zu entwickeln, kann auch dazu benutzt werden, sich Vorstellungen dafür zu schaffen, wie das Verhalten idealerweise ablaufen sollte, Wenn das reale Verhalten an diesen idealen Vorstellungen gemessen wird, entsteht eine andere Form der Selbstdistanzierung. Sie unterscheidet sich von der natürlichen inneren Distanz des bewussten Handelns dadurch, dass sie mit einem Ungenügen an sich selbst verbunden ist. Wenn man sich mit dem Selbstbild zu stark identifiziert, ist die Unzufriedenheit mit dem realen Verhalten unausweichlich, weil es notwendigerweise hinter ihm zurückbleiben muss. Diese Überidentifikation mit dem Selbstbild zeigt, dass man sich mit seinen realen Reaktionsmustern aus Angst, damit in Schwierigkeiten zu geraten, nicht identifizieren kann. Die Differenz zwischen~

den idealen Vorstellungsbildern und dem realen Verhalten ist umso größer, je weniger man in der Lage ist, sich auf die Situation einzulassen und ihren Anforderungen gerecht zu werden. Aus Angst vor den Gefühlen wird die Atmung unbewusst, so dass das Erleben der Situation getrübt wird.

Die Differenz zwischen der empirischen Wirklichkeit und der Idee von sich selbst ist also bereits in der physiologischen Struktur des Menschen angelegt. Unter angstfreien Lebensbedingungen verursachen sie kein Leiden, weil Vorstellung und Handeln identisch sind. Erst wenn in Reaktion auf repressive Lebensbedingungen überzogene Idealbilder aufgebaut werden, entsteht das »fundamentale Ungenügen des Menschen an sich selbst«, das Böhme als anthropologische Konstante behauptet.125 Es liegt aber nicht im Wesen des Menschen begründet, sondern in seiner Bereitschaft, die Vitalität seines Atems einzuschränken, um seine Ängste unbewusst zu machen.

Die Kehrseite der verlorenen Verantwortung ist die Zunahme von Schuldgefühlen. Sigmund Freud hat in seinem berühmten Aufsatz »Unbehagen in der Kultur« zu Recht das zunehmende Schuldgefühl als die Ursache für die allgemeine Unzufriedenheit in den Mittelpunkt gestellt. Er sah das Schuldgefühl als Folge der zivilisatorisch bedingten Triebunterdrückung der Aggression. Es entstehe dadurch eine Spannung zwischen dem strengen Gewissen und dem ihm unterworfenen Ich, die sich als Strafbedürfnis äußert. Jeder Triebverzicht steigere die Strenge und Intoleranz des Gewissens. Das Schuldgefühl bleibt nach der Auffassung von Freud zum größten Teil unbewusst und kommt nur als vages Unbehagen und Unzufriedenheit zum Vorschein.126 Freuds Interesse lag primär bei der psychodynamischen Genese des Über-Ichs. Damit hat er den wichtigen Aspekt des Schuldgefühls zu wenig beachtet, dass es sich nicht primär aus der schuldhaften Abweichung von gesellschaftlichen Anforderungen resultiert, sondern aus dem Verrat gegenüber sich selbst, aus der Nichtbeachtung der eigenen Anforderungen.

Schuld ist ursprünglich die Reaktion darauf, dass man sich mit Rücksicht auf die Erwartungen der Bezugspersonen über seine eigenen Impulse hinweggesetzt hat. Die Schuld ist das Gefühl, dass man sich selbst nicht beachtet, dass man sich selbst verrät. Das zunehmende Schuldgefühl ist natürlich über die Unterdrückung der eigenen Impulse durch gesellschaftliche Gebote vermittelt, es hat aber seine eigentliche Wurzel darin, dass man die gesellschaftlichen Gebote sich so sehr zu eigen gemacht hat, dass die eigenen Impulse nicht mehr~

als unerwünschte im Bewusstsein festgehalten, sondern negiert werden. Im zunehmenden Schuldgefühl rührt sich somit der Protest der inneren Natur gegen die Selbstverneinung und Selbstverleugnung, die in der Selbstblockierung der Muskeln eingefroren wird. Der Protest richtet sich dagegen, dass durch die Verdrängung von bestimmten Gefühlen und Vorstellungen das Verhalten unter die Herrschaft der unbewussten Wiederkehr des Verdrängten gerät.

Wie die Verantwortung beziehen sich auch Schuldgefühle auf physiologische Vorgänge. Beide stehen im komplementären Verhältnis zueinander. Sobald Schuldgefühle vorherrschen, sind die Voraussetzungen für Verantwortung zerstört. Wenn Schuldgefühle als Reaktion auf die Verletzung von gesellschaftlichen Anforderungen begriffen werden, wird die Verletzung, die man sich bei der Identifizierung mit den gesellschaftlichen Geboten antut, unterdrückt. Da Lust und Befriedigung verschwinden, wenn Schuldgefühle ins Spiel kommen127, ist das Schuldgefühl letztlich das körperliche Protestsignal, dass man auf die eigene Lust verzichtet.

Verantwortung muss als ein spontaner Vorgang begriffen werden. Verantwortung stellt sich nur ein, wenn alle Empfindungen und Erfahrungen zugelassen werden können. Verantwortung kann übernommen werden, weil man sich aller inneren Prozesse bewusst ist und damit alles in die subjektive Entscheidung einbezogen werden kann. Verantwortung ist ein utopischer Begriff. Er unterstellt, dass es nichts mehr Verdrängtes, Abgespaltenes und Verleugnetes gibt.

Es ist das Paradox der Verantwortung, dass sie sich in dem Moment, wie sie bewusst übernommen wird, in ihr Gegenteil verkehrt. Denn die inneren Empfindungen werden gerade verdeckt, wenn man sie bewusst zulassen will. Im bürgerlichen Selbstverständnis kann Verantwortung nur deshalb scheinbar gelingen, weil sie auf die Einhaltung von gesellschaftlichen Normen reduziert wird. Verantwortung hat aber ihren eigentlichen Sinn darin, dass die inneren Impulse wahrgenommen werden. Deshalb kann Verantwortung nicht bewusst veranstaltet werden, sondern stellt sich von selbst ein, wenn die entsprechenden Voraussetzungen, dass die Gefühle und Empfindungen zugelassen werden können, vorliegen.~

Verantwortlichkeit bemisst sich daran, dass man sich seiner Gefühle bewusst ist und damit die Atemselbstorganisation auch in spannungsreichen sozialen Kommunikationsbeziehungen funktioniert. Dies ist davon abhängig, ob man seine Erregung zulassen kann. Normalerweise wird angenommen, dass die eigene Erregung von der Stimulierung durch sexuelle Reize in Form von Bildern, Gerüchen, Berührungen u. a. abhängig ist und damit vom Partner erwartet wird, dass er die gewünschte Erregung einbringt. Die Verantwortung für die eigene Erregung wird meist abgelehnt, da sie als unangenehm erfahren wird, wenn bei der vollen, tiefen Atmung viele Gefühle der Verletztheit, der Demütigung und Schwäche u. a. hochkommen, die bisher erfolgreich zurückgehalten werden konnten. Anstatt die Atemfrequenz zu erhöhen, versuchen sie deshalb, durch eingeschränkte Atmung ihre Erregung zu kontrollieren und dadurch die unangenehmen Gefühle zu verdrängen. Die Unterbrechung der Erregung kann durch verschiedene muskuläre Methoden wie Zittern, Sich-Kratzen, Gähnen, Reden, Lachen, Kichern, Krämpfe, Schwindelgefühl u. a. oder durch die Abspaltung der Gefühle erreicht werden, bei der sich die Person gleichsam ganz aus dem Körper zurückzieht.128 Es wird übersehen, dass die eigene Erregung davon abhängig ist, dass man sie zulässt. Das ekstatische Gefühl kann sich deshalb nur ausbreiten, wenn man nicht mehr unter dem Zwang steht, aus Angst vor belastenden, schmerzhaften Gefühlen sich selbst zu blockieren. Sobald die Verantwortung für die sinnliche Erregung übernommen werden kann, ist man sich seiner Emotionen und auch seiner Atmung bewusst. Dies ist in der funktionellen Identität von Emotion, Atmung und sinnlicher Erregung begründet.

Der bekannte Atemtherapeut J. Schmitt hat beobachtet, dass Sucht stets mit reduzierter Atemtätigkeit verbunden ist und dass durch eine Vertiefung und Rhythmisierung der Atmung die Sucht geheilt werden kann.129 Die Sucht entwickelt sich aus der Erfahrung, dass mit bestimmten intensiven sinnlichen Erfahrungen eine Stimulierung der Atmung verbunden ist, die eine innere Belebung und Aufheiterung der Stimmung verursacht. Da in den normalen sozialen Kontakten das Resonanzbedürfnis unerfüllt bleibt, klammert sich das Individuum an die in der Sucht erfahrbare verbesserte Resonanz mit sich selbst. Die Sucht stellt so einen kreativen Selbstheilungsversuch dar, den Vitalitätsverlust~

aufgrund des beschädigten Atems zu kompensieren. Allerdings muss die Befriedigung partiell und getrübt bleiben, da der Süchtige nicht die Konzentration aufbringen kann, die für den ekstatischen Genuss erforderlich wäre. Die Sucht wird unersättlich, weil in ihr nicht die erhoffte »Selbstheilung« gefunden werden kann. Sie entfaltet eine zerstörerische Wirkung, wenn die Reize ständig verstärkt werden müssen, um die stimulierende Atemwirkung zu erzielen. Der belebende Effekt wird mit der langsamen physischen Zerstörung des Körpers erkauft. In der Sucht wird deshalb die Verantwortung für das eigene Wohlbefinden aufgegeben.

Der Atem ist die eigentliche Vermittlungsinstanz, in der die inneren Empfindungen mit den sozialen Anforderungen zusammenstoßen. Im bewussten Atem kann anerkannt werden, dass ein Großteil der emotionalen und geistigen Prozesse ohne das eigene Zutun des bewussten Ichs abläuft. Denn Gefühle wie Liebe, Anerkennung oder Wut, aber auch die Intuitionen ereignen sich. Der bewusste Atem kann ein Gespür dafür entwickeln, welche einzelnen Teilen des Körpers blockiert sind, da er alle Körperteile sorgfältig wahrnimmt und eine partielle Vernachlässigung, Benachteiligung oder Unterdrückung einzelner Teile nicht zulässt. Er ist daran ausgerichtet, dass das Wohlbefinden des ganzen Körpers nur gesichert ist, wenn jeder Teil sich in seinem Optimalzustand befindet.

Die Atmung ist nicht bloß die instinktregulierte Naturbasis, die die Selbstversorgung des Menschen mit der lebensnotwendigen Luft sichert, sondern darüber hinaus Substanz und Träger aller als typisch menschlich angesehenen Fähigkeiten wie Fühlen, Sprechen und Denken. Die Offenheit der Atmung für die Steuerung durch gesellschaftliche Impulse macht die Atmung zur »Naturbasis« aller menschlichen Lebensäußerungen. Die motorische Unruhe, intuitive Erfahrung, Träume, affektiver Selbstausdruck, philosophische Gedanken, u. a. sind nur verschiedene Modalitäten des »Stoffwechsels« des Atems mit der Natur. In der kulturellen Entwicklung besteht die geheime Aufgabe darin, den Atem zu formen. Das zeigt sich daran, dass auch die höchsten kulturellen Leistungen mit der gleichen Leichtigkeit und Mühelosigkeit ausgeführt werden können wie der ungeformte natürliche Atem. Wenn die höchsten kulturellen Produkte letzten Ende nichts anderes sind als Modifikationen natürlicher Prozesse, wird die traditionelle Unterscheidung zwischen Naturbasis und Kultur hinfällig.

Die »natürliche« Atmung ist die reinste Form für unmittelbare Lebensbedingungen, die M.Gronemeyer treffend als »Leben-in-Daseinsbedingungen« bezeichnet.130 Wie im Zusammenhang mit der autopoietischen Struktur des~

Lebens dargestellt worden ist, hat sich das Leben in struktureller Anpassung an das Milieu entwickelt, so dass der Lebensplan der einzelnen Lebewesen stets auf die in ihrer Umwelt verfügbaren Lebensstoffe ausgerichtet blieb. Letztlich begründet die Tatsache, dass die Umwelt die Lebensstoffe bereithält, die für die Selbsterhaltung benötigt werden und dass der Organismus über die Fähigkeiten verfügt, der Umwelt diese Stoffe zu entnehmen, das Urvertrauen von Lebewesen und ihr Gefühl von Identität. Dieses Lebensmodell ist in reinster Form bei den autotrophen Pflanzen und den heterotrophen Einzellern verwirklicht, aber auch noch bei den Foeten der Säugetiere sichtbar. Sie gilt auch noch für die uneingeschränkte Unmittelbarkeit des Menschen zum Lebensgut Luft, die ihn gänzlich umfängt, unter normalen Lebensbedingungen unerschöpflich und stets verfügbar ist und deren Erwerb keine Distanzüberwindung notwendig macht, da ihre Zuführung durch die automatische Tätigkeit des Atemzentrums gesteuert wird.

In der Atmung verfügt der Mensch über einen Erfahrungsbereich, wie ein versöhnlicher Kontakt mit der Umwelt gestaltet werden kann. Der Einwand, dass der in der instinktgesicherten Naturbasis des Menschen verankerte Lebensvollzug der Atmung unmöglich paradigmatisch sein könne für die komplexe gesellschaftliche Daseinsbewältigung des Menschen, hat keine Gültigkeit, da er übersieht, dass die komplexen, kulturellen und sozialen Lebensvollzüge gerade davon leben, dass sie den Atem in differenzierter Form in Gebrauch nehmen. Auch auf den höheren Stufen der gesellschaftlichen Entwicklung dient die Unmittelbarkeit der Atmung als Modell für gelungenes Leben. In ihr allein verfügen die Menschen über einen Maßstab zur Bewertung komplexer gesellschaftlicher Lebensformen: alles sollte so leicht und zwanglos laufen wie die Atmung. Die Atmung steht für die Fähigkeit, aus eigener Kraft zu leben. Sie erinnert daran, dass man mehr gelebt wird als dass man lebt.131 Die natürliche Atmung schafft Selbstvertrauen, dass der Organismus sich ständig durch seine gelungene Selbsterhaltung selbst bestätigt.

Im nicht durch repressive Vorstellungen eingeschränkten Verhältnis des Atems zum Körper enthält der Organismus ein Modell für einen egalitären Kontakt zu anderen Menschen, wie er schon immer für den Kontakt zu anderen Menschen idealiter gefordert wird: die Bedürfnisse des anderen respektieren, aber trotzdem sich für seine Bedürfnisse einsetzen. Das von der Atemselbstorganisation geprägte Verhältnis zu sich selbst ist das Urbild einer herrschaftsfreien Beziehung. Ich vermute, dass das herrschaftsfreie Verhältnis zu sich selbst in der Natur der Atmung selbst angelegt ist, die im Kontakt mit~

anderen Personen nach Resonanz strebt. Die sozialen Ideen der Wahrheit, Freiheit und Gerechtigkeit basieren auf den Erfahrungen der Resonanz in wechselseitig harmonisch verschränkten Beziehungen, wie sie zumindest in den Frühphasen der individuellen Entwicklung noch erlebt werden können. Freiheit ist der spontane Atem. Gerechtigkeit bezieht sich auf die Beachtung der Bedürfnisse durch die Umwelt, und Wahrheit ist das Ausleben-Können der ekstatischen Natur. In der einfühlsamen Beziehung zu sich selbst kann die Erfahrung gemacht werden, wie sich das Leben verändert, wenn auf die innere Herrschaft verzichtet wird.

Die utopische Dimension der Atmung ist durch die Zerstörung des Atembewusstseins im Patriarchat völlig verlorengegangen. Ohne Übertreibung kann festgestellt werden, dass die Atemluft dasselbe Schicksal erlitten hat wie alle anderen Lebensgüter: durch die Enteignung von Fähigkeiten, sich selbst zu erhalten (arbeitsteilige Produktion, kein Besitz an Produktionsmitteln, Abhängigkeit vom Markt u. a.) sind die Lebensgüter knapp geworden. Das drückt sich in dem Gefühl aus, nicht genug Luft zu bekommen, so dass man bewusst nach Luft schnappt und die Ausatmung abbremst, um möglichst die Luft festzuhalten. Die blockierte Atmung verhält sich so, als wäre die Luft knapp. In den luftverschmutzten Innenstädten wird die Luft ganz unmittelbar zum knappen Befriedigungsmittel. Kontrollierte Atmung ist eine Folge des Verlustes der Daseinsmächtigkeit und zugleich Ursache dafür, dass das Selbstvertrauen zerstört wird, aus eigener Kraft leben zu können.

6.3. Verantwortung für die eigene Krankheit übernehmen?

Die Behauptung von Harrison, man würde sich letztlich für die eigene Krankheit entscheiden und könnte sich deshalb genauso gut für die Gesundheit entscheiden, ist richtig und falsch zugleich.132 Sie ist richtig, weil man häufig in der Entscheidung für die Krankheit in der gegebenen Situation die einzige Möglichkeit sieht, mit seinen Konflikten fertig zu werden. Die psychotherapeutische Empfehlung der Selbstverantwortung hat ihren richtigen Kern darin, dass alle individuellen Verhaltensweisen ursprünglich selbstgewählte Reaktionsweisen auf mit Angst erfahrene Zwangssituationen waren, die dann zur Gewohnheitsreaktion erstarrten und die Beteiligung des Ich nicht mehr wahrgenommen wurde. Als individuelle Entscheidung wäre sie prinzipiell einer Korrektur zugänglich. Das Prinzip der Selbstverantwortung ist aber zugleich falsch,~

weil die Entscheidung unter Ausschluss der bewussten Kräfte erfolgte und das erforderliche Gewahrsein gerade nicht aufgebracht werden kann, um die Gründe zu durchschauen, die dazu veranlassen, an den Reaktionsmustern bzw. der Krankheit festzuhalten.

Verantwortung wird zur Ideologie, wenn die Voraussetzungen, unter denen Verantwortung sich bilden kann, nicht geklärt werden. Im moralischen Prinzip der Selbstverantwortung wird die Erfahrung ausgeblendet, dass das eigene Leiden täglich durch die sozialen Verhältnisse erneuert wird und dass die Menschen, die durch ihr Verhalten und Reden die Verhältnisse der sozialen Unterdrückung unterstützen und stabilisieren, Wut auslösen. Das Prinzip der Selbstverantwortung nimmt den Mut, diese Wut angemessen auszudrücken. Die Psychoanalyse privatisiert das Bewusstsein der Wut und sozialen Unterdrückung und trägt damit zur Entpolitisierung bei, wenn sie durch ihre Psychologisierungstendenz den für die Gesundheit und Lebendigkeit unentbehrlichen Ausdruck von Wut über aktuell erfahrene Ungerechtigkeit und Verletzungen verdrängt. Selbstverantwortung verlangt, dass ich nicht allein Personen verantwortlich mache, sondern auch deren Verhaltensweisen als Ausdruck von grundlegenden Rahmenbedingungen verstehe, so dass ich die eigene Wut ohne Selbstbeschädigung ausdrücken kann.

Wenn dem Einzelnen dennoch zugemutet wird, die Verantwortung für seine Krankheiten zu übernehmen, führt dies lediglich zur Erhöhung des Erwartungsdrucks an die Selbstkontrolle, die den ohnehin schon bestehenden Kontrollzwang nur noch verstärkt. »Man kann nur heil sein, wenn man sein Selbst vollständig lebt, es also zum Ausdruck bringt, damit man mit sich in Harmonie leben kann ... Dabei wäre es so einfach, gesund zu sein: Wir brauchen nur selbst zu sein, ganz das Leben, was wir jetzt sind«.133 Damit wird Verantwortung zum repressiven Prinzip gemacht, das über das zwangsläufige Scheitern solcher Gesundbeterei die Erfahrung der Ohnmacht nur noch verstärkt. Krankheit verliert dadurch das, was sie bisher zu etwas Befreiendem gemacht hat: die vorübergehende Entlastung von der überfordernden Aufgabe der Selbstkontrolle, wodurch sich die autonome Selbststeuerung gerade regenerieren kann.

Die Individualitätsfiktion schafft eine Prädisposition für somatische Erkrankungen, weil durch die Verleugnung aller Abhängigkeiten Krankheiten als etwas Fremdes und Zufälliges von sich abgespalten werden müssen. Entsprechend dem mechanistischen Körperverständnis werden Krankheiten an Störungen~

im Funktionsmechanismus des Körpers festgemacht, für die sichtbare, nachweisbare biochemische Ursachen (z.B. Einwirkung von Giften, Mikroorganismen, genetische Faktoren, Verschleiß u. a.) bestimmt werden müssen. Das biochemische Krankheitskonzept kann psychische und soziale Faktoren bei der Krankheitsentstehung nicht integrieren, weil es prinzipiell nicht verstehen kann, wie sich psychische Faktoren in somatische Vorgänge umsetzen. Die körperlichen Symptome werden aus ihrem sozialen Bedeutungszusammenhang herausgerissen. Es entsteht ein tiefes Desinteresse an Gesundheitsfragen, das häufig durch ein dogmatisches Befolgen von Gesundheitsregeln überkompensiert wird. Das biochemische Krankheitskonzept trägt so damit bei, die Abhängigkeiten zu verschleiern.

Der von der esoterischen Bewegung propagierte spirituelle Gesundheitsbegriff beansprucht, die verlorene Ganzheit, die durch das mechanistische Körperverständnis entstanden ist, wiederherzustellen. Die körperlichen Krankheitssymptome werden als Ausdrucksformen einer gestörten seelischen Harmonie verstanden. Es wäre deshalb irreführend zu behaupten, der Körper sei krank. Krankheit weise darauf hin, dass der Mensch sein seelisches Gleichgewicht verloren hat und soll ihn dazu anhalten, das Fehlende zu verwirklichen. Hat der Mensch das Fehlende gefunden, werden die Krankheiten überflüssig. Die Heilung des Körpers erfolge deshalb über die Heilung der Seele, indem ihre Kräfte gestärkt werden. Das esoterische Krankheitskonzept lenkt zurecht den Blick darauf, dass jeder Krankheit letztlich eine meist unbewusste Entscheidung vorausgeht, ein bestimmtes Krankheitsbild zu wählen, um damit die Lösung unlösbar erscheinender Probleme zu versuchen. Es ist aber problematisch, da es unreflektiert die Individualitätsfiktion bestätigt: »Die Krankheit kann nur bestehen, wenn ich nicht ich selbst bin«.134 Es gelte, das »wahre Selbst« zu finden. Man werde identisch mit sich, wenn alles Verdrängte, Abgespaltene und Verborgene integriert wird.

Letztlich idealisieren alle dualistischen Krankheitskonzepte die Krankheit. Im mechanistischen Konzept ist die idealistische Hoffnung enthalten, dass die Krankheit durch die Entwicklung der Wissenschaft »besiegt« werden könne. Im spirituellen Konzept »zwingt die Krankheit den Menschen, den Weg zur Einheit nicht zu verlassen. Kranksein ist ein Weg zur Vervollkommnung«.135 Krankheit bedeutet aber in Wirklichkeit soziale Isolierung, Verlust der Fähigkeit, die eigenen Probleme zu bewältigen und Verlust des Glaubens an sich~

selbst. Krankheit ist identisch mit Selbstverrat und Selbstnegation. Krankheit ist damit ein Symptom der dualistischen Selbstentzweiung, der partiellen Abtötung durch die Stillegung des inneren Dialoges.

Aus dem dialogischen Körperverständnis ergibt sich, dass die Krankheitssymptome solange nicht in ihrer eigentlichen Bedeutung erkannt werden können, wie sie nicht als Folge der beeinträchtigten Dialogfähigkeit verstanden werden. Die vegetativ-psychische Gesundheit wird gefährdet, wenn die vegetativen Impulse nicht adäquat in psychische Erregung und praktisches Handeln umgesetzt werden können. Wenn das Vertrauen verlorengegangen ist, sich mit den elementaren Bedürfnissen nach Zuwendung, Nahrung u. a. durchsetzen zu können, versucht der Organismus, sich mit Krankheiten selbst zu heilen. Wie Weise darstellt, besitzt der Organismus die Fähigkeit, von sich aus Krankheiten herbeizuführen, wenn ein Zuviel an schädlichen Stoffwechselschlacken seine Funktionsfähigkeit belastet. Indem er den ständig im Körper anwesenden Mikroorganismen (Bakterien, Viren, Pilze) durch die Schwächung des Immunsystems einen größeren Spielraum für ihre Vermehrung gibt, kann er die dabei entstehenden Krankheitssymptome als Mittel für die Ausscheidung der schädlichen Stoffe benutzen.136 Dieses Konzept kann wahrscheinlich auch auf die Beseitigung von unerträglichen psychisch Spannungen übertragen werden. Wenn die sozialen Kompetenzen versagen, sind somatische Krankheiten das einzig verbleibende Mittel, die Spannungen zu entladen. Somatische Krankheiten können diese Entlastungsfunktion übernehmen, da die psychischen Spannungen immer auch physiologische Störungen im Muskelstoffwechsel und im hormonalen System sind. Krankheiten sind der Versuch, Störungen im sozialen Dialog mit den biologisch älteren Mechanismen des biochemischen Dialoges zu heilen.

Die Tatsache, dass der Körper auf seiner ganzen Oberfläche mitteilt, was im Inneren geschieht, begründet die Möglichkeit, mit genauem Hinsehen und Spüren Krankheiten bereits im Keim zu erkennen. Jedes einzelne Symptom bezieht sich nicht bloß auf den Ort seines Erscheinens, sondern zugleich auf den gesamten Funktionszusammenhang. Wie sich jeder organismische Impuls mit spezifischen Empfindungen meldet und durch die Verbindung mit inneren Vorstellungen als ein spezifisches, auf bestimmte Formen der Befriedigung gerichtetes Bedürfnis angeeignet und erkennbar wird, können auch die Symptome, mit denen sich sehr frühzeitig Krankheiten ankündigen, gelernt werden.~

Mit den Symptomen verfügt damit der Organismus über ein perfektes Frühwarnsystem, mit dem er jede geringste Abweichung von dem natürlichen Gleichgewicht im Frühstadium erkennen kann. Allerdings ist die Bedeutung der Symptome nicht von Natur aus gegeben, sondern muss erst durch die Verknüpfung mit Vorstellungen über ihren typischen Verlauf, ihre sonstigen Begleitsymptome und die Wirkung von Eingriffen hergestellt werden.

Krankheit ist ein Mangel an Selbstvertrauen in die Selbstheilungskräfte, der Verlust der Fähigkeit, die eigene Energie zur Aufhebung von Spannungen einzusetzen. Alle Heilungsfortschritte sind abhängig davon, dass das Vertrauen in die eigenen Kräfte zurückerlangt wird. Das Vertrauen in die eigenen Selbstheilungskräfte baut auf der realen Erfahrung auf, dass der Organismus sich in kritischen Situationen selbst zu helfen weiß. Die Aufforderung, dem »inneren Heiler« absoluten Glauben zu schenken, ist vergeblich. Das Vertrauen ist keine Frage der individuellen Einsicht, des Glaubens oder Entschlusses, sondern allein der Erfahrung. Auch mit bewusster Vornahme ist dabei nichts zu erreichen. Der Weg zu neuem Selbstvertrauen kann nur darüber gehen, dass im konkreten Handeln Erfahrungen gemacht werden, die die verlorenen Selbstheilungskräfte wieder aufbauen. Der »innere Arzt« war eine nützliche Fiktion, solange der Zusammenhang von gestörter sozialer Kommunikation und Krankheit nur erahnt, aber nicht klar erkannt wurde. Wenn bei konkreten Erkrankungen im inneren Dialog die Zusammenhänge aufgespürt werden, kann sich ein Wissen akkumulieren, das das Vertrauen in die inneren Selbstheilungskräfte erneuert. Das Vertrauen in die Selbstheilungskräfte ist ausschließlich von der Fähigkeit abhängig, die Abhängigkeit des körperlichen Wohlergehens vom eigenen Verhalten zu erfahren.

Dies ist ohne Zweifel ein utopischer Gesundheitsbegriff. Er bedeutet, dass nur soviel Gesundheit möglich ist, wie an einfühlsamem, respektierendem Kontakt verwirklicht werden kann. Die gegenwärtig übermächtige Tendenz, alle sozialen Kontakte dem Diktat der Nützlichkeit zu unterwerfen, raubt dem dadurch instrumentalisierten Dialog die Qualitäten, die für eine Mobilisierung der Selbstheilungskräfte notwendig sind. Der dialogische Gesundheitsbegriff nimmt keineswegs eine Psychologisierung der Krankheiten vor. Jede Krankheit ist ein Protest gegen die Zwänge der sozialen Realität, die die physischen und psychischen Lebensbedürfnisse des Organismus verletzen. Die traditionelle wie die alternative Medizin unterdrücken den Schrei der Auflehnung, indem sie den Krankheiten einen individuellen Charakter geben und so von den kollektiven Ursachen in den sozialen Lebensbedingungen ablenken.

Wie jedes Handeln ist auch die Krankheit eine spezifische Form der physiologischen Koordination des Organismus, um den Austausch mit der Umwelt~

zu bewältigen, allerdings mit dem Unterschied, dass dabei ein gewisses Maß an Selbstbeschädigung in Kauf genommen wird. Aufgrund der gesellschaftlichen Vermittlung der Krankheit erzwingt deshalb der dialogische Krankheitsbegriff, dass in die Frage nach der individuellen Entscheidung für eine Krankheit immer auch die gesellschaftlichen Einflüsse einbezogen werden und die soziale Verantwortung für die gesellschaftliche Entwicklung – wie auch immer eingeschränkt – übernommen wird. Da der dialogische Gesundheitsbegriff prinzipiell wissenschaftlich nicht beweisbar ist, ist er weniger eine Sachaussage als eine erkenntnisleitende, die Neugierde offenhaltende Hypothese, die die vorschnelle Biologisierung der Krankheiten verhindern soll und das Ziel festhält, mit einem intensivierten äußeren und inneren Dialog die Kontrolle des Verhaltens zu verbessern.

Der alten Kontroverse, ob die Krankheit Ausdruck psychosozialer Konflikte oder objektives Naturschicksal ist, leigt eine falsche Fragestellung zugrunde. Da das Denken als ein integraler Teil der sensomotorischen Koordination des Organismus begriffen werden muss, zeugt die gedankliche Trennung von sozialen und natürlichen Ursachen von einem falschen Verständnis. Da in der Industriegesellschaft die natürlichen Lebensbedingungen völlig von menschlicher Hand umgestaltet worden sind, sind beide Bereiche nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Es kann nicht übersehen werden, dass die gesellschaftlichen Lebensbedingungen, die durch Entscheidungen der früheren Generationen geschaffen und von der gegenwärtigen bestätigt werden, den Spielraum des Einzelnen bei der Wahl seiner Krankheiten vorgeben. Die industrielle Lebensweise zwingt zur Aufnahme von Stoffen, die Giftspuren der Industrialisierung des Lebens enthalten. Je nachdem welch starken Belastungen man ausgesetzt war, entsteht daraus eine individuell unterschiedliche Disposition für bestimmte Krankheiten. Die akute Manifestation von Krankheiten ist aber auch abhängig davon, ob sich das Gefühl entwickeln konnte, aus eigener Kraft auf seine Lebensverhältnisse Einfluss zu nehmen und Eingriffe abzuwehren. In der jüngsten Vergangenheit haben die objektiven Belastungen des Organismus extrem zugenommen, während die Konfliktfähigkeit abgenommen hat, so dass es nicht überraschend ist, dass jeder auf seine Weise »krank« ist. Die meisten Menschen wählen allerdings solche »Krankheiten« aus, die inzwischen so verbreitet sind, dass sie in ihren schwächeren Ausprägungen im allgemeinen Verständnis schon gar nicht mehr als Krankheiten erscheinen (z.B. Augenschwäche, Hörschwäche, Schlafstörungen, Gefühlskälte, Gleichgültigkeit, Bluthochdruck, Süchte aller Art, Stressempfindlichkeit u. a.) und die das normale Funktionieren nicht weiter stören. Die Sensibilität der meisten Menschen ist soweit abgestumpft, dass viele degenerativen Prozesse gar nicht mehr als solche wahrgenommen~

werden. Der Eindruck, dass die Krankheit eine eigene Realität darstellt, ist der zwangsläufige Reflex des Verlustes des inneren Spürsinns für den Einfluss individueller und gesellschaftlicher Entscheidungen auf den eigenen Organismus. Längst ist jedem aufgeklärten Mediziner klar, dass das Normale das Pathologische ist und dass im Pathologischen die Krankheit des Normalen zum Ausdruck kommt.

Aus der Sicht des dialogischen Gesundheitsbegriffs bleibt das Prinzip der Selbstverantwortung richtig. Nur muss von vornherein klargestellt werden, dass es unter den gegebenen Verhältnissen nur äußerst bedingt eingenommen werden kann. Es genügt nicht, sich bloß bewusst dafür zu entscheiden, gesund zu sein. Es genügt auch nicht, die Krankheit bloß als psychisch zu etikettieren, um damit die Verantwortung zu übernehmen, sondern ich muss auch begreifen, aus welchen Gründen und mit welchen Mitteln ich den inneren Dialog abgebrochen habe. Ich kann die Sprache der Symptome lernen, wenn ich bei jedem noch so kleinen Körpersymptom und bei jeder psychischen Störung mich kritisch frage, welche Konflikte vorausgingen, warum ich sie für unlösbar hielt und welchen Nutzen ich aus der Störung ziehen könnte. In diesem Prozess kann ich spüren, wie das eigene Wohlbefinden von den Vorstellungen abhängig ist, die gerade im Hintergrund des Bewusstseins vorherrschen. Dadurch wird die Sensibilität für den hintergründigen Bewusstseinsstrom verbessert, so dass ich in den Dialog mit den spontan auftretenden Vorstellungen treten kann. Ich erkenne dann, wie ich der eigenen Vergangenheit immer noch das Recht gebe, die früheren Vergewaltigungen fortzusetzen. Damit kann die unbewusste Herrschaft des Verdrängten und Abgespaltenen allmählich abgebaut werden.

Trotz der Unmöglichkeit, in der gegenwärtigen Gesellschaft gesund zu leben, ist es nicht richtig, deshalb auf den Begriff der Gesundheit ganz zu verzichten, wie es Ivan Mich fordert.137 Der Organismus braucht in jedem Moment einen Maßstab, um die Effizienz seines Verhaltens kontrollieren zu können. Dieser Maßstab kann nur das Maß der Lebendigkeit sein. Bei jeder Handlung kann der Organismus spüren, ob seine Vitalität dadurch gestärkt oder geschwächt wird. Wahrscheinlich ist nichts anderes gemeint, wenn in den esoterischen Lehren Gesundheit sich darin äußern soll, dass man den Kontakt zur eigenen Mitte, zum Zentrum findet. Auch im englischen Wort »remedy für Heilmittel ist die Erfahrung des Heilens als Rückführung zur Mitte noch~

unmittelbar enthalten. Die Metapher der Mitte leitet sich davon ab, dass in dem Moment, in dem der Organismus seine Vitalität zurückfindet, sich die in der Mitte des Körpers befindliche Zwerchfellatmung belebt, was sich in deutlich spürbaren Bewegungen der Bauchdecke äußert.

Gesundheit kann nicht darin bestehen, bestimmte Gesundheitsprogramme zu befolgen. Sie hat ihre Basis vielmehr in einem sensiblen Umgang mit sich selbst, in dem die trotz aller Restriktionen noch vorhandenen graduellen Verbesserungsmöglichkeiten des inneren Dialoges auszuschöpfen sind. Es muss die Verantwortung dafür übernommen werden, die Sensibilität für den eigenen Körper so weit zu steigern, dass die »Sprache der Symptome« ernstgenommen wird und schon die feinsten Symptome wahrgenommen und gedeutet werden können.

Eine vorsorgende Einstellung zum eigenen Körper verlangt, dass man auf quantitativ abgesicherte Beweise für Funktionsstörungen verzichtet und der eigenen Intuition und dem eigenen Gespür vertraut. Ein sensibler Körper hat ein ausgeprägtes Lösungsbewusstsein, da alle Verspannungen als Symptome verminderter Sauerstoffversorgung bewusst registriert und als Impuls genommen werden, sie durch gezielte Entspannungsübungen wie Meditation, tiefes Atmen, Tanzen, hüpfende Bewegungen u.ä. aufzulösen. In der Regel erweist sich das gefühlsmäßige Wissen, das sich im bewussten Umgang mit dem Körper einstellt, als völlig ausreichend, um Fehlentwicklungen zu erkennen und ihnen entgegenzusteuern. Wenn die Bereitschaft vorhanden ist, bereits im Frühstadium sich ankündigende Krankheiten zu erkennen, ist die Neigung auch größer, sich vorzustellen, welche Konsequenzen ein Nichthandeln haben könnte. Man erlaubt es sich dann nicht mehr, bloß die Symptome zu bekämpfen, sondern sucht nach langfristigen Lösungen, um das erneute Auftreten der Symptome zu vermeiden. Dabei ist es sehr hilfreich, wenn mit Neugierde ausprobiert wird, ob mit veränderten Heilmethoden bessere Ergebnisse erzielt werden können.138

6.4. Rezeptives Verhältnis zu sich selbst

Im Konzept der Selbstorganisation wird die Steuerung des Handelns durch das Ich« in Frage gestellt, ohne dass es wie in der Psychoanalyse als Spielball blinder, unbewusster Triebkräfte decouvriert wird. Das Verhalten basiert im~

Modell der Selbstorganisation zum größten Teil auf Entscheidungen, die der Organismus ohne bewusste Beteiligung des Ichs in Reaktion auf soziale Erfahrungen trifft. Das »Ich« ist nichts anderes als die Gesamtheit der gegen die eigenen Impulse und Gefühle gerichteten Vorstellungen. Es darf deshalb nicht als eigenständige Instanz verstanden werden, sondern bloß als Ausdruck der Tendenz des Organismus, sich in bestimmten Situationen zurückzuhalten. Das Ich ist Ausdruck der chronischen Selbstkontrolle. Sein Charakter wird von der Art der inneren Vorstellungen geprägt. Ein »starkes Ich« entsteht, wenn der Organismus über rigide Atemmuster verfügt, die alle Emotionen zurückhalten. Wenn dagegen die inneren Vorstellungen wenig mit Ängsten besetzt sind, kann das »Ich« mehr Gefühle zulassen.

Die Tendenz, die Fähigkeiten des Sprechens und Denkens als Ausdruck eines Ichs aufzufassen, resultiert daraus, dass das Individuum in einem militärisch strukturierten Herrschaftssystem gezwungen ist, sein Inneres nach dem Modell sozialer Autoritätsverhältnisse zu gestalten. Der fortwährende Zwang zur Anpassung lässt das Ich als innere Herrschaftsinstanz entstehen, die für die Unterdrückung der widerstrebenden geistigen, emotionalen und vegetativen Kräfte des Körpers verantwortlich ist.

Daher muss es sich zwangsläufig mit den ihm fremden Entscheidungen, die die innere Selbstorganisation hinter seinem Rücken trifft, identifizieren, solange es den Anspruch hat, »Herr im Hause« zu sein. Wie gezeigt wurde, hat es dabei in Kauf genommen, dass in dem inneren Herrschaftsverhältnis des »Ich« gegenüber dem »Körper« die Ressourcen, die glückliches Leben, sicheres Handeln und klares Denken ermöglichen, zerstört werden. »Im großen und ganzen ist das »Ich« als direkte Erfahrung nichts weiter als eine chronische neuromuskuläre Spannung — ein gewohnheitsmäßiger Widerstand gegen den Pulsschlag des Lebens«.139 Wie die Seele kann auch das »Ich« als ein Produkt der menschlichen Tendenz verstanden werden, innere Verhaltenstendenzen zu personalisieren. Das »Ich« ist zum selbstverständlichen Teil der Sprache geworden, so dass das problematische Ich-Selbstverständnis permanent durch die Sprache bestätigt wird.

Das »Ich« ist keineswegs eine bloße Marionette dunkler, unbewusster Kräfte. Es hat sich vielmehr als unentbehrliche Instanz herausgebildet, weil der Organismus zur Abwehr von psychischen Verletzungen eine Schutzhaut braucht, die er sich aus desensibilisierten Sinnesorganen und verspannten Muskeln aufbaut. In einem Herrschaftssystem ist das Überleben nur gesichert, wenn der

Organismus nach wie vor über repressive Fähigkeiten verfügt. Das Ich kann deshalb als die Gesamtheit der Selbstnegationen definiert werden.

Bei der Analyse des Denkens wurde gezeigt, dass das hierarchische Modell des Körpers mit einer zentralen Entscheidungsinstanz der dialogischen Organisation des Organismus nicht angemessen ist. Diese verlangt ein Verhältnis des Organismus zu sich selbst, in dem den Umweltanforderungen nicht mehr die absolute Dominanz gegeben wird, sondern alle Teile des Organismus an einer vertrauensvollen, ehrlichen, kompromissbereiten und gleichberechtigten Kooperation teilnehmen können, so dass aus dem Herrschafts- ein Freundschafts- oder sogar ein Liebesverhältnis wird. Das »Ich«, das sich bisher als Steuermann begriffen hat, muss sich in dieser neuen Einstellung so verhalten, als würde ihm ein körperimmanentes Gremium den Auftrag geben, was es zu tun hat. Die seit Freud übliche Bezeichnung des »Ich« als Repräsentant des Es gegenüber der Außenwelt ist ein falsches Bild, da es dabei als ein aktiver Mittler betrachtet wird. Die realen Erfahrungen mit Repräsentanten zeigen, wie leicht sich die Repräsentanten verselbständigen. Treffender erscheint das Bild des Pressesprechers, der lediglich die Entscheidungen des Organismus nach außen zu vertreten hat, aber an der Entscheidung selbst nicht beteiligt ist. Das »Ich« rückt aus dem Zentrum und kann anerkennen, dass »im Leib mehr Weisheit ist als in den besten Weisheiten« (Nietzsche). Es wird zum »rezeptiven Ich«, das letztlich mit der Atemselbstorganisation identisch ist.

Die übliche Vorstellung, dass das »Ich« geduldig und liebevoll, nicht streng und strafend mit dem Körper umgehen soll, dass es seine Schwächen zugeben, keine überzogenen Forderungen an sich stellen, keine Illusionen über die eigenen Fähigkeiten hegen und Fremdes in sich anerkennen und dulden soll, ist problematisch. Auf diese Weise kann sich das bürgerliche Ich nicht retten. Es hat die erforderliche Dezentrierung erst konsequent vollzogen, wenn es jeden Gestaltungsanspruch aufgibt. Es muss erkannt werden, dass stets, wenn das »Ich« auftaucht, unbewusste Ängste vor gesellschaftlichen Sanktionen im Spiel sind.

Das dezentrierte Ich kann das Verhältnis zum Körper nicht mehr mit dem »ich bin« ausdrücken, sondern nur mit dem passiven Personalpronomina »es«, »mir, »mich«. Im alltäglichen Sprachgebrauch kommt dies z.B. zum Ausdruck, wenn gesagt wird, dass »mein Körper will, dass ich ....«oder »du gehst mir auf die Nerven«. Darin drückt sich keine Fremdheit aus, sondern nur die Akzeptanz der Eigenständigkeit des Organismus und seiner einzelnen Körperteile. Im Umgang des Organismus mit der Außenwelt wäre nach diesem dialogischen Körperverständnis das »wir« am angemessensten. Das »wir« respektiert die

Autonomie der einzelnen Körperteile und überlässt ihre Kooperation einer gleichberechtigten Koordination.140

Aus diesen Überlegungen kann nicht die Konsequenz gezogen werden, dass es bei der Transformation des »Ich« um dessen Auflösung gehen müsse, wie es in der esoterischen Tradition gefordert wird. Die Auflösung des »Ich« wäre eine bloß abstrakte Negation des repressiven Ichs«. Es kommt darauf an, das Verhältnis von Tun und Lassen, von Kontrolle und Sich-Gehen-Lassen neu zu bestimmen. Im abendländischen Denken ist eine falsche Polarisierung von Aktivität und Passivität vorgenommen worden. Wie sich in der Entwicklung der Sprache ausdrückt, entstand dadurch der Eindruck, dass dem aktiven Handeln die Priorität gehöre. Es wurde die Erfahrung verdeckt, dass das Leben in jedem Moment ein Ineinander von aktiven und passiven Elementen ist. Sobald die passiven Elemente aus dem Bewusstsein verdrängt werden, setzen sie sich unbewusst durch: aufgrund der Abhängigkeit von der Umwelt erfolgen die unvermeidlichen Zugeständnisse an sie ohne Bewusstsein. Es kann also nur darum gehen, dass das kontrollierende Handeln immer wieder durch Phasen des rezeptiven Verhältnisses zu sich selbst unterbrochen wird, dass schließlich auch in den Phasen des kontrollierenden Handelns das Moment des Rezeptiven als Besinnung, als innere Distanz u. a. zum Zuge kommt und auf diese Weise eine immer tiefere Verschränkung von aktiven und passiven Elementen erreicht wird. Aus dem Zulassen folgt keine Willkür, wie es das bürgerliche Vorurteil will, sondern selbstbewusstes Handeln, in dem das Bedürfnis nach Resonanz dominiert. »Wenn du den Strom (der Gedanken) ungehindert fließen lässt, wirst du überrascht feststellen, dass er sich ganz von selbst reguliert, und hast keine Angst mehr, er liefe mir dir davon. Denn du bist dieser Strom, und es war eigentlich nie anders. Achte aber einmal darauf, wie der Geist tausend Vernunftgründe ausbrütet, um es gar nicht erst auf einen Versuch ankommen zu lassen«.141

An die Stelle der heutigen Überbewertung von Aktivität und der Abwertung von Muße tritt die Fähigkeit, zwischen Aktivität und Passivität ein den sinnlichen Bedürfnissen des Körpers angepasstes Gleichgewicht zu finden. Der Organismus entspannt sich, damit er sich den ekstatischen Gefühlen im sexuellen Kontakt wie auch bei anderen Aktivitäten hingeben kann. Er konzentriert sich auf die Blockierungen der Atmung, um dadurch die sinnliche Erregung zu intensivieren. Aktivität wird auf das Maß beschränkt, wie es zur~

Lebenserhaltung erforderlich ist und wird so ausgeführt, dass sie mit einem passiven Geschehenlassen verschmilzt.

Die Rehabilitation der passiven, spontanen Elemente kann dadurch gelernt werden, dass den spontanen Verarbeitungsprozessen im Bewusstsein mehr Raum gegeben wird. Dazu gehört z.B., dass man Träume nachbearbeitet, indem an einzelne Traumsequenzen Fragen gestellt werden (z.B. an was erinnert mich das? Welche Gefühle kommen mir dabei? Woran erinnert mich die Traumfigur? u. a.)142 Dabei kommt es darauf an, dass man sich auf den Bauchraum konzentriert und abwartet, welche Empfindungen und Gedanken durch das Traumgebilde ausgelöst werden. Dahinter steht die Theorie, dass auch der Traum sich als ein Versuch des Organismus verstehen lässt, untauglich gewordene Vorstellungen zu modifizieren. Der Traum kann die problemgerechte Verarbeitung von Gefühlsspannungen übernehmen, weil im Traum eine Hemmschwelle zwischen gefühlsmäßigem Ausdruck und körperlicher Reaktion besteht, so dass alle Gefühle, vom Realitätsdruck abgelöst, etwas freier ausagiert und neue Verhaltensmuster ausprobiert werden können. Allerdings bewirken die individualtypischen Abwehrmechanismen, dass die Traumgedanken meist nicht unmittelbar verständlich sind. Durch die nachträgliche Bearbeitung können die vom Traum vorgeschlagenen Verhaltensänderungen bewusst angeeignet werden, vorausgesetzt, dass den Antworten des Organismus auf die Fragen an den Traum Raum geben wird. Die Verschränkung von aktiven und passiven Elementen in Traum und Traumarbeit kann dadurch noch akzentuiert werden, wenn vor dem Einschlafen dem Traum eine bestimmte Aufgabe gesetzt wird.

Eine andere Form, aktive und passive Momente miteinander zu verschränken, besteht darin, dass ich mich im Alltag frage, wie ich mich jetzt verhalten würde, wenn ich keine Angst zu haben bräuchte, d.h. wenn ich genügend Selbstbewusstsein hätte, um zu meinen Ängsten zu stehen. Ich gebe mir die Erlaubnis, das zu tun, was ich spontan für das Richtige halte. Indem bewusst der Kontext der Orientierung verändert wird, kann ich beobachten, wie im spontan ablaufenden Gedankenprozess Verhaltensalternativen visualisierend erprobt werden.

Ein anderes Beispiel ist die Tanzimprovisation. Sie geht davon aus, dass gefragt wird, welcher Gefühlszustand momentan vorherrscht und dafür ein angemessenen Begriff gewählt wird. Es wird versucht, das Gefühl mit körperlichen Bewegungen auszudrücken. Dabei achtet man auf die spontan auftauchenden Bewegungsimpulse, gibt ihnen Raum und versucht, daraus einen~

prägnanten Ausdruck zu schaffen. Abschließend wird gefragt, inwieweit die gefundenen Bewegungsgestalten dem ursprünglichen Gefühl entsprechen.143 Der organismische Ausdruck für das Sich-Zulassen ist die Fähigkeit, die Pulsation ins Bewusstsein treten zu lassen. Sie äußert sich als feines Vibrieren. Um dieses Gefühl kennenzulernen, ist die von Alexander Lowsen vorgeschlagene Übung des »Erdens« geeignet, bei der man den Oberkörper aus dem Kreuzbein heraus nach unten hängen lässt, die Knie durchdrückt, das Becken entspannt und durch den Mund atmet. Die Vibration beginnt in den Beinen und kann in das Becken ausstrahlen. Die Vibration kann auch im Stehen wahrgenommen werden, wenn man die Füße ca. 30cm auseinander stellt, die Knie leicht beugt, die Wirbelsäule gerade hält und das Becken und den Kiefer entspannt. Im leichten Hin- und Herwiegen kann ausprobiert werden, in welcher Stellung die Vibration am leichtesten ausgelöst wird. Sobald die Vibration zu spüren ist, muss man sich darauf konzentrieren, sich in sie hinein zu entspannen, so dass sie sich ausbreiten kann.144

Befreite Individualität erweist sich als soziale Kompetenz. Wenn die Einwirkung der sozialen Umwelt auf den eigenen Körper unmittelbar und bewusst erfahren werden kann, besteht auch die Chance, aktiv auf die Umwelt einzuwirken, ohne sich über die Interessen der anderen verletzend hinwegzusetzen. Je mehr man sich selbst kennt, umso leichter gelingt es, sich in die anderen einzufühlen. Solange man im Kontakt mit den eigenen Körperempfindungen bleibt, ist man dagegen gefeit, dass man in der konkreten Situation automatischen Verhaltens- und Reaktionsgewohnheiten unterliegt und dadurch nicht situationsgerecht denkt und handelt.

Wenn es die Situation erfordert, ist man bereit, erworbene Identifikationen mit sozialen Rollenmustern aufzugeben und durch andere auszuwechseln. Man kann sich auf Konflikte einlassen, weil die Sicherheit besteht, sie unbeschadet durchzustehen. Es können höhere Risiken eingegangen werden, weil keine Angst vor Selbstverlust besteht. Die Beziehungen können frei gewählt werden, weil man keine Angst vor Einsamkeit und Enttäuschungen hat. Soziale Kompetenz ist so die Folge eines nicht durch Angst eingeschränkten Erfahrungsprozesses, in dem in jeder Situation der Umgang mit sich selbst und der Umwelt verbessert wird.~

Das Ziel muss sein, die Verantwortung nicht nur für das eigene Verhalten, sondern auch für die Gefühle übernehmen zu können. Ich kann nicht die Meinung von Alexander Lowen teilen, dass man die Verantwortung nicht für seine Gefühle, sondern nur für das eigene Verhalten übernehmen könne, weil die Gefühle unter dem Diktat der vegetativen Spontaneität stehen.145 Das trifft zweifellos für die primären Gefühle der Liebe, Angst, Wut und Trauer zu. Aber die aus der Unterdrückung der primären Gefühle entstandenen abgeleiteten Gefühle des Neides, des Hasses, der Grausamkeit, der Eifersucht u. a. sind bereits Produkte der eigenen Entscheidungen, für die die Frage gestellt werden muss, ob man sie weiter für nützlich findet. Bei diesen Gefühlen würde der Ratschlag, sie nur zur Kenntnis zu nehmen, darauf hinauslaufen, ihre blinde Zwanghaftigkeit, die den autonomen Zugang zur Realität behindern, zu sanktionieren.

Die richtige Wendung nach innen zeigt sich in der ihr folgenden Wendung nach außen. Das vitale Interesse an der Außenwelt ist Ergebnis, aber auch Voraussetzung einer lebendigen Innenwelt. Solange man sich nicht den Dingen überlassen kann, bleibt auch das Verhältnis zu sich selbst auf einer unqualifizierten Entwicklungsstufe. »Noch sind wir zu sehr in uns, wir müssen aber außer uns sein, wenn wir uns finden wollen« (David Cooper). Die Befreiung vom bürgerlichen Individualismus wäre gegenwärtig nur durch eine radikale Individuierung zu erreichen. Dies ist nur scheinbar ein Paradox. Denn Individualität ist im Grunde verleugnete Abhängigkeit. Je mehr man sich bewusst ist, dass jede verleugnete Abhängigkeit den falschen Autonomieschein aufrechterhält, muss sich das Interesse darauf richten, die Abhängigkeiten durchsichtig zu machen und soweit abzubauen, dass die verlorengegangenen Kompetenzen des körperlichen und seelischen Ausdrucks zurückgewonnen werden. Zunächst muss das Gefühl der Autonomie als Allmachtsphantasie durchschaut werden, mit der die mit der Abhängigkeit verbundenen Demütigungen verdrängt werden sollen. Jede konkrete individuelle Entscheidung, deren Entstehungsbedingungen ehrlich nachvollzogen werden, kann dafür ein Gespür geben. Wenn ich die Abhängigkeit konkret spüre, wird die Neigung, die Verantwortung für die eigene Verfassung auf andere zu verschieben, abnehmen, da ich dann das selbstbetrügerische Moment sofort merke.

Diesem Weg der radikalen Demontage der Autonomie widersetzt sich das narzisstische Allmachtsgefühl, das die schmerzhafte Wahrnehmung des eigenen Ohnmachtsgefühls abwehren soll. Das Ohnmachtsgefühl muss selbst als Folge des Individualisierungsprozesses durchschaut werden, der die Chance individueller~

Gegenwehr und kollektiver Solidarität zerstört hat und die Neigung geschaffen hat, jede Form des Widerstandes zu unterdrücken.

Die Individuation kann nur gelingen, wenn die Gesellschaft dem Einzelnen auch die Möglichkeit einräumt, auf den anderen Einfluss zu nehmen und wenn dies von demokratischen Strukturen im Zusammenleben unterstützt wird. »Solange es Herrschaft gibt, ist es ein hoffnungsloses, selbstzerstörerisches Unterfangen, sich als Ich zu begreifen, als eine identische Einheit«.146 Der Anstoß zu Änderungen in diese Richtung muss aber von jedem Einzelnen ausgehen, in dem mehr auf die inneren Empfindungen geachtet und deshalb der Kontrast zwischen den herrschaftlichen Strukturen der Umwelt und den egalitären Strukturen im Inneren als Antrieb für soziale Veränderungen gespürt wird.

Im Grunde hat das im Atembewusstsein gründende egalitäre Verhältnis zu sich selbst nichts mehr mit dem ideologischen bürgerlichen Begriff des Individuums zu tun, der eine Autonomie unterstellt, die nicht gelebt werden kann. Individualität kann nur als ein utopischer Begriff festgehalten werden. Er enthält die Vorstellung, dass ein lustvoller Ausgleich der Interessen des eigenen Körpers und der Gesellschaft möglich sei. Als soziales Wesen hat das Tier Mensch seine Unmittelbarkeit verloren und kann nur sinnvoll handeln, wenn es ein Selbstverständnis entwickelt, das den sozialen Bedingungen seiner Existenz entspricht. Da der Einzelne im Schnittpunkt von inneren körperlichen und äußeren gesellschaftlichen Anforderungen steht, hängt sein Lebensgefühl davon ab, wie die beiden Pole miteinander in Kontakt kommen. Befreite Individualität würde bedeuten, dass eine individuelle Balance ohne äußeren Zwang zustandekommen kann. Das Ich entfaltet sich zum Atem-Ich, da die Balance nur gelingt, wenn man sich seines Atems und damit seiner Emotionen bewusst ist.

Im freien Kontakt zu anderen Menschen wird erfahren, dass bei aller individuellen Einzigartigkeit alle Menschen hinsichtlich der Qualität ihrer Strebungen und Bedürfnisse gleich sind. »Je tiefer ich meine eigene oder die einzigartige Individualität eines anderen erfahre, umso klarer sehe ich durch mich und ihn hindurch die Realität des universellen Menschen, frei von allen individuellen Qualitäten«.147 Individualität ist real und zugleich Schein; sie ist die Einheit von Identität und Nicht-Identität. Die paradoxale Struktur des Individuums ist Ausdruck davon, dass jeder Einzelne bei aller Individualisierung stets~

auch ein Gattungswesen ist. Als Gattungswesen vertritt er die auf Reproduktion angelegte Natur, die der Erhaltung des Gattungswesens absoluten Vorrang vor der Erhaltung des Einzelwesens einräumt.

Im nächsten Kapitel soll der Frage nachgegangen werden, wie es möglich ist, durch ein rezeptives Verhältnis zu sich selbst Verhaltensveränderungen auszulösen. Bei der Darstellung der Gefühle und der Sprache wurde auf ihre magischen Wurzeln hingewiesen. Es wird zu zeigen sein, dass das magische Verhältnis zu sich selbst ein Grundmuster jeder Verhaltensveränderung ist und dass dies durch das reflexive Verhältnis des Atems zu sich selbst möglich geworden ist.

7. Atemmagie und Selbstbeeinflussung

Der gemeinsame Nenner aller psychischen Störungen ist Selbstabwertung und Selbstnegierung. Was normalerweise mit Verdrängung bezeichnet wird, bedeutet psychodynamisch ein Nicht-Wahrhaben-Wollen, ein Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen, also eine Negation von Teilen des Organismus. Daraus wird im populärwissenschaftlichen Verständnis die Empfehlung abgeleitet, dass man sich selbst bejahen müsse. Es wird suggeriert, dass der erste Schritt zur Heilung darin bestehen würde, die Krankheit und damit sich selbst zu akzeptieren. Überhaupt könne man andere nur lieben, wenn man sich selbst liebt, d.h. sich selbst bejaht. Selbstbejahung wird damit zum Königsweg der Selbstheilung.

Das Prinzip der Selbstbejahung wird zur Ideologie, wenn unterstellt wird, dass dies eine Aufgabe sei, die aus Einsicht und mit freiem Willen zu leisten ist. Selbstbejahung von denjenigen zu fordern, die sich unbewusst verneinen, ist aber genauso eine paradoxe und unlösbare Aufgabe wie mit Willensanstrengung spontan zu sein. Entweder ist Selbstbejahung etwas Selbstverständliches oder ihr Mangel ist ein Symptom für eine tiefe Störung im Kontakt mit sich selbst. Selbstbejahung muss als Zeichen für einen gelungenen offenen Dialog mit sich selbst verstanden werden, in dem nichts abgespalten und abgewertet zu werden braucht. Selbstbejahung stellt sich von selbst ein, wenn die Gefühle zugelassen werden und ein lebendiger Kontakt zur Realität hergestellt wird.

7.1. Magie und Kommunikation

Die Analyse des emotionalen Prozesses der Verständigung hat gezeigt, dass jede Kommunikation letztlich ein magisches Element enthält. Artikulierte Gefühle stellen körperliche Schwingungsmuster dar, die bei anderen Menschen eine Resonanz erzeugen. Gefühle wirken auf den anderen ein, weil er sich spontan darauf einschwingt. Auch das gesprochene Wort kann suggestiv~

auf andere einwirken und sie beeinflussen, weil es die Kraft hat, die Gefühle anzusprechen. Die Erfahrung, dass mit der Darstellung eines Gefühls beim anderen ohne direkte Beeinflussung eine Wirkung erzielt werden kann, hat zur Entfaltung der Magie geführt. Alle Magie geht ursprünglich von der Erfahrung der Suggestivkraft der Gefühle aus. Wenn diese Erfahrungen auf die äußere Natur übertragen werden, wird von ihr erwartet, dass sie sich ebenso wie andere Menschen verhält.

Kamper hebt hervor, dass die magische Mimesis nichts mit Nachahmung zu tun hat. Sie ist ein Produkt der Phantasie, die etwas Neues schafft.148 »Dieser urtümliche Mensch beeinflusst mit einem Wort seine Umwelt nicht allein technisch durch die Erfindung und Anwendung von geeigneten Werkzeugen und Handlichkeiten, sondern er beeinflusst sie magisch durch den unwiderstehlichen Zauber der ‚Ahmung«. Nicht dass er nachahmt!... Sondern er ahmt vor! Er schauspielert und stellt dar. Er drückt magisch aus, was er von der urhebenden natura naturans erhofft und erwartet, und er drückt es mit der höchsten ihm möglichen Drastik aus«.149 Allerdings gelingt die magische Beeinflussung nur, wenn man in dem subjektiven Ausdruck völlig aufgeht, der Ausdruck also identisch wird mit den inneren Prozessen. Es ist richtig, den Aspekt der aktiven Gestaltung in der Magie hervorzuheben. Es darf aber nicht vernachlässigt werden, dass ihr die Erfahrung vorausgeht, wie bei spontanen emotionalen Prozessen Wirkungen erzielt werden, so dass es naheliegt, diese Wirkung durch die gezielte Nachahmung solcher Prozesse absichtlich herbeizuführen.

Aus der Sicht der Magie der Gefühle ist ein Verständnis der Therapie, die ihr Ziel in der Veränderung der bisherigen Vorstellungsbilder von der Realität sieht, zu eng. Es reicht nicht aus, die Generalisierungen, Verzerrungen und Tilgungen im bisherigen Wahrnehmungsmodell zu beseitigen, um dadurch das Ich zu erweitern. Die persönlichen Konflikte sind zweifellos Folge einer verengten Realitätssicht, die keine ausreichenden Handlungsalternativen zulässt. Es darf aber nicht übersehen werden, dass die beschränkte Wahrnehmung immer auch durch Blockierungen der emotionalen Atemmotilität bedingt ist und dass die Wahrnehmungsveränderung allein noch nicht ausreicht, diese Blockierungen aufzulösen.

Wahrscheinlich erfolgen therapeutische Wirkungen erst dann, wenn in der~

entspannten therapeutischen Situation die muskulären Blockierungen der Atmung aufgebrochen werden, so dass die krankmachende Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten bewusst wird. Es können dann alternative Handlungsmöglichkeiten ins Blickfeld treten. Sie basieren darauf, dass der Organismus sich an frühere Muster eines angstfreien, nichtkontrollierenden Zugangs zur Realität erinnert. Der Organismus greift damit auf frühere Interaktionsmuster zurück, in denen das Verhalten zufriedenstellend abgelaufen ist. Wesentlich ist also, dass die Veränderungen nicht primär auf der Ebene der Vorstellungen, sondern auf der den Vorstellungen zugrundeliegenden emotionalen Atemmuster erfolgen und dass jede Veränderung prinzipiell darin besteht, dass sich der Organismus in Problemlagen mit früheren Formen der Problemlösung konfrontiert. Kreativität der Problemlösung besteht also nicht in der Schaffung von neuen Antworten, sondern in der Anwendung von früheren Lösungsmustern auf die gegenwärtige Situation.

Im Grunde verhält sich der Organismus bei allen Veränderungen entsprechend dem magischen Modell. Es wird eine bestimmte Atemform simuliert, von der erfahren wurde, dass dadurch bestimmte Wirkungen eintreten. Indem frühere Atemmuster nachgeahmt werden, wird erwartet, dass das Verhalten sich danach richtet. Dabei ist das Verhältnis zum Atem stets von der magischen Hoffnung begleitet, dass der bewusste Eingriff zum Erfolg führen wird und schließt deshalb die Angst vor dem Misslingen nicht aus. Es ist ein Verhältnis des »als ob«, da die Atemmuster so nachgeahmt werden, als ob sie jetzt spontan entstanden wären. Der imitative Charakter kann deshalb leicht übersehen werden.

Um ein instrumentelles, manipulatives Verhältnis zum Atem zu vermeiden, kommt es darauf an, sich dem Atem in der Haltung zu nähern, dass er eine fremde Kraft ist, die nicht direkt beeinflussbar ist. Wenn man den Atem nachahmt, um ihn auf diese Weise zu einem bestimmten Verhalten anzuregen, entspricht dies der ursprünglichen Erfahrung des Atems als einem eigenständigen, nicht verfügbaren Bestandteil der inneren Natur. Nur wenn die Eigenständigkeit der Atmung respektiert wird, kann der Atem seine vegetative Eigendynamik entfalten. Zu Recht wird deshalb empfohlen, den Atem geschehen zu lassen. Gelassenheit zeigt sich daran, dass der Atem als selbstverständlicher Teil des Bewusstsein präsent ist und seine unterschiedlichen Erscheinungen als Hinweis auf den aktuellen emotionalen Zustandes gewertet werden.

Jede aktive Selbstbeeinflussung besteht also darin, dass versucht wird, bei einem psychischen Ungleichgewicht den Atem durch den Rückgriff auf frühere Muster zu stabilisieren. Es kann gelernt werden, in bestimmten Situationen ein als günstig erfahrenes Atemmuster zu verwenden. Zu Recht wird empfohlen~

, in kritischen Situationen tief in den Bauch zu atmen. Die tantrischen Atemrituale für den sexuellen Kontakt sind ein anderes Beispiel.150 Imgrunde ist jedes Gefühl eine Selbstbeeinflussung, bei der frühere Reaktionsformen nachgeahmt werden. Es besteht deshalb jederzeit die Möglichkeit, andere Atemmuster zu wählen, wenn das aktuell gewählte Muster nicht der Situation angepasst ist. Sobald die Selbstregulation der Atmung wieder funktioniert, wird die bewusste Steuerung überflüssig.

Die bewusste Atemmagie löst den Atem aus seinem naturwüchsigen Verband heraus und macht ihn zu einem Medium der kulturellen Gestaltung. Die Selbstorganisation der Atmung wird durch bewusste Eingriffe nicht aufgehoben, sondern erweitert. Während das magische Verhältnis zur Umwelt ein Produkt der Personalisierung der Umwelt war und zu Recht vom Rationalismus kritisiert wurde, entspricht das magische Verhältnis zum Atem dessen innerer Struktur, vorausgesetzt natürlich, dass der Atem selbst nicht als die Stimme Gottes personalisiert oder als Mittel, um uns Gott näherzubringen, spiritualistisch überhöht wird.151 Es entspricht der Selbstorganisation der Atmung, da sie ein reflexives, d.h. bewusstes dialogisches Verhältnis zu sich selbst einnehmen kann.

Im Grunde nutzen die Methoden des Autogenen Trainings, des Positiven Denkens und verschiedener Atemlehren die magische Struktur der Atmung, wenn sie mit sprachlichen Formen auf physiologische und psychische Prozesse Einfluss zu nehmen versuchen. Diese Sprachformeln können wirksam sein, wenn sie bestimmte Atemmuster enthalten, die den Organismus zur Umschaltung des Verhaltens anregen. Denn mit den stimmlos gesprochenen Formeln wie z.B. »Schmerz gleichgültig«, »Ich schaffe es«, »Alles prägt sich von selbst ein«, »Herz ganz warm« oder »Es atmet mich« u. a. wird eine feste Verbindung zu psychophysischen Prozessen hergestellt, so dass durch sie jederzeit bestimmte physiologische Muster aktiviert werden können. »Bist du müde und erschöpft von dem Kummer und den Sorgen deines belasteten Lebens, dann versuche deinen Körper vollständig zu entspannen und mit einem Stoßseufzer atme aus: »Mein Gott, ich bin dieser Welt und ihrer Lasten müde.« Mit dem nächsten Einatmen ziehe eine Menge köstlicher Luft ein und seufze leise »Ich bin das All im All«, und sofort fühlst du dich in deinem verzagten Herzen erleichtert«.152 Viele Therapeuten benutzen die Heilwirkung affirmativer~

Sätze, ohne dass der explizite Bezug zum Atem hergestellt wird. So empfiehlt z.B. Rosenberg, eine Reihe von Sätzen als »Botschaften der Guten Mutter« auswendig zu lernen, wie z.B. »Ich liebe Dich, wie du bist, und nicht das, was du tust». Wenn man die Sätze in Konflikten zu sich selbst sagt, wirkt dies so, als würde man gegenüber dem inneren Kind in sich die Rolle der guten Mutter einnehmen.153

Bei diesen Methoden wird die Sprache gezielt als Teil der körperlichen Selbstregulation eingesetzt. Die sprachlichen Vorsätze werden so eng mit einem bestimmten Verhalten verbunden, dass sie gleichsam die Form eines bedingten Reflexes annehmen. Sprache hat dabei die doppelte Funktion, dass sie einerseits die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Körpervorgang fokussiert, damit freiflutende Gedanken verscheucht und Entspannungswirkungen erzielt werden und dass andererseits durch sie ein konkretes Gefühlsmuster in Erinnerung gebracht werden kann. Diese beiden Funktionen werden durch die Formelhaftigkeit der Sprache und ihre rhythmische Verbindung mit dem Ausatmen erleichtert. Sie können dann Prozesse auslösen, mit denen sich der Organismus von überschüssiger, angestauter Spannung entlädt (Zittern, Vibrieren, Taubheit, Darmperistaltik u. a.). Die Sprachformeln stellen so eine gezielte, absichtliche Autosuggestion dar.154 Jede Formel ist wie eine direkte körperliche Berührung. Die durch sie ausgelösten inneren Bewegungen beleben die Atmung. Die verstärkte Atmung führt zu Berührungsempfindungen der Luft mit den Schleimhäuten im Rachenraum und Druckempfindungen im Unterleib durch den verstärkten Hub des Zwerchfells und aktiviert damit das Atembewusstsein.

Die sprachlichen Formeln stellen ein Gegengewicht gegenüber den negativen inneren Stimmen dar. Durch häufige Wiederholung sollen die Formeln die gleiche unbewusste Wirksamkeit erhalten wie die aus der Vergangenheit übernommen Befehle der inneren Stimmen. Sie sind Versuche, Teilbereiche des Verhaltens mit bewusst gewählten Ritualen, in denen eine Kombination von Sprache und Verhaltensformen hergestellt wird, neu zu prägen. Solche Rituale sind Ausdruck des Versuchs, zur Selbstbejahung zurückzufinden. Sie haben ihr gemeinsames Ziel darin, die eigenen Widerstände aufzuheben, die einen offenen Kontakt zur Realität und zu sich selbst einschränken.~

Es ist ein verbreitetes Missverständnis, dass die Affirmationen als solche wirken. Dieses Missverständnis wird durch die problematische Vorstellung nahegelegt, dass das Unbewusste wie eine Datenverarbeitungsmaschine programmiert werden könne. Dazu trägt auch bei, dass das Autogene Training und das Positive Denken mit standardisierten, von außen vorgegebenen Affirmationen arbeiten. Da diese aber nicht aus der subjektiven Erfahrung alternativer Körpergefühle entstanden sind, besteht das Problem, dass sie erst mühsam mit subjektiven Erfahrungen aufgefüllt werden müssen. Wenn dieser Prozess unterbleibt oder nur rudimentär erfolgt, behalten die Formeln einen äußerlichen Charakter, der die Fremdbestimmung eher erhöht als abbaut.

Die Formeln können nur wirksam werden, wenn sie der Schlusspunkt eines inneren Dialoges und emotionalen Erfahrungsprozesses sind, mit denen die Ergebnisse fixiert werden. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die sprachlichen Botschaften für sich selbst frei gewählt werden, damit sie einen Zusammenhang mit den Gefühlen herstellen können. Sie haben eine typische Struktur. Mit den Formeln »Ich habe das Recht, dass ...« oder »Ich gebe mir die Erlaubnis, ....« wird der Organismus darauf eingestellt, zu seinen eigenen Impulsen zu stehen, sich selbst anzunehmen und sich in die inneren Prozesse einzumischen. Einmal gewählt sollten sie aber immer in der gleichen Form gewählt werden. Es ist deshalb empfehlenswert, sie sich aufzuschreiben.

Die durch Sprachformeln unterstützte bewusste Atemmagie ist der Keim zur Entwicklung subjektiver Autonomie. Die Sprache gewinnt die Potenz zurück, Leiden auszudrücken und zu beeinflussen. Sie hört auf, vom Körper losgelöst zu sein und als etwas Abstraktes und Entfremdetes scheinbar ein Eigenleben zu führen. Durch die magische Sprache wird insgesamt die Verfügung über sich selbst verbessert, da die körperlichen Prozesse gestaltbar werden. Freilich sind ihre Grenzen dadurch vorgezeichnet, dass die alten »Programme« der inneren Stimmen solange nicht aufgehoben werden können, wie sie für die Bewältigung von Schmerzen benötigt werden. Wenn aber die neuen Rituale mit positiven körperlichen Erfahrungen verbunden sind und intensiv genug wiederholt werden, können sie gleichwohl das innere Gleichgewicht neu stabilisieren, da sie neue Lusterfahrungen mobilisieren.

Im magischen Verhältnis zum Atem wird die Entzauberung, die seit der Aufklärung im 18.Jh. mit ihrer Verklärung des Ichs auf halbem Wege stehen geblieben ist, zum konsequenten Ende geführt. Alle Vorstellungen von äußeren Kräften, einschließlich des Glaubens an magische Psychotherapeuten werden als Projektionen durchschaut. Die Atemmagie macht bewusst, dass auch das »autonome Ich« nichts anderes als eine nach innen gekehrte magische Kraft ist, die gegenüber den inneren körperlichen Prozessen wie eine äußere Kraft wirken soll.~

Ältere Kulturen haben heilige Räume geschaffen, die es dem Kranken erleichtern sollen, ihre Gefühle loszulassen. In der Sphäre des absoluten Schutzes und des Vertrauens können die Verbindungen zum Alltag abgebrochen werden, die den Einzelnen mit Schuldgefühlen und Strafandrohungen an seine Gewohnheiten und Ängste binden. In dem heiligen Schutzraum werden praktisch die Bedingungen aufgehoben, die den Einzelnen zwingen, an seinen das Leiden verursachenden Vorstellungen und Reaktionsmustern festzuhalten. Die Angst schwindet, für sein Verhalten verurteilt zu werden. Er kann sich seinen inneren Empfindungen öffnen und sich von seinen Verspannungen und Ängsten befreien. Wenn die Fixierung der inneren Vorstellungen an bestimmte konkrete Situationen durchschnitten wird, wird die Möglichkeit geschaffen, die Erinnerung an früher gewählte, erfolgreichere Verhaltensmuster zu aktivieren. Das war der Sinn aller Sanktuarien. Auch die Schamanen nutzten die vorübergehende Isolierung des Kranken im meist mehrere Tage dauernden Ritual, um die Besinnung auf sich selbst herzustellen. Auch in der Meditation wird gleichsam ein symbolischer Schutzraum betreten, in dem man Vertrauen zu sich selbst finden kann. Ebenso arbeiten die Visualisierungstechniken mit dem privaten Lieblingsraum, wo man sich jederzeit zur Regeneration zurückziehen kann. Die Aufgabe des heiligen Schutzraumes, den Druck der Umwelt abzufangen, kann auch durch die bewusste Pflege des inneren Dialoges oder im Rahmen einer Psychotherapie gelingen.

7.2. Bestandsaufnahme der negativen inneren Stimmen

Die gegenwärtige Gesellschaft ist durch einen absoluten Mangel an gesellschaftlich anerkannten Ritualen für Entspannung, für kreative Muße, für die Entfaltung der Sinnlichkeit und Ekstase, die Entwicklung von Selbstgewahrsam u. a. gekennzeichnet. Dieser Mangel muss durch private Rituale kompensiert werden. Es ist Aufgabe der Phantasie, für die rezeptive Haltung zu sich selbst und zur Umwelt geeignete Rituale zu erfinden, die durch Sprachformeln abgesichert werden. Den Weg dazu zeigen verschiedene Psychotherapien, die bewusst oder unbewusst die Sprache dazu einsetzen, einerseits die Umschaltung in vegetativen Prozesse der Entspannung, Ekstase u. a. zu fördern und andererseits das Sich-Einfühlen, Sich-Öffnen, die Bewusstseinserweiterung u. a. zu unterstützen (Autogenes Training, Neuro-Linguistisches Programmieren u. a.).

Da in einer repressiven Gesellschaft das Hauptgewicht der inneren Entscheidungen darin liegt, sich am aktiven Handeln und aktiven Gefühlsausdruck zu~

hindern und den möglichen Einfluss auf andere Menschen zu beschränken, muss ein wesentlicher Teil der neuen Rituale für den Umgang mit sich selbst darin bestehen, die negativen inneren Stimmen, die mit ihren negativen Botschaften im Hintergrund des Bewusstseins ständig die Selbstverneinung erneuern, zu identifizieren und einen anderen Umgang mit ihnen einzunehmen. Die negativen inneren Stimmen sind praktisch »schwarze Magie«, mit der man sich ständig negativ beeinflusst.

Sich selbst annehmen verlangt ein konkretes Bewusstsein darüber, mit welchen Vorstellungen man sich selbst negiert. Die zentrale Frage, »Wie gehe ich mit mir um?«, muss in erster Linie dahingehend beantwortet werden, inwieweit ich in feindseligem, selbstzerstörerischem Ton mit mir rede. Im konkreten Verhalten bedeutet dies zu spüren, wie der Kontakt zur Umwelt eingeschränkt wird, so dass sich kein lebhaftes Interesse an der Umwelt entwickeln kann. Selbstnegation lässt sich deshalb stets am Mangel an Interessen ablesen. Die Selbstnegation kann nur überwunden werden, wenn man sich das eigene Desinteresse an der Umwelt und an anderen Menschen eingestehen kann und ein klares Bewusstsein für die Abhängigkeiten von anderen Menschen entwikkelt.

Die Bestandsaufnahme der negativen inneren Stimmen beginnt damit, dass man sich vergangene Situationen vergegenwärtigt und ganz bewusst darauf achtet, welche Stimmen sich zu Wort melden und welche Botschaften sie übermitteln. Dieses Vorgehen entspricht der von C.G. Jung vorgeschlagenen Methode der aktiven Imagination, bei der nach einem Anfangsimpuls den Bildern und Stimmen freier Lauf gelassen wird, aber hin und wieder durch aktives Mittun geklärt wird, was die Bilder und inneren Stimmen genau sagen wollen. Wichtig ist, dass die sonstige Sprunghaftigkeit des inneren Bewusstseinsstromes unterbunden wird und die inneren Vorstellungen sich konkretisieren können. Es wird die Bereitschaft verlangt, den inneren Stimmen uneingeschränktes Gehör zu schenken. Insbesondere muss man sich darauf einstellen, dass die inneren Stimmen primär etwas Negatives aussprechen.

Wenn wiederholt auf diese Weise Situationen vergegenwärtigt werden, fällt ein bestimmtes Muster der inneren Stimmen auf. Es fällt relativ leicht, den inneren Stimmen visualisierte Personen mit einem bestimmten Charakter zuzuordnen und ihnen einen Namen zu geben: der Alleswisser, der Leistungsantreiber, der Nörgler, der maßlose Übertreiber, der Unheilverkünder, der Oberkritiker, der Tyrann, der Angstmacher u. a.155 Ebenso muss man sich fragen,~

welche konkreten Personen aus der Vergangenheit und Gegenwart sich dahinter verbergen. Sobald die inneren Stimmen personalisiert worden sind, kann gefragt werden, ob sie eine nützliche Botschaft enthalten. Im inneren Dialog sind die übrigen Forderungen und Befehle der inneren »Bösewichter« zurückzuweisen. Es ist ihnen unmissverständlich klar zu machen, dass die Vergangenheit vorbei ist und dass sie kein Recht haben, sich einzumischen. Man braucht nicht so weit zu gehen wie Mary Goulding, die vorschlägt, dass man sich die inneren Bösewichter als Puppen vorstellt, die man in einer Truhe oder als Tiere in einem Zoo einsperrt. Entscheidend ist, dass durch die Visualisierung der inneren Stimmen sie zum Bestandteil des bewussten inneren Dialoges gemacht werden und ihre Forderungen abgelehnt werden können. Damit kann die Selbstsabotage mit Hilfe der inneren Stimmen durchschaut werden und ein Bereich der inneren Selbstorganisation, der dem absichtlichen inneren Dialog entzogen wurde, wieder in die Selbstverfügung zurückgeholt werden.

Vor allem gegenüber den Krankheiten müssen neue Rituale entwickelt werden. Wenn Krankheiten Ausdruck innerer Selbstnegation sind, müssen sich die Rituale vor allem darauf beziehen, dass das Negative zur Kenntnis genommen wird, das in ihnen zum Ausdruck kommt. Krankheit ist mehr als eine Information des Organismus darüber, dass etwas nicht stimmt. Ihre eigentliche Botschaft besteht darin, dass man sich weigert, bestimmte Eigenschaften, die im Widerspruch zum Selbstbild stehen und negativ abgewertet werden, zur Kenntnis zu nehmen. Krankheiten stellen besondere Anforderungen an den kritischen Selbstdialog, da sie gerade anzeigen, dass der innere Dialog völlig versagt hat. Die Krankheit gibt ihre Botschaft erst preis, wenn man zu erkennen gibt, dass man bereit ist, die früheren Selbsttäuschungen aufzugeben und das zu lernen, was man bisher vernachlässigt hat. Krankheit verlangt eine Rechenschaft darüber, welche inneren Stimmen nach wie vor ihr Unheil treiben und die Selbstbestimmung sabotieren und warum man nicht bereit ist, sie zu »verjagen«, d.h. immer noch auf ihre Hilfe angewiesen ist.

Krankheiten können wahrscheinlich in dem Maße akzeptiert werden, wie die eigenen Negationen als selbstgewählte Abhängigkeiten begriffen werden. Jede Selbstnegation ist Verzicht auf Lebendigkeit, um sich anderen Menschen unterordnen zu können. Da man unter dem Druck der Abhängigkeiten krank wird, bedeutet das Akzeptieren der Krankheit die paradoxe Forderung, auf volle Gesundheit zu verzichten. Solange man an Therapieversprechen fixiert ist, sieht man sich als Opfer der Krankheit und ist nicht imstande, die akute Bedeutung der Krankheit für die eigene psychische Entwicklung und die eigene Beteiligung daran zur Kenntnis zu nehmen. Man klammert sich an die magische Hoffnung, dass sich die Gesundheit einstellen wird, wenn man~

gewissenhaft die Therapievorschriften einhält. Wahrscheinlich finden die meisten Spontanheilungen deshalb statt, weil die Selbstnegation nicht mehr benötigt wird. Wenn aber die Krankheit anhält, ist dies ein Zeichen dafür, dass die Selbstnegation weiterhin für notwendig gehalten wird. Es bleibt dann kein anderer Weg, als den Dialog, der immer schon im Hintergrund des Bewusstseins abläuft, mit Bewusstsein zu verfolgen, ihn zu gestalten und insbesondere den negativen Stimmen mehr Aufmerksamkeit zuzuwenden. Wahrscheinlich erwächst die Kraft, ihre negativen Botschaften zu akzeptieren, aus dem Gespräch selbst. Der Mut gegenüber sich selbst nimmt in dem Maße zu, wie erfahren wird, wie viel an Wahrheit man immer noch ertragen kann. In dem inneren Dialog ist auch zu prüfen, was man tun kann, um die Situation angenehmer zu machen, damit man besser mit der Krankheit leben kann. Solange die Erwartung besteht, dass das Leben erst weiter geht, wenn man die Krankheit überwunden hat, versäumt man, auch das Leben im gegenwärtigen Zeitpunkt der Krankheit so weit wie möglich zu genießen.

7.3. Atem und Selbstbejahung

Sich selbst bejahen ist identisch mit der Fähigkeit, ohne Angst seine Gefühle ausdrücken zu können. Ich kann mich selbst annehmen, weil der Organismus identisch mit seinen Impulsen ist. Die Fähigkeit des Sich-selbst-Annehmens entwickelt sich, wenn der natürliche Rhythmus von Kontakt und Rückzug, Verschmelzung und Abgrenzung, Identifikation und Autonomie von der Umwelt zugelassen wird. Die Gefühle können sich störungsfrei entfalten, wenn von den Bezugspersonen sowohl die Gefühle der Nähe als auch der Trennung akzeptiert werden können. In diesem Prozess kann das Kind erfahren, dass die Befriedigung seiner Wünsche von seinen eigenen Signalen abhängig ist, die es mit seinen emotionalen Ausdrucksbewegungen und mit seiner Stimme aussendet. Diese Erfahrung ist die Voraussetzung dafür, ein Gefühl für die eigene Macht zu bekommen. Die uneingeschränkte Akzeptanz der eigenen Gefühle und des Begehrens schafft die Basis dafür, dass es dem Kind später gelingen wird, sich von den Gefühlen der anderen abzugrenzen.

Die erste Probe auf die Fähigkeit der Umwelt, die emotionalen Bedürfnisse des Kindes zuzulassen, erfolgt beim Saugen. Für den Säugling ist das Saugen mehr als bloße Nahrungsaufnahme. Er ist gleichzeitig Ausdruck seines Bedürfnisses nach Nähe, Kontakt und Geborgenheit. Wenn die Mutter auf die Saugimpulse mechanisch in einem festen Zeitrhythmus und ohne Einfühlung reagiert, verletzt sie diese organismischen Bedürfnisse und legt damit zugleich~

den Keim für einen gestörten Dialog des Kindes mit sich und der Umwelt. Säuglinge, deren Kontaktbedürfnisse noch nicht befriedigt sind, nuckeln weiter, obwohl sie längst gesättigt sind. Im Saugen kann die pränatale Einheit mit der Mutter wiederhergestellt werden. Über die Wahrnehmung ihres Atems, ihres Geruchs, der Wärme ihrer Haut und wahrscheinlich auch ihres Energiefeldes 156 kann eine Resonanz mit ihr erfahren werden, die ein tiefes Bedürfnis nach Aufgehobensein und Verbundenheit erfüllt.

Das Schicksal des Saugreflexes bestimmt nachhaltig das der Atmung. Saugen und Atmen sind ursprünglich eng miteinander gekoppelt. Beim Saugen der Nahrung wird gleichzeitig die Luft in die Lunge eingesaugt. Wenn das Saugen beeinträchtigt wird, verliert auch der Atem an Kraft. Kinder, die nicht kräftig saugen, haben regelmäßig eine flache Atmung. Wilhelm Reich hat festgestellt, dass ein Patient, dessen Saugimpuls unterdrückt ist, passiv und flach atmet.157 Tiefes Atmen wird wahrscheinlich nur dann zur selbstverständlichen Gewohnheit, wenn die frühen Saugerfahrungen nahrungsmäßig und emotional befriedigend waren. Zu Recht wird häufig darauf hingewiesen, dass der spontane, tiefe Atem einen saugenden Charakter hat. »Bei schlechter Atmung fehlen die Saugbewegungen, und die Entleerung der Lungen ist ein mechanischer Prozess. Ihm fehlt die emotionale Qualität des Verlangens. In diesem Fall atmet man nicht, weil man dies will, sondern weil man es muss. Die meisten Menschen atmen mechanisch, das bedeutet, dass sie den Saugreflex nicht in die mechanische Atembewegung einbeziehen können. Der Saugreflex enthält die innere pulsatorische Bewegung, die das Atmen zu einem lustvollen Erlebnis macht. Ohne den Saugreflex wird das Atmen zu einer mechanischen Funktion des Ausdehnens und Zusammenziehens des Brustkorbes und der Muskulatur der Brust, des Kehlkopfes und des Mundes. Das Gefühl fließender Lust im Körper fehlt.158 Der saugende Atem stützt sich auf die entspannte Mundhöhle, die sich weit und offen anfühlt und den dadurch kräftig stimulierten Zwerchfellmuskel. Dabei kann die visualisierte Vorstellung, entspannt an der Brust der Mutter zu liegen, sehr stimulierend wirken.

Rene Spitz vertritt die Auffassung, dass die Mundhöhle als die ursprüngliche Brücke zwischen der inneren Rezeption zur äußeren Wahrnehmung dient. »Hinsichtlich der Wahrnehmung stellt die Mundhöhle sowohl ein Außen als auch ein Innen dar«.159 Die in der Mundhöhle lokalisierten Reflexe lösen von~

Geburt an das einzige gerichtete, wenn auch nicht intentionale Verhalten aus. Spitz nimmt deshalb an, dass die Mundhöhle auch bei der Bildung des Körper-Ichs eine wichtige Funktion hat. Wegen der ursprünglichen Bedeutung für die Erfahrung von Entspannung bleibt der Mund zeitlebens das wichtigste Organ für die Spannungsabfuhr.

Für das Schicksal der Atmung ist wichtig, wie viel Hautkontakt erfahren wurde. Berühren und Berührtwerden gehören zu den elementarsten Kontakterfahrungen. In den Anfängen der psychosozialen Entwicklung ist jeder Kontakt mit Berührung verbunden. Jeder Kontakt ist zugleich mit der körperlichen Erfahrung verbunden, wie die pulsierende und wärmende Berührung ekstatische Gefühle hervorruft. Diese hängen damit zusammen, dass die Berührung ein Gefühl der Einheit schafft, in dem Verspannungen aufgelöst werden können und der Atem wieder frei strömen kann. Die Verbindung zwischen Berührung und Atembelebung ist so tief, dass auch bei Berührungen im übertragenen Sinn dieser Mechanismus wirksam ist. So ist jede intensive Betrachtung, jedes genaue Hinhören und jedes Erkenntnisinteresse davon geleitet, die innige Berührung wiederzufinden, die der Hautkontakt bieten kann. Im gelösten Atem hat man ein untrügliches Zeichen, ob die Berührung gelungen ist. Man ist überhaupt erst mit etwas in Berührung gekommen, wenn der Atem reagiert. Dinge und Personen sind gleichgültig, wenn man nichts an ihnen spüren kann, was den eigenen Atem belebend anspricht. Zurecht wird von Begeisterung gesprochen, wenn man von etwas stark berührt wird: Geist und Atem beleben sich.

Jede Berührung wird auch als Berührtwerden erlebt, weil den stimulierenden Dingen oder Personen ganz selbstverständlich eine eigene Anziehungskraft unterstellt wird. Dahinter verbirgt sich die spontane Leistung des Organismus, allem was für das Überleben wichtig ist, eine besondere Bedeutung zu verleihen. Für die Belebung der Atemtätigkeit ergibt sich daraus, dass ein tiefer Atem nur zustandekommt, wenn ein lebhaftes Interesse an der Umwelt vorhanden ist. Bei der Wahrnehmung kann ich spüren, dass das Interesse bewusst dadurch stimuliert werden kann, wenn ich etwas konzentriert betrachte und dabei so tue, als würde ich es einatmen. Dabei wird dem Objekt bewusst eine Bedeutung gegeben, die eine Berührung möglich macht. Es ist deshalb eine kurzweilige Übung, beliebigen Einzelheiten in der Umwelt solange Aufmerksamkeit zu schenken, bis in der Atmung eine Rückmeldung erfolgt. Dabei kann es nützlich sein, die mit dem Objekt verbundenen inneren Bilder solange zu verändern, bis ein persönliches Interesse gespürt wird.

Passive Berührung ist die Basis der eigenen Körpererfahrungen. Die Berührungen des Körpers von außen sind beim Säugling die ersten Erfahrungen der~

eigenen körperlichen Wirklichkeit. Durch die Berührung von außen werden die eigenen Bedürfnisse und der eigene Körper erfahren. Das Bedürfnis nach Hautkontakt wird erst bewusst, wenn es im passiven Berührungskontakt erfahren wurde. Man erfährt so seine eigene Lebendigkeit durch die Berührung durch andere. Im Wunsch nach Kontakt wird versucht, die Erfahrung der Umschlossenheit im Uterus festzuhalten und in der sozialen Lebenswelt trotz körperlicher Trennung ständig neu zu beleben. Alle später erlernten Bedürfnisse werden dadurch geprägt, wie das ursprüngliche taktile Bedürfnis befriedigt wurde und wie die Mangelerfahrungen verarbeitet wurden. Selbstvertrauen zu den eigenen Körperempfindungen stellt sich nur ein, wenn die ersten Berührungsbedürfnisse uneingeschränkt anerkannt werden. Sicherheit, Zuneigung und Verbundenheit sind erst völlig gewiss, wenn sie durch körperliche Berührung bestätigt werden. Das Gefühl der Identität stützt sich auf die Berührung, da man sich seiner Grenzen nur durch den direkten Körperkontakt sicher werden kann.

Das Nähebedürfnis des Kontakts kann seine Versagung nicht verkraften, da es als absolute, lebensbedrohende Verneinung erfahren wird, die durch andere Mechanismen nicht kompensiert werden kann. Viele Krankheiten wie Asthma, Neurodermitis, Allergien, Ekzeme und Verdauungsstörungen können die Folge sein. Ein unzureichendes taktiles Erleben stellt eine Behinderung der physischen Entwicklung dar, da es verhindert, mit sich selbst in Kontakt zu kommen. Jedes Kontaktbedürfnis ist letztlich ein Bedürfnis nach Berührung. Deshalb verlangt der soziale Kontakt zumindest den Blickkontakt.

Bei Kleinkindern führt ein Mangel an Hautkontakt zu Störungen der Atemfunktion. Die Atmung wird flach und der obere Respirationstrakt und die Lunge neigen zu Erkrankungen wie Asthma. »Aber wie wir sahen, hängt die Entwicklung der Atmungsfunktion in gewissem Maß von der Quantität und Qualität der kutanen Anregung ab, die das Kind erfährt. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Menschen, denen als Kinder eine ungenügende Hautstimulierung zukam, flach atmen und mehr zu Erkrankungen des oberen Respirationstraktes und der Lunge neigen als solche, die eine befriedigende kutane Stimulation erlebten«.160 Umgekehrt führt Schaukeln und Wiegen zu einer besseren Durchatmung und ausgeglichenem Muskeltonus. Dieser Zusammenhang von lebenswichtigen Funktionen ist bei den Säugetieren noch deutlicher sichtbar, bei denen sich viele Funktionen wie z.B. die Verdauung erst durch das Lecken der Mutter entfalten.

Berührungen wirken wahrscheinlich deshalb stimulierend auf die Atmung, weil Berührung die archaische Form ist, mit der der Körper in Austausch mit der Umwelt tritt. ~

Berührung gehört zu den Nähesinnen wie Schmecken und Riechen, für die die Umwelt unmittelbar und distanzlos präsent ist. Durch Berührung findet wahrscheinlich ein Energieausgleich zwischen den beteiligten Zellen statt, der ihre Funktionsfähigkeit und ihr Wachstum fördert.

Die Berührung der Atemmuskeln bringt auch deshalb die Atmung in Gang, weil sie die Wahrnehmung der inneren Bewegungsvorgänge dadurch erleichtert, dass sie die Achtsamkeit auf eine bestimmte Körperzone lenkt. Bereits die bloße Vorstellung der Berührung kann diesen Effekt auslösen. Er tritt ein, weil sich durch die intensive Atmung die am Atemvorgang beteiligten Muskeln innerlich selbst berühren und dadurch verstärkte Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Durch tiefe Atmung kommt man so in Kontakt mit seinem ganzen Körper. Auch periphere Zonen wie die Fußsohlen oder die Kopfhaut werden in die selbstberührende Bewegung einbezogen. Körperliche Selbstbewusstheit ist wahrscheinlich identisch mit der Wahrnehmung der minimalen Bewegungen und Spannungsveränderungen im Atemzyklus.

Der erste Atemzug markiert den Übergang von der fötalen Phase mit dem ozeanischen Gefühl der ekstatischen Verbundenheit zur postnatalen Phase mit seiner Ambivalenz von Trennung und Einheit. Mit dem ersten Atemzug verbindet sich die Erfahrung, wie der Fötus von der Welt aufgenommen wurde. Grelles Licht, laute Geräusche, Kälte, kein Körperkontakt u.ä. können den ersten Moment als sehr schmerzhaft erleben lassen. Der Atem kann insbesondere sehr traumatisch erlebt werden, wenn die Nabelschnur zu früh durchschnitten wird, bevor sich die Atmung stabilisieren konnte.161 Solche Erfahrungen veranlassen den Körper, sich angstvoll zusammenzuziehen. Die Angst verbindet sich nach Überzeugung der Rebirthingtheorie so fest mit der Atmung, dass in jedem späteren Atemzug diese Urängste noch mitschwingen.162

Auch wenn dem Neugeborenen solche Schmerzen erspart bleiben, erfährt er mit der Geburt einerseits einen Kontaktverlust zum mütterlichen Körper und andererseits die Erfahrung des die Trennung aufhebenden, selbständig zu gestaltenden Austausch mit der umgebenden Luft, die rhythmisch in den Körper einströmt und ihn wieder verlässt. Die Aufnahme der eigenen Atmung ist die erste selbständige Tätigkeit nach der Geburt. Mit der Atmung vollzieht das Kind die erste Distanzierung von der Mutter. Der Säugling macht bald die Erfahrung, dass er die Beziehung zur Außenwelt unterschiedlich intensiv~

gestalten kann, indem er mehr oder weniger Luft aufnimmt. Dadurch besitzt der Organismus in der Atmung einen freien Zugang zu sich selbst: er kann entscheiden, ob er sich der Außenwelt öffnet und sie voll in sich aufnimmt, ob er sich der Atemlust öffnet oder sich ihr versperrt. Aufgrund dieser Eigenschaften ist der Atem »von Anfang an mit der Natur über die Natur hinaus«.163

In den frühen Erfahrungen des Zusammenhangs von Hautkontakt und Atem lernt der Organismus, wie bestimmte Gefühle identisch mit bestimmten Formen des Atems sind. Es bildet sich die tiefe Gleichung von bejahten Gefühlen und natürlichem, tiefem und regelmäßigem Atem. Ich vermute, dass das »Ja« seine physiologische Wurzel in der Erfahrung des zugelassenen Atems hat, während das »Nein« auf den angehaltenen Atem zurückgeht. Wenn man im zugelassenen spontanen Atemrhythmus Ja sagen kann, gelingt es auch, sich mit dem Nein des vorübergehend kontrollierten Atems von den Bedürfnissen der anderen abzugrenzen. Wenn die spontanen Erregungen bejaht werden können, kann auch die Erregung der anderen akzeptiert werden, weil sie keine Angst auslöst. Deshalb kann man auch andere wie sich selbst kritisieren. Der Mensch ist das Tier, das nein sagen kann, weil er seinen Atem mit Hilfe der inneren Vorstellungen und der Sprache kontrollieren kann.

Wenn von einem starken Lebenswillen gesprochen wird, kann nur Selbstbejahung gemeint sein, die auf einem sich selbst regulierenden Atem basiert. Es ist deshalb nicht überraschend, dass Menschen mit einem starken Lebenswillen schwere Krankheiten leichter überwinden und schneller genesen, weil sie das Vertrauen in ihre Selbstheilungskräfte bewahren konnten. Der Lebenswille ist aber so wenig eine verfügbare Größe wie die Verantwortung und die Selbstbejahung, da er eine bestimmte psychophysische Gesamtverfassung reflektiert.

Der Einfluss der Bejahung auf die Gesundheit wird deutlicher bei ihrem Gegenteil, der Selbstverneinung. Wenn die inneren Überzeugungen den Inhalt haben, dass man nichts wert sei, dass man ein Versager u.ä. sei, führt dies spontan zur Einschnürung des Atems, die die Leistungsfähigkeit des ganzen Organismus einschließlich der Denkfähigkeit beeinträchtigt. Die negativen Überzeugungen führen so über ihre eigene Bestätigung in einen Teufelskreis, in dem die ständige bewusstseinsmäßige Selbstverneinung ab einem bestimmten Punkt in somatische Selbstzerstörung in Form von Funktionsstörungen umkippen kann.

Wahrscheinlich muss die heilende Wirkung des Handauflegens primär mit dem tiefen Zusammenhang von Hautkontakt, Atemstimulation und vegetativer~

Bejahung erklärt werden. Die unbestreitbare Wirkung der heilenden Hände wird normalerweise damit erklärt, dass es »eine universelle Lebensenergie gibt, die alle lebenden Organismen versorgt. Im Zustand der Gesundheit kann die Lebensenergie frei einströmen, den Organismus durchfließen und ihn wieder verlassen«.164 Bei der Krankheit sei der Energiefluss blockiert, gestört oder geschwächt. Bei der Kontaktheilung nähme der Heiler Kontakt mit dem universellen Energiefeld auf und lenke sie in den Körper des Patienten hinein, um damit die geschwächten Energieströme zu stärken. Zu Recht vermutet John Selby, dass beim Handauflegen nicht der Energiestrom das Entscheidende ist165, sondern die dabei erfahrene emotionale Zuwendung, die an tiefliegende Erinnerungsmuster anknüpft, in denen der Hautkontakt mit Liebe gleichgesetzt wurde. In diesen Erinnerungsspuren ist die entspannende Reaktion des parasympathischen Systems mit der Vertiefung der Atmung und der Stimulierung des Immunsystems zu einer Reaktionseinheit verbunden worden. Der heilende Kontakt knüpft damit an tiefe vegetative Reaktionsmuster an, in der die Selbstheilungskräfte identisch mit den Lebenskräften sind. Der Hautkontakt kann diese Reaktionsmuster relativ leicht stimulieren, da gegenüber dem direkten Hautkontakt in der Regel keine Abwehrmechanismen aufgebaut werden. Dabei muss der Hautkontakt aber die Qualität einer selbstlosen, einfühlsamen Zuwendung haben, so dass in den Schwingungsmustern der Hand die Präsenz des anderen gespürt werden kann.

Das Energiekonzept der heilenden Berührung verdrängt diese emotionalen Zusammenhänge. Es führt zu der Mystifikation der Liebe als dem ausschlaggebenden Faktor für Heilungsprozesse. Liebe könne heilen, weil sie krankmachende Trennungen aufzuheben vermag. Liebe kann diese Wirkung aber nur erzielen, wenn sie die bejahende Kraft der uneingeschränkten mütterlichen Liebe hat. Dies kann bei der heilenden Berührung nur simuliert werden. Sie ist ein magischer Akt, der dem Organismus signalisieren kann, dass seine Ängste unberechtigt sind und er sie loslassen kann. Liebe muss sich in uneingeschränkter, fürsorglicher und berührender Aufmerksamkeit ausdrücken, damit sie das Erfahrungsmuster der mütterlichen Bejahung auslösen kann.

Das Schicksal der Atmung entscheidet über die Intensität des Kontakts zur Welt. Wenn die ersten Versuche gelingen, sich gegenüber der eigenen Atmung aktiv zu verhalten, kann der Kontakt zur Außenwelt dazu genutzt werden, die~

eigenen Fähigkeiten der Kontakt- und Einflussmöglichkeiten zu entwickeln. Wenn umgekehrt der Atem unbewusst eingeschränkt wird und der Kontakt zur Umwelt vermieden wird, entwickelt sich eine negative Spirale der Selbstsabotage, in der die Interessen an der Umwelt unterentwickelt bleiben. Der Organismus kann sich nicht lustvoll ausdehnen und die Wirklichkeit in sich aufnehmen. Die auf der Berührung aufbauenden Körpertherapien zeigen, wie durch Körperkontakt die gestörten Prozesse der Kontaktaufnahme wieder in Gang gebracht werden und dadurch die Voraussetzungen geschaffen werden können, sich selbst anzunehmen. Erst wenn man sich selbst annehmen kann, ist die Potenz vorhanden, durch Rückgriffe auf positive Erfahrungen sich selbst zu beeinflussen.

In einer repressiven Gesellschaft kann Selbstbejahung nur ansatzweise gelingen. Der erste Schritt muss darin bestehen, sich seiner inneren Negationen bewusst zu sein. Dadurch kann mehr innere Distanz geschaffen werden als durch das Programm verkrampfter Ja-Sagerei, das sich das Ja zum Leben gegen besseres Wissen einreden muss. Selbstbejahung muss als utopische Größe festgehalten werden.

In diesem Kapitel sollte deutlich gemacht werden, dass Selbstbejahung sensible und wache Sinne voraussetzt, damit der Kontakt zur Umwelt und sich selbst uneingeschränkt aufgenommen werden kann. Insbesondere muss die innere Realität der scheinbar selbständigen inneren Stimmen zur Kenntnis genommen werden. Da dies die Aktivierung des inneren Hörens verlangt, soll im nächsten Kapitel untersucht werden, wie die gegenwärtig vorherrschende Augendominanz überwunden werden kann.

8. Klang als Paradigma

Das abendländische Individualitätsverständnis legt fest, wie persönliche Konflikte zu verstehen sind und welche Lösungsmuster grundsätzlich möglich sind. Eine psychische Krise tritt nach dem aufgeklärten Verständnis dann ein, wenn der Einzelne die Kraft verloren hat, die körperlichen Impulse mit den objektiven gesellschaftlichen Anforderungen zu vermitteln. So fühlt man sich krank, wenn man die Lebenstätigkeit nicht mehr bewusst regulieren kann und sich das Gefühl der Angst einstellt, von fremden Kräften überwältigt zu werden. Die zur Verfügung stehenden normalen Mittel reichen nicht mehr aus, um die Gefahr, nicht identisch mit sich selbst zu sein und den Kontakt zur Umwelt zu verlieren, zu bannen. »Die Erfahrung, ein handelndes Wesen zu sein, wird vertauscht mit der Erfahrung, von etwas anderem verhandelt zu werden«.166

In der Regel erfolgt die Diagnose, dass das Weltverständnis gestört ist und man der Selbstbeobachtung oder der Hilfe von Experten bedarf, um die subjektiven Verzerrungen, Verallgemeinerungen und Täuschungen im Weltverständnis zu erkennen. Es gehört zu den großen Dogmen des abendländischen Denkens, dass Leiden durch das sprachliche Denken aufgehoben werden könne, da seine Wurzeln in Störungen des symbolischen Weltdeutungssystems liegen, also in dem System der verbalen Sätze, mit denen sich der Einzelne seine Welt zu erklären versucht. Symptom dieses Dogmas war in der Vergangenheit die wahnsinnige Produktion von metaphysischen Gedankengebäuden, die in der Gegenwart durch esoterische und psychotherapeutische Systeme fortgesetzt wird.

Die bisherigen Überlegungen zeigen, dass das verbale Denken mit der Leidensbekämpfung völlig überfordert wird. Zu Recht legen deshalb viele esoterische und körpertherapeutische Schulen Wert auf einen anderen Umgang mit~

sich selbst. Durch innere Achtsamkeit und inneres Gewahrsein soll der Zirkel der theoretischen Rationalisierung durchbrochen und die Realität unmittelbar wahrgenommen werden können. Dazu müssen die propriozeptiven Sinne geweckt werden, die aufgrund der einseitigen Bevorzugung des Visuellen, die von den verbalen Weltdeutungssystemen vorgenommen wurde, vernachlässigt worden sind, d.h. dass dem inneren Hören größere Bedeutung gegeben werden muss. Dies bedeutet, dass die Prioritäten, die den einzelnen Sinnesorganen gegeben werden, neu zu ordnen sind. Nur wenn die Dominanz der Augen gebrochen wird, kann der innere Dialog, der auf das Hören angewiesen ist, die Qualität erreichen, die für die Stimulierung des Atembewusstseins und der inneren Selbstheilungskräfte erforderlich ist. Die Frage nach dem Sinn kann nicht auf der Ebene der Sprache gefunden werden. Nur die lebendigen Sinne können die Sinnfrage in jedem Augenblick auf intuitive Weise beantworten.

8.1. Kritik der verbalen Weltdeutungssysteme

Der älteste Konfliktlösungsmechanismus ist die Magie. Die Magie ist ein wichtiger Schritt in der Entwicklung des aktiven Umgangs mit der Natur. Sie ist Ausdruck der Überzeugung, nicht ohnmächtig den natürlichen und übernatürlichen Mächten ausgeliefert zu sein, sondern Einfluss auf sie nehmen zu können, um das harmonische Zusammenwirken menschlicher und übernatürlicher Kräfte wiederherzustellen. Die Ursache für die persönliche Krise wurde darin gesehen, dass sich übernatürliche Kräfte der Seele teilweise oder vollständig bemächtigt haben. Es ging deshalb darum, sie mit geeigneten Mitteln wieder zu vertreiben. Die rituellen Handlungen und Beschwörungsformeln bewirkten auf der psychischen Ebene, dass die subjektiven Vorstellungen, die zu der Krise geführt haben, in den Horizont der gesellschaftlich anerkannten Vorstellungen eingebettet werden. Die Magie konnte den Einzelnen psychisch deshalb stabilisieren, weil sie ihn symbolisch in die Welt der sozial akzeptierten Vorstellungen zurückholte und damit von der Angst befreite, unter dem Einfluss von fremden Mächten aus der Gruppe herauszufallen. Es war selbstverständlich, dass die Magie die empirischen Bemühungen, die Krise mit alltagspraktischen Mitteln zu überwinden, nur unterstützen, aber nicht ersetzen kann. Man hat sich nie allein auf die Magie verlassen, aber ihre Hilfe in Anspruch genommen, wenn man Angst hatte, in einer bedrohlichen, unsicheren Situation nicht mit den eigenen magischen Hilfsmitteln fertig zu werden. ~

Magie war eine Soziotherapie, weil es immer darum ging, den Bruch zwischen den Vorstellungen des Einzelnen und denen der Gruppe aufzuheben.167 Mit der Zerstörung des magischen Denkens durch die Aufklärung ist auch die Problemverarbeitung mit magischen Mitteln verlorengegangen. Die der Magie nachfolgenden Institutionen der Religion und Philosophie haben noch lange Zeit psychische Hilfe leisten können, weil sie ihre Wurzeln im magischen Denken nicht völlig abgeschnitten hatten. Erst im Verlauf des Industrialisierungsprozesses sind die Bedingungen der Möglichkeit des magischen Denkens radikal aufgelöst worden. Hierfür war entscheidend, dass die lebensgefährdenden Bedrohungen nicht mehr dem unerforschlichen Walten der »wilden Natur« zugeschrieben werden konnten, sondern soziale, von Menschen selbst gemachte Ursachen sichtbar wurden. Zur Einflussnahme auf die Konflikte mit der von Menschen selbst gemachten zweiten Natur mussten andere als magische Mittel entwickelt werden.

Da nach der Entzauberung der ursprünglich beseelten Natur und der Entideologisierung der Transzendenz keine fremden Mächte mehr angerufen werden konnten und auch die innere Stimme keine unbefragte göttliche Autorität mehr hatte, um psychische Konflikte zu lösen, blieb nur noch das »Ich« als Instanz übrig, das sich mit eigener Kraft aus den Konflikten winden muss. Das »Ich» (oder Subjekt, Subjektivität, Vernunft) steht deshalb in allen patriarchalen Weltdeutungssystemen im Mittelpunkt. Es ist der Adressat für Anweisungen, wie das Verhältnis des Organismus zur Welt und zu den anderen Menschen wieder in Ordnung gebracht werden kann. Es entstand die Erwartung, durch rationale Deutungen der Welt dem Einzelnen einen Weg zu zeigen, wie er seine Konflikte lösen kann. Zugrunde lag das aus dem unabhängigen Geist abgeleitete patriarchale Dogma, dass alle Probleme durch Nachdenken gelöst werden können und dass das Handeln geändert wird, wenn anders gedacht wird.

Allerdings stand das »Ich« von Anfang an vor dem Dilemma, dass es völlig überfordert ist, Konflikte zu lösen, die es selbst verursacht hat. Schließlich hat es selbst die Spaltungen vorgenommen und damit seine Handlungsmöglichkeiten verbaut. Die Erkenntnis dieses Dilemmas, das die Philosophie und Soziologie nicht lösen konnte, war die Geburtsstunde der Psychologie. Sie trat das Erbe der Magie mit dem Anspruch an, das Ich von seinen sich selbst auferlegten Blockierungen, Täuschungen und Realitätsverzerrungen zu befreien,~

damit es wieder Zugang zu seinen ursprünglichen Lebenskräften findet. Die Psychologie hat somit die eigentliche Aufgabe, den Kontakt zu den vegetativen Schichten des Körpers wieder herzustellen, den die Magie indirekt stets innehatte. Ein Vergleich der psychotherapeutischen mit der magischen Praxis zeigt, dass in der Tat die Psychotherapie eine modernisierte Variante der alten Magie ist. Sie verdankt angeblich ihre Wirkung der symbolischen Neuinterpretation der individuellen Lebenssicht, in der die bedrohlich erfahrenen Teile der Psyche nicht abgewertet, sondern integriert werden, so dass der Einzelne neue Handlungsmöglichkeiten sieht. Offensichtlich ist aber das Ambiente der Psychotherapie mit dem völligen Anvertrauen an den Therapeuten, der Möglichkeit sich auszusprechen und sich seinen psychischen Prozessen zu überlassen und die vorübergehende Entlastung von der Selbstverantwortung und Verpflichtung zur Selbstheilung durch das Schlüpfen in die Patientenrolle u. a. die eigentlich heilende Kraft. In Unkenntnis der ablaufenden Mechanismen werden deshalb oft erfolgreichen Psychotherapeuten magische Qualitäten zugeschrieben.168

Die psychologischen Wissenschaften sind keine befriedigende Antwort auf das durch die Entzauberung der Magie entstandene geistige Vakuum. Sie haben zwar einen neuen symbolischen Kontext entwickelt. Da sie aber die sozial bedingten psychischen Probleme zu individuellen Krankheiten umdefinieren, haben sie indirekt die Zustände akzeptiert, die ständig neue Leiden produzieren. Aufgrund ihrer sozialkonformistischen Grundhaltung hat die Psychotherapie die Magie individualisiert und damit als Mittel der Selbsttherapie, die sie immer auch war, unwirksam gemacht. Die wesentliche Ursache des Scheiterns der verbal orientierten Psychotherapien liegt aber darin, dass sie die verbalen Deutungssysteme der Magie durch neue, dem wissenschaftlich aufgeklärten Zeitgeist angepasste verbale Deutungssysteme ersetzt haben. Gleichgeblieben ist der Allmachtsanspruch des Denkens, alle Probleme lösen zu können, ebenso die Neigung, die Deutungssysteme mit der Wirklichkeit zu verwechseln.

Der entscheidende Mangel aller sprachlichen Weltbilder ist aber nicht ihre fehlende Verbindlichkeit, sondern der absolute Vorrang der visuellen Bilder. Wie an den visuellen Körperbildern der Medizin demonstriert werden kann, blenden sie mit ihren Trennungen das Bewusstsein für die lebendigen Prozesse der strömenden Energie, der Pulsation, der Empfindungen und Gefühle aus. Der Körper wird auf das Sichtbare reduziert; er wird zum Imaginären entkörperlicht. Die Sprache des imaginären Körpers verliert die Kraft, die Trennungen,~

die aus pragmatischen Gründen vorgenommen wurden, wieder rückgängig zu machen. Es geht das Gefühl verloren, dass das Sprechen stets auch ein Versprechen darstellt, die Trennungen durch Kontakt und Verschmelzung aufzuheben. »Ich liebe Dich« enthält das Versprechen des Kontakts, der Berührung. Wenn aber die Berührung ausbleibt, wird das gesprochene Wort zur Lüge.

Alle bisherigen Versuche, die Existenzprobleme begrifflich zu erklären, einen Lebenssinn zu finden und Hoffnungen für eine Bewältigung der Lebensprobleme zu begründen, haben sich im Nachhinein stets als historisch abhängige Deutungsversuche erwiesen. Das ergibt sich zwingend daraus, dass die von den Bildern und Emotionen abgekoppelte Sprache das Denken verhext. Es wird mit dem Anspruch beladen, mit seinen Begriffen das Wesen der Welt »verstehen« zu können. Wenn sich das Denken mit den inneren Vorstellungen identifiziert und sie für die Wirklichkeit selbst nimmt, hat es die Neigung, die Ursachen für persönliche Probleme allein in den äußeren Umständen und den beteiligten Personen zu sehen, aber nicht bei seinen eigenen leitenden Vorstellungen. Damit verselbständigt sich das Denken in einem Teufelskreis von Ressentiment und Unzufriedenheit. Das entfremdete Denken vertieft die Bewusstseinsspaltung, die ihren physiologischen Ausdruck in der wahrscheinlich erst durch die Sprachentwicklung hervorgerufenen, teilweise extremen Lateralisierung des Gehirns in eine rechte und linke Hemisphäre mit unterschiedlichen Funktionsweisen gefunden hat.

In der Gegenwart sind die verbalen Weltdeutungssysteme endgültig in die Krise geraten. Ihre Ohnmacht gegenüber den realen Problemen wird immer deutlicher. Die ständig steigende Flut neuer Deutungssysteme hebt ihre Verbindlichkeit auf. Längst ist im postmodernen Selbstverständnis klar, dass kein Weltbild mehr einen Wahrheitsanspruch anzumelden vermag. Wovon jeder überzeugt ist, ist völlig in sein subjektives Belieben gestellt. Damit ist aber die orientierende Kraft der Weltbilder ans Ende gekommen. Man konnte sich nur solange mit den Weltdeutungssystemen stabilisieren, wie sie auch von den Mitgliedern der eigenen sozialen Gruppe als verbindlich geteilt wurden.

Durch die Dominanz des Hörens entstand der Schein, dass die Sprache bloß ein reproduktiver Reflex der Verhältnisse sei. Es wurde vergessen, dass die Sprache mit ihrer Fähigkeit, bestimmte Aspekte der Dinge hervorzuheben, ständig die Wirklichkeit umgestaltet. Zu Recht spricht Cassirer von der Energie der Sprache, um damit ihre konstruktive Funktion hervorzuheben.169 Wenn das Denken sich anmaßt, mit den Begriffen das Wesen der Dinge erfassen zu können,~

verliert es die Distanz zu sich. Erst wenn es in der Lage ist, in den Begriffen nicht bloß ihre Bedeutung zu sehen, sondern auch ihren Klang wahrzunehmen, kann die Distanz zu den Begriffen hergestellt werden, da im Hören der Begriffe auch die ihnen zugrundeliegenden Emotionen und Empfindungen mitklingen. Dann können die Fiktionen, die die Begriffe transportieren, als für die Orientierung notwendige, aber nicht unersetzliche Fiktionen durchschaut werden.170

Die Weltdeutungssysteme mussten scheitern, da sie sich nicht ausreichend der naturgeschichtlichen Bedingungen der Möglichkeit des Denkens versichert haben. Wenn der Atem Reflex der bestehenden Verhältnisse ist und das Denken mit dem Schicksal der Atmung verbunden ist, können die verbalen Gedanken nie mehr sein als eine Spiegelung der aktuellen Probleme. Das verbale Denken kann die Aufgabe, die durch die Lebensverhältnisse hervorgerufenen körperlichen Verspannungen aufzulösen, prinzipiell nicht leisten, da es sich nie dessen völlig bewusst sein kann, wie es von der gesamten Verfassung der Atmung, wovon es ein Teil ist, abhängig ist. Es kann nicht unmittelbar an den Grundstrukturen des Atems etwas ändern kann, dies umso weniger, nachdem sich die Sprache unter dem Einfluss des Patriarchats zu einer entsinnlichten, abstrakten Sprache entwickelt hat.

8.2. Die Dominanz des Auges

Seit Aristoteles wird das Auge als das wichtigste Sinnesorgan übermäßig glorifiziert. Dabei wird regelmäßig verschwiegen, dass diese Augendominanz das Ergebnis eines historischen Prozesses ist, in dem eine totale Umgewichtung der körperlichen Sinne zu Lasten der Ohren stattgefunden hat. Die Kontrollfunktion des »Ich« baut im wesentlichen auf der Unterordnung aller Sinnesorgane unter den Leitsinn der Augen auf. Die Dominanz der Augen erscheint als so selbstverständlich, dass darüber die herausragende Bedeutung der Ohren für die geistige Entwicklung und das soziale Zusammenleben vergessen wurde. Es wurde verdrängt, dass das Hören die Grundlage für sinnliches, körperbezogenes Denken, körperliche Sensibilität und harmonische soziale Kontakte ist.

Bei den Säugetieren dominiert das Geruchssystem, das in zwei der drei Subsysteme des limbischen Gehirns organisiert ist und das schon im älteren Repitilienhirn vorhanden ist. Das dritte Subsystem ist jüngeren Datums. Es umgeht das Geruchssystem und übernimmt eine wichtige Rolle bei visuellen~

und anderen Funktionen im gesellschaftlichen und sexuellen Verhalten. Es hat sich als einziges weiterentwickelt und dominiert beim Menschen.171

Aufgrund der langen taktil geprägten Abhängigkeit des Säuglings von der Mutter behält das Tastgefühl im psychischen Erleben eine gewisse Bedeutung. Letzten Ende glaubt man an die Realität eines Dinges nur, wenn es »begreifbar« ist. Man versteht etwas, wenn man es »begriffen« hat. Alle Wahrnehmungen der anderen Sinne begründen erst dann Realitätserfahrungen, wenn sie durch Berührungserfahrungen bestätigt werden, also mit der taktilen Erfahrungswelt in Zusammenhang gebracht worden sind.

Das patriarchale Berührungstabu beschneidet die Erfahrung der Realität an der Wurzel. Als Verbot der körperlichen Selbstberührung behindert es die Erfahrung des eigenen Körpers und irritiert die Wahrnehmung der eigenen Empfindungen. Es ist damit ein zentraler Bestandteil der patriarchalen Herrschaftsstrategie über den Körper. Im abstrakten Denken, verstanden als von Emotionen bereinigtem Denken, ist das Berührungstabu völlig verinnerlicht und als solches überhaupt nicht mehr erkennbar.

Die Umgewichtung der Körpersinne ist das naturwüchsige Ergebnis des Transformationsprozesses bei der Herausbildung der Tauschgesellschaft. Das Tauschprinzip führte zu einer Organisation der Gesellschaft, die aus vielerlei Gründen das Auge privilegiert. Sie nutzt in erster Linie seine Fähigkeit, soziale Distanz herzustellen, zu unterscheiden, zu trennen und sich gegenüber den Dingen gleichgültig zu halten. Das Auge wurde historisch in dem Maße bedeutsamer, wie soziale Herrschaft aufgebaut wurde. Insofern beginnt die Augendominanz bereits vor Konstitution der Tauschgesellschaft.

Herrschaft schafft soziale Wertungs- und Statusunterschiede zwischen den Menschen, die bis in die Phase der monopolkapitalistischen Herrschaftsstruktur durch sichtbare Herrschaftssymbole und eine rigide Kleiderordnung abgesichert werden mussten. Die Tauschgesellschaft führte zu einer beträchtlichen Differenzierung der gesellschaftlichen Hierarchie. Die vielfach abgestuften Machtunterschiede innerhalb der feudalaristokratischen und bürgerlichen Gruppen beanspruchten die Orientierungsfunktion des Auges in wachsendem Umfang. In dem Maße, wie die Unterordnungsverhältnisse in die Produktionssphäre eindrangen, wurden auch die Verhältnisse unter den Menschen auf den unteren Rängen der sozialen Hierarchie gezwungen, ihre Verhältnisse untereinander über das Auge zu regulieren. Der Augensinn wurde damit unerlässlich, um sich in der gesellschaftlichen Hierarchie richtig einordnen und angemessen reagieren zu können.~

Die Umgestaltung des Körpers zum Arbeitsinstrument verlangte, dass die Nähesinne wie das Hören, Riechen, Fühlen, Tasten, Schmecken, die propriozeptiven Sinne u. a., die für das Sich-Fühlen des Körpers wichtig sind, abgewertet werden. Diese Sinnesorgane enthalten das Verlangen nach orgiastischer Erfüllung, nach körperlichem Wohlergeben, nach körperlicher Integrität und Schutz vor Inanspruchnahme durch fremde Interessen. Die Nähesinne sind so eng mit der Atmung gekoppelt, dass jede Stimulierung der Nähesinne die Atmung stimuliert wie umgekehrt eine reagible Atmung den Nähesinnen eine große Bedeutung gibt. Die Zerstörung der Wachheit der Nähesinne trifft deshalb auch die Vitalität der Atmung. Wahrscheinlich haben körperliche Strafen den Zweck, die Eigenständigkeit dieser die Autonomie des Körpers gewährleistenden Sinne zu brechen. Durch die Strafen werden sie ihres Rechtes auf Befriedigung beraubt. Sie desensibilisieren sich, um den Körper vor größeren Schmerzen zu bewahren. Der Körper verliert seine Fähigkeit der Selbstwahrnehmung und muss sich dem Augensinn als Orientierungssinn anvertrauen.

Das Auge ist der einzige Sinn, der zum Sich-Fühlen des Körpers relativ wenig beiträgt. Während alle anderen Sinnesorgane die Objekte der Außenwelt in sich aufnehmen können, sie mit ihnen eins werden können, bleiben dem Auge die Objekte äußerlich und fremd. Insofern ist das Auge der ideale Sinn sozialer Herrschaft und ist seine Verabsolutierung im Patriarchat konsequent.

Die Herauslösung des Einzelnen aus dem Stammesverband und seine Konstituierung als Individuum ist so eng mit der Dominanz des Auges verbunden, dass in vielen Sprachen die Wörter für Ich und Auge dieselbe Wurzel haben. Am deutlichsten ist dies in der englischen Sprache, wo I und eye sogar gleich klingen! Krishnamurti pointiert dies mit der Formulierung: »Das Auge sagt: Ich! 172 Damit kommt treffend zum Ausdruck, dass die permanente Abgrenzungsaufgabe, die nach der historischen Herauslösung des Einzelnen aus der emotionalen Geborgenheit der sozialen Gruppen entstanden ist, nur durch den Fernsinn des Auges wahrgenommen werden kann. Der stützenden Funktion der Gruppe entsprach die frühere Dominanz des Ohres, das die anerkennende, bejahende Anwesenheit der anderen Gruppenmitglieder wahrnahm und die Abstimmung mit ihnen gewährleistete. Im Prozess der Zerstörung der sozialen Beziehungen ging die soziale Orientierungsfunktion vom Ohr auf das Auge über. Zum Überleben muss sich der Einzelne die aktuellen Lebensmuster bezüglich Konsum, Kleider, Wohnen u. a. aneignen. In einer Welt von vereinzelten Konkurrenten kann dies nur über Bilder gelingen.~

Durch die Ausweitung des Warentauschs hat die Entwicklung der Schriftsprache einen ungeheuren Auftrieb erfahren. Die Schriftsprache dient einerseits unmittelbar der Durchführung der Tauschakte durch die Abfassung von Verträgen u. a. und andererseits als Mitteilungsform des mit dem Tauschverkehr sich etablierenden Staates. Mit dem Warenhandel dringt die Schriftsprache in alle Lebensbereiche vor. Die Allgegenwart der Schriftsprache legt das Missverständnis nahe, dass alle Gedanken über das Auge zustande kommen und sich auch bildhaft darstellen lassen. Teilweise wird sogar Denken und Sprache ineinsgesetzt. Schließlich beginnt das Denken gegenwärtig meist mit dem lesenden Sehen des bisher Gedachten und endet mit der aufschreibenden Sichtbarmachung des neu Gedachten. Die Schriftsprache führt so zur allgegenwärtigen Bestätigung der Augendominanz. Es gerät in Vergessenheit, dass Denken als eine Herstellung von Beziehungen zwischen Sinneswahrnehmungen völlig unabhängig von der Sprache funktionieren kann.

Die Dominanz des Visuellen kann wahrscheinlich nur überwunden werden, wenn man der immanenten Tendenz des Auges, dem statischen Abbild den Vorzug zu geben, widersteht und in den Vorstellungsbildern und Begriffen auch ihren bewegungsmäßigen Anteil und die inneren Stimmen wahrnimmt. Selbst so abstrakte Begriffe wie der der Freiheit haben nur Sinn, wenn in ihnen eine spezifische Form von Bewegung gespürt wird (z.B. Freiheit als Fehlen von äußeren Widerständen für die spontanen Bewegungsimpulse). Oben wurde dargestellt, dass die ersten inneren Vorstellungen sich ausschließlich auf Bewegungen (der Mutter) beziehen.

Es ist daran zu erinnern, dass sich die Augen phylogenetisch aus der Aufgabe heraus entwickelt haben, Bewegungen zu erkennen. So herrscht z.B. auf der Netzhaut des Frosches solange absolute elektrische Ruhe, wie sich nichts bewegt. Die Säugetiere haben bei dem Versuch, die Erfahrung bewegter Dinge innerhalb der Umwelt zu vervollkommnen, aus physikalischen Gründen die Abbildfunktion des Auges und mit den nach vorn ausgerichteten Augen die Lichtempfindlichkeit der Augen verbessert und damit als unbeabsichtigten Nebeneffekt das räumliche Sehen geschaffen. Dadurch machten sie es aber zugleich auch möglich, die Außenreize vom eigenen inneren Reizpegel, dem »Eigenrauschen« der Sinnesorgane zu unterscheiden, da die Reize beider Augen miteinander verglichen werden können und damit bei Gleichheit der Bilder der Organismus gewiss sein konnte, dass es sich um Außenreize und nicht um Halluzinationen handelt. Die perfekte Abbildfunktion konnte von der Evolution für die Bildung innerer Vorstellungsbilder genutzt werden, die ihrerseits die innere denkende Verarbeitung von Umweltinformationen ermöglicht hat. Hoimar von Ditfurth vermutet, dass die unbeabsichtigt entstandenen Netzhautbilder~

als eine der Ursachen für die Entstehung des Großhirns angesehen werden können.173 Wenn sich die für das Denken wesentlichen Vorstellungen stets auf Bewegungen beziehen, bedeutet dies für das Verständnis der Begriffe, dass sie sich entgegen ihrem Anschein der Invarianz stets auf Bewegungsvorgänge beziehen und damit selbst etwas Bewegtes sind. Der Ideologie des Auges, das überall Bewegungslosigkeit sei, kann entgegengewirkt werden, wenn sich das innere Hören den Bewegungen in den inneren Vorstellungen öffnet.

8.3. Rehabilitierung des Hörens

Die vorherrschende Augendominanz hat dazu geführt, dass sich im Allgemeinverständnis das Denken primär mit visuellen Begriffen selbst zu verstehen versucht. Denken verarbeitet von außen aufgenommene »Bilder« zu einem »Weltbild« und ermöglicht so ein »gebildetes« Sprechen und Handeln. Denken »sieht« Zusammenhänge. Typischerweise entstammen die zentralen Begriffe der Psychoanalyse der visuellen Sphäre ( Projektion, Introjektion, Übertragung, Körperbild, Selbstbild, Verdrängung u. a.).

Durch die Dominanz des Visuellen ist verdeckt worden, dass ein wesentlicher Teil der auf das soziale Leben bezogenen Vorstellungen innere Stimmen sind. Alle Stimmen, die in Erfahrungssituationen als Befehl, Erklärung, Mahnung, Scherz u. a. gehört wurden, werden als Teil der inneren Vorstellungen mit abgespeichert und sind deshalb stets auch bei ihrer Erinnerung mehr oder minder präsent. Da aber das Hören an Bedeutung verloren hat, bleiben sie in der Regel unbewusst, ohne deshalb aber unwirksam zu sein.

Der durch die Augendominanz herbeigeführte Verlust der Sensibilität des Hörens hängt auch mit dem geschwächten Atem zusammen. Der Atem ist auf zweifache Weise mit dem Hören verbunden. Das Ohr kann die vom Atem erzeugten Schwingungen einerseits als Schallwellen mit der Schnecke im Innenohr (Cochlea) und andererseits als Körperschwingung mit dem Vestibularapparat wahrnehmen. Der Vestibularapparat registriert keineswegs nur Veränderungen der Körperstellung im Raum. Da jeder Atemzug den ganzen Körper in Bewegung bringt, muss die geringste durch den Atem ausgelöste Körperveränderung registriert werden, um das Gleichgewicht kontrollieren zu können. Nicht zufällig existiert die Metapher vom seelischen Gleichgewicht. Man kann sich seiner nur mächtig fühlen, wenn der Organismus jede emotionale Bewegung, die stets das körperliche Gleichgewicht tangiert, spontan durch~

entsprechende antagonistische Bewegungen auffängt. Alexander Lowen weist darauf hin, dass ein häufiges Symptom psychischer Störung die Angst vor dem Fallen ist.174 Das Fallen stellt nach seiner Auffassung ein Kapitulation des inneren Zusammenhalts dar. Wenn der Atem geschwächt ist, kann es nicht ausbleiben, dass die atembedingten Reize, die das Ohr stimulieren, schwächer werden, so dass das Ohr an Sensibilität einbüßt.

Letztlich gelingt der sensible Kontakt mit sich und der Umwelt nur, wenn die Momente der Selbstblockade, die sich in den Sinnen niedergeschlagen haben, abgebaut werden. Es gilt, die durch die Ängste verlorene Rezeptivität zurückzugewinnen, in der die Sinne völlig angstfrei der Wirklichkeit öffnen. Das Hören muss die Bereitschaft zurückerlangen, sich der Resonanz zu überlassen, die die aufgenommenen Schwingungen im Organismus auslösen. Es wird zum Hören, das den Organismus »berührt«. Wenn die Grunderfahrung der Resonanz im Hören ertragen werden kann, wird sie auch das Sehen verändern. Der Organismus wird dann bestrebt sein, das Sehen wieder als eine körperliche Berührungsempfindung zu erleben, in der die Außenwelt den empfangenden Organismus »beeindruckt«. Es ist ein Schauen mit der Bereitschaft anzunehmen, was das Gesehene auslöst. In dem reinen Hinsehen wird der wertende Sprachfilter aufgegeben und zunächst abgewartet, welchen Eindruck die Sinnesempfindungen hinterlassen. Es verhält sich praktisch so, als ob es hören würde. Diese Analogie ergibt sich daraus, dass sich das innere Hören dem zuwenden muss, was durch das Gesehene in den körperlichen Empfindungen ausgelöst wurde, damit es das Gesehene verstehen kann.175

Die zentrale Forderung aller Psychotherapien, mit sich in Kontakt zu kommen, kann nur erfüllt werden, wenn das innere Hören wieder in das Zentrum der Sinne rückt. Aus der phylogenetischen Entwicklung des Ohres ist zu schließen, dass das innere Hören älter als die anderen Sinne ist. Wie oben erwähnt behauptet Tomatis, dass sich alle Sinnesorgane aus den Cortizellen des Vestibularapparates herausentwickelt haben. Obgleich das innere Hören im Verlauf des abendländischen Prozesses der Abhängigkeitsmachung der Menschen massiv abgewertet wurde, kann es nach wie vor regeneriert werden kann, wenn es durch gezielte Übungen trainiert wird. Über das innere Hören kommt man in Kontakt mit sich, weil gespürt wird, wie die inneren Bewegungen~

sich selbst berühren. Die Sprachwendung »mit sich in Kontakt kommen« ist deshalb mehr als nur eine Formel. Sie drückt präzise aus, dass sich die einzelnen Teile des Organismus ihrer wechselseitigen Berührung bewusst werden.

Wiederholt wurde darauf hingewiesen, dass sich der innere Dialog nur entfalten kann, wenn man bereit ist, sich selbst zuzuhören. In diesem Sich-Öffnen wird deutlich, wie die innere Selbstorganisation durch die sich wechselseitig berührenden Bewegungsvorgänge abläuft. Sowie der tiefe Atem Kontakt mit dem Magen und Darm aufnimmt, indem er sie kräftig massiert, so nehmen die feinen Vibrationen der Begriffe Kontakt mit den Schwingungen in den Muskeln auf, auf die sie sich beziehen. Wenn der innere Klang aller Körperteile ins Gewahrsein rücken kann, wird die Kommunikation der Zellen untereinander, die schon immer unbewusst auf biochemischen Wege erfolgte, bewusst im Bereich der elektromagnetischen Schwingungen verbessert. Dadurch verändert sich die innere Verfassung des Gesamtorganismus grundlegend, so dass er sich nach außen freier bewegen kann. Aus diesen Überlegungen ist die Konsequenz zu ziehen, dass das vorherrschende Paradigma der verbalen Weltdeutung durch ein klangorientiertes Weltbild abgelöst werden muss. Es ist offensichtlich, dass die Sprache, die sich von den ihr zugrundeliegenden emotionalen Prozessen abgespalten hat, nicht die Orientierung bieten kann, die von ihr erwartet wird. Nur auf der Basis des inneren Hörens kann die Sprache in ihre eigentliche Funktion zurückgeholt werden, die Konflikte in der sozialen Kommunikation zu lösen.

Im klangorientierten Weltbild haben Singen und Musik eine große Bedeutung. Singen wird von vielen Atemtherapeuten zurecht als die ideale Form der Atemtherapie angesehen, da sie das innere mit dem äußeren Hören integriert und das Bewusstsein für den Körper als Klangkörper verbessert. Sie kann Körper und Seele integrieren, weil im klingenden Atem die geistige Gestaltung des musikalischen Ausdrucks mit der spontanen Mobilisierung der körperlichen Atemmuskeln zusammenfällt. Jeder Sänger spürt, wie der Gesang sich belebend und entspannend auf die Gesamtstimmung auswirkt. Zu Recht wird der Gesang bewusst dazu eingesetzt, sich von Ängsten zu befreien, Depressionen zu überwinden oder Trauer zu verarbeiten. Man kann sich regelrecht den »Schmerz von der Seele singen«.

Beim Singen atmet man kurz und tief ein und langsam aus. Diese Atemform mobilisiert ganz spontan das Selbstheilungspotential der Atmung, weil sie eine optimale Sauerstoffversorgung sicherstellt und dabei die aktuelle Stimmung des Organismus auf eine Weise ausgedrückt werden kann, so dass ein positiver Rückkoppelungsprozess zustandekommt. Im Gesang wird der Körper zum hörbaren Klang. Jeder Körperteil hat von Natur aus eine Eigenschwingung.~

Sie liegt unterhalb der Hörschwelle, kann aber bei bewusster Konzentration als feines Vibrieren wahrgenommen werden. Durch den Gesang wird der Körper in einen verstärkten Schwingungszustand versetzt, der diejenigen Bereiche, die aufgrund von Spannungen in einem suboptimalen Zustand schwingen, dazu zwingt, in Resonanz mit der dominanten Schwingung zu treten. Im Singen kommt somit der Körper in Resonanz mit sich selbst, er wird zum sich selbst bewussten Klang, in dem alle einzelnen Körperteile mitschwingen. Die befreiende Wirkung des Gesangs beruht also darauf, dass man identisch mit sich selbst wird, da fremd gewordene Körperbereiche sich wieder ins Ganze des Körpers einschwingen. Im klingenden Körper kann sich die Erregung ungehindert ausbreiten. Zurecht spricht man davon, dass man durch Musik »neuen Schwung« erhält.

In der Musiktherapie wird zunehmend das Potential der Stimme genutzt. Denn im freien Gesang sucht sich der Körper spontan die Frequenzen, die er für die Wiederbelebung der verspannten Körperteile braucht. Im Gesang kann sich der Körper auf seine Eigenfrequenz einschwingen. Der Gesang wirkt dann praktisch wie eine innere Vibrationsmassage, die schonend die verspannten Körperteile aufweicht. Wenn sich das Bewusstsein nach innen öffnet und den Empfindungen lauscht, kann es auch die Gefühle spüren, die sich unter dem Einfluss des Singens bilden. »Wenn wir singen, "hören" wir die Gefühle und die Sprache des Herzens wieder, sofern wir nur aufmerksam lauschen und nichts, was sich im Singen ereignet, unerhört bleibt«.176

Unter den vielen musiktherapeutischen Methoden möchte ich die »klingende Mentalmassage« herausheben, die wahrscheinlich am besten die Selbstheilungskraft des Atems unterstützt und zugleich leicht in den Alltag integriert werden kann. Dabei wird ohne Anstrengung und Nachdruck ein »ha« gesungen oder gesummt. Das Bewusstsein soll sich darauf konzentrieren, wie tief im Bauchzentrum der Klang in Vibrationswellen umgesetzt wird, die zunächst den Bauch in Schwingung versetzen und dann auf den ganzen Körper ausstrahlen. Jetzt kann gespürt werden, wie bestimmte Körperteile wie z.B. die Hand oder der Rücken mit einem feinen Vibrieren mitschwingen.177 Es kann aber auch gewartet werden, welche Körperteile spontan mitschwingen. Man spürt deutlich, welche Körperteile so verspannt sind, dass sie sich der »Vibrationsmassage« widersetzen und welche unter ihrem Einfluss regelrecht »schmelzen«. Beim Einatmen kehrt das Bewusstsein in das Bauchzentrum zurück. Deutlich erhöht die Konzentration auf den Klang die Empfänglichkeit~

für die Vibration. Auffällig ist auch, dass jedes Mal die hellen Zikadengeräusche, die durch die Eigenschwingung des Innenohres produziert werden, wahrnehmbar werden, die Tomatis als den »Klang des Lebens« bezeichnet hat.178 Meist tritt auch der Pulsschlag zu der Geräuschkulisse hinzu. Außerdem ist zu beobachten, dass die Töne umso höher sind, je höher man in den Körper aufsteigt (»u« im Becken, »o« im Bauch, »a« in der Brust, »e« im Mundraum, »i« in der Stirn). So ist der »Klang des Lebens« am besten spürbar, wenn man sich direkt auf die Kopfhaut konzentriert. Insgesamt entsteht so ein inneres Konzert, in das sich spontan noch andere Geräusche einmischen. Grundsätzlich sollte die Erfahrung des inneren Körperklangs nicht mit fremder Musik gesucht werden. Solange man seinen eigenen Klang erzeugt, bleibt man im eigenen Schwingungskreis, so dass der Körper auf seine eigenen Schwingungen hören kann.

Man kann noch einen Schritt weitergehen und ohne musikalische Anregung sich auf die Eigenschwingung eines Körperteils einhören. Dies gelingt umso leichter, je entspannter in diesen Teil hineingeatmet wird. Sobald die Vibration gespürt wird, kann versucht werden, beliebige andere Körperteile und schließlich den ganzen Körper an diese dominante Schwingung anzukoppeln. Die Körperteile treten praktisch in wechselseitige Kommunikation miteinander und helfen sich, in ihre optimale Frequenz einzuschwingen.179

Nach der Theorie von Tomatis haben hohe Frequenzen eine tiefgreifende therapeutische Wirkung, da sie direkt in das archaische Gedächtnis mit den Stimmen der Vergangenheit eingreifen und störende Stimmen gleichsam löschen können. Es wurde nachgewiesen, dass alle psychischen Schäden mit Störungen der Hörfunktion verbunden sind: bestimmte Frequenzbereiche werden ausgeblendet, statt mit dem rechten wird überwiegend mit dem linken Ohr gehört, es besteht die Unfähigkeit, bestimmte Klänge aus dem Hintergrund heraus zu selektieren oder man hört innerlich weg, indem die Resonanz mit bestimmten Tönen verweigert wird u. a..180 Jedes Mal wird damit auch die Empfänglichkeit für höhere Frequenzen geschädigt. Die hohen Frequenzen haben aber in der ontogentischen Entwicklung des Menschen eine Schlüsselrolle: die fötale Entwicklung findet in einem von hohen Frequenzen geprägten Milieu statt, da sich der für die hohen Töne empfängliche Teil des Innenohres~

am frühesten entwickelt. Über die hohen Frequenzen findet der ursprüngliche Kontakt des Fötus mit der mütterlichen Umwelt statt: sie bringen eine Gestimmtheit, in der sich der junge Organismus sich seiner selbst und des Bezuges zur nährenden und schützenden Umwelt vergewissert. Die vertraute fötale Klangaura ist der tragende Grund für jedes Vertrauen zur Welt. Es ist das klingende Band, das den getrennten Organismus an das Leben bindet. Das Gefühl der Geborgenheit ist vermutlich primär ein Klangphänomen. Offensichtlich löst die Desensibilisierung für die hohen Frequenzbereiche tiefsitzende Ängste der Verlassenheit aus. Nach der Theorie von Tomatis kann die Sensibilität für hohe Töne durch das wiederholte Abhören von Musik, aus der die tiefen Töne ausgefiltert sind, wiederhergestellt werden und dadurch unmittelbar ohne Zuhilfenahme anderer verbaler Psychotherapeutika ein Gesundungsprozess ausgelöst werden.

Für Schopenhauer und Nietzsche ist Musik die adäquate Sprache der Gefühle. Kein Wort könne die Präzision des Gefühlsausdrucks erreichen, die der Musik möglich sei. Für Schopenhauer ist deshalb die Musik ein unmittelbares Abbild des Lebenswillens. Auch in der Psychoanalyse wird die Musik in einer besonderen Nähe zum archaischen, primärprozesshaften affektiven Erleben gesehen. Musik ist in der ursprünglichen, archaischen Kommunikation zwischen Mutter und Kind eine wesentliche Form der Mitteilung. Im Kontakt zwischen Mutter und Kind hat die Musik die Aufgabe, die Gefühle des Kindes auszudrücken und die Gefühlszustände der Mutter mitzuteilen, lange bevor das Kind gelernt hat, sie in Worte zu fassen.

Die Verbindung von Musik und Gefühl ergibt sich daraus, dass beide den ganzen Körper – mit dem Zwerchfell im Mittelpunkt – als Träger des Ausdrucks benutzen. So wie das Zwerchfell bei jedem Gefühl in besonderer Weise sich bewegt, schwingt es beim Ausüben und Wahrnehmen von Musik mit. Dies drückt sich z.B. in der Sprachwendung aus, dass »mich die Musik bewegt«. Die tragende Rolle des Zwerchfells ist beim Singen anerkannt. Weniger deutlich und bewusst ist sie beim passiven Musikhören. Es besteht aber kein Zweifel, dass Musik erst dann körperlich erlebt wird, wenn das Zwerchfell angesprochen wird. Ansonsten bleibt das Musikerlebnis äußerlich, nur im Kopf. Im Grunde nimmt man mit den Ohren die Musik nur auf, erlebt wird sie mit dem Zwerchfell. Die zentrale Rolle des Zwerchfells macht es möglich, dass in die Musik Gefühle hineingelegt werden können, die beim Hören die körperlichen Schwingungen auslösen, die den ursprünglichen Gefühlen entsprechen. Musik ist damit eine äußerst präzise, averbale, unmittelbar verständliche Sprache. Dabei wird der ganze Körper zum Resonanzkörper.

Musik kann ekstatische Wirkungen entfalten, da sie den Körper Klängen~

aussetzt, mit denen er in seinem Eigenrhythmus mitschwingen kann. Die musikalischen Impulse stimulieren feinste Bewegungen, insbesondere des Zwerchfells und der sonstigen Atemmuskeln. Sie wirkt unmittelbar auf den Körper, da sie aufgrund ihrer immateriellen, nonverbalen Natur die »Vernunft« ausschaltet und direkt die emotionalen Strukturen im limbischen System anspricht. Sie kann das ursprünglich bildhafte, emotionale Denken direkt ansprechen, ohne dass das begriffliche, abstrakte Denken aktiviert wird. Wie im Traum können die Gehirnwellen sich beruhigen und in den für den Traum und die Entspannung charakteristischen Schwingungszustand einpendeln.

Die Faszination der Musik liegt in ihrer ekstatischen Wirkung begründet. Musik ist gegenwärtig die einzige kulturell legitimierte Form der Ekstase. Musik kann benutzt werden, um die Widerstände gegen die ekstatische Reaktion zu überwinden und um leichter in den ekstatischen Zustand zu kommen.181 Ihre Heil- und Entspannungswirkung ist ohne Zweifel darauf zurückzuführen, dass sie neben der Freisetzung von bildhaften Erinnerungsspuren an frühere Traumata die ekstatische Fähigkeit wiederbeleben kann. Musik kann ihre ekstatische Wirkung aber erst entfalten, wenn sie von einem entspannungsfähigen Körper empfangen wird. Sie kann die Entspannung fördern, wenn eine gewisse Entspannungsfähigkeit bereits vorhanden ist. Fehlt sie, bleibt nur die Stimulierung des bildhaften Bewusstseinsstromes, die eine gewisse Entspannung mit sich bringt, aber die eigentliche ekstatische Erfahrung nicht aufkommen lässt. Musik vermittelt dann nur noch die Illusion von Lebendigkeit, den Anschein, dass man noch Gefühle hat.

Passiver Musikkonsum hat in der gegenwärtigen Gesellschaft deshalb eine so große Bedeutung, weil er den vom Arbeitszwang entsinnlichten und desensibilisierten Körper in einen sinnlichen Erregungszustand versetzen kann und dadurch den tiefen Wunsch nach mehr Lebendigkeit befriedigt. Gleichzeitig verhindert der passive Musikkonsum als permanentes Hintergrundsgeräusch, dass sich die inneren Stimmen zu Wort melden können. Die starken Frequenzen der Musik bringen die schwächeren Frequenzen der inneren Stimmen zum Erlöschen. Diese paralysierende Wirkung der Musik hat sie zu einer hochwirksamen Bewusstseinsdroge gemacht. Denn parallel zum Musikhören können körperliche und Routinearbeiten verrichtet werden, so dass die normale Funktionsfähigkeit dadurch nicht beeinträchtigt wird. Aufgrund ihrer disziplinierenden, die unterdrückten Gefühle kompensierenden Funktion gehört Musik seit Beginn der patriarchalen Entwicklung als Militär-, Kirchen-und Festmusik zum Instrumentarium der Stabilisierung von Herrschaft.~

8.4. Zum Sinn des Lebens

Das zu entwickelnde Klangparadigma für das alternative Körperverständnis ist im Grunde kein neues Weltdeutungssystem, weil es sich jeglicher theoretischer Überlegungen über den Ursprung und das Ziel des Lebens enthält. Es ist im Kern ein neues Körpergefühl, das sich daran orientiert, stets den inneren Schwingungen geöffnet zu sein, da es in ihnen das Wesen des Lebens annimmt. Das Paradigma des Klangs verlangt vor jedem Handeln ein In-sich-Hineinhören, eine Selbstbesinnung, ein Innehalten. Es schließt aktives Handeln nicht aus, aber lässt es erst auf der Basis des empfangenden Hörens geschehen. Es ist die Aufforderung, in der Förderung der Sensibilität aller Sinne dem Hören – vor allem dem inneren Hören einen – Vorrang zu geben.

Wenn dem inneren Hören mehr Bedeutung gegeben wird, verlagert sich das Schwergewicht des Verhaltens zu sich selbst vom aktiven Tun zum passiven Zulassen. Während das Auge davon lebt, durch die unterscheidende Wahrnehmung der Umwelt Handlungspläne vorzubereiten, ist das Hören primär ein rezeptiver Vorgang, der sich den Reizen der Umwelt oder den Stimmen der Innenwelt öffnet, um ihre Bedeutung zu erfahren. Das Ohr unterscheidet sich darin vom Auge, dass es keine Muskeln enthält, mit denen seine Aktivität durch das zentrale Nervensystem gesteuert werden kann.

Dem Hören den Vorrang zu geben, heißt keineswegs, das Hören zu verabsolutieren. Vielmehr muss die Fähigkeit wiederhergestellt werden, das Hören im Konzert der anderen Sinnesempfindungen wahrzunehmen. Der Organismus verfügt über die Fähigkeit, mehrere Empfindungen gleichzeitig wahrzunehmen. Diese Fähigkeit ist darin begründet, dass sich die Empfindungen wie innere Klänge überlagern können, die vom inneren Ohr decodiert werden. Zurecht wird bei vielen bewusstseinssteigernden Übungen die Fähigkeit geschult, äußere und innere Reize gleichzeitig wahrzunehmen.182

Die Erweiterung der Sensibilität kann auf die Weise geschult werden, dass die innere Aufmerksamkeit sich auf die Empfindungen in einem bestimmten Körperteil – z.B. der Zunge – konzentriert und eine Weile versucht, nur bei diesem Gefühl zu bleiben. Im nächsten Schritt wird die Empfindung in einem anderen Körperteil z.B. dem Fußballen hinzugenommen. Nachdem man sich der Empfindung in dem Fußballen sicher ist, versucht man sie mit der gleichzeitigen Wahrnehmung der Empfindungen in der Zunge zu verbinden. Solange dies nicht gelingt, kann die Aufmerksamkeit hin und her pendeln, immer darauf achtend, dass die Empfindungen im anderen Teil noch präsent bleiben. Es~

wird nach und nach versucht, immer mehr verschiedene Empfindungen zu spüren und in die Gesamtwahrnehmung aufzunehmen. Bereits bei der ersten Empfindung können gleichzeitig die Geräusche der Umwelt mit in die konzentrierte Aufmerksamkeit hineingenommen werden. Oder es werden andere Menschen aufmerksam beobachtet, ohne dass das Bewusstsein der inneren Empfindungen in den ausgewählten Körperzonen verlorengeht. Die Erweiterung des Bewusstseins gelingt leichter, wenn das Zentrum des Bewusstseins vom Gesicht in die tieferen Zonen des Bauchraums verlagert wird und dabei das Gesicht entspannt wird.

Eine andere Möglichkeit besteht darin, sich eine Begegnung mit einem Freund so anschaulich wie nur möglich in die Erinnerung zu rufen oder sich in einem Film gleichzeitig der inneren Empfindungen zu versichern. Auf diese Weise können unterschiedliche umfangreiche Kombinationen von äußeren Wahrnehmungen mit inneren Empfindungen versucht werden. Wenn sich die Wahrnehmungsfähigkeit zu erweitern beginnt, können auch konkrete Kombinationen dazu benutzt werden, die Aufmerksamkeit auf unterschiedliche Teile des Körpers zu richten.

Das Faszinierende an dieser Methode ist, dass erfahren wird, wie in dem Moment, wie das Bewusstsein zugleich bei den äußeren und inneren Reizen ist, die Atmung nicht nur bewusst wird, sondern sich von selbst intensiviert. Dies beruht auf dem Zusammenhang, dass der Atem durch jede Form der Berührung, auch durch die innere Berührung bei den Mikrobewegungen der Empfindungen stimuliert wird.183 Die intensive Anteilnahme am Leben führt so spontan zu einer Erweiterung des Atembewusstseins. Wenn diese Erfahrung häufig gemacht wird, stabilisiert sich die erweiterte Wahrnehmungsfähigkeit durch das Defizitgefühl, das sich bei einer einseitig fokalen Wahrnehmung meldet. Es wird auch die Erfahrung gemacht, dass die Erweiterung des Bewusstseins auf die Körperempfindungen nicht die Aufmerksamkeit für das Gegenüber einschränkt (das kann allerdings in der Übungsphase geschehen), sondern dass dadurch gerade die Präsenz erheblich verbessert wird. Der inflationär gebrauchte Begriff der Bewusstseinserweiterung hat seinen eigentlichen Sinn darin, dass er sich auf die Erweiterung der gleichzeitig wahrgenommenen Empfindungen bezieht, während er, wenn er die Einbeziehung der spirituellen Dimension meint, eher das Gegenteil bewirkt.

Im hörzentrierten Körpergefühl verändert sich der Stellenwert des theoretischen Denkens. Die theoretischen Weltdeutungssysteme sind aus dem Bedürfnis entstanden, für die beschädigte Selbstorganisation einen Ersatz zu finden.~

Wenn die Orientierung an den inneren Empfindungen und Impulsen nicht mehr funktioniert, werden Deutungssysteme benötigt, die begründen, warum das Vertrauen gegenüber den Geboten weltlicher oder übernatürlicher Instanzen notwendig ist. Die Versuche, ihre Legitimation zu begründen und die Begründung ihrerseits gegen Kritik abzudichten, haben in der Geschichte zu immer umfangreicheren Theoriesystemen geführt. Sie haben sich immer damit gerechtfertigt, dass es ein ursprüngliches metaphysisches Bedürfnis geben würde, über den Sinn des Lebens nachzudenken. Es wird ihnen der Boden entzogen, wenn der »Sprache des Körpers« mehr Aufmerksamkeit gegeben wird.

Es ist wohl nicht zufällig, dass zwischen dem philosophischen Sinnbegriff und den körperlichen Sinnen eine begriffliche Identität besteht. »Unsere Sinne gebrauchen wir oft ohne Sinn. Wir hören und vernehmen nicht, wir sehen und nehmen nicht wahr, wir bewegen uns, ohne zu spüren, was wir tun und was geschieht. So leben und handeln wir weitgehend sinnlos, undurchlässig für "Sinn"‹ in der umfassenden Bedeutung des Wortes«.184 Condrau leitet den Begriff Sinn vom althochdeutschen »sinan« ab, das »auf dem Weg sein« bedeutet.185 Die Sinnfrage hängt insofern eng mit den Sinnesorganen zusammen, als sie danach fragt, ob man auf dem rechten Weg ist. Die Antwort kann nur gefunden werden, wenn sich die Sinne der jeweiligen Situation öffnen und alle bisherigen Erfahrungen in die Entscheidung einfließen. Die Antwort kann nie abschließend sein, da die Entwicklung der eigenen Person offen ist. Von allen Gruppenmitgliedern können die eigenen Empfindungen falsch ausgelegt oder die innere Stimme überhört werden, so dass der Zusammenhalt der Gruppe stets gefährdet ist. In dieser Sichtweise ist es fragwürdig, die Sinnfrage allein auf der verbal-geistigen Ebene zu beantworten. Sie wird einzig und allein durch die Lebendigkeit der Gesamtheit der Sinne beantwortet. Nur die wachen Sinne garantieren, dass sich der Organismus in jeder Situation orientieren kann, d.h. seinen Sinn findet. Die Sprache ist sich dann ihres Bezuges zu den inneren Vorstellungsbildern bewusst und kann die Orientierung spontan und intuitiv unterstützen. Sie ist dann nicht mehr der Filter, der das Bewusstsein vom Lebensstrom abschneidet. Wenn durch die Sensibilisierung der propriozeptiven Sinne die Selbstorganisation wiederhergestellt werden kann, entfallen die Ursachen, nach dem Ursprung und dem Sinn des Lebens zu fragen. Religiöse~

und metaphysische Reflexionen werden entbehrlich, weil der Einzelne intuitiv weiß, was in jeder Situation für ihn richtig ist.

Wenn die Sinne leiden, kann keine Philosophie oder Religion einen Ersatz dafür bieten. Auch die Wiederbelebung alter Mythologien oder der abstrakten Modelle der Spiritualisten, in denen alle Formen der Realität von der Seele bis zur Materie als unterschiedlich dichte Manifestationen eines geistigen kosmischen Prinzips verstanden werden, bringen nicht die Sicherheit der Selbstorganisation zurück. Im Gegenteil: indem in den esoterischen Konzepten die reale Wahrnehmung als ein Abbild einer dahinter verborgenen höheren Wirklichkeit verstanden wird, erhält die Realität ironischerweise den Charakter eines Traumes und wird der sinnlichen Orientierung an der Realität noch mehr der Boden entzogen.

Atemtheorie hat die Aufgabe zu begründen, warum eine Wiederbelebung der Sinne unerlässlich ist, um die Orientierung des Denkens und Handelns an die innere Selbstorganisation zurückzubinden. Sie kann den Irrweg beenden, durch immer komplexere Theoriesysteme eine Sinnorientierung zu suchen. Sie ist dazu in der Lage, weil sie nachweisen kann, wie im Lernprozess der Gefühle und der Sprache die angeborenen instinktiven Anpassungsmechanismen um kommunikative Fähigkeiten erweitert werden, mit denen sich die Menschen komplexeren Sozialverhältnissen anpassen können. Es wurde gezeigt, dass diese Fähigkeiten prinzipiell nichts Neues, sondern nur eine Ausdifferenzierung naturgeschichtlich im Atemprozess angelegter Potentiale sind. In dieser Perspektive kann die Atemtheorie die philosophischen Fragen nach dem Wesen des Menschen, der Freiheit, der Wahrheit, dem Denken, dem Sinn u. a. neu stellen. Ihre Antwort liegt aber nicht in neuen Antwortsätzen, sondern in der Bestimmung des Weges, wie sie durch eine Veränderung des Verhältnisses zu sich selbst und zu den anderen Gruppenmitgliedern verwirklicht werden können.

Die Hauptaufgabe der Atemtheorie liegt darin, die Diskriminierung des inneren Hörens und der propriozeptiven Sinne rückgängig zu machen. Dies ist identisch mit der Ausbildung des Atembewusstsein, das dadurch charakterisiert ist, dass es sich aller Muskeltonusänderungen im Rhythmus der Atmung bewusst ist. Die wechselseitige Achtung und Anerkennung, also das Miteinander des Verschiedenen, gelingt nur, wenn man von sich absehen und dem anderen zuhören kann. Sonnemann möchte deshalb zurecht die Utopie einer geglückten Zukunft eher am Ohr als am Auge festmachen. Die Utopie liegt im Ohr.

Die Aktivierung der Sinne hat die Aufgabe, mit der uneingeschränkten Wahrnehmung die Selbstorganisation des Verhaltens zu verbessern. Der Organismus~

verfügt in den Signalen der Lust und des Schmerzes über untrügliche Signale, ob der eingeschlagene Weg und die gefundene Lösung richtig sind. Allerdings sind die propriozeptiven Sinne der Lust und des Schmerzes mit der Desensibilisierung der Sinne auch so geschwächt worden, dass dieser Zusammenhang meist nicht mehr bewusst erfahren wird. Im folgenden Kapitel soll deshalb offengelegt werden, wie sinnliche Lust und Verhaltensveränderung zusammenhängen.

9. Selbstorganisation und Atemlust

Unbestritten gelingen alle Bewegungen am besten, wenn der Organismus entspannt ist. Dies gilt nicht nur für die körperlichen Bewegungen, sondern auch für die Bewegungen der Gedanken und Gefühle. In diesem Zustand können sich Veränderungen von negativ bewerteten Gedanken und Verhaltensgewohnheiten von selbst einstellen. Es wird deshalb oft empfohlen, sich zunächst zu entspannen, bevor man sich fragt, wie ein Problem zu lösen sei. Umgekehrt sind Schmerzen, mangelnde geistige Kreativität, sexuelle Impotenz, Depression und viele Krankheiten Zeichen von innerer Verspanntheit.

Jede Entspannung teilt sich als sinnliche Lust mit, als ein umfassendes Gefühl des Wohlbefindens, der erfüllten Lebendigkeit und der den ganzen Körper erfassenden Erregung. Die sinnliche Lust kennzeichnet den körperlichen Zustand, in dem der entspannte Körper sich allen Reizen der Umwelt und der körperlichen Innenwelt öffnet. Die Wahrnehmung wird dann so frisch und lebendig wie im allerersten Augenblick des Lebens erlebt. Durch den Strom von neuen Wahrnehmungen werden Veränderungen der inneren Vorstellungen möglich. Jede psychische Transformation setzt offensichtlich die Rückkehr in den Zustand ungebremster sinnlicher Erregung voraus.

Die Schamanen nutzen diesen Zusammenhang gezielt aus, indem sie sich durch bestimmte Rituale in einen Zustand totaler Entspannung versetzten, bevor sie ihre Reise zu den Göttern antreten und den imaginativen Kontakt mit ihnen aufnehmen. Die schamanische Idee der spirituellen Reinigung ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Sie soll von allen Gewohnheiten des Denkens und Fühlens freimachen. Durch die Reinigung von den an den individuellen Alltag verhafteten Vorstellungen und Gefühlen sollen sich die eingeengten, kurzsichtigen Anschauungen auflösen und die Einsicht in die andere, höhere Wirklichkeit frei werden. Die Schamanen haben auch erfahren, dass sie sich leer machen d.h. von allen inneren Vorstellungen lösen müssen, damit die Energie des Kranken, mit dem sie Resonanz aufnehmen wollen,~

ungehindert durch ihr eigenes Energiefeld hindurchfließen kann.

Die Schamanen haben intuitiv erkannt, dass die Selbstheilungskräfte nur im entspannten Zustand mobilisiert werden können. Die Unterdrückung der Sinnlichkeit im Laufe der abendländischen Entwicklung ist die zentrale Ursache für die Schwächung der Selbstheilungskräfte. Dabei darf Sinnlichkeit nicht auf Sexualität eingeschränkt werden, sondern muss als die sinnlich-orgiastische Potenz des ganzen Körpers begriffen werden. Es war primär diese Funktion der Sinnlichkeit, die sie zum Widersacher jeder Form sozialer Herrschaft werden ließ.

Mit wenigen Ausnahmen haben die Körpertherapien, die Atemtherapien eingeschlossen, den großen Mangel, dass sie die sinnliche Lust ausklammern 186 und sie auf die Ebene der Entspannung reduzieren. Damit bleibt die zentrale Bedeutung des Körpergefühls für jede Verhaltensveränderung unverständlich. Das Körpergefühl regelt, wie viele sinnliche Lusterfahrungen in einzelnen Körperbereichen zugelassen werden (z.B. wie viel Lust bei der Bewegung der Augen oder ob die Kälte der Hände wahrgenommen wird). Im Grunde besteht jede Veränderung darin, dass sich das Körpergefühl verändert. Solange die Defizite im sinnlichen Empfinden einzelner Bereiche nicht registriert werden, bleiben Änderungsabsichten wirkungslos. Die Grundlage für das Verständnis von Veränderungschancen im Denken und Verhalten ist deshalb ein Verständnis für den inneren Zusammenhang mit der sinnlichen Lust.

Im allgemeinen Verständnis ist die Lust ein Teil der animalischen Natur. Sie tauge nicht zur Orientierung, da sie zu den niedrigen Instinkten gehöre. Diese Abwertung der Lust verkennt ihre Orientierungsfunktion beim autonomen Handeln und Denken. Wie bei den Tieren sind auch bei den Menschen Lust und Unlust Signale, mit denen der Organismus seine Selbstregulation steuert und damit sein Überleben sichert. Er versucht, alles zu vermeiden, was Unlust bewirkt und an dem festzuhalten, was Lust bereitet. Da die Menschen Lust und Unlust bewusst erleben, haben sie die Chance zu prüfen, ob das, was früher Unlust ausgelöst hat, nach wie vor unangenehm ist und ob durch verändertes Verhalten die Unlustquelle aufgehoben oder verändert werden kann. Unlust stellt damit ein Antrieb zum Lernen dar.

Die Unlustsignale werden zum Schmerz, wenn der Körper nicht über die Fähigkeit verfügt, angemessen darauf zu reagieren, also entweder zu fliehen, sich anzupassen oder die Umwelt zu ändern, und deshalb der Körper keinen~

anderen Ausweg sieht, als auf die Verletzung seiner Bedürfnisse mit innerorganischen Veränderungen zu reagieren. Stets werden die Muskeln verkrampft, die an dem Verhalten, das zu den Verletzungen geführt hat, beteiligt waren. Wenn die äußere Muskulatur verspannt wird, äußert sich der Schmerz als Krampf. Werden Muskeln der inneren Organe betroffen, können zusätzliche Schmerzen aus den dadurch bedingten Funktionstörungen resultieren. Das Unlustsignal nimmt durch diese Form der Schmerzabwehr die Form eines Krankheitssymptoms an. Nervosität ist ebenfalls ein wichtiges Unlustsignal. Es zeigt an, dass die momentan verfügbaren Kräfte nicht ausreichen, um mit der Problemsituation fertig zu werden. Es bedeutet, dass der Atem keine Reserven hat, um die geforderten Energiemengen bereitzustellen.

Wenn die Unlust in einer Situation als überwältigend erfahren wird, besteht die Neigung, auch die Schmerzen aufgrund der Muskelverspannungen aus dem Bewusstsein zu verdrängen. Der Organismus wählt so zur Abwehr der Ängste eine doppelte Abspaltung: einerseits werden die Muskeln, die zu den schmerzhaften Erfahrungen geführt haben, dauerhaft angespannt, so dass sich der Organismus durch einen inneren Stillstand davor schützt, wieder in ähnliche gefährliche Situationen zu gelangen. Andererseits werden die dadurch bewirkten Schmerzen abgespalten, da sie nicht mehr wahrgenommen werden. Dabei scheint das Zusammenziehen der Magenmuskulatur und des ganzen ihn umgebenden abdominalen Bereichs (Zwerchfell, Beckenbodenmuskel u. a.) der primäre innere Schmerztöter zu sein.187

Wenn dann der Körper unter den Funktionsstörungen der inneren Organe leidet, erkennt er nicht mehr den Zusammenhang mit der ursprünglichen Schmerzabwehr. Der Preis der Abspaltung der Schmerzen besteht darin, dass der Körper seine Selbstkontrolle verliert. Die verspannte Körpergegend wird zum »inneren Ausland«, das nicht mehr von willkürlichen Nervenimpulsen ansprechbar ist. Das Bewusstsein zieht sich zum Teil aus dem Körper zurück; der Körper verliert den Kontakt zu sich selbst.

Schmerz zu akzeptieren ist unentbehrlich, um Lust und Unlust als Orientierungshilfen funktionsfähig zu erhalten. Wenn der Organismus sich zusammenzieht, um den Schmerz abzuwehren, verliert er gleichzeitig die Fähigkeit, sich auszudrücken und Lust zu erfahren. Die Angst vor dem Schmerz tötet so die Empfindungsfähigkeit für die Lust ab. Durch die Blockierung größerer Teile des Körpers wird zwangsläufig das Atemzentrum gehemmt, so dass der Atem nicht mehr flexibel auf Situationsveränderungen reagieren kann.~

9.1. Das Pulsationsprinzip

Wenn sich das Bewusstsein ganz auf die Empfindungen in einer bestimmten Körperzone – z.B. die Augen – richtet und es gelingt, nicht mit den verbalen Gedanken abzuschweifen, wird es plötzlich gewahr, wie im ganzen Körper der Puls schlägt und gleichzeitig sich eine Erregungswelle von der empfundenen Körperstelle über den ganzen Körper ausbreitet. Je stärker es sich auf die Empfindungen in den Augen oder anderen Körperstellen konzentrieren kann, desto tiefer geht die Ausatmung und wächst die pulsierende Erregung an.188 Die sinnlichen Empfindungen entziehen sich der begrifflichen Fixierung und können nur durch Analogie zu anderen Erfahrungen festgehalten werden: als pulsierendes Strömen im Körper, als warmes Druchströmt-Sein oder als elektrische Spannung. Das Strömungsgefühl ist die Wahrnehmung des fein schwingenden Körpers und der in Fluss kommenden Körperflüssigkeiten. Es schwillt in dem Maße an, wie sich die Atmung vertieft. Wenn gleichzeitig der Pulsschlag in verschiedenen Körperzonen bewusst wahrgenommen wird, entsteht nach einigen Atemzyklen das Gefühl, dass die Atmung als selbsttätiger, freier, eigengesetzlicher Vorgang abläuft, an dem man selbst nur als Beobachter teilhat. Wenn sich der Energiestrom intensiviert, kann er den Körper in eine ekstatische, den ganzen Körper durchzuckende Wellenbewegung hineinreißen, die dem Orgasmus gleicht.

Die Pulsation ist nach Reich die Grundfunktion des Lebendigen. Sie ist die einzige Grundfunktion, die alle Lebewesen gemeinsam haben. Die Pulsation besteht aus einer abwechselnd ausdehnenden und zusammenziehenden Bewegung, die als Ganzes lustvoll erlebt wird. »Im Körper findet die pulsatorische Grundfunktion auf allen Ebenen, von der Bewegung der Zellorganellen über die Zelle insgesamt zu den Organen bis zum rhythmischen Funktionieren ganzer Organsysteme (z.B. Herzkreislaufsystem) statt. Wo immer Lebendiges sich ohne Eingriffe bewegt, tut es dies u. a. nach dem Prinzip der Pulsation, der rhythmischen Abfolge von Expansion und Kontraktion, Aufladung und Entladung, Anspannung und Entspannung. In der biologischen Pulsation kommt das Gesetz der Lusterregung und Befriedigung zum Ausdruck, orgiastische Potenz ist die Fähigkeit, diesem Gesetz zu folgen«.189 Der Mensch pulsiert in seinen Teilen, aber auch als ganzer, als ob er ein einzelliges Tierchen wäre.~

Die Pulsation ist ein Kennzeichen jeder freien Bewegung. Was als Hingabe bezeichnet wird, ist das tiefe Sich:Tragen-Lassen von der natürlichen Pulsation. Sie drückt sich in der einheitlichen und unteilbaren Fähigkeit aus, sich ganz einer Erfahrung im Hier und Jetzt auszuliefern und sich im Augenblick vergessen zu können, ganz gleich, ob es sich um eine Arbeit, ein Buch, ein Bild, ein Mensch oder sonstige Erfahrungen handelt. Der ungeteilte Zugang zum inneren Lebenspuls begründet ein ursprüngliches Wohlbefinden. Gerda Boyesen bezeichnet es als »unabhängiges« Wohlbefinden, weil es in sich selbst gründet und unabhängig von den Bewertungen anderer Menschen ist.190

Die sinnliche Lust ist identisch mit der Erfahrung der natürlichen Pulsation. Wenn Lust das behinderungsfreie, naturgemäße Funktionieren der Zellen ist, kann Lust in jedem Augenblick und in jeder Bewegung gefunden werden.191 Lust kann sich auch unabhängig von konkreten Bedürfnissen einstellen, da das Einschwingen in die natürliche Pulsation selbst ein organismisches Bedürfnis ist. Der volle und freie Atem ist Zeichen eines nicht-blockierten, seinen »natürlichen« Abläufen überlassenen Körpers.

Reich hat beobachtet, dass bei den Menschen, die sich von ihren Traumata befreiten, eine rhythmische, wellenförmige Bewegung durch den ganzen Körper ging. Die rhythmische Körperwelle kommt dadurch zustande, dass bei der Einatmung das Becken leicht nach rückwärts kippt und über die nach vorn gezogene Wirbelsäule auch der Kopf leicht nach rückwärts pendelt. Bei der Ausatmung federt das Becken und der Kopf wieder nach vorne, so dass sich das Becken und die Schultern annähern. Diese den ganzen Körper von der Zehe bis zum Scheitel erfassende Körperwelle hat Reich als Orgasmusreflex bezeichnet, da er beobachtete, dass der volle sexuelle Orgasmus nur erreichbar ist, wenn der Körper so weit von Verspannungen befreit ist, dass er diese Welle zulassen kann. Der Orgasmusreflex ist bei Neurotikern ausnahmslos gestört.192

Die sinnliche Lust ist unübersehbar eine Funktion der freien Beweglichkeit des Beckens. Das gelöste Becken ist damit eine wesentliche Voraussetzung für tiefes orgiastisches Erleben. Es ist nicht gerechtfertigt, die wellenförmige~

Bewegung des Körpers auf den sexuellen Orgasmus zu beschränken. In der wellenförmigen Bewegung manifestiert sich der gelöste Atem. Sie ist Kennzeichen jeder freien Atmung. Das gelöste Becken schwingt ständig im Rhythmus der Atmung. Wenn man sich im Zustand der Meditation der Atmung überlässt und mit dem Bewusstsein den durch die Körperwelle ausgelösten Empfindungen folgt, spürt man, wie sich sehr schnell eine Erregung im Körper aufbaut, die die Wellenbewegung des Körpers intensiviert. Bei hoher Erregung löst sich die Beckenbewegung vom Rhythmus der Atmung; sie nimmt eine schnelle Pendelbewegung an, die in eine Entladung einmündet, die dem Orgasmus hinsichtlich der Atemform, der stoßartigen Beckenbewegung und der Empfindungen völlig gleicht.

Es ist auffallend, dass in den meisten Atemlehren, besonders in den esoterischen, die Beckenbewegung unbeachtet bleibt. Konsequenterweise wird in keiner der mir bekannten Atemtherapien auf den offensichtlichen Zusammenhang von Atem und Lust eingegangen. In der Regel erscheint der sinnliche Aspekt nur in verdeckter Form: als beglückende Erfahrung, als Teilnahme am transzendenten Grund, als unbeschreibliche Fülle oder als beglückende Seinsfühlung. »Die Übung selbst ist nicht dazu da, dass man »etwas Schönes« erlebt, sondern dazu, die Verwandlung voranzutreiben, die den Menschen befähigt, immer mehr in der rechten Weise dem »Großen Dritten« zu dienen. Und wo dem Übenden einmal das Glück seines schöpferisch erlösenden Erscheinens zuteil wird, ist sein Segen unabdingbar an die Bedingung geknüpft, dass der Übende nicht im beglückenden Erleben verweilt, sondern ohne Aufenthalt im Weiterschreiten bleibt«.193

Da die pulsatorische Lust dann am intensivsten erfahren wird, wenn der Atem gelöst ist, kann die sinnliche Lust als ein Moment der freien Atmung angesehen werden. Wenn alle Lust zugleich Atemlust ist, wird der Atem zum zentralen Hebel, um in den Mechanismus der Pulsation einzugreifen. Atemlust heißt, dass der Organismus die Potenz hat, in allen Bewegungen Lust zu erfahren. Sie heißt aber auch, dass durch die Kontrolle der Atmung die Lust reduziert werden kann.

Die Sexualität ist nicht die einzige Quelle orgiastischer Lust, wie bisher im allgemeinen angenommen wurde. Jeder einzelne Sinn hat Zugang zur Atemlust und strebt von sich aus nach orgiastischer Befriedigung. Der Körper ist eine allumfassende Lustzone: Hautkontakt, Atembewegung, Zuwendung zu Menschen und Dingen, Eigenwahrnehmung körperlicher Bewegungen, Hören, Riechen, Berühren, Sehen, Schmecken, Selbstberührung u. a. bilden~

zusammen die orgiastische Wirklichkeit des Körpers. Der ungebremste Atemprozess kann eine Erektion auslösen, ohne das dies beabsichtigt ist; sie ist eine reine Begleiterscheinung des erregten Körpers und nicht Vorstufe zum genitalen Akt. Berendt berichtet, dass Kalinga-Paare sich so sehr am Ohr erregen, dass sie dadurch zum Orgasmus kommen, ohne irgendein primäres Geschlechtsorgan zu berühren.194 Vermutlich kann die spezifische Lust einer bestimmten Körperzone zur orgiastischen Erfahrung werden, weil auch der Orgasmus ein Atemmuster ist. Ohne die Erotik der Atmung bleibt jede Lust an einzelnen Körperzonen begrenzt und oberflächlich. Erst die Atemerotik verschafft jeder sinnlichen Teilerfahrung ihre den ganzen Körper überwältigenden Tiefe und Intensität. Aus der Perspektive der Atemlust ist die Sexualität nur als ein Sonderfall der ekstatischen Erregung anzusehen. Die Sonderstellung der Sexualität ergibt sich weniger aus ihrer spezifischen Lust als aus der Tatsache, dass sie einen sehr intensiven sozialen und emotionalen Kontakt zu einer anderen Person darstellt.

Die Erfahrung des vegetativen Strömens ist offenbar ein tiefliegendes Bedürfnis allen animalischen Lebens. Brown behauptet, dass in dem pulsierenden Strömen alle Spannungen aus dem umweltorientierten Handeln sozusagen eingeschmolzen werden können. Er meint, dass der Körper das Bedürfnis hat, »sich von Zeit zu Zeit völlig zurückzuziehen, um so viel Harmonie und Selbsterfüllung zu finden, so dass wir uns, so wie wir sind, wirklich akzeptieren und mögen können«.195 Die Erfahrung des pulsierenden Strömens ist gleichsam eine vorübergehende Rückkehr zu der vegetativen Entwicklungsstufe.196

Beim zielgerichteten Handeln und rationalen Denken kann der Bezug zum lustvollen Urrhythmus der Pulsation leicht verlorengehen, insbesondere wenn Leistungsdruck und Versagensängste hineinspielen. Denn die Formen des vom »Ich« getragenen Umweltkontaktes haben keine eigene Lustqualität; sie können selbst nur so viel Lust entfalten, wie durch das Pulsationsprinzip zugelassen wird. Das Geschehenlassen des Pulsationsprinzips ist die einzige Lustquelle~

des Körpers. Das Lob der Faulheit hat hier seine tiefe Wurzel: im Nichtstun oder in der kurzen Pause können durch aktive Zuwendung zum inneren Lebensfluss die innere pulsierende Aktivität des animalischen Lebens unmittelbar erlebt werden und durch die damit herbeigeführte Entspannung die Fixierungen im Denken aufgelöst werden.

Das Pulsationsprinzip wird durch das autonome vegetative Nervensystem reguliert. Die Prozesse der Expansion und Kontraktion werden durch die antagonistischen Strukturen des Sympathikus und Parasympathikus (Vagus) gesteuert. Der Sympathikus bestimmt dabei die expansiven Impulse zur Anspannung und Energieentfaltung, während der Parasympathikus die regenerative Entspannung und Ausdehnung übernimmt. Beide Pole des Nervensystems wirken in jeder Aktivitätsphase zusammen, es ändert sich lediglich die Stärke der komplementär aufeinander bezogenen Kräfte. Anspannung bedeutet normalerweise nicht die Abwesenheit von Entspannung, sondern nur das Zurücktreten der Anspannung. Beide Pole bedingen einander wechselseitig, greifen ineinander und schlagen ineinander um als Basis ihrer funktionellen Identität.

Das gesunde vegetative Verhalten ist das dynamische Gleichgewicht beider Antagonisten. Je größer die Fähigkeit ist, sich zu entspannen, desto größer ist die Bereitschaft und Fähigkeit, sich für anstrengende Aufgaben anzuspannen und desto weniger muss dafür Energie aufgewandt werden. Aus der Position vollständiger Entspannung gelingt alles mühelos. Die parasympathischen Potenzen bilden so die Basis für die sympathische Energieentfaltung. Die Fähigkeit der parasympathischen Entspannung schafft die bewusste Präsenz des Pulsationsprinzips und begründet die ‚vegetative Ökonomie« im Sinne Reichs. Sie ist das eigentliche vorherrschende Funktionsprinzip des vegetativen Körpers, während das sympathische Funktionsprinzip nur in Notfällen dominant wird.

Das Zusammenwirken der antagonistischen Nervensysteme gerät aus dem Gleichgewicht, wenn vom Sympathikus durch andauernden Leistungsdruck, durch Versagensängste oder Angst vor Strafen und Liebesentzug eine dauerhafte, hohe Energieentfaltung abverlangt und der Organismus damit überfordert wird. Die sympathische Reaktion wird nur in ihrer übererregten Form als Angst erlebt. Der hohe Energieverschleiß manifestiert sich früher oder später in körperlichen Zusammenbrüchen. Krankheit ist stets damit verbunden, dass das Wechselspiel der beiden vegetativen Funktionen unterbunden wird, indem die Anspannung hypertroph entfaltet wird und die Fähigkeit zur Entspannung gestört wird. Gesundheit kann in der Perspektive des Pulsationsprinzips als der Zustand verstanden werden, in dem die rhythmische, pulsierende~

Bewegtheit des Lebens erlebbar und erfahrbar ist. Sie bedeutet die Fähigkeit, die vegetativen Impulse adäquat in psychische Erregung (Gefühlsausdruck) und praktisches Handeln umsetzen zu können.

9.2. Die ekstatische Reaktion

Die Erfahrung des pulsierenden Strömens im Zustand der gelösten Atmung soll im Folgenden als Ekstase bezeichnet werden. »Das Wort Ekstase bedeutet wörtlich, »aus der Stagnation herausgerufen werden«, das Gefühl, über die tägliche Routine hinausgehoben zu werden. Ekstase stammt von der lateinischen Wortwurzel exstasis, »außer sich sein«, eine Redewendung, die sich bei uns in Ausdrücken wie »ich bin außer mir vor Freude« wiederfindet«.197 Der Begriff der Ekstase bezieht sich damit auf die mit dem pulsierenden Strömen verbundene Erfahrung, dass man sich am wohlsten fühlt, wenn alles mühelos und ohne Anstrengung von der Hand geht, so als würde es von allein geschehen.

Es ist falsch, den Begriff der Ekstase für Grenzsituationen der Besessenheit, Selbstvergessenheit oder des Verlustes des normalen Ich-Bewusstseins zu reservieren. Diese Einschränkung ist nicht gerechtfertigt, da jede Bewegung, die aus dem vegetativen Zentrum heraus koordiniert wird und völlig gelöst abläuft, das ekstatische Begleitgefühl auslösen kann. Der Prototyp dafür ist die Atmung, die selbsttätig am besten funktioniert; aber auch beim Sprechen und Denken, beim Tanzen und Musikspielen u. a. kann man beobachten, wie das »Ich« zurücktritt und der Organismus wie von selbst funktioniert. Das dabei auftretende Wohlgefühl ist die Ekstase. Die ekstatische Fähigkeit ist eine angeborene Fähigkeit. Sie ist das Grundprinzip jeder einzelnen Zelle, die sich mit ihrem ständigen Pulsationsrhythmus von Kontraktion und Entspannung in einem spezifischen Schwingungszustand befindet. Sie ist der Zustand, in dem der Organismus nicht mehr an Energie aufbringt, als nötig ist, um eine beabsichtigte Aufgabe zu erfüllen. Das ekstatische Gefühl ist praktisch der Gradmesser, wie sehr man mit seinen Bewegungen identisch ist, mit ihnen in Berührung gekommen ist, also im Jetzt lebt.198 Diesen Zusammenhang hat Goethe geahnt, als er davon sprach, dass alle Lust aus der Leichtigkeit kommt.~

Je stärker dagegen der Alltag von mechanischen, stereotypen Verhaltensweisen Geprägt wird, umso mehr muss die ekstatische Erfahrung, wenn sie einmal durchbricht, als Ausnahmezustand erfahren werden.

Die Intensität des ekstatischen Gefühls kann vom »stillen Feuer« im Bauch, das die Außenwahrnehmung überhaupt nicht beeinträchtigt, bis zum orgiastischen Verströmen des ganzen Körpers reichen, das eine Außenwahrnehmung nicht mehr zulässt. Die ekstatische Erregung schwingt im Atemrhythmus, steigt in der Ausatmung an und flaut in der Einatmung unterschiedlich stark ab. Sie steigert sich in der Ausatmung umso mehr, je mehr sich das Bewusstsein auf den Körper zurückwendet. Das unterschiedliche Niveau hängt offenbar davon ab, wie stark die Fähigkeit und Bereitschaft da ist, den Körper mit der ekstatischen Erregung mitschwingen zu lassen. Es kommt darauf an auszuloten, wie viel ekstatisches Bewusstsein jede Situation zulässt. Tanzen, Musizieren im Stehen, auch Gehen sind günstiger als Sitzen.

Jeder Sinnengenuss hat seine Erregungsqualität aus dem ekstatischen Moment. Es gibt keinen sinnlichen Genuss, bei dem nicht die Ekstase mehr oder minder beteiligt ist. Da Ekstase ein Bewegungsvorgang ist, gibt es nur dort sinnlichen Genuss, wo Bewegung ist. Der sinnliche Genuss ist das langsame Anschwellen der Lust in der seiner selbst bewussten Bewegung des Körpers. Im antiken Griechenland wurde von Aristippos die Auffassung vertreten, dass nur die mit der Bewegung verbundene Lust erstrebenswert sei und dass es deshalb einen geistigen Genuss nicht geben könne.199 Die geistige Beschäftigung kann nur lustvoll sein, wenn sie als körperbezogenes Denken die Barrieren für die lustvolle Eigenschwingung des Körpers beseitigt.

Ekstase zeichnet sich dadurch aus, dass eine Verbindung von zunehmender Frequenz der Muskeln bei gleichzeitig abnehmender Erregung des Nervensystems erreicht wird. Die erhöhte Frequenz der entspannten Muskeln wird als höherer Energiefluss erfahren. Durch die Entspannung der Muskeln kann sich die Erregung, die bisher durch die verspannten Muskeln unterdrückt wurde, entfalten und über den ganzen Körper ausbreiten. Der Organismus entspannt sich in einen zunehmenden Erregungszustand hinein, so dass eine Resonanz von hoher Energie und niedriger nervlicher Erregung entsteht. Im Gegensatz zum kurzfristigen Höhepunkt des sexuellen Orgasmus ist die ekstatische Reaktion kein Reflexmechanismus, der wie im Orgasmus mit einem kurzfristigen Verlust des Bewusstseins und der Kontrolle verbunden ist. Sie kann deshalb über einen längeren Zeitraum aufrecht erhalten werden.

Die These, dass Ekstase nicht erzwungen werden kann, sondern sich nur im~

Geschehenlassen des Körpers ereignet,200 ist nicht ganz richtig. Ekstase kann spontan auftreten; sie kann aber auch durch die Wahl von geeigneten Handlungsfolgen aktiv vorbereitet werden, so dass sie ziemlich zielstrebig ausgelöst werden kann. Dabei kann der Atem als das eigentliche ekstatische Steuerorgan benutzt werden. Im bewussten Atem kann sich der Körper entspannen. Die entspannten Atemmuskeln können übrige, noch verspannte Muskeln in Resonanz bringen. Selbst im ekstatischen Zustand kann man mit der bewusst geführten Atmung verstärkend und hemmend in die ekstatische Erregung eingreifen.

Der Atem arbeitet bei der ekstatischen Reaktion mit dem Ohr zusammen, das in seiner archaischen Form als Vestibularapparat die feinsten Körperbewegungen registriert.201 Das Ohr vergleicht ständig den aktuellen Körperzustand mit früheren ekstatischen Erfahrungen. Den Mangel an Bewegungen wahrnehmend gehen von ihm Impulse aus, die Eigenschwingungen der Zellen und Körperteile zuzulassen, die für die ekstatische Reaktion erforderlich sind. Körperliches Bewusstsein ist primär die Wahrnehmung der normalen, überhöhten oder reduzierten Schwingungen einzelner Körperzonen. Bewusstsein ist stimulierende Teilhabe an den Schwingungsvorgängen: Bewusstsein ist deshalb im Prinzip ein Hörvorgang.202

Der Entspannungsbegriff versperrt das Verständnis der ekstatischen Reaktion. Er enthält die problematische Vorstellung, dass das Erregungsniveau herabgesetzt und praktisch ruhig gestellt werden soll. In physiologischer Hinsicht ist Entspannung aber kein Freiwerden von Spannungen, sondern nur eine Herabsetzung der nervlichen Erregung auf ein etwas niedrigeres Niveau, das für die Arbeitsweise des parasympathischen Nervensystems optimal ist. Die negative Bestimmung des Entspannungszieles, Spannungen abzubauen, wird häufig so missverstanden, dass auch die ekstatische Erregung, die mit der Entspannung der Muskeln einhergeht, abgewehrt werden soll. Ich habe deshalb den Eindruck, dass die eigentliche Funktion des Entspannungsbegriffs darin besteht, die Wahrnehmung der ekstatischen Reaktion zu verhindern.~

9.3. Die Sonderstellung der Atmung

Die Funktion der Atmung bei den Gefühlen, beim Denken und bei der sinnlichen Lust belegt die überragende Sonderstellung, die das Atemzentrum in dem Zusammenwirken des autonomen vegetativen Nervensystems mit dem bewussten »Willen« der Gehirnrinde einnimmt. Da das autonome vegetative Nervensystem die Lust steuert und die Gehirnrinde die bewusste lusteinschränkende Kontrollleistungen vollbringt, ist anzunehmen, dass die Atmung auch eng mit der inneren Selbstdisziplin zusammenhängt.

Seit der historischen Herausbildung des subjektiven Bewusstsein, gilt das »Ich« als die Instanz, die den kulturell erforderlichen Einfluss auf psychische und körperliche Prozesse organisiert. Allerdings gibt es keine schlüssigen Erklärungen dafür, wie das »Ich« es fertigbringt, die körperlichen Regungen mit den gesellschaftlichen Anforderungen auszugleichen. Die Vorstellung, dass es mit bestimmten Transformations-, Anpassungs- und Abwehrmechanismen arbeitet, bietet keine wirkliche Erklärung, sondern kategorisiert nur unterschiedliche psychische Arbeitsweisen. Aus den bisherigen Überlegungen geht hervor, dass die Atmung das eigentliche körperliche Steuerzentrum ist. Sie bildet einerseits mit ihren äußerst sensiblen Reaktionen auf alle Umweltveränderungen die Nahtstelle zwischen Organismus und Umwelt und organisiert andererseits in Form von Emotionen und Sprache die aktive Beeinflussung der Umwelt.

Die Atemsteuerung ist ein äußerst komplexes Geschehen, an dem drei Steuerzentren beteiligt sind. Das phylogenetisch älteste Atemzentrum sitzt im verlängerten Hirnstamm (Medulla oblongata). Es ist das eigentliche vegetative Atemzentrum. Im Zwischenhirn wirkt das limbische Atemzentrum, das für die emotionalen Atemreaktionen (Weinen, Lachen u. a.) zuständig ist. Die ganze Großhirnrinde stellt das dritte Atemzentrum dar (cortikales Atemzentrum), das mit den inneren Vorstellungen die willkürlich zu beeinflussende Motorik steuert. Diese drei Atemzentren besorgen zusammen die automatische Gestaltung der Atembewegung, die zur Erledigung der von der Umwelt abverlangten Aufgaben erforderlich ist. Durch die reflexhafte Regulierung der Drüsentätigkeit und des Muskeltonus werden günstige innere Arbeitsbedingungen für die äußere Bewegung geschaffen. Diese selbsttätige, den ganzen Körper erfassende Anpassungsleistung wird als Bereitschaftsreflex bezeichnet. Da der Bereitschaftsreflex unmittelbar auf alle Reize aus der inneren und äußeren Umwelt reagiert, sind die Reaktionen des Körpers umso genauer, feiner und belebter, je sensibler und wacher die Sinnesbeziehung zu den Reizen ist. Denn der Organismus kann auf die Anforderungen der Umwelt nur eine angemessene~

Antwort finden, wenn die Sinnesorgane leistungsfähig sind und mit großer Feinfühligkeit und Wachheit alle Reize der Umwelt aufnehmen. In der spontanen Anpassung des gesamten Organismus an die Umwelt nimmt die Atmung eine Schlüsselfunktion ein, da sie das einzige Organ ist, das willkürlichen, bewussten Einflüssen zugänglich ist. Die Atemsteuerung kommt stets ins Spiel, wenn das Verhalten verändert werden soll. Für das Erlernen von neuen Bewegungsmustern ist die willkürliche Steuerung der Atmung durch die Großhirnrinde unentbehrlich. Nur über eine veränderte Atmung können die erforderlichen Veränderungen im inneren physiologischen Milieu eingeleitet werden. Bei neuen Bewegungsmustern fehlt zunächst das spontane Zusammenspiel der einzelnen Körperteile untereinander und ihre Abstimmung mit der Atmung. Durch die bewusste Lenkung kann dieser Lernprozess gefördert werden. Sobald die Bewegung im Prinzip beherrscht wird, kann das vegetative Atemzentrum die Steuerung und damit die flexible, kreative Anpassung der Bewegung an veränderte Umweltsituationen wieder übernehmen. Dadurch kommt der Anschein von Leichtigkeit und Mühelosigkeit selbst bei hochkomplizierten Bewegungen zustande. Ohne die willkürliche Einflussnahme wäre z.B. die Entwicklung der Sprache nicht denkbar. Insofern ist das cortikale Atemzentrum die Basis für die soziale und kulturelle Entwicklung des Menschen.

Das konkrete Verhalten ergibt sich aus dem Zusammenspiel des vegetativen mit dem cortikalen Atemzentrum. Alles, was als spontaner Lebensvollzug, als spontanes Geschehenlassen erfahren wird, wird vom vegetativen Atemzentrum geleitet, während das, was als Ergebnis von willensmäßiger Anstrengung und Kontrolle erfahren wird, vom cortikalen Atemzentrum ausgeht. Das cortikale Atemzentrum hat die Aufgabe, die gesellschaftlichen Anforderungen aktiv in Atemmuster zu übersetzen, mit denen der Organismus die entsprechenden Aktivitäten leisten kann. Dabei arbeitet es mit inneren Vorstellungen, die die Anforderungen in Form von spezifischen Bewegungsmustern enthalten.

Die Desensibilisierung des Körpers, wie sie im historischen Prozess der zunehmenden Disziplinierung durchgesetzt wurde und in jedem einzelnen Leben mit Schmerzen wiederholt werden muss, ist das Ergebnis der cortikalen Atemkontrolle. Diese Leistung wird im allgemeinen dem rationalen »Ich« zugeschrieben. Das »Ich« stellt so eine Personalisierung der cortikalen Eingriffe im Interesse der sozialen Selbsterhaltung dar.

Die Kernfrage bei der Verhaltenskontrolle ist, ob die selbsttätige Atemsteuerung nur vorübergehend aufgehoben wird oder dauerhaft gestört wird. Jeder Versuch, sich zu einem bestimmten Verhalten zu zwingen, das den inneren Empfindungen widerspricht, bedeutet eine bewusste Einflussnahme auf die~

Atemsteuerung. Die vom vegetativen und limbischen Atemzentrum spontan vorgesehenen Atemmuster werden durch Befehle aus der Großhirnrinde durchkreuzt und entsprechend den äußeren Anforderungen modifiziert. Wenn das von außen erzwungene Verhalten wiederholt ausgeführt wird, schwächt sich die ursprüngliche Sensibilität der Sinnesorgane ab (z.B. Entstehung von Sehschwäche), so dass das Atemzentrum nach dem Lernprozess nicht in die ursprüngliche vegetative Atemsteuerung zurückkehren kann, sondern künftig nur noch reduzierte Sinneswahrnehmungen für seine Anpassungsarbeit zur Verfügung stehen und auf dem reduzierten Niveau der Umweltbeziehung die Anpassung immer häufiger misslingt.

Es ist hervorzuheben, dass nicht jeder bewusste Eingriff in den Atemprozess negativ zu bewerten ist. Positiven Eingriffen geht in der Regel die sensible Wahrnehmung voraus, dass der Organismus nicht bei der Sache ist, dass er also nicht in der Gegenwart, nicht zentriert ist und deshalb die Bewegungen zwanghaft und mechanisch ablaufen. Da dieser Zustand selbst durch unwillkürliche cortikale Eingriffe in den Atemprozess hervorgerufen wurde, hat die willkürliche Atemsteuerung die Aufgabe, die störenden Einflüsse zu korrigieren und ihnen so entgegenzusteuern, dass der Atem in einen der Situation angemessenen Rhythmus einschwingen kann. Die Atmung kann wahrnehmen, dass der ekstatische Erregungsfluss blockiert ist, und aus dem cortikalen Atemzentrum die Verspannungen »wegatmen«. Im ständig präsenten Atembewusstsein hat so der Organismus die Fähigkeit, aus der bewussten Erfahrung die Defizite zwischen dem aktuellen Zustand der Atmung und der Erinnerung an den Optimalzustand wahrzunehmen und darüber zu entscheiden, wie der gestörte Atem in einen ausgeglichenen Rhythmus zurückgeführt werden kann. Das Atembewusstsein konstituiert das Atem-Ich. Das Atem-Ich darf aber nicht zu einer eigenständigen Instanz mystifiziert werden, da dieser Begriff letztlich nur die neue Gesamtverfassung des Organismus kennzeichnen soll, dessen Selbstorganisation sich an der Intensivierung der Lust orientiert.

Wird aber die Atemkontrolle überwiegend unbewusst vollzogen, verändert sich die Qualität der Kontrolle zu einer gegen die eigentlichen Lustpotentiale gerichteten Bewegung. Während bei der bewussten Atemsteuerung die Kontrolle ihre Kraft aus der Antizipation der Luststeigerung nimmt, erhält sie ihre Impulse bei der unbewussten Kontrolle von der Angst vor Liebesverlust, Strafen, Nachteilen u. a.

Die dauerhafte Dominanz des cortikalen Atemzentrums äußert sich in chronischer Brust- bzw. Hochatmung. Der Einatem sammelt sich dann überwiegend in dem oberen Teil der Lunge. Die Atembewegung wird hauptsächlich von den Muskeln des Brustkorbes geleistet. Das Zwerchfell ist fast nicht beteiligt.~

Solche Menschen wirken »hochgezogen« oder sogar »aufgebläht«. An der Art dieser Atmung ist unmittelbar abzulesen, dass sie die Funktion hat, den Kontakt mit dem animalischen Bereich im Bauchzentrum abzuschnüren. Das angespannte Zwerchfell wirkt praktisch wie ein Schutzschild gegen die Erregungsströme aus dem Unterleib. Wenn das Zwerchfell, das im unkontrollierten Atem der Dirigent ist und im Zusammenspiel aller Atemmuskeln den Takt gibt, sich verkrampft, entsteht ein Dauerdruck auf den Bauchraum, so dass die vitalisierende, den Blutfluss steigernde Massage, die das Zwerchfell normalerweise auf die Bauchorgane ausübt, ausfällt.

Die Qualität der Kontrolle ist danach zu beurteilen, mit welchen Zielsetzungen die Atemkontrolle gegenüber den körperlichen Erregungen eingesetzt wird. Ist die Atmung an der Intensivierung der sinnlichen Lust orientiert, unterstützt die Kontrolle die Selbstorganisation. Kontrolle im Dienst der Ekstase verliert ihren Charakter der Fremdbestimmung. Selbstorganisation impliziert immer schon Kontrolle, da sie sich an eigenen Kontrollwerten orientiert. Wenn sich Bewusstsein an den körperimmanenten Zielwerten orientiert, wird es Teil der körperlichen Selbstorganisation. Der Gegensatz zwischen Kontrolle und Selbstorganisation verschwindet. Es wird deutlich, dass beide Begriffe im entspannten Organismus letztlich das gleiche bedeuten.

Die Tatsache, dass die Frequenz der Farbe violett, die den Geist charakterisiert, genau eine Oktave höher liegt als die Frequenz der die sexuelle Energie charakterisierenden Farbe rot, gibt einen Hinweis auf die tiefen Zusammenhänge zwischen bewusstem Denken und der sinnlichen Selbstorganisation. Nach dem Gesetz der Oktave sind beide Phänomene unterschiedlich, aber im Kern doch das gleiche. »Die Oktave schwingt doppelt so schnell, ist aber dennoch der gleiche Ton. Sie spaltet die Einheit in zwei Teile und das Ergebnis ist: noch mal dasselbe« 203 Die sexuelle Verschmelzung und die geistige Intuition erscheinen somit als identische Vorgänge auf unterschiedlichem Niveau. Wenn ich mich mit etwas identifiziere und einverstanden bin, bin ich auch eins mit ihm, wie es die Sprache deutlich ausdrückt. Beide Verschmelzungsvorgänge misslingen, wenn sich die Kontrolle unreflektiert an körperfremden gesellschaftlichen Imperativen orientiert.

Vermutlich wurzelt das Gefühl der Freiheit im spontanen, sich selbst regulierenden Atem. Freiheit hat seine Substanz darin, in sozialen Konflikten die eigenen Bedürfnisse uneingeschränkt und ohne Angst einbringen zu können, ohne vorweg schon Abstriche an den eigenen Bedürfnissen vorzunehmen. Dies gelingt nur, wenn man in der sozialen Beziehung mit seinem Atem~

in Kontakt ist. Wenn der Atem losgelassen werden kann, bietet er eine sichere Orientierung in der sozialen Auseinandersetzung. In der Umgangssprache teilt sich das in Redewendungen mit wie »frei durchatmen können« oder in befreiten Situationen »aufatmen« können. Wenn jemand schwer Luft bekommt, zeigt sich darin häufig die Angst, den Schritt in die Freiheit und Selbständigkeit zu tun. Die Freiheit wirkt dann atemberaubend. Der freie Atem ist nichts anderes als der Atem, der spontan der vegetativen Steuerung folgt und nicht durch Gegenkräfte behindert wird. Freiheit ist damit ein körperlicher Zustand wie jedes andere Gefühl. Das Gefühl der Freiheit bedeutet, dass ein Gespür dafür vorhanden ist, wie der aktuelle Atem von dem spontanen, vegetativ gesteuerten Atem abweicht. Aus dem Vergleich mit dem befreiten Atem erwächst die Fähigkeit, den aktuellen Atem so zu beeinflussen, dass er in seine spontane Form zurückfindet. Im bewussten Zugang zum Atem hat der Organismus so die Chance, bei einem gestörten Atem die Selbstregulierung zu aktivieren. Im bewussten Atem ist somit eine immanente Negation von sozialer Herrschaft angelegt.

Den freien Atem gibt es nur in Grenzsituationen, wo völlige Resonanz mit anderen Menschen und eine Identität zwischen den inneren Impulsen und dem sozialen Verhalten zustandegekommen ist. Im Regelfall ist der Atem mehr oder minder angespannt, da repressive Gesellschaften authentisches Verhalten extrem erschweren. Freiheit ist deshalb ein utopisches Gefühl. Die Metapher vom »freien Atem« kann deshalb nicht mehr als eine regulative Idee sein, die einen anzustrebenden Zustand festhält. Dagegen ist die Metapher des »natürlichen Atems« zu vermeiden. Sie huldigt dem Mythos des befreiten, natürlichen Körpers, der authentischen Erfahrung und der Herstellung von Unmittelbarkeit im Hier und Jetzt. Unter sozialen Bedingungen gibt es nur den gesellschaftlich geprägten Atem, der gleichwohl natürlich im Sinne von kreatürlich ist.

Dem subjektiven Bewusstsein scheint die innere Kontrolle vom Willen auszugehen. Die Konzepte der Atemkontrolle und der inneren Stimme werfen aber ein neues Licht auf die uralte Problematik, ob es einen Willen gibt und wie dieser zu verstehen ist. Bei dem Willensproblem ist die zentrale Frage, von welcher Instanz die Aufgabe erledigt wird, alle Fähigkeiten des Organismus, seine Erfahrungen, die sozialen Anforderungen, die Vorstellungen und Erwartungen vom Zielzustand u. a. auf das Bewegungsziel hin so zu koordinieren, dass ein optimales Handeln zustandekommt. Unter den verschiedenen psychologischen und philosophischen Antworten dominieren die beiden Auffassungen, dass das »Ich« oder der »Wille« die Vereinheitlichungsinstanz seien.

Die Existenz des Willens scheint unzweifelhaft zu sein, da er unmittelbar~

existentiell als drängender Impuls, als Antrieb u. a. erfahren werden kann. Gleichwohl muss gefragt werden, ob es gerechtfertigt ist, dieses Antriebsmoment als »Willen«, verstanden als eine selbständige psychische Fähigkeit oder Instanz, zu begreifen und ob die Erfahrung nicht an eine spezifische historische Erfahrungssituation gebunden ist. Wahrscheinlich tritt der Wille überhaupt erst dann in Erscheinung, wenn spontanes Handeln auf Widerstand trifft und der Organismus herausgefordert wird, entweder den Widerstand zu brechen oder die Antriebe in sich zu unterdrücken. So ist das Bild des »harten, strengen Willens«, der unbarmherzig sich gegen die eigenen persönlichen Impulse richtet, in einer historischen Phase entstanden, in der die Spontaneität äußerst autoritär wie z.B. in der »schwarzen Pädagogik« des 19 Jh. 204 unterdrückt worden ist. 205 Kann dagegen das Handeln unmittelbar aus den spontanen Antrieben herausfließen, erscheint das Handeln als mühelos, so als würde es keine Anstrengung erfordern.

In freien körperlichen Bewegungen erfahre ich nicht primär den »Willen«, sondern das Bild eines Zustandes, das ich erreichen möchte. Die Zweck- und Zielorientierung des Handelns ist selbstverständlich und die Zielbilder richten sich in der Regel von vornherein auf Erreichbares, so dass kein direkter Wille in Erscheinung tritt. Dagegen erfahre ich bei äußerem Widerstand meinen Handlungsimpuls konkret als innere Anforderung, sozusagen als »Befehl«, den ich mir selber gebe. Der Aktionsimpuls nimmt die Gestalt einer inneren Stimme an. Ich sage zu mir selbst, was ich wollen soll.

Die Gestalt des »inneren Befehls« ist das Produkt des Erziehungsprozesses. Es ist ein langer, mühsamer Lernprozess, die zunächst unbestimmten körperlichen Impulse mit Bildern und sprachlichen Befehlen zu verbinden, die ihnen eine gesellschaftlich zulässige Form der Befriedigung verschaffen. Was schließlich als »Bedürfnis« erlebt wird, ist nichts ursprüngliches, sondern das Resultat einer sprachlich vermittelten Prägung körperlicher Impulse. Der »innere Befehl« spiegelt die sozialen Kommunikationsstrukturen und kulturellen Interpretationen wider. Er ist unerbittlich und streng unter autoritären und versöhnlich unter liberalen Verhältnissen. Auf jeden Fall wäre es falsch, den »inneren Befehl« mit dem Antrieb gleichzusetzen. Wenn der Ausgleich zwischen den körperlichen Impulsen und den gesellschaftlichen Forderungen spontan gefunden wird, gibt es keinen Willen. Denn wenn der Atem vollständig~

aus dem vegetativen Atemzentrum gesteuert wird, wird der »innere Befehl« überflüssig. Deshalb ist auch die Forderung unsinnig, den Willen zu schulen oder zu beherrschen.

Wenn erst sozialer Druck den »Willen« hervorbringt und der individuelle Wille gestörter Atem ist, bedeutet dies für die Atmung, dass sie durch die gesellschaftlichen Anforderungen in eine Form gezwungen wird, die sie in Diskrepanz mit ihrer vegetativ gesteuerten Form geraten lässt. Dies ist gleichbedeutend mit der schwindenden Fähigkeit, den vegetativen Atem zu erleben und selbst herbeizuführen. Über den Atem findet so die Vergesellschaftung des Einzelnen statt. Der Atem hört praktisch auf, der eigene Atem zu sein. Er wird in den Rhythmus der gesellschaftlichen Unterdrückung gepresst. Jede Enteignung von ursprünglichen Fähigkeiten der Selbsterhaltung, die der Einzelne im Verlauf des Vergesellschaftungsprozesses erfährt, ist gleichzeitig mit einer Enteignung von der Selbststeuerungsfähigkeit der Atmung verbunden, die Grundlage aller Gleichgewichtsprozesse ist.

9.4. Ersatz der Innenorientierung durch Moral und Willen

Das patriarchale abstrakte Denken ist seiner inneren Struktur nach ein moralisches Denken, das alles an äußerlichen Werten misst. Aufgrund des verlorenen Kontakts zu den eigenen Empfindungen und Emotionen ist es auf eine Orientierung an fremden Werten angewiesen. Alexander Lowen hat bei der Analyse von schizoiden Störungen festgestellt, dass in dem Moment, wo die Lust als Orientierungsmaßstab des Verhaltens abgewehrt werden muss, der »Wille» an seine Stelle tritt.206 Dadurch wandelt sich das flexible und plastische Verhalten der Lust in etwas Rigides und Zwanghaftes. An die Stelle der lustvollen Bewegung tritt die zwanghafte Kontrolle des Verhaltens.

Wenn das Atembewusstsein in der Bemühung verlorengegangen ist, die körperliche Erregung durch die Atembeeinflussung unter Kontrolle zu halten, wird es zur zwingenden Notwendigkeit, ein neues Orientierungssystem durch soziale Leitbilder usw. aufzubauen. Die Freiheit von körperlichen Erregungen wird erkauft durch die Abhängigkeit von sozialen Erwartungen.

Das moralische Denken tendiert aufgrund der ihm zugrundeliegenden Unsicherheit zu Rigorismus, Fanatismus und Intoleranz, um die innere Unsicherheit zu überdecken. Die Werte werden deshalb regelmäßig durch normative Sanktionierung jeder Kritikmöglichkeit entzogen. Das moralische Denken tritt mit dem Anspruch auf Wahrheit und Allgemeingültigkeit auf. Es unterstellt implizit die Steuerbarkeit des Verhaltens aus Einsicht in die Richtigkeit von vorgegebenen Normen. Das moralische Denken~

duldet keine Selbstzweifel und Selbstdistanzierung. Es drängt die anderen in zwanghafte, selbstdisziplinierende Erziehungsmaßnahmen, um die Wahrnehmung abweichender Lebendigkeit zu vermeiden. Moral ist deshalb das Instrument von Selbst- und Fremdisziplinierung. Moral ist die Folge schwacher Atmung.

Für das moralische Denken ist unvorstellbar, dass menschliches Leben auch ohne Werte organisierbar ist. Für die Diskussion des normativen Problems ist die Unterscheidung zwischen individualistischen und sozialen Werten wichtig. Die bürgerliche Gesellschaft lässt sich durch die Dominanz von individualistischen Werten charakterisieren. Für die Selbstbehauptung des Individuum in einer hierarchischen Konkurrenzgesellschaft mit einer privaten Eigentumsordnung sind Fleiß, Pflichterfüllung, Gehorsam, Leistung, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Mut, Ausdauer u. a. unerlässlich. Der zentrale Wert ist die Selbstverwirklichung. Allen individualistischen Werten ist gemeinsam, dass sie nur durch starke Widerstände gegen die primären Impulse nach Lust und Muße erworben werden können und einen starken Willen bedingen. Vorbürgerliche Gesellschaften waren dagegen durch ein Übergewicht sozialer Werte wie Freundschaft, Vertrauen, Toleranz, Liebe, Großzügigkeit, Gastfreundschaft, Solidarität u. a. geprägt. Während die individualistischen Werte primär durch disziplinierende Erziehungsmaßnahmen gelernt werden müssen, zeichnen sich die sozialen Werte gerade dadurch aus, dass sie nicht erzogen werden können, sondern sich nur dort entwickeln, wo sie vorgelebt werden. Die sozialen Werte sind streng genommen keine Werte, sondern stellen das Gefühlsklima sozialer Beziehungen dar. Sie basieren auf dem Bedürfnis nach harmonischen, anerkennenden Gefühlsbeziehungen, sie wurzeln also in Bedürfnisstrukturen, die sich selbst stabilisieren. Wenn die sozialen Beziehungen nach dem Modell eines liebevollen Verhältnisses zu sich selbst strukturiert werden, werden die äußeren Werte durch den inneren »Gefühlskompass« überflüssig gemacht. Nur Handeln aus Liebe, Solidarität oder Verantwortung ist ein Handeln aus Einsicht; alles andere Handeln ist Gehorsam gegenüber äußeren Geboten. Affektiv angeleitetes Handeln erfolgt spontan und als unvermeidliche Aktion, da es dem Bedürfnis nach Entwicklung und wahrhaftigen Gefühlsausdruck entspricht.

In der ethischen Diskussion wird oft die psychoanalytische Einsicht übersehen, dass Gewalt, Habsucht und Betrug, gegen die sich die traditionellen Ethiken wenden, nicht primäre Beschaffenheit der menschlichen Natur sind, sondern sekundäre Folge von erlittener Gewalt, der Verletzung der elementaren~

Bedürfnisse oder der Demütigung der Selbstachtung. Mit Aggression und Hass versucht der Verletzte, seine Wunden zu heilen, ohne je die Sehnsucht nach einer liebevollen Beziehung aufzugeben.

Individuell richtige Entscheidungen sind nur dann möglich, wenn man sich vorurteilsfrei der Situation überlassen kann. Moralische und theoretische Orientierungen stören, da sie zu gewohnheitsmäßigem Verhalten und stereotypem Denken drängen. Wenn Gilligan die weibliche Moral als kontextabhängig kennzeichnet, weist sie darauf hin, dass die Frauen eher in der Lage sind, sich in ihren Entscheidungen von den von der Situation ausgelösten Gefühlen anstatt von abstrakten Kriterien leiten zu lassen.207 Die im Feminismus beliebte Formel »mit dem Bauch denken« charakterisiert ein Denken, dass sich nicht vom Körper abspaltet, sondern in den primär im viszeralen Bereich angesiedelten Empfindungen wurzelt. Moralisches Denken macht solches autonomes Handeln unmöglich. Es ist verdinglichtes Denken, weil es den Bezug zu den eigenen Bedürfnissen abschneidet.

9.5. Unterdrückung der Ekstase

Anthropologische Untersuchungen über den Schamanismus in Jäger- und Sammlerkulturen legen den Schluss nahe, dass Rituale der religiösen Ekstase ein Kernbestandteil aller archaischen Kulturen waren. Offensichtlich liegt ihnen eine neurophysiologische Potenz und ein entsprechendes Bedürfnis zugrunde. 208 Ekstase wird zur kulturellen Gestaltungsaufgabe, wenn sie sich nicht mehr in alltäglichen Handlungsvollzügen ausdrücken kann. Dieser Punkt wurde historisch vermutlich dann erreicht, als die Kommunikation der Menschen untereinander von einer entfalteten Sprache geprägt wurde. Denn dann konnten die inneren Vorstellungen mit soviel Energie besetzt werden, dass das Bewusstsein aus der Aktualität des gegenwärtigen Augenblicks herausfiel und das sensible Gespür für die inneren Empfindungen und Erregungsströme verlorenging. Es spricht deshalb viel dafür, dass die ekstatischen Rituale erst mit der Entstehung der Sprache entstanden sind.

In fast allen archaischen Kulturen werden dem menschlichen Grundbedürfnis nach Ekstase religiöse Rituale zur Verfügung gestellt. Sie enthalten Interpretationen über den Sinn der Ekstase, stecken den möglichen~

Umfang der Erfahrungen ab, legen fest, wie die Erfahrungen aus der »anderen« Wirklichkeit zu verstehen sind und geben praktische Hinweise, wie die Ekstase zu erreichen und zu beenden ist. Trotz aller Vielgestaltigkeit gleichen sich die Rituale in hohem Maße. Die Ekstase wird mit ähnlichen Körperhaltungen und Sinnesreizen (z.B. monotones Trommeln) eingeleitet. Die Vorstellungen über die Seelenwanderung, die Begleitung von Toten in die Unterwelt, der Kontakt mit den Toten, die Erscheinung von Göttern, Geistern, Dämonen, die Anrufung von Hilfsgeistern, der Heilvorgang, Verwandlung in Tiere, Wiedergeburt u. a. sind in die allgemeine Vorstellung eingebettet, dass es eine »andere« Wirklichkeit, eine höhere, wirklichere Wirklichkeit gibt, zu der man nur in der Ekstase Zugang finden kann. Der veränderte Bewusstseinszustand der Ekstase wurde so als Tor zur höheren Wirklichkeit begriffen. Es war die Funktion der Initiationsriten, die Jugendlichen in die kulturellen Formen der Ekstase einzuführen.

Hinter allen kulturellen Erscheinungsformen der religiösen Ekstase ist der Versuch zu erkennen, den durch die Entwicklung der Sprache bedingten Verlust an Unmittelbarkeit im Kontakt mit den inneren Impulsen wiederherzustellen. Es wurde intuitiv erkannt, dass mit Hilfe der Ekstase die physiologischen Voraussetzungen dafür geschaffen werden können, um Blockierungen im psychischen, mentalen und spirituellen Bereich aufzulösen und damit die Lust am Leben, die identisch ist mit dem flexiblen Umgang mit den inneren Vorstellungen, zurückzugewinnen. Die ekstatischen Rituale haben damit die Funktion, den unter kulturellen Lebensbedingungen ständig gefährdeten Kontakt zu den inneren Empfindungen und Impulsen wiederherzustellen. Sie waren das notwendige Korrektiv, um sprachlich bedingte Fixierungen zu erkennen und aufzulösen.

Die universelle Verbreitung der Ekstaserituale in den alten Jäger- und Sammlerkulturen bedeutet, dass sie für Kulturen, die dem Einzelnen einen relativ großen Spielraum geben und eine einsichtige Befolgung der Gruppenregeln erwarten, unverzichtbar waren. Durch die Ritualisierung der Ekstasefähigkeit wurde ein Potential der Selbstkorrektur erschlossen. Allerdings wurde es durch die kulturell vorgegebenen spirituellen Interpretationsmuster immer schon wieder eingeschränkt. Der kulturelle Kosmos religiöser Vorstellungen hat von Anfang an spontane Gedanken, die sich in der Ekstase bilden, in kulturell akzeptable Richtung kanalisiert. So blieben kulturelle Dogmen wie z.B. die Geschlechterrollen von der ekstatischen Veränderungsdynamik ausgeschlossen. Beziehungsfragen konnten nur in verschleierter Form als spirituelle Probleme bearbeitet werden. Ebenso wurden demütigende Erfahrungen bei sozialer Bevormundung gänzlich ausgeblendet. Auf jeden Fall hatte aber die~

Fiktion der höheren Wirklichkeit die nützliche Funktion, den inneren Stimmen Autorität zu verleihen und somit dem Einzelnen Selbstgewissheit bei der Verfolgung der inneren Anweisungen zu geben. Solange er sich als abhängiger Befehlsempfänger höherer Wesen empfinden konnte, brauchte er nicht die Verantwortung für sein Verhalten zu übernehmen.

Die patriarchale Kultur hat die Rituale der religiösen Ekstase total ausgelöscht, weil die ihr zugrundeliegende Haltung des Gehorsams gegenüber den inneren Impulsen und Stimmen mit hierarchischen Herrschaftsstrukturen unvereinbar ist. Soziale Herrschaft verlangt die Erziehung von Menschen zu willenlosen Befehlsempfängern von äußeren Anweisungen. Sie braucht die Fähigkeit zur kritiklosen Unterwerfung unter die herrschenden Vorstellungen. Die Fixierung der inneren Vorstellungen, die in archaischen Kulturen als Störung im Fluss des Lebens begriffen wurde, wurde jetzt zum herrschenden Lebensprinzip. Die vielfach beklagte Verfestigung, ja Versteinerung der Verhaltensweisen kann als Folge der radikalen Verdrängung der ekstatischen Erfahrung aus dem gesamten kulturellen Leben verstanden werden.

Bei der Diskriminierung der ekstatischen Reaktion spielt sicherlich eine wesentliche Rolle, dass lange Zeit die Ekstase als ein Privileg der Schamanen, Priester und Machthaber angesehen wurde. Ekstase wurde als ein veränderter Bewusstseinszustand verstanden, in dem die Seele aus dem Körper heraustritt, um sich auf die Reise zu den Göttern im Himmel oder in der Unterwelt zu begeben und direkt mit ihnen in Kontakt zu treten. Ekstase wurde als mystische Reise erfahren. Nur die Seele des Schamanen sollte ungestraft den Körper verlassen dürfen und in den Himmel vordringen. Er hatte das Vorrecht, mit Hilfe der Ekstase andere zu heilen. Aufschlussreich ist der häufig anzutreffende Mythos, dass in der Urzeit alle Menschen jederzeit zu den Göttern aufsteigen konnten und dass in der Gegenwart nur noch die Schamanen die Fähigkeit haben, an den Anfang der Zeit zurückzugehen.209 Hieraus kann das Eingeständnis abgelesen werden, dass im Grunde alle Menschen die Fähigkeit zur Ekstase haben und dass die Schamanen im eigenen Herrschaftsinteresse die anderen von ihrer Ekstasefähigkeit zu enteignen versuchten.

In der abendländischen Kultur wurde die ekstatische Reaktion völlig aus dem kulturellen Bewusstsein verdrängt. Vom Christentum wurde die Ekstase mit so viel Ängsten verbunden, dass bereits die ersten Vorboten der ekstatischen Reaktion vom kontrollierenden Ich zurückgedrängt werden. Es stellt sich die Angst ein, die Kontrolle über sich zu verlieren, von diesem Gefühl überwältigt oder wahnsinnig zu werden und die Fähigkeit der Arbeitsdisziplin~

zu verlieren. In der Angst vor dem ekstatischen Gefühl schwingt der ganze Schmerz mit, dass die Ekstase des Kleinkindes unwiederbringlich verloren erscheint. Das Ekstasegefühl muss abgewehrt werden, um sich nicht der Sinnlosigkeit aller Opfer, allen Leidens bei der Anpassung an das Realitätsprinzip bewusst zu werden. Vermutlich ist die Abspaltung der Sexualität aus der Einheit des Körpers als isolierte Funktion überhaupt erst möglich geworden, nachdem ihr historisch die Unterdrückung der Ekstase vorausgegangen ist. Die Befreiung der Sexualität muss deshalb solange scheitern, wie sie sich in der Bekämpfung der Sexualtabus gegenüber bestimmten Praktiken erschöpft und die ekstatische Reaktion unberücksichtigt lässt. Bei der Anpassung des Kleinkindes an die Welt der Erwachsenen muss die ekstatische Fähigkeit zurückgedrängt werden. »Zur Anpassung an diese Welt legt das Kind seine Ekstase ab.« 210

Das spirituelle Verständnis der Ekstase hat es wesentlich erleichtert, sie im Zuge der patriarchalischen Entwicklung aus dem auszugrenzen, was als normal und vernünftig gilt. Menschen, die dennoch sich ekstatischen Erfahrungen öffneten, wurden für verrückt erklärt und je nach den kulturellen Gepflogenheit geahndet. Auch heute gilt immer noch der Versuch, Ekstase in den Alltag zu integrieren, als selbstsüchtig, fehlgeleitet oder gar pathologisch. Wahrscheinlich ist das Selbstverständnis der Menschen im Abendland am tiefgreifendsten dadurch verändert worden, dass die ekstatische Erfahrung auch aus ihrem religiösen Rückzugsbereich restlos ausgelöscht wurde und nur noch im Bereich der Perversionen und der Sucht überlebt.

Jede Einschränkung der sinnlichen Lust geht damit zusammen, dass die Beweglichkeit des Beckens eingeschränkt wird und seine Bewegungen vom Rhythmus des Beckens abgekoppelt werden. Der ganze Beckenbereich, der im gesunden Körper im Atemrhythmus mitschwingt, erscheint dann als starr und tot. Wie alle Muskeln verlieren auch die Bauch, Becken- und Zwerchfellmuskeln bei unzureichender Beanspruchung ihren Tonus und gehen in Dauerverspannung über. Die Blockierung des Beckens bringt eine flache Atmung mit sich; mit der Stillegung des Beckens verkrampft sich auch der Hauptatemmuskel, das Zwerchfell. Infolgedessen scheint das Bedürfnis nach Lust gar nicht mehr zu existieren.

Die Ich-Kontrolle wird primär an der Unterdrückung der ekstatischen Empfindungen gelernt, die ständig im Körper präsent sind und es deshalb eine Daueraufgabe darstellt, ihre Erregungswellen im Keim zu ersticken. Jede innere Erregung weckt die Angst, die mühsam erworbene Ich-Kontrolle wieder zu~

verlieren. Die Unterdrückung der ekstatischen Reaktion hat die Aufgabe, den Körper zu einem willfährigen, empfindungslosen Arbeitsinstrument umzugestalten. Für die Anpassung an die gesellschaftlich geforderte Disziplinierung ist der hohe Preis zu zahlen, dass die Stimmen der inneren Selbstheilungskräfte verstummen. An die Stelle der ekstatischen Reaktion tritt die Sucht, von der vergeblich erwartet wird, dass sie zur Lust führt.

Wenn die Sinnlichkeit unterdrückt wird, verliert die Vernunft ihr eigentliches Ziel aus den Augen, Schmerzen zu vermeiden und die Lust wiederherzustellen. Das Denken wird ziellos und unterwirft sich der materiellen Selbsterhaltung als Ersatz. Wenn die Orientierung an der Lust verlorengeht, verliert das Denken zwangsläufig die Fähigkeit, über die individuellen und gesellschaftlichen Ziele nachzudenken. Das Denken fühlt sich dann nicht mehr für das körperliche Wohlergehen, für Lust und Glück zuständig. Das ist der eigentliche Inhalt des instrumentellen Denkens, das sich nur noch an den Mitteln orientiert, um vorgegebene Ziele zu erreichen, aber aufgegeben hat, über die Ziele selbst kritisch nachzudenken. Die Unterdrückung der sinnlichen und ekstatischen Reaktion macht alle Bewegungen, einschließlich der des Denkens, zum lustlosen, mechanischen Vollzug. Denken wird dann als mühevoll und anstrengend erfahren.

Natürliches Denken erhält seine Impulse von Situationen, die den Organismus in eine Verspannung versetzt haben und hat die Aufgabe, die inneren Spannungen, die stets als Unlust erlebt werden, abzubauen. Bereits die inneren Vorstellungen stellen einen Versuch dar, diese Spannungen zu verarbeiten. Das Denken setzt auf einer höheren Ebene der Begriffe diese Bemühung fort. Denken ist so nichts anderes als ein Selbstbefreiungsversuch von einschränkenden oder krankmachenden Vorstellungen.

Da das Denken nur ein virtueller Bewegungsvorgang ist, kann er nicht wie normale motorische Bewegungen von sich aus Lust erzeugen. Denken kann selbst keine Entspannung bringen; dies ist direktem Handeln und Gefühlsausdruck vorbehalten. Es kann aber das Bewusstsein dafür schaffen, welche körperlichen Verspannungen für den inneren Druck verantwortlich sind und geeignete sinnliche Rituale anstoßen, um den entspannten, ekstatischen Zustand zu erreichen. Wenn sich das Denken am Ziel der Lust orientiert, kann Denken selbst ein lustvoller Vorgang sein, da im Bedenken der Widerstände die Lust antizipiert wird und es unmittelbar in die Erfahrung der Lust übergeht.

Das mechanische Denken wird auch dadurch unterstützt, dass das Sehen zum neutralen, mechanischen, vom übrigen Körper isolierten Vorgang reduziert wird. Bewegliches Denken setzt voraus, mit den »inneren Augen« zwischen~

den inneren Vorstellungen hin und her springen zu können. Wenn aber zur Abwehr von Ängsten der visuelle Kontakt zur Wirklichkeit eingeschränkt wird, bleibt es nicht aus, dass auch das innere Sehen an Lebendigkeit einbüßt. So wie die ursprüngliche Lust an der Bewegung der Augen verlorengeht, wenn im Sehen nicht die eigene Präsenz bewahrt wird, so wird auch das Denken als die Bewegung zwischen den inneren Vorstellungen zu einem Vorgang ohne affektive Beteiligung. Denken kann deshalb nur durch ein entspanntes und genussvolles Sehen revitalisiert werden.

Wenn die Angst das Handeln blockiert, bleibt nur noch der Ausweg, den Spannungsausgleich durch deren Rechtfertigung zu erreichen. Zu diesem Zweck werden Vorstellungen ersonnen, die den eigenen Schmerz als sinnvoll erleben lassen. Immer wenn die hinter den Verspannungen verborgenen Ängste sich regen, schießen die Rechtfertigungsgedanken und -bilder in den Kopf und festigen die Verspannungen, deren Auflösung als bedrohend erlebt werden. Theorien können diese Funktion übernehmen, da sie mit ihren Vorstellungen die Verspannungen herstellen, die sie stabilisieren sollen. Aus diesem Grund ist regelmäßig zu beobachten, dass rigides, vorurteilsvolles Denken mit einem verspannten Körper zusammengeht. Wenn in den esoterischen Weisheitslehren gefordert wird, auf alle Illusionen und Trugbilder zu verzichten, um so mit dem wahren Leben in Kontakt zu kommen, wird die Funktion der Illusionen übersehen, die Schmerzen, die aus der Unterdrückung der eigenen Lebendigkeit resultieren, legitimieren zu müssen, um mit ihnen leben zu können.

9.6. Lust und der innere Dialog

Für die Orientierung des Verhaltens ist die sinnliche Lust ein unentbehrlicher Maßstab. Sie ist das einzige Kriterium, das Gewissheit bietet. Auch das Denken erhält die Gewissheit seiner Überlegungen aus den körperlichen Signalen der Lust. Die überragende Bedeutung der Lust für die Verhaltensorientierung erklärt sich daraus, dass der Organismus immer als ganzer reagiert. Immer wenn ein Problem »gelöst« erscheint, kann der Druck, der durch die kontrahierten Muskeln zustandekommt, aufgehoben werden, so dass sich ein Gefühl der Erleichterung einstellt. Die Sprache spricht treffend von der Problemlösung, weil sie weiß, dass sich dann die verspannten Muskeln auflösen können. Mit Hilfe der inneren Vorstellungen, Emotionen und Sprache hat der Organismus ein großes Potential zur Verarbeitung der Kontaktprobleme mit der Umwelt aufgebaut. Nach wie vor reagiert der Organismus mit seinen Lustgefühlen,~

wenn – auf welchem Niveau auch immer – eine Lösung gefunden worden ist.

Auch die Lust ist lernfähig. Sie registriert genau, was für den Organismus jeweils gut ist. Lust darf nicht auf einen rein körperlichen Vorgang reduziert werden, wie dies im allgemeinen geschieht. Die sinnliche Lust ist auf allen Stufen der emotionalen und geistigen Entwicklung die Richtschnur richtigen Verhaltens. Sie nimmt an der Versprachlichung des Körpers teil und differenziert sich in dem Maße, wie der Kontakt zur Umwelt komplexer wird. Die Lust ist deshalb für die Kommunikation mit der Umwelt ein untrüglicher Seismograph.

Schmerz, der Mangel an Lust, stellt eine Aufforderung an den Organismus dar, die Konflikte mit der Umwelt zu lösen, die den Organismus in einem Spannungszustand halten. Dazu müssen die Vorstellungen bewusst gemacht werden, die zu dem Konflikt geführt haben. Vor allem müssen die negativen inneren Stimmen erkannt und ihr Spielraum eingeschränkt werden. Wenn der Konflikt durch eine Neuordnung der Vorstellungen erfolgreich überwunden werden kann, antwortet der Organismus mit den Signalen der sinnlichen Lust. Die Vorstellungen, die den Organismus bisher in einem Spannungszustand festgehalten haben, können aufgegeben werden, so dass sich der Organismus in einen ekstatischen Zustand einschwingen kann. Der von den esoterischen Lehren geforderte Verzicht auf die inneren Vorstellungen hat nur Sinn, wenn damit vorübergehend der ekstatische Zustand herbeigeführt werden soll. Die ekstatische Reaktion stellt deshalb eine Chance für kreative, produktive Gedanken und Vorstellungen dar, weil sie die Bedingungen schafft, dass erstarrte Gedanken- und Verhaltensschemata aufgelöst und neue Situationen unvoreingenommen angegangen werden können. Die Ekstase kann deshalb als Kraftquelle der imaginativen Erneuerung bezeichnet werden.

Die Selbstorganisation der Lust bedeutet, dass der Sinnlichkeit eine immanente Tendenz zur Selbstintensivierung innewohnt. Diese Fähigkeit ist allerdings erst in dem Maße dem Menschen verfügbar geworden, wie er mit der Sprache gelernt hat, sich bewusst mit seinen verhaltenssteuernden inneren Vorstellungen auseinanderzusetzen. Insofern ist die Feststellung von Adorno und Horkheimer, »alle Lust ist gesellschaftlich in den unsublimierten Affekten und nicht weniger als in den sublimierten« 211, nicht bloß als Kritik am Zivilisationsprozess zu lesen, der die Unmittelbarkeit der Lust eingeschränkt hat, sondern auch als Chance zu verstehen, das in der Sinnlichkeit angelegte Lustpotential zu steigern. Die selbstorganisierte Selbstintensivierung kann als leibliche~

Vernunft bezeichnet werden, da sie bestrebt ist, die die Sinnlichkeit blockierenden inneren Vorstellungen aufzudecken und durch förderliche zu ersetzen. Zur gleichen Konsequenz ist Herbert Marcuse gelangt, als er aus der kritischen Analyse der Freudschen Theorie über die Entwicklung der Kultur ableitete, dass die Lust ein Element der Selbstbestimmung enthält und die Sexualität nach ihrer eigenen Sublimierung strebt.212

Urbild des inneren Dialoges ist der Geschlechtsverkehr. Wenn sich die Achtsamkeit aktiv auf die sinnlichen Signale des Partners richtet, kann sich ein sinnlicher Dialog entfalten, in dem aktive und passive Momente, Sich-Lassen und aktive Steuerung miteinander verschmelzen. Wie jeder Dialog enthält auch die Liebe aktive Fragen und spontane Antworten. Ziel des Dialoges ist, in der gemeinsamen Ekstase ein Höchstmaß an Resonanz zu finden, in dem alle inneren Vorstellungen verschwinden. Der sexuelle Akt wird zur Onanie zu zweit, wenn einer der Partner sich nicht auf den Dialog einlässt.

Wird die sinnliche Lust unterdrückt, verliert der innere Dialog sein Ziel, auch gegen soziale Widerstände sein persönliches Glück zu suchen. Der behinderte innere Dialog führt dazu, dass die sinnliche Lust auf einen körperlichen Vorgang reduziert wird. Sie kann dann nicht das in ihr angelegte Potential zur Selbstintensivierung entfalten. Wahrscheinlich hat der Begriff des Glücks darin seine Berechtigung, dass er am sozialen Kontext der Lust festhält. Nach der Auffassung von Marcuse setzt Glück die Erkenntnis der Wahrheit voraus, um die störenden Beschränkungen des freien Dialoges aufzuheben.213 Da aber Wahrheit, wie oben dargestellt, letztlich das freie Leben selbst ist, sind im freien zwischenmenschlichen Dialog Lust und Glück identisch. Die sinnliche Lust würde dann von sich aus den Dialog suchen, um die Lust zu intensivieren. Wenn in solchem Dialog Lust zum Gegenstand und Ziel des Denkens wird, wird Lust etwas »Geistiges« und Glück etwas »Sinnliches«.

Die sinnliche Lust hat nicht nur Signalfunktion für den inneren Dialog, sondern sie kennzeichnet insgesamt das Milieu, in dem alle kreativen Prozesse einschließlich des inneren Dialoges stattfinden. Denn die ekstatische Reaktion markiert den Zustand, in dem alle organismischen Fähigkeiten optimal funktionieren. So wie die Gefühle sich spontan einstellen, kann im ekstatischen Zustand auch die Erfahrung gemacht werden, dass das Denken weitgehend automatisch abläuft. Denken ist keineswegs mit dem ekstatischen Zustand unvereinbar, wie es das Vorurteil behauptet. Nur im normalen Bewusstseinszustand~

kann sich das Bewusstsein einbilden, das aktive Entscheidungszentrum des Denkens zu sein. Im ekstatischen Zustand wird offenbar, wie aktive und passive Momente immer miteinander verbunden sind. Das Gefühl, mit Fragen den Gedankenprozess zu lenken, ist verbunden mit der Wahrnehmung, dass die Antworten wie von selbst kommen, aber dennoch nicht als etwas Fremdes, sondern als Teil von sich selbst empfunden werden.

Die Bejahung der Lust begründet ein ekstatisches Körpergefühl, das sich an der gelingenden Selbstorganisation des umweltbezogenen Handelns orientiert. Das ekstatische Körpergefühl ist im Zusammenleben in arbeitsteilig organisierten Gruppen ständig gefährdet. Die ekstatischen Rituale früherer Kulturen weisen darauf hin, dass im willkürlich herbeigeführten veränderten Bewusstseinszustand erkannt werden kann, was die innere Selbstorganisation blockiert und was zu tun ist, um die Spontaneität des Denkens und Verhaltens wiederherzustellen. Aufgrund des tiefen Zusammenhanges von Atem und Lust besteht die Vermutung, dass bei der Veränderung des Bewusstseins der Atem eine wichtige Rolle spielen wird.

10. Verhaltens- durch Bewusstseinsveränderung

Wenn es zutrifft, dass alle menschlichen Aktivitäten von inneren Vorstellungen gelenkt werden, ist es im Grunde die wichtigste Frage überhaupt, wie die Vorstellungen geändert werden können. Für das traditionelle Denken hat die Vernunft das Privileg der Verhaltensänderung. Es wird unterstellt, dass sich durch Einsicht in die Gründe falschen Verhaltens automatisch auch das Verhalten verändert. Die Psychoanalyse hat aber die Grenzen der Vernunft so schonungslos aufgedeckt, dass der Glaube an die verhaltensändernde Kraft der Vernunft nahezu verschwunden ist. Es ist offensichtlich, dass die inneren Vorstellungen nicht ohne weiteres mit Hilfe des Denkens ausgetauscht werden können. Sie erweisen sich in der Regel als so hartnäckig, dass sie jede Veränderungsabsicht überleben. Da offensichtlich nicht jede Vorstellung die gewünschte körperliche Wirkung herbeiführt, stellt sich die Frage, wie die Vorstellungen beschaffen sein und welche besonderen Umstände vorliegen müssen.

Die kulturhistorische Bedeutung der Schamanen liegt in der Erfahrung, dass durch eine bewusste Veränderung des normalen Bewusstseinszustandes die inneren Vorstellungen leichter geändert werden können. Die Schamanen haben eine Vielzahl von Ritualen entwickelt, um ihren Bewusstseinszustand gezielt so zu verändern, dass sie dessen immanente spontane Problemverarbeitungskapazität ausschöpfen können. Dazu gehören Trommeln, monotone Gesänge, Fasten, Schlafentzug, Einnahme von psychoaktiven Drogen, extreme Temperaturen (Schwitzhütte), Tanzen u. a. Die Gemeinsamkeit aller Rituale besteht in der Konzentration der Aufmerksamkeit nach innen und der Ausschaltung von Außenreizen. Denn die Schamanen haben erkannt, dass die Gewohnheitsbildung beim alltäglichen Handeln dazu führt, dass die Wirklichkeit nur in reduzierter Form wahrgenommen wird. Durch unterschiedliche Formen des Reizentzuges kann der Hemmmechanismus der Wahrnehmung aufgehoben werden und dadurch die Wahrnehmungsfähigkeit explosionsartig~

ausgedehnt werden. Dies wird dadurch erreicht, dass die Aufmerksamkeit während längerer Zeit fest auf einen Punkt fixiert wird und der Organismus völlig das Objekt in sich aufnimmt, sich uneingeschränkt von ihm prägen lässt, also mit ihm in Resonanz gelangt. Die Fixierung hat paradoxerweise die Wirkung, dass die Wahrnehmung entfixiert und ausgeweitet wird, weil dadurch die gewohnheitsmäßigen Wahrnehmungsmuster entkonditioniert werden. In dieser Wahrnehmung erscheint dann alles so neu wie nach dem ersten Kontakt mit der Welt.214 Im Grunde bewirken die Rituale, dass die Wirklichkeit in einer Reichhaltigkeit und Differenziertheit erlebt werden kann, in der die Gewohnheitsmuster der inneren Vorstellungen und Emotionen keinen Halt mehr finden. Denn alle inneren Vorstellungen haben spezielle Auslösebedingungen. Da sie aus einer beschränkten Realitätswahrnehmung heraus gebildet wurden, verlangen sie für ihre Erinnerung auch eine entsprechende oberflächliche Wahrnehmung, in der sie verankert sind. Wenn nun die Wahrnehmung ausgeweitet werden kann, verlieren die inneren Vorstellung ihren Anker und stößt das Bewusstsein sozusagen in einen freien Raum.

Wenn der Handlungszwang des Alltags entfällt, kann sich der Organismus den Problemen zuwenden, die im Alltag offen geblieben sind. Dies ist auch die wesentliche Funktion der entspannten, konzentrierten Aufmerksamkeit bei der Intuition, der Meditation oder der gezielten Sinnesdeprivation. Es drängen sich dann spontan die Probleme in den Vordergrund, die noch unbearbeitet geblieben sind: es können unmittelbare Probleme des Zusammenlebens sein, sie können sich aber auch auf grundsätzliche Fragen der Stellung des Menschen in der Welt, des Sinn des Lebens, des Verhältnisses zum Tod, der Beziehung zur übrigen Natur und zum ganzen Kosmos beziehen. Bei der imaginativen Lösung dieser Probleme ist das Bewusstsein aber nicht völlig frei. Die Erfahrungen des Alltags und die in der Gruppe verbindlichen Vorstellungen stecken einen engen Rahmen ab. Es ist deshalb nicht überraschend, dass die kosmologischen und religiösen Bilder der archaischen Stammeskulturen stets ihrer natürlichen Lebenswelt entsprechen.

Generell wird angenommen, dass die schamanische Ekstase eine besondere Art von Bewusstseinszustand ist. Der Unterschied ist aber wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass die Schamanen durch die langjährige Praxis von physischer Entspannung in Kombination mit mentaler Aktivität den in der Meditation erreichbaren Bewusstseinszustand vertiefen und so stabilisieren, dass~

sie länger darin verbleiben und das kreative Potential des veränderten Bewusstseinszustandes maximal ausschöpfen können. Wahrscheinlich verändern sich dadurch auch einige physiologische Parameter. Es spricht aber nichts dafür, dass es sich im schamanischen Bewusstseinszustand um etwas grundsätzlich anderes handelt.Die meditative Konzentration benutzt keine anderen Mechanismen, als sie auch im alltäglichen veränderten Bewusstseinszustand, der durch die Fixierung der Aufmerksamkeit erreicht wird, wirksam werden. Sicherlich bezieht auch die Hypnose, bei der unbestreitbar mit Hilfe von sprachlichen Anweisungen physiologische und psychische Veränderungen herbeigeführt werden können, ihre Wirkung daraus, dass es unter dem Einfluss der suggestiven Wirkung des Hypnotiseurs leichter fällt, in sich die Fähigkeit der uneingeschränkten Konzentration und Hingabe zu mobilisieren, so dass alle Fähigkeiten mühelos und häufig ohne Bewusstsein ausgeübt werden können 215 Es ist erwiesen, dass die vom Hypnotiseur suggerierten Bilder von der hypnotisierten Person übernommen werden, so dass die Hypnose im Grunde eine Selbsthypnose ist.

Auch der Traum kann unter dem Gesichtspunkt gesehen werden, dass in einem veränderten Bewusstseinszustand die immanente Problemlösungskapazität ausgeschöpft wird. Beobachtungen zeigen, dass der Traum umso kreativer ist, je mehr der Träumende auch im Wachbewusstsein über aktive Verarbeitungsmöglichkeiten verfügt. »Wir stellten fest, dass wir nachts andere Träumen haben konnten, wenn wir tagsüber in der Lage waren, bewusst genug zu bleiben, um alle unsere Gefühle auszudrücken« .216 Das Ziel ist der luzide oder der Klartraum, in dem das Traum-Ich sich dessen bewusst ist, dass es träumt. Es hat dann eine vollständige Erinnerung an das Wachleben und weiß um seine Entscheidungsfreiheit. Hypnose und Traum können als veränderte Bewusstseinszustände betrachtet werden, in denen die Vorstellungen leichter als im normalen Bewusstseinszustand verändert werden können. In beiden Bewusstseinsformen kann durch aktive Teilnahme ihre produktive Wirkung erhöht werden.

In diesem Zusammenhang ist die Theorie des amerikanischen Romanschriftstellers Upton Sinclair zu erwähnen, den die erstaunlichen telepathischen Fähigkeiten seiner Frau Craig veranlasst hatten, darüber einen Bericht zu~

schreiben.217 Nach seiner Auffassung ist die Voraussetzung für erfolgreiche telepathische Experimente ein absolut leerer Geisteszustand. Craig Sinclair hat diesen Zustand dadurch erreicht, indem sie sich auf etwas Einfaches wie z.B. eine Blume konzentriert hat, bis eine tiefe Entspannung eintrat. Die geistige Passivität ist dann erreicht, wenn der Körper völlig entspannt sei, da dann sich keine Gefühle mehr regen, sofern die Außenwelt abgeschaltet wird. In diesem geistigen Leerzustand gab Craig Sinclair ihrem Unbewussten den Befehl, z.B. eine Zeichnung, die zum selben Moment an einem anderen Ort gezeichnet wurde, zu visualisieren, um sofort wieder in den Zustand der Leere abzugleiten, alle Bilder aus dem Bewusstsein zu verbannen und auf die Konturen zu warten, die auf dem »grauen Tuch, das sich über den Geist ausbreitet«, erscheinen.

Auch der Tanz hatte ursprünglich die Funktion, in einen anderen Bewusstseinszustand zu gelangen, in dem das normale »Ich« verschwindet. Über den Tanz in Ekstase zu gelangen, ist Ziel vieler archaischer Kulturen (Sufi, Voodoo u.a..) 218. Nietzsche stellt den ekstatischen Tanz in Zusammenhang zum Trauma der Individuation, die für ihn Urgrund und Quelle allen Leidens ist.219 Im rhythmischen Tanz stellt sich nach einer gewissen Zeit die Erfahrung ein, nicht mehr selbst zu tanzen, sondern getanzt zu werden. Es ist die Erfahrung, dass das bewusste Handeln durch ein Gehandelt Werden abgelöst wird. Die Bewegungen verselbständigen sich, sie kommen unwillkürlich und unkontrolliert, ohne dadurch an Gestalt zu verlieren. Die archaischen Tänzer erlebten diesen Zustand so, als würden die Götter in ihnen tanzen.

Im Tanz lösen sich die Verspannungen in den Muskeln, so dass die Bewegungsimpulse den ganzen Körper ins Mitschwingen bringen können. Die Schwingungen der einzelnen Körperteile können sich so synchronisieren. Die Überlagerung der Rhythmen führt zu einer gewaltigen Energetisierung des Körpers. Im ekstatischen Zustand löst sich das polare Denkmuster von Aktivität und Geschehenlassen. Denn die Bewegungen werden nach wie vor vom Gehirn koordiniert, aber auf eine Weise, dass alles ohne jede Anstrengung, ohne jede Behinderung geschieht. Die Spaltung zwischen dem aktiv steuernden und dem ausführenden Körper verschwindet und macht der Erfahrung Raum, im Tanz ein höheres Maß an Lebendigkeit, Offenheit gegenüber sich~

und den eigenen Gefühlen und das Gefühl der Verbundenheit mit sich, mit den anderen und der Natur zu gewinnen.

Gegenwärtig gilt die Meditation als der ideale Weg, um in einen veränderten Bewusstseinszustand zu gelangen. Sie hat eine Vielfalt widersprüchlicher Gesichter angenommen. Ihre Gemeinsamkeit besteht in der Konzentration der Aufmerksamkeit nach innen und der Ausschaltung von Außenreizen. Dabei wird die Aufmerksamkeit auf die unterschiedlichsten Dinge gelenkt: die innere Leere oder das Nichts, beliebige Objekte, der Atem, Bilder, Klänge, Sprachformeln, Zeichen u.a.m. Folgende Ziele werden verfolgt: Überwindung des Personhaften im Menschen, bewusste Erfahrung des eigenen Selbst, Erkenntnis des Wesens der Dinge und der eigenen Person, höhere Konzentrationsfähigkeit, übersinnliche Erkenntnis, Befreiung aus der Bindung an die materielle Welt, Einswerden mit der göttlichen Wesenheit, Einswerden mit dem Kosmos, Erleuchtung u. a. Als gemeinsame Nenner gilt die Erlangung »höherer Erkenntnis«.

10.1. Physiologische Grundlagen des veränderten Bewusstseinszustandes

Offensichtlich gibt es unterschiedliche Bewusstseinszustände, die Menschen zu verschiedenen Anlässen einnehmen können. Die Zustände des Traumes, des Wachtraums, der Intuition, der Halluzination, der hypnotischen Trance, der mystischen Träumerei, der instrumentellen Verfügung, der Panik, des eigenleiblichen Spürens, der Ekstase, des todesnahen Erlebnisses u. a.m. können ihrerseits verschiedene Formen annehmen und ineinander übergehen. Die Kulturen unterscheiden sich darin, welches Gewicht sie den einzelnen Bewusstseinszuständen geben, welche Bewusstseinszustände sie überhaupt zulassen bzw. ausklammern und wie sie die Übergänge von einem zum anderen Zustand organisieren. Gernot Böhme betont zu Recht, dass es sich dabei um mehr als verschiedene Bewusstseinszustände handelt, da der Organismus dabei stets seine Gesamtorganisation verändert.220

Überlicherweise werden die Bewusstseinszustände nach ihren physiologischen Parametern unterschieden. Die wichtigsten sind die Gehirnschwingungen, die den mentalen Erregungszustand anzeigen, und der Hautwiderstand, der den physischen Entspannungszustand des ganzen Körpers angibt.221 Mit~

den beiden Koordinaten der mentalen und physischen Erregung lassen sich die Bewusstseinszustände leicht ordnen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Phänomene, die in der Literatur den einzelnen Zuständen zugeordnet werden, z.T. sehr ungleichartig sind, so dass zu vermuten ist, dass für eine trennscharfe Systematisierung noch weitere Kriterien benötigt werden.

Der normale Bewusstseinszustand zeichnet sich durch die Dominanz von Beta-Schwingungen im Frequenzbereich von 13 – 24 Hertz/sec aus. Der niedrige Hautwiderstand lässt erkennen, dass der Körper ziemlich verspannt ist und das sympathische Nervensystem dominiert. Ein hoher Anteil an Beta-Aktivität zeigt eine starke innere Unruhe und Stress an. Das bedeutet, dass im Hintergrund des Bewusstseins angstbesetzte Vorstellungen vorherrschen. Ein Extremzustand ist die Panik, bei der sich der gesamte Körper im Alarmzustand befindet, wie die gleichzeitig hohe mentale Erregung und Verspannung erkennen lässt.

Jede Form von verändertem Bewusstseinszustand ist dadurch gekennzeichnet, dass der Anteil der Beta-Schwingungen zurückgeht und in unterschiedlichem Ausmaß Schwingungen mit niedrigerer Frequenz vorherrschen.222 Die Intuition, die Erleuchtung, Ekstasereisen, konzentrierte Aufmerksamkeit, Ekstase, Meditation, Hypnose usw. lassen sich aus gehirnphysiologischer Sicht durch ihre neuro-elektrischen Besonderheiten charakterisieren. So besteht z.B. die Ekstase aus der Kombination von überwiegender Alphaaktivität mit sehr tiefer physischer Entspannung. Die neuronalen Gehirnschwingungen können mit den Schwingungen der Muskeln in Resonanz treten und die ekstatischen Gefühle auslösen. Auch die Schwingungen in der rechten und linken Gehirnhälfte können sich synchronisieren.

Bei der Systematisierung der Bewusstseinszustände wird in der Regel das Gefühl der subjektiven Verfügung über die mentalen Prozesse außer Acht gelassen. In jedem Frequenzbereich kommt es darauf an, ob die Schwingungen kontrolliert oder unkontrolliert produziert werden. So kann im Theta-Bereich die kontrollierte Produktion Kreativität, dagegen die unkontrollierte Produktion psychopathische Reaktionen bedeuten.223 Ebenso kann die Hypnose fremdbestimmend wirken oder als höherer Grad der Selbstbestimmung erfahren werden. An dem einen Pol der subjektiven Verfügung steht die Panik, in der das Gefühl der subjektiven Kontrolle völlig verlorengeht. Ähnlich ist dies~

bei der Fremdhypnose, bei der man sich oft nach der Hypnose nicht mehr erinnert, was man gemacht hat. Den anderen Pol bildet der überwache Zustand der Meditation und der Ekstase, in dem die geistigen Prozesse als Ausdruck der subjektiven Kräfte erfahren werden. In der bewussten Hinwendung der Aufmerksamkeit auf die mentalen Prozesse fühlt sich dann der Organismus als identisch mit sich selbst. Die Kontrolle wird als Ausdruck der autonomen Selbstorganisation erlebt.

Wenn die rituellen Vorbereitungen des Schamanen für seine Jenseitsreisen von Mircea Eliade als Ekstasetechnik bezeichnet werden224, wird darauf Bezug genommen, dass der veränderte Bewusstseinszustand, in dem der Schamane die inneren Verarbeitungsprozesse gestaltete und beobachtete, ein unbeschreibbares Glücksgefühl, eine Freude über die Einheit mit dem Kosmos, mit der Natur und mit sich selbst auslösen. Es wäre aber ein Irrtum, die Imaginationen als Antworten der Götter zu verklären. Wie beim Traum müssen die Imaginationen der Schamanen als ein Produkt der spontanen inneren Informationsverarbeitung anerkannt werden, in denen die Probleme der Gruppe mit den symbolischen Mitteln der Sprache und Vorstellungen gelöst werden. Wahrscheinlich tritt das aktive Moment in dem Maße zurück, wie sich der ekstatische Bewusstseinszustand vertieft. Die im Bewusstsein auftretenden Gestalten können dann einen Wirklichkeitscharakter annehmen, der sich von Erfahrungen des normalen Bewusstseins nicht mehr unterscheidet. Sie sprechen, handeln und fühlen mit einer Lebendigkeit, so dass der Eindruck entstehen musste, an einer anderen Wirklichkeit teilzuhaben. Stets bleibt aber das Bewusstsein vorhanden, sich an der Gestaltung der inneren Ereignisse aktiv zu beteiligen; es musste aber häufig mit Rücksicht auf die soziale Herrschaft verleugnet werden. »Bei den Selknam wussten immerhin die initierten Männer, dass es keine Geister gab, später, als das System der Herrschaft umfassender wurde, mussten die Männer bzw. die Mehrheit von ihnen ebenfalls daran glauben«.225

Bewusste Kontrolle und spontanes Zulassen sind die zentralen Parameter für den Organismus, da davon unmittelbar sein Überleben abhängt. Deshalb muss im Folgenden kurz auf die zentrale Polarität von Öffnen und Schließen als den zentralen Mustern des Umweltkontaktes eingegangen werden. Der gemeinsame Nenner der Erfahrungen aller Organe besteht darin, ob und in welchem Umfang die aufnehmende Öffnung der Organe von der Umwelt zugelassen~

wird. Denn die vegetativen Funktionen leben davon, dass sie in den offenen Austausch mit der Umwelt treten können. Im Organismus kann die Erfahrung, dass beim dem Sich-Öffnen seiner Organe gegenüber Reizen der Umwelt keine Probleme entstanden, dazu führen, sich leicht auf alle Menschen und später auch auf die Dinge einlassen zu können. Sie erlaubt allen Reizen der Umwelt, den Körper uneingeschränkt zu stimulieren. Typisch ist das Sich-Einfühlen, die affektive Identifizierung mit der Umwelt und anderen Menschen. Die ganze Gefühlsdimension hängt letztlich davon ab, wie stark das Sich-Öffnen zugelassen werden kann. Der Organismus verschließt sich gegenüber den Reizen spontan, wenn sie ihm gefährlich zu werden drohen. Wurde der Organismus bei seinen ausgreifenden Bewegungen häufig geängstigt, verschließt er sich instinktiv zur Abwehr. Daraus entwickelt sich die allgemeine Haltung des Misstrauens, der Zurückhaltung, Distanz und Kontrolle. Wahrscheinlich bedeutet der Alpha-Bewusstseinszustand primär eine Präsenz aller Sinne in der Gegenwart, die bei den Tieren selbstverständlich ist und bei den Menschen durch die Angst, in der Gegenwart zu leben, sich nur noch in seltenen Momenten spontan einstellt.

Die beiden polaren Zugangsweisen des Sich-Öffnens und Sich Verschließens kennzeichnen die Art und Weise, wie die Wirklichkeit angeeignet wird. Die animalische Höherentwicklung über die Säugetiere zum Menschen beruht auf der Herausbildung beider Zugangsweisen. Sie sind in jedem Menschen als polare Bewusstseinsformen vorhanden, die sich in Abhängigkeit von der Erziehung, der aktuellen Situation und der Stimmungslage miteinander vermischen. Die beiden Reaktionsweisen stehen gleichberechtigt gegenüber und können nur funktionieren, wenn auch ihr Gegenteil weiterhin vorhanden ist. Die lustorientierte Öffnung gegenüber der Umwelt wäre äußerst gefährdet, könnte nicht in gefährlichen Situationen das Kontrollprinzip in den Vordergrund treten und das Lustprinzip vorübergehend außer Kraft setzen. Die in gefährlichen Situationen erforderlichen Körperverspannungen werden im Normalfall nach überstandener Gefahr in den folgenden Ruhepausen wieder aufgelöst.

Durch die sozialen Erfahrungen kann das komplementäre Zusammenwirken beider Zugangsweisen zur Realität gestört werden. Der Charakter eines Menschen bestimmt sich danach, welchen Anteil das gefühlsmäßige Sich-Öffnen behält und wie die beiden Zugangsweisen miteinander verbunden sind. Bei Vorherrschaft der Kontrolle überwiegt das Bild eines einseitig vom Willen gesteuerten Verhaltens und Denkens. Aus einer Dominanz der emotionalen Öffnung dagegen resultiert emotionale Abhängigkeit, weil das Durchsetzungsvermögen für die eigenen Bedürfnisse darunter leidet.

Zur Charakterisierung eines voll entwickelten Menschen werden in der Regel die~

Begriffe Autonomie, Individualität, Spontaneität, Kreativität, Authentizität, Selbstverwirklichung, Selbstverantwortung, Selbstvertrauen, Wahrheitsdrang u. a. benutzt. Üblicherweise werden sie als »Werte« bezeichnet. Aus der Perspektive der Atemtheorie erscheinen sie als unterschiedliche Aspekte eines Bewegungsmusters des Sich-Öffnens, über das ein Organismus verfügt, der seine Impulse mit den sozialen Anforderungen abstimmen kann. Spontaneität verweist darauf, dass sich kein innerer Widerstand den inneren Impulsen entgegenstellt. Autonomie stellt mehr darauf ab, dass äußere Widerstände fehlen. Da das Verhalten sowohl den Erfordernissen der Situation als auch den eigenen Bedürfnissen Rechnung trägt, liegt Selbstverantwortung für das Verhalten vor. Kreativität bezeichnet den Aspekt, dass man ohne Denk- und Verhaltensschemata problemorientiert auf die Situation reagiert. Das Verhalten kann authentisch und wahrhaftig sein, weil es mit den inneren Impulsen identisch ist. Solches Verhalten ist einzigartig, unverwechselbar und Ausdruck der Individualität.

Das Bewegungsmuster des Sich-Öffnens bei »integrierten« Menschen ist Ausdruck der Bereitschaft, sich den Reizen der Umwelt auszusetzen und von ihnen beeinflussen zu lassen. Dieses rezeptive Bewegungsmuster spielt sich seit der Versprachlichung des Körpers im Milieu des inneren Dialoges ab. Jede Einschränkung der expansiven, rezeptiven Tendenzen tangiert das gesamte Verhalten. Denn dadurch wird die innere Beweglichkeit der Informationsaufnahme und -verarbeitung selbst verändert. Sobald die verschiedenen Aspekte des Bewegungsmusters der Offenheit als »Werte« hypostasiert werden, gerät die Einheitlichkeit des Verhaltens und seine Verwurzelung in elementaren vegetativen Prozessen der offenen Reizaufnahme und -verarbeitung aus dem Blickfeld. Zu Recht wird im esoterischen Denken Krankheit als Stillstand von Bewegung und Heilung als Wiederherstellung von Bewegung gedacht.

Beide polaren Zugangsweisen zur Realität haben eine auffallende Entsprechung in der Atmung. Der Atem strukturiert den Körper deutlich in zwei Bereiche. Bei der Einatmung dominiert das Muskelsystem des Rückens. Rückgrad und Kopf richten sich auf, das Zwerchfell zieht an den Lendenwirbeln und lässt das Becken nach hinten treten. Die Schulterblätter treten zurück und die rückwärtigen Brustkorbmuskeln spannen sich. Der Zug zur Hebung des vorderen Brustkorbes setzt an der Wirbelsäule an. So ist der Rücken mit seinem mächtigen Muskelsystem und den festen Knochen der Wirbelsäule, die den aufrechten Ganz ermöglichen, das tragende Gerüst für alle zielgerichteten Handlungen.

Bei der Ausatmung dagegen ist die Vorderseite des Körpers stärker beteiligt. Der Bauch senkt sich bei starker Ausatmung mit starker Kontraktion der~

Bauchmuskeln. Der Brustkorb senkt und entspannt sich, die Gesichtsmuskeln entspannen sich. Im Gegensatz zu der relativ unempfindlichen Rückseite des Körpers hat die Vorderseite mit dem Gesicht, der Beckengrube und dem Bauch sehr sensible Bereiche, die mit ihrer Entspanntheit und Empfindlichkeit rasche und bewegliche Muskelbetätigungen für den Gefühlsausdruck erlauben. So gilt die Vorderseite als der Sitz der Gefühle.

Die Unterschiedlichkeit zwischen Vorder- und Rückseite des Körpers hat immer wieder nahegelegt, die Rückseite als männlich und die Vorderseite als weiblich zu bezeichnen.226 Dies erscheint insofern gerechtfertigt, als auf der einen Seite die charakteristischen männlichen Eigenschaften wie Aktivität, Willensstärke, Selbstbehauptung und Durchsetzungsvermögen, die Fähigkeit, für sich einzustehen u. a. auf das Muskelsystem des Rückens angewiesen sind, denn letztlich sind auch die Arm und Beinbewegungen mit den Muskeln der Rückseite verbunden. Auf der anderen Seite sind die typischen weiblichen Eigenschaften wie Einfühlsamkeit, Bedürfnis nach Nähe, Hingabe, Gefühlsausdruck, Vermögen, etwas anzunehmen u.ä. mit den Muskeln der Vorderseite verbunden.

Aus den Überlegungen zum Problem der Autonomie, wie sie im letzten Kapitel über die Atemkontrolle begonnen wurden, ist abzuleiten, dass im ekstatischen Zustand Zulassen und Geschehenlassen identisch mit Kontrolle sind. In diesem Zustand kann ein Optimum an Abstimmung der inneren Impulse mit der äußeren Wirklichkeit erreicht werden kann. Was dagegen normalerweise als Kontrolle gilt, ist in Wirklichkeit Verfallenheit an gewohnheitsmäßige Denk- und Verhaltensmuster. Diese Art der Kontrolle ist nichts anderes als Fremdbestimmung durch die von außen übernommenen Vorstellungen.

Meditation kann aus dieser Sicht als ein physiologisch vorgebahnter Prozess gekennzeichnet werden, in dem der Organismus zu den optimalen Funktionsbedingungen zurückkehrt, in dem sich der Organismus von allen Gewohnheiten befreit und sich der Wahrnehmung der Wirklichkeit öffnet. Meditation wurzelt in dem sinnlich-körperlichen Bedürfnis, aus dem Zustand optimaler Reaktionsfähigkeit heraus zu handeln. Im veränderten Bewusstseinszustand werden die Bedingungen der Selbstorganisation verbessert, so dass die emotionalen und mentalen Prozesse sich neu ordnen können. Sie ist das Bedürfnis, den Organismus vorübergehend von allen Kontrollen durch die Umwelt zu befreien. Sie ist deshalb ein völlig normaler Vorgang, der ständig mehr oder minder tief und meistens ohne Bewusstsein ausgeübt wird. Sie ist also wesentlich~

mehr als ein bloßes Instrument, um Stress zu verhindern oder zu vermeiden, als dass sie meist »verkauft« wird. Die Meditation hat keinen Zweck in sich, sondern hat nur dann einen Sinn, wenn sie als eine Vorstufe verstanden wird, um die optimale Reaktionsfähigkeit zurückzuerlangen.

Unter dem Einfluss des patriarchalen Denkens wurde die Meditation von einem physiologischen Bedürfnis der Befreiung von fixierten Vorstellungen in ein Instrument der geistigen Selbstkontrolle transformiert und vom praktischen Handlungsvollzug abgekoppelt: Die Meditation soll geistige Ruhe und Affektlosigkeit herbeiführen. Dadurch wurde sie von ihrer Sinnlichkeit völlig »gereinigt«. Die als ursprünglich erlebten ekstatischen Erfahrungen werden als Wahrnehmung des »Basisgrundes« oder des »unmittelbaren Seins« entsinnlicht.227 Ebenso wie die Meditation wird auch die Ekstase zu einem entfremdeten Prozess, wenn sie von jedem gedanklichen und gefühlsmäßigen Bezug zur realen Lebenswelt bereinigt wird.

Gegenwärtig besteht eine große Unfähigkeit, in den großen und kleinen Pausen des Alltags den normalen Stand des Wachbewusstseins zu verlassen. Die Meditation muss als besonderes Ritual inszeniert werden, statt dass sie als Besinnung und kurzes Innehalten ein selbstverständlicher Teil des Alltags ist. Auch die ekstatische Reaktion stellt sich im erotischen Kontakt nicht mehr von selbst ein, sondern wird durch Drogen u.ä. herbeigezwungen, ohne aber dadurch die gleiche Gefühlsqualität zu erreichen. Die ungelebten Alternativen dürfen nicht als das »Andere« mystifiziert werden.228 Das »Andere« ist letztlich nur die ekstatische Reaktion des ganzen Körpers, in der der Organismus seinen natürlichen Zustand der inneren Synchronizität oder im esoterischen Sprachgebrauch den Zustand der inneren Harmonie findet. Die ekstatische Reaktion ist der eigentliche Zielpunkt aller Bemühungen bei der Überwindung des kontrollierenden Zugangs zum Leben.

10.2. Atem und Verhaltensveränderungen

Wenn sich der Organismus im parasympathisch entspannten Zustand gegenüber den Reizen der Umwelt öffnet und sie auf sich einwirken lässt, ist zu vermuten, dass der parasympathische Zustand auch die entscheidende Voraussetzung~

für Verhaltensveränderungen ist. Vermutlich verdankt sich jede mit Bewusstsein herbeigeführte Verhaltensänderung dem Umstand, dass intuitiv die Bedingungen nachgeahmt wurden, unter denen normalerweise spontan Verhalten gelernt wird. In den frühen Entwicklungsphasen kann man davon ausgehen, dass der Organismus praktisch aus dem völlig entspannten Zustand heraus mit einer Störung konfrontiert wird. Diese löst zunächst eine mentale Unruhe aus, die sich z.B. im Schreien äußert. Wenn durch ein bestimmtes Verhalten Befriedigung erlangt wird, kann sich der Organismus in den Ruhezustand zurückbegeben. Das erfolgreiche Verhaltensmuster wird abgespeichert und bei ähnlichen Situationen herangezogen.

Falls die Unruhe nicht zum Erfolg führt, werden emotionale Reaktionsmuster gebildet, die mit körperlichen Verspannungen den Organismus vor weiteren Verletzungen zu schützen sollen. Damit wird vielleicht eine für die frühkindliche Phase richtige Entscheidung verallgemeinert. Die Abwehrmuster haben aber den Nachteil, dass neue, ihnen widersprechende Erfahrungen nicht mehr aufgenommen werden können und so weitere Lernprozesse blockiert werden. Solange diese Reaktionsmuster von der Realität bis zu einem gewissen Grad erneut bestätigt werden, besteht kein Anlass, sie zu ändern.

Alle emotionalen Reaktionsmuster werden im limbischen System des Zwischenhirn gespeichert. Es enthält die angeborenen Reaktionsmuster, die um die kulturell erworbenen Grundmuster ergänzt und erweitert werden. Es steht mit dem Zentrum des vegetativen Nervensystems (Hypothalamus), dem Zentrum des endokrinen Systems (Hypophyse) und dein Atemzentrum in der Medulla oblongata in Verbindung und ist deshalb die eigentliche Schaltstelle für das Verhalten. Das limbische System ist stammesgeschichtlich ein älterer Teil des Gehirn als die Gehirnrinde (Neocortex). Dementsprechend haben die im limbischen System gespeicherten Interaktionsmuster einen hohen Grad an Reflexhaftigkeit. Sie sind aber mit dem Neocortex verbunden, in dem die sensorischen Elemente der inneren Vorstellungen gespeichert werden und von dem die aktive Beeinflussung des Verhaltens ausgeht. Jede Vorstellung stellt so praktisch eine Brücke zwischen dem limbischen System mit seinen Verhaltensautomatismen und der Großhirnrinde mit seinen bewussten Steuerungsmöglichkeiten dar.

Für das Verständnis der inneren Vorstellungen ist wichtig, dass sie auch das elektrische Potential in sich enthalten, das im Zeitpunkt ihrer Bildung im Organismus bestand. Darauf beruht ihre Fähigkeit, den Gesamtzustand des Organismus schlagartig zu verändern. Ängstigende Vorstellungen können so den ganzen Organismus in einen Zustand mit allen körperlichen Symptomen der Angst versetzen. Das macht verständlich, wie es möglich ist, dass der hypnotische~

Befehl, z.B. eine bestimmte Körperstelle empfindungslos zu machen, wirksam werden kann. Die inneren Vorstellungen sind mit bestimmten Auslösereizen so fest verbunden, dass sie reflexhaft auftreten, sobald die Auslösereize bewusst oder unbewusst erkannt werden. Die inneren Vorstellungen unterscheiden sich deshalb in ihrer prinzipiellen Wirkungsweise nicht von den bedingten Reizen, mit denen Pawlow in seinen Experimenten bei Hunden z.B. bereits durch den Klang einer Glocke Hungergefühle ausgelöst hat.

Verhaltensveränderung setzt damit voraus, dass die Situation neu wahrgenommen werden kann, so dass die bisher auslösenden Bedingungen nicht mehr zum Zuge kommen. Das geschieht, wenn die Situation völlig ohne Angst wahrgenommen werden kann, so dass die Momente, die früher Ängste ausgelöst haben, jetzt in einem größeren Kontext neu bewertet werden können. Um sich der Situation völlig zu öffnen und sich den Situationsreizen uneingeschränkt auszusetzen, wird vom Organismus verlangt, dass er den ganzen Panzer mit den angeblich lebensrettenden Verspannungen auflösen und sich von seinen sie legitimierenden inneren Vorstellungen befreien muss. Die Praxis der hypnotischen und schamanistischen Verhaltensveränderung zeigt, dass es darauf ankommt, dass das elektrische Gehirnpotential auf ein Niveau zu senken, so dass der Organismus seine ursprüngliche Lernfähigkeit y und sich das limbische System für Verhaltensänderungen öffnet. Verhaltensänderung bedeutet deshalb nicht primär, dass bestehende innere Vorstellungen aufgelöst werden, sondern dass für bestimmte Situationen neue Vorstellungen gebildet werden, so dass die früheren ihre Wirksamkeit verlieren. Ausschlaggebend für Verhaltensänderungen sind deshalb nicht neue Vorsätze, sondern eine neue Wahrnehmung der Situation, in der das Verhalten verändert werden soll.

Solange sich das Bewusstsein im Alltag nicht von selbst öffnen kann, kann versucht werden, diesen Zustand durch geeignete Rituale herbeizuführen. Dies ist möglich, weil die Potenz des Organismus, dass er sich mit seinen inneren Vorstellungen bewusst in einen bestimmten Spannungszustand versetzen kann, auch zur Fähigkeit kultiviert werden kann, den Bewusstseinszustand absichtlich mit bestimmten inneren Vorstellungen gezielt zu verändern. Dies gelingt natürlich am besten mit Vorstellungen, die bereits in einem veränderten Bewusstseinszustand gebildet worden sind, so dass sie die richtigen Entspannungssignale geben können. Solche Vorstellungen zeigen, wie die Verbindung von sinnlichen Interaktionsmustern mit sprachlichen Symbolen die Autonomie des Handelns vergrößern kann.

Atemübungen sind nicht eine unter vielen Meditationstechniken, um einen veränderten Bewusstseinszustand herbeizuführen, sondern die eigentliche~

Schlüsseltechnik. Sie sind die optimale Methode, da die unter dem Druck des Individualisierungsprozesses durchgeführte Spaltung des Körpers in »Körper«, »Seele« und »Geist« in einer einheitlichen Wahrnehmung des Atems aufgehoben werden kann. Dies kann gelingen, weil im Atembewusstsein das im begrifflichen Denken verhaftete Bewusstsein zurück zur Erfahrung der sinnlichen Erregung, der Empfindungen und Emotionen gebracht werden kann. Böhme hat dieses dem leiblichen Prozess zugewandte Bewusstsein treffend als »Mystik nach unten« gekennzeichnet, um es damit von der idealistischen Mystik abzugrenzen, die sich nach oben in die Welt der Ideen abgehoben hat.229

Bei der klassischen Atemmeditation geht das Bewusstsein mit dem ein- und ausströmenden Atem, ohne in ihn einzugreifen und ohne ihn zu verändern. Es bleibt in der Rolle des reinen Beobachters. Das Bewusstsein kann sich dafür sensibilisieren, indem es zunächst den Atem bewusst »macht« und sich dann entscheidet, den Atem sich selbst zu überlassen. Die Konzentration auf den Atem ist so intensiv und ausschließlich, dass alles Denken aufhört. Sich des Atems voll bewusst zu sein, bedeutet, dass keine Gedanken zugelassen werden sollen, die die Aufmerksamkeit vom Atem ablenken könnten. Man wird identisch mit dem kommenden und gehenden Atem. Das Bewusstsein beobachtet zusätzlich, wie der einströmende Atem sich im Mund, in der Lunge und im Bauch anfühlt, wie der Körper die atembedingten Bewegungen empfindet. Beim Ausatmen fühlt das Bewusstsein, wie sich der ganze Körper zusammenzieht, wie sich die Muskeln des Kiefers und des Beckens entspannen und das Bewusstsein auf den Bauch hingelenkt wird. Die Aufmerksamkeit sollte immer wieder auf die Entspannung des Ringmuskels der Augen, der die Linsenkrümmung steuert, und die sechs Muskeln, die die Stellung des Augapfels bestimmen, richten. Es erscheint mir auch für die Entspannung der Augen sehr förderlich zu sein, wenn gleichzeitig die Entspannung der anderen Ringmuskeln im Körper wie in den Lippen, im Darm, beim Anus und beim Geschlechtsorgan angestrebt wird. Es ist sehr wichtig, nicht die Atemgeräusche bei der Ein- und Ausatmung außer acht zu lassen, ebenso muss ständig der Herzschlag im Bewusstsein bleiben, der als Pulsschlag und als eine feine Vibration des ganzen Körpers wahrnehmbar ist. Diese begleitenden Beobachtungen der körperlichen Veränderungen erleichtern es, mit dem Bewusstsein beim Atem zu bleiben und ablenkende Gedanken fernzuhalten. Der schnellere Rhythmus des Herzschlages betont die rhythmische Natur der Atmung. Indem ich mich auf den Rhythmus des Pulses konzentriere, kann sich die Atmung ihren eigenen Rhythmus suchen; er wird zunehmend langsamer, je~

vollständiger ich mit dem Herzschlag mitschwinge. Die Wirkung der Atemmeditation kann erhöht werden, wenn ich mir vorstelle, der Atem würde durch eine bestimmtes Organ oder Körperstelle ein- und ausströmen. Dabei sind selbstgewählte sprachliche Affirmationen sehr nützlich. Auch die Vorstellungen, dass sich im Kopf, im Herz oder im Bauch ein grüner Smaragd, eine Sonne u.ä. befinden, dessen Schwingungen alle Zellen zur Resonanz anregen, oder dass die Entspannung sich von einem Körperteil auf den ganzen Körper ausbreitet, können die Wirkung vertiefen.

In der Atemmeditation wird man identisch mit den wie von selbst ablaufenden Prozessen des Atems, der ekstatischen Erregung, des Energiestromes, der inneren Vorstellungen. Es wird spürbar, wie der Atem aus eigener Kraft fließt und das Bewusstsein nicht steuernd eingreift, sondern an dem Atemgeschehen nur partizipiert. Das Bewusstsein zentriert sich auf den Bauch und das Becken, woher die Lebensprozesse ihren Ausgang nehmen. Wo das Bewusstsein ist, ist auch der Atem. Es wird deutlich, wie das Auf und Ab der sinnlichen Erregung damit zusammenhängt, wie es gelingt, ganz mit dem Bewusstsein in der Erregung präsent zu sein und die Erregung im ganzen Körper zu spüren. Die Erregung steigert sich, wenn sich der Atem löst. In der teilnehmenden Beobachtung der Atmung hat man das Gefühl, im Einklang mit sich selbst zu sein; obwohl man scheinbar völlig passiv ist, pulsiert das volle Leben. Wahrscheinlich ist es diese Erfahrung, die der Muße ihre zufriedenmachende Qualität gibt. Es wäre eine Überinterpretation, sie mit der Erfahrung des kosmischen Zentrums gleichzusetzen.

Im veränderten Bewusstseinszustand kann aufgehen, dass die Welt eine von ihren Vorstellungen ist. Es kann der subjektive Anteil an der Gestaltung der Welt bewusst werden. Die wahrgenommene Welt kann als ein Produkt der individuellen Selbstgestaltung erkannt werden. Es bildet sich dabei ein Gespür dafür, wie man sich mit seinen inneren Vorstellungen selbst blockiert. Es verschwindet der »innere Beobachter«, der alle Regungen ständig bewertet und damit das Gefühl der Getrenntheit von den eigenen geistigen Aktivitäten hervorruft. Das Bewusstsein wird identisch mit den geistigen Prozessen, die gleichsam von selbst ablaufen.

Die Wirkung aller Entspannungstechniken kommt letztlich dadurch zustande, dass sich in dem Maße, wie sich der Atem beruhigt und vertieft, eine Umschaltung vom sympathischen in den parasympathischen Nervenzustand stattfindet. Diese Umschaltung findet praktisch in jedem tiefen Atemzyklus statt, so dass bei richtiger Atmung die Entspannung aus dem Stand gefunden werden kann. Je ausgeprägter die polare Struktur des Atemzyklus abläuft, umso tiefer ist seine Entspannungswirkung. Eine tiefe und entspannte Atmung ist deshalb das ideale~

Schnellverfahren der Entspannung. Die gesellschaftliche Utopie könnte auch so formuliert werden, dass ein Zustand angestrebt werden muss, in dem Entspannung nicht in einem gesondertem Akt angestrebt werden muss, weil sie in jedem Atemzyklus schon gefunden wird.

Der Zustand, in dem sich unangepasste Bilder auflösen und durch neue ersetzt werden können, wird also letztlich durch den gelösten Atem charakterisiert. Das Loslassen der Atmung bedeutet ein Loslassen der unterdrückten Gefühle, da das Loslassen der Atmung identisch ist mit dem Abbau der den Gefühlsausdruck behindernden muskulären Barrieren. Der nun frei pulsierende Organismus kann die Ängste zulassen. Die Gefühle verlieren ihre beängstigende Wirkung, weil sie als eigene Ausdrucksformen akzeptiert werden können. Sie können integriert werden, weil sie nicht mehr abgewertet werden müssen. Es wird unmittelbar gespürt, durch welche körperlichen Mechanismen die Ängste und Verletzungen bewältigt worden sind. Im gelösten Atem können sich die inneren Vorstellungen auflösen, weil der entspannte Organismus von sich aus bereit ist, seine Vorstellungen der erfahrenen Situation anzupassen.

Jede spontane tiefe Ausatmung, die in der Atempause eine tiefe körperliche Entspannung freigibt, enthält die Bereitschaft, die bei der Einatmung erzeugten Bilder wieder aufzulösen, wenn sie nicht ganz der erfahrenen Situation entsprechen. Wenn das Bild sich in der Atempause auflöst, kann es in der nächsten Einatemphase eine veränderte, vollständigere Gestalt annehmen. Die tiefe Ausatmung hat damit die Funktion der Verflüssigung früherer innerer Vorstellungen um damit neuen Gestalten Raum zu geben. Tiefe Ausatmung kann so die mentale Erstarrung verhindern, indem sie die Erinnerung an die Entstehungsbedingung der Bilder wachhält. Es ist gleichsam so, als würde der Organismus in der völlig entspannten Atempause kurzfristig in den vegetativen Zustand zurückkehren, der vor dem phylogenetischen Entwicklungsschritt zur Bilderbedürftigkeit bestand. Darauf ist vielleicht zurückzuführen, dass Menschen mit einer tiefen Atmung das Gefühl haben, jeden Moment als neu zu erleben.

Die Kreativität des entspannten Atems hängt damit zusammen, dass dabei die Sinnesorgane ihre volle Kraft zurückgewinnen. Insbesondere erhalten die Augen ihre ursprüngliche Beweglichkeit zurück, so dass die inneren Vorstellungen in ihrer ganzen Fülle und Konkretheit und damit auch die an sie gebundenen Gefühle zugelassen werden können. Wenn die Lebendigkeit der Sinne wiederhergestellt ist, wird die intuitive Kraft des Organismus wieder freigelegt

Im übernächsten Kapitel soll die klassische Atemmeditation um den oben~

entwickelten Gesichtspunkt erweitert werden, dass im veränderten Bewusstseinszustand auch das Bewusstsein der subjektiven Verfügung über die mentalen Prozesse erhalten werden kann, ohne dass deshalb deren Spontaneität verlorengeht. Die klassische Atemmeditation hat ihre Berechtigung darin, dass der cortikale Erregungszustand so weit reduziert wird, dass die Selbstblockaden des mentalen Prozesses aufgehoben werden. Denn die eigentliche Funktion des veränderten Bewusstseinszustandes ist es, allen inneren Prozesse ein optimales Funktionsmilieu zu verschaffen. Dann laufen auch die mentalen Verarbeitungsprozesse wie von selbst. Die Entleerung des Bewusstseins dient sozusagen der Reinigung, um die Welt mit einem neuen, unverfälschten Blick anschauen zu können. Wenn dieser Zustand erreicht ist, kann sich das Bewusstsein den Antworten öffnen, die der fragende Teil des Bewusstseins an den Organismus richtet.

Für Verhaltensänderungen reicht es aber nicht aus, wenn bloß der entspannte Bewusstseinszustand hergestellt wird. Er allein kann nur ein Gefühl des entspannten Wohlbefindens und des pulsatorischen Strömens bringen. Diese Meditationsform kann zweifellos die Bereitschaft, mit Stress auf bedrohlich erscheinende Reize zu reagieren, dämpfen und damit die psychische Stabilität erhöhen. Untersuchungen an Personen mit Meditationspraxis belegen diese Effekte. Einer der entscheidenden Gründe ist wahrscheinlich, dass gelernt wird, auch in Stresssituationen einen niedrigen Erregungszustand der neurophysischen Funktionen zu behalten bzw. sofort danach wieder in das homöostatische Gleichgewicht zurückzukehren.230

Nachhaltige Veränderungen können nur erreicht werden, wenn ein Zugang zum limbischen System gefunden wird. Das setzt voraus, dass im veränderten Bewusstseinszustand weiterhin sprachliches Denken und körperliches Spüren im richtigen Verhältnis zueinander stehen. Wenn erst einmal angstbesetzte emotionale Reaktionen sich im limbischen System eingeprägt haben, können bewusste Veränderungen nur stattfinden, wenn die passiven Momente des Zulassens der inneren Vorstellungen und Emotionen auf der einen Seite mit den aktiven Momenten der Konzentration auf konkrete Erfahrungssituationen und der sprachlich gelenkten Absicht auf der anderen Seite verbunden werden. Die Ängste in den Vorstellungen können nur angenommen werden, wenn einerseits die Bereitschaft vorhanden ist, die Vorstellungen, die spontan im entspannten Bewusstseinszustand aufsteigen, festzuhalten und andererseits~

die Bemühung einsetzt, die Situation, auf die sich die Ängste beziehen, so konkret wie möglich vorzustellen und in die Ängste hineinzuspüren. Indem sich das intentionale Bewusstsein aktiv fragend in die Prozesse einschaltet, kommt ganz selbstverständlich der sprachliche innere Dialog ins Spiel.

Im entspannten Atem kann deutlich erfahren werden, dass sich in jedem Moment aktive und passive Momente miteinander vermischen. So wie es dem »wahren« Lebensgefühl entspricht, wird in jedem authentischen Verhalten gespürt, dass man zugleich lebt und gelebt wird, denkt und gedacht wird, tanzt und getanzt wird usw. Psychische Störungen sind daran abzulesen, dass dieses Gleichgewicht aufgebrochen ist und man unter dem Zwang steht, alles kontrollieren zu müssen oder das Gefühl hat, verfolgt zu werden oder ohnmächtig zu sein. Im veränderten Bewusstseinszustand lässt sich dieses Gleichgewicht wiederherstellen, weil einerseits deutlich die aktive, lenkende Kraft des »Ichs« und andererseits die Spontaneität der Reaktionen des vegetativen Körpers spürbar ist. Der innere Dialog unterscheidet sich darin vom Traum, dass erstens viel deutlicher gespürt wird, dass die aktuellen Probleme und Gedanken des Wachbewusstseins in den inneren Dialog eingehen, dass zweitens stets ganz klar ist, auf welche Personen man sich bezieht und drittens nie das Gefühl verlorengeht, aktiv entscheiden zu können.231 Insofern ähnelt der innere Dialog dem luziden Traum.232

Wenn im Folgenden von »veränderten Bewusstseinszustand« die Rede ist, bezieht sich dieser Begriff stets auf den Bewusstseinszustand, in dem die spontanen mentalen Verarbeitungsprozesse aktiviert und die innere Stimmen vernehmbar werden, in dem also ekstatische Gefühle und mentale Aktivität sich wechselseitig zulassen. Es wird absichtlich kein eigener Begriff dafür eingeführt, da sich dieser Bewusstseinszustand prinzipiell nicht vom normalen Wachbewusstsein unterscheidet. In der Intuition, der Begeisterung u. a. blitzt er immer wieder auf. Es ist Teil der Utopie, dass der veränderte Bewusstseinszustand zum normalen Wachbewusstsein wird.

Alle inneren Vorstellungen sind so sehr mit der Sprache durchtränkt, dass die Klärung ihrer emotionalen Aspekte nur gelingen kann, wenn die Sprache als Teil der inneren Verarbeitung akzeptiert wird. Es wäre eine Verleugnung der sprachlichen Natur des Menschen, wenn im veränderten Bewusstseinszustand~

die sprachliche Dimension gerade überwunden werden soll. Die buddhistische Forderung nach absoluter geistiger Leere und Ruhe in der Meditation lässt deshalb deren Problemlösungskapazität verfehlen.

Auch die Visualisierungstechniken neigen dazu, die Bedeutung des sprachlichen Dialoges bei der Auflösung von Vorstellungen zu vernachlässigen. Sie knüpfen den therapeutischen Erfolg daran, dass die das Verhalten negativ bestimmenden Bilder erkannt und Vorsätze zu besserem Verhalten in ganz konkrete positive Bilder gefasst werden. Es sei falsch, primär daran zu denken, was man vermeiden will. Allerdings sei ein klares Bewusstsein erforderlich, warum man an dem früheren Verhalten nicht mehr festhalten will. In der Visualisierung soll das angestrebte Ziel praktisch in der Imagination als erfüllt vorweggenommen werden. Die therapeutische Wirkung der Bilder beruhe angeblich darauf, dass sie das 'Unbewusste« gleichsam programmieren. Da alles Leiden allein durch falsche Vorstellungen bedingt sei, kann das Leiden an der Wirklichkeit mit der Veränderung der inneren Vorstellungen aufgelöst werden. Offensichtlich stützen sich die Imaginationstheorien auf die Vorstellung, dass das Unbewusste wie eine Datenverarbeitungsmaschine programmiert werden kann und dass es für Verhaltensveränderungen ausreichend sei, bloß die Bilder auszutauschen. Das Versprechen der Imagionationstechniken, ganz mühelos und ohne Schmerz von den negativen Bildern zu befreien, erscheint vielen als glaubwürdig, da sie sich von dem suggestiven Bild des Programmwechsels bei einem Computer leiten lassen.

Bei den Kleinkindern würde niemand auf die Idee kommen, dass sie bei Verletzungen ihrer Bedürfnisse und bei Demütigungen nicht unmittelbar an der Realität leiden. Auch bei den Erwachsenen bedeuten unangemessene Bilder, dass man nicht nur wegen der unzureichenden Vorstellungsbilder ständig mit der Realität zusammenstößt, sondern weil auch die Realität unzumutbare Verhaltensanforderungen stellt. Die unangepassten Verhaltensmuster werden beibehalten, weil sie nach wie vor für das Überleben benötigt werden. Mit dem Festhalten der inneren Vorstellungen sollen die Schmerzen bewältigt werden, vor deren Wiederkehr sich der Organismus fürchtet. Denn das Zentrale an den Vorstellungen ist nicht der imaginative Aspekt, sondern das mit ihnen verbundenen emotionale Interaktionsmuster, das sich bei der Vermeidung von Schmerzen bewährt hat. Der Organismus ist deshalb unter normalen Bedingungen erst bereit, die emotionalen Grundmuster aufzugeben, wenn die Ängste, die mit Folgewirkungen wie z.B. Krankheiten verbunden sind, größer werden als die Ängste, die ursprünglich mit ihnen vermieden werden sollten. Außerdem verlangt der Organismus die Gewissheit, dass mit den neuen Vorstellungen die Schmerzen tatsächlich vermieden werden können. Diese~

Gewissheit können sie aber erst geben, wenn sie in der Realität erprobt werden.

Die normalen Bedingungen von Verhaltensänderungen können im atementspannten Bewusstseinszustand außer Kraft gesetzt werden. Wenn im entspannten Bewusstseinszustand die Ängste angenommen werden, ihre ursprüngliche Schutzabsicht verstanden wird und alternative Handlungsmöglichkeiten sichtbar werden, verlieren die inneren Vorstellungen ihre Verzahnung mit fixierten emotionalen Reaktionsmustern. Dieser Prozess kann nur im Medium der Sprache geschehen, da auf diese Weise Distanz zu den Gefühlen hergestellt werden kann. Letztlich kommt es bei allen Verhaltensänderungen darauf an, dass die Verantwortung für sich selbst zurückgewonnen wird, die im gewohnheitsmäßigen Verhalten verlorengegangen ist. Jede Störung muss künftig spontan die Frage an sich auslösen, welche Ängste im Spiel sind. Diese Selbstklärung kann nur im sprachlich geführten inneren Dialog erfolgen. Sich bloß Bilder von gewünschten Zuständen zu imaginieren kommt der blinden Umprogrammierung eines zwanghaften Verhalten in ein anderes gleich. Wahrscheinlich sind die Imaginationsübungen nur deshalb erfolgreich, weil im Grunde immer auch der sprachliche Dialog mit im Spiel ist.

Wenn durch ein verändertes Bewusstsein der innere Dialog und damit das Denken aktiviert werden kann, muss die Konsequenzen für die Struktur des Denkens haben. Im Folgenden soll deshalb gefragt werden, ob das abstrakte, instrumentelle Denken überwunden werden kann, wenn es das Vertrauen in die innere Selbstorganisation zurückgewinnt.

11. Ganzheitliches Denken

Mit dem Attribut »neu« verheißen die auf dem esoterischen Markt angebotenen Therapien eine grundlegende Veränderung der Einstellung gegenüber dem Leben: die somatischen Spaltungen sollen aufgehoben, psychische Ausgeglichenheit und geistige Klarheit erlangt werden. Der Anspruch des »neuen Denkens« wird häufig mit seiner Ganzheitlichkeit begründet. Beim näheren Zusehen zeigt sich aber, dass dem »ganzheitlichen« Denken immer noch die alten Mystifikationen des Patriarchats von Geist, Seele, Körper, Vernunft u. a. zugrundeliegen, die zwangsläufig das Denken untergründig am dualistischen Denken festhalten lassen.

Der Begriff des ganzheitlichen Denkens kann seinen Sinn nur darin haben, dass das Denken den Anspruch, ein eigenständiger Prozess zu sein, aufgibt und sich eingesteht, wie es an die körperlichen Prozesse der Empfindungen und Gefühle, die allem Denken zugrundeliegen, angebunden ist. Ganzheitliches Denken besteht in dem Eingeständnis, dass es stets nur der Reflex erfahrener Lebenssituationen ist. Das Denken kann dann nicht mehr vergessen, dass es sehr tief an die Erfahrungen seiner individuellen Geschichte und den sozialen Kontext gebunden ist und seine Autonomie nur darin bestehen kann, sich der Abhängigkeit vom kulturellen Milieu bewusst zu sein und seine Vorstellungen im Rahmen des kulturell vorgegebenen Freiheitsspielraums neu zu ordnen. Es wird dann erfahren, dass es seine Kraft und Kreativität daraus schöpft, sich stets der Differenz zwischen den Gefühlen und den gedanklichen Vorstellungen bewusst zu sein.

11.1. Kinetisches Gespür

Im individuellen Selbstwerdungsprozess entwickelt sich das Denken aus dem Versuch, die gesellschaftlichen Anforderungen mit den eigenen Antrieben zu vermitteln. Alle Gedanken sind nur Reflex auf die soziale Situation, die~

Unruhe oder sogar Schmerzen verursachen und so Handeln erzwingen. Denken artikuliert die Schmerzen, die bei einer misslungenen Vermittlung auftreten. Es erweist sich als ein identifizierendes, »reflektierendes« Nachahmen der Muskelverspannungen. Jeder Gedanke hat eine bestimmte Absicht und unterstützt den Körper in einer bestimmten Bewegungsrichtung. Die ursprüngliche Reaktion auf Einschränkungen ist der Versuch, anzugreifen oder zu fliehen. Daraus entwickeln sich die Impulse, auf die Umwelt im Sinne der eigenen Antriebe einzuwirken oder, falls dies nicht gelingt, sich selbst zu verändern. Jeder Gedanke ist Teil solcher organismischen Bewegungsrichtungen und hat deshalb ein intentionales kinetisches Moment. Wenn es beim Erkennen darum geht, den Ursprung und den Zweck der Verspannungen zu erkennen, wird deutlich, dass das Denken kein »rationaler« Vorgang ist, sondern ein unmittelbarer Nachvollzug der Gefühle.

Erkenntnis darf nicht als ein Pendeln zwischen der »rationalen Welt des Bewusstseins« und den arationalen Kräften des vegetativen Körpers aufgefasst werden, da der vegetative Körper nichts anderes ist als die in der individuellen Erfahrungsgeschichte in Übereinstimmung mit den organismischen Bedürfnissen angeeignete soziale Natur, die genauso viel »Rationalität« beanspruchen kann wie das angeblich rationale Bewusstsein. Das rezeptive »Ich« kann ein Gewahrsam dafür entwickeln, dass auch im »dunklen Lebensgrund« des Leibes »Vernunft« vorhanden ist, wie dies Nietzsche erkannt hat.

Die Qualität des Denkens verändert sich entscheidend, wenn in der Selbstwahrnehmung des Denkens das kinetische Moment in den Mittelpunkt gestellt wird: Was soll mit dem Denken erreicht werden? Der objektivistische Schleier des patriarchalen Denkens, der die kinetische Kernfrage des Denkens zugedeckt hat, muss deshalb durch eine neue Selbstwahrnehmung des Denkens und der sie bestimmenden Antriebe aufgehoben werden. Ich muss mir in jedem Augenblick bewusst sein, was ich erreichen will!

Das verselbständigte Denken hat den Hang, Gedanken wörtlich zu nehmen. Dies macht sich besonders negativ in persönlichen Streitgesprächen bemerkbar. Gerade in Streitgesprächen haben alle Äußerungen in der Regel eine verschleierte Botschaft an den anderen. Es kommt auf das Gespür an herauszufinden, was der andere eigentlich mit seiner Aussage bewirken will,~

auch wenn es den Anschein hat, als ob über sie nur die Befindlichkeit des anderen ausgedrückt werden soll. Hinter der charakterlichen Verurteilung steckt letztlich die Aufforderung, dass der andere sich verändern soll. Das Streitgespräch kann nur dann in eine konstruktive Phase gelangen, wenn weder die Aussagen des anderen über sich selbst noch die Kritik am anderen wörtlich genommen werden, sondern man nur darauf reagiert, was der verletzte Partner bewirken will.

Der kinetische Blick ist auch bei der Lektüre von Büchern sehr nützlich. Die übliche Frage nach der Wahrheit der Gedanken lenkt von der eigentlich zentralen Frage ab, welche Konsequenzen sich aus dem Gelesenen für das eigene Verhalten, für die eigenen Bewegungen ergeben. Zunächst ist zu fragen, inwieweit die Reflexionen Anlass geben, die eigenen orientierenden Vorstellungen zu verändern. Dieser Schritt wäre unzureichend, wenn nicht die bewegungsändernde Kraft der Bilder auch in der praktischen Erprobung erfahren wird. Theorien, die keinen Bezug zur Beweglichkeit des Körpers und seiner Sinnesorgane haben, sind belanglos, wenn nicht sogar destruktiv.

Grundzug des »ganzheitlichen« Denkens ist das Wissen, dass man sich selbst gewählter, meist von der Kultur vorgegebener Vorstellungsbilder bedient und dass Verhaltensreflexibilität und Gesundheit davon abhängen, dass die Bilder nicht als eigenständige Wirklichkeit dogmatisiert werden. Das setzt voraus, dass man sich bewusst an der Gestaltungsaufgabe beteiligt, durch die Nachahmung von äußeren Bewegungen seine eigene Bewegungsfähigkeit und damit Ausdrucksfähigkeit wiederzugewinnen und zu steigern. Wenn die äußeren Bewegungen als absichtsvolle Gestaltungen erfahren werden, kann diese Erfahrung auch auf die inneren gedanklichen Bewegungen übertragen werden und anstelle der bisherigen zwanghaften Identifikation mit den auftauchenden Gedanken der Versuch treten, die Wirkung der Gedanken durch ihre bewusste Gestaltung zu verbessern. Sobald ich meine Fiktionen als Fiktionen durchschaue, kann ich sie jederzeit entsprechend den eigenen Bedürfnisse neu gestalten.

Die innere Distanz gegenüber den eigenen inneren Vorstellungen ist eine der wichtigsten Fähigkeiten des autonomen Denkens. Ihre Aufgabe besteht darin, die Bewegungsrichtung der einzelnen Gedanken im Bezug auf den Organismus selbst wahrzunehmen. Die innere Distanz misst die Stoßrichtung der Gedanken an den Absichten der Körperempfindungen. Die Distanz ist nur im gelösten Atem herstellbar. Mit jedem Atemzug kehrt das Bewusstsein gleichsam in den vorsprachlichen, unbewussten Bereich des vegetativen Körpers zurück und nimmt Kontakt mit den Empfindungen auf, in denen sich die vegetativen Impulse ausdrücken. In der kurzen Atempause hält der Organismus inne. Vom unmittelbaren Handlungsdruck befreit kann er sich aus der Situation zurückziehen und die Aufmerksamkeit auf seinen aktuellen Zustand lenken. Es wird schlagartig klar, was für den Organismus gut ist. »In den Ruhekernen liegt die Entfaltung des Lebens beschlossen«.233 So wie der Organismus~

sich in der Ausatmung von der Luft befreit, die er eingeatmet hat, kann er sich von den Problemen befreien, die er sich aufgeladen hat, wenn er in der gelösten Atmung die Distanz zu sich selbst findet.

Die innere Distanz darf nicht mit der Methode der Desidentifikation verwechselt werden.234 Bei dieser Methode wird vorgeschlagen, sich mit seinen Gefühlen, Gedanken und dem flüchtigen Strom der Empfindungen auf die Weise zu befreien, dass man sie wie von außen objektiv betrachtet, ohne einzugreifen. Da man nach dem Grundsatz der Psychosynthese von dem beherrscht wird, mit dem man sich identifiziert, könne durch den Rückzug der Identifikation Kontrolle erworben werden. Gedanken, Gefühle und Empfindungen erscheinen dann als bloße Mittel, um seine Ziele zu verfolgen. Die Methode der Desidentifikation trifft insofern einen richtigen Kern, da sie betont, dass eine falsche Identifikation mit seinen Emotionen und Gedanken zu zwanghaften Verhalten führt. Problematisch wird sie aber, wenn man die Energie auch von den Empfindungen zurückziehen soll. Damit würde der einzige sichere Bezugspunkt des Verhaltens verlorengehen. Nur im inneren Bezug auf die Empfindungen kann es gelingen, sich soweit mit den Gefühlen und Gedanken zu identifizieren, wie es für das Handeln erforderlich ist und soweit sich zu desidentifizieren, wie Situationsveränderungen dies erfordern.

Die innere Distanz hat ihre tiefste Wurzel in der Erinnerung an den vorgeburtlichen Zustand. Die Geburtserinnerung weckt das Gefühl der symbiotischen Körperbeziehung mit der Mutter vor der Geburt. Die Erfahrung von Einheit und Verbundenheit in der fötalen Welt wird zum Maßstab für die Erfahrungen in der postnatalen Welt. Jeder Atemzug hat die Qualität eines Neuanfangs und zwar umso ausgeprägter, je mehr man den Atem loslassen kann und dadurch ein tiefes Einatmen ermöglicht wird. Das Zur-Welt-Kommen ist nicht mit der Geburt abgeschlossen, sondern ein ständiger Prozess, in dem jeder Schritt die Qualität einer Neugeburt haben kann. Jeder Augenblick konfrontiert neu mit der Aufgabe, zur Welt zu kommen. Jeder bewusste Neuanfang ist der Versuch, die Welt nach dem Kriterium der fötalen Verbundenheit zu formen. Jeder spontane Gedanke hat die Qualität eines Geburtsvorgangs mit Gedanken schwanger gehen«). Jede dramatische Änderung des Lebensgefühls erhält durch die Geburtserinnerung die Aura eines Neuanfangs. Alle Gedanken der Philosophie und Religion leben von der Hoffnung, dass der Geburtsvorgang wiederholt werden kann. Alle Naturbeobachtungen kreisen um das Thema Geborenwerden und Sterben.

Die Geburtserinnerung begründet eine fötale Negativität, wie dies ~

Sloterdijk bezeichnet, die einen als schmerzvoll erlebten Zustand kritisch negiert und durch die Hoffnung auf einen Neuanfang ersetzt. »Der fötale Weltvorbehalt zeigt uns eine Form des Nicht-in-der-Welt-Seins, die ganz von dieser Welt ist, eine nicht-transzendente Transzendenz, eine ontologische Differenz ohne Metaphysik«.235 Je entfremdeter das Leben ist und je mehr die Ablösung von der Mutter misslingt, umso mehr muss die Erinnerung an die Geburt, die in der alltäglichen Erfahrung mehr oder minder präsent ist, verhindert werden. Denn jeder Atemzug erinnert unbewusst vergangenes Leiden. Die mit der Geburt verbundenen Gefühle stehen so sehr im Widerspruch mit den realen Erfahrungen von Abhängigkeit, Trennung, Ohnmacht und Verlassenheit, dass es verständlich ist, dass offensichtlich das patriarchale Ich nichts mehr schmerzt als die Erinnerung an seine Geburt. Dabei schmerzen nicht allein die Schmerzen und Angst der Geburt selbst, sondern der Umstand, dass mit ihr der radikale Bruch mit einer früheren Lebensform geschah, die entschieden glücklicher war und die nicht wieder rückholbar ist. Denn durch die Geburtserinnerung wird das ekstatische Körperbewusstsein aktiviert, das den fötalen Zustand und einige Zeit des postnatalen Zustandes bestimmt hat.

Das Leben im Patriarchat kann deshalb nur erträglich gemacht werden, wenn die kritische Potenz der Geburt abgeschnitten wird. Das patriarchale Denken versucht dies, indem es den Blick systematisch in die Zukunft und auf den Tod richtet, um die vielfältigen alltäglichen Erinnerungen an die Geburt auszublenden. Wenn im Patriarchat alle moralischen und geistigen Urteile aus allgemeingültigen, absoluten geistigen Prinzipien abgeleitet werden, ist auch die Verdrängung der Geburtlichkeit am Werk. Die patriarchale Philosophie hat offensichtlich ihre wesentliche Funktion darin, die ursprüngliche Erfahrung des mütterlichen Ursprungs aller Wesen, auch der geistigen Produkte, durch das Dogma der väterlichen Herkunft zu ersetzen.

11.2. Im Teil das Ganze sehen

Das esoterische Pars-pro-toto-Prinzip nimmt an, dass in jedem Teil das Ganze enthalten ist. Das kleinste Teil lasse das Wesen des Kosmos erkennen, weil es mit ihm identisch sei. Wahrscheinlich hat das Pars-pro-toto-Prinzip seine Basis in der sozialen Erfahrung, dass jeder Teil der kulturellen Lebenswelt, jeder Gedanke und jede Verhaltensweise, von den Bauprinzipien der Gesellschaft geprägt wird. Diese Erfahrung hat in dem berühmten Satz von Karl Marx den~

Niederschlag gefunden, dass »es nicht das Bewusstsein ist, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt«.236 Marx sprach ausdrücklich vom gesellschaftlichen Sein, um damit die Bedingungen der kulturellen Produktion und Reproduktion des Lebens und ihrer Organisationsformen als Prägefaktoren zu kennzeichnen.

Für das leibliche Denken ergibt sich daraus die Aufgabe, in den jeweiligen Inhalten des Denkens und Fühlens die gesellschaftlichen Verhältnisse wiederzuerkennen. Die Formel der Kritischen Gesellschaftstheorie, dass im Besonderen stets die ganze Totalität steckt, ist auch auf die innere Welt des Subjekts anzuwenden. Die Kritische Theorie hat aber keine Hilfen dafür gegeben, wie die Spuren der sozialen Herrschaft im eigenen Körper dechiffriert werden können. Sie hat alle Theorien als ideologisch gebrandmarkt, die Ängste und Schmerzen verharmlosen und rationalisieren und letztlich darauf hinarbeiten, den leidenden Körper empfindungslos zu machen. Da sich die kritische Theorie der Gesellschaft in der Ideologiekritik erschöpfte, blieb aber die Frage ausgeblendet, wie sich die gesellschaftlichen Phänomene der Entfremdung, der Verdinglichung, der Gewalt, der Gleichgültigkeit, der Selbstzerstörung u. a. im eigenen Verhalten widerspiegeln. Die kritische Gesellschaftstheorie hat diese Aufgabe der Psychoanalyse zugewiesen. Da aber die Psychoanalyse alle Symptome ausschließlich auf gestörte Kommunikationsbeziehungen zu den frühen Bezugspersonen zurückverfolgt, bleibt ihr deren eigentliche gesellschaftliche Bedeutung verborgen. Es bleibt damit die Aufgabe unerledigt, wie in den Symptomen der subjektiven Befindlichkeit die gesellschaftlichen Verhältnisse erlebbar gemacht werden können.

Die Gesellschaftskritik muss befähigen, die objektiven gesellschaftlichen Deformationen auch in sich selbst wahrzunehmen und den individuellen Symptomen einen sozialen Namen zu geben. Da die Symptome auf subjektive Konflikte hinweisen, die ihrerseits gesellschaftliche Konflikte widerspiegeln, kommt es darauf an, in den subjektiven Befindlichkeiten die gesellschaftlichen Widersprüche zu erfahren. Das alltägliche Leben ist mit einer Fülle von negativ empfundenen Erfahrungen ausgefüllt, die zum größten Teil gar nicht bewusst wahrgenommen werden: das Gefühl, gegenüber bestimmten Personen hilflos zu sein, das Gespür von Misstrauen oder Desinteresse beim anderen, das Gefühl überfordert zu sein, vom anderen nicht genug beachtet oder herabgesetzt zu werden u.a.m. Bekanntlich besteht das Prinzip der Unterdrückung darin, die Erfahrung der Negierung der eigenen Impulse, die letztlich mit eigener~

Zustimmung vorgenommen wurden, aus dem Bewusstsein zu verdrängen. Aber der Körper kann diesen Verrat an sich selber nicht vergessen. In den spontan auftretenden inneren Vorstellungen und Stimmen werden ständig auf dem Hintergrund des Bewusstseins die Situationen festgehalten, in denen man Teile von sich verdrängt, verleugnet und abgewertet hat. Die inneren Stimmen repräsentieren primär die Unterdrücker. Wenn ich mich ihnen aber achtsam zuwende, geben sie auch in ihren Botschaften preis, welche Bedürfnisse aufgegeben wurden. Die inneren Stimmen des Organismus enthalten damit alle Negationen, die ich mir angetan habe. Sie enthalten auch das Wissen, warum ich an den früheren Entscheidungen festhalte, obgleich sich die Verhältnisse völlig geändert haben.

Die Schlüsselbegriffe der Gesellschaftskritik können im inneren Erleben nachvollzogen werden. Entfremdung manifestiert sich darin, dass der eigene Körper dem bewussten Willen nicht gehorcht und z.B. Verspannungen nicht willentlich aufgelöst werden können. Ich spüre die Entfremdung daran, dass große Teile des Körpers fremd, gleichsam tot sind. Sobald ich statt des disziplinierten, kontrollierten ein rezeptives Verhältnis gegenüber mir selbst einnehme, wird mir schlagartig bewusst, wie deformiert mein Verhalten gegenüber mir selbst war. Das gesellschaftliche Leistungsprinzip manifestiert sich in der Unfähigkeit, die Zeit untätig verstreichen zu lassen, sich auf sich selbst zu besinnen, Mängel bei sich und anderen zu akzeptieren und etwas seinem Lauf zu überlassen. Die gesellschaftlichen Zerstörungstendenzen sind in der subjektiven Bereitschaft zu entdecken, mit vollem Bewusstsein die Krankheitsfolgen von Suchtverhalten, Ernährungsgewohnheiten, Umweltbelastungen u. a. in Kauf zu nehmen. Das Desinteresse gegenüber dem Leiden des anderen spiegelt sich im Desinteresse sich selbst gegenüber, wie man mit den negativen Folgen der übertriebenen Anpassung an die gesellschaftlichen Erwartungen fertig wird. Das Konkurrenzprinzip ist an dem mangelnden Vertrauen gegenüber sich selbst und der Angst vor Nähe abzulesen. Schließlich ist die Verdinglichung darin zu erkennen, wie ich mich mit meinen eigenen Vorstellungen identifiziere und sie als etwas Feststehendes fixiere.

Die gesellschaftlichen Widersprüche im eigenen Inneren können leichter aufgedeckt werden, wenn man sich ihnen im inneren Nachvollzug von konkreten Konflikten aussetzt. Im aktuellen Erleben gehen diese sozialen Bezüge meist unter, sie können aber in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt werden, wenn die Konflikte noch einmal unter dem Aspekt vergegenwärtigt werden, wo Differenzen zwischen den eigenen Wünschen und den Anforderungen der anderen bestanden und wie sie mit den gesellschaftlichen Lebensbedingungen zusammenhängen. Die Introjekte beziehen ihre zerstörerische,~

unerbittliche Wirkung daraus, dass ich keine Chance hatte, ihre Forderungen mit den eigenen Wünschen abzugleichen und sie damit als sinnvoll anzueignen. Wenn ich erlebe, wie ich meine Introjekte auf andere projiziere, gelingt es, zwischen den Forderungen der Introjekte und denen der Umwelt zu unterscheiden. Dazu ist allerdings auch erforderlich, dass die Forderungen der Umwelt kritisch hinterfragt werden und ich ein Gefühl für ihre begrenzte Legitimität bekomme. Im Vergleich mit den eigenen Wünschen werden die Forderungen relativiert und verlieren ihren Absolutheitsanspruch.

Die soziale Relativierung der Verhaltensanforderungen führt keineswegs dazu, dass die Eltern entschuldigt werden. Im Gegenteil wird das Maß ihrer subjektiven Beteiligung, die Grundlage für die Verurteilung ist, umso deutlicher, je mehr man bei sich selbst zwischen den eigenen Wünschen und den gesellschaftlich vorgegebenen Forderungen unterscheiden kann. Indem man die Forderungen in Frage stellt, kritisiert man gleichzeitig die Fordernden und kann sich gegenüber infantilen und gegenwärtigen Bezugspersonen zur Wehr setzen. Ich kann sie zur Verantwortung ziehen, d.h. um Antwort fragen, warum sie unbedingt dieses Verhalten forderten, und Wut darüber zeigen, dass sie sich selbst unreflektiert den gesellschaftlichen Forderungen unterworfen haben und sie unkritisch von anderen abverlangen. Warum haben sie ihre Chance nicht genutzt, sich von rigorosen, rigiden Forderungen an sich zu distanzieren? Es wird gespürt, wie die Eltern ihre Macht ausgenutzt haben, meinen Widerstand zu brechen. Ich erfahre, dass ich aus psychischer Not eine bestimmte Reaktionsform gewählt habe, um mit meiner Wut fertig zu werden. Wenn die Wut über vergewaltigende Forderungen und demütigende Kränkungen ausgedrückt werden kann, kann gegenüber den Eltern die Ambivalenz der Gefühle von Zuneigung und Hass zugelassen werden.

Jetzt kann ich fragen, mit welchen anderen Reaktionsweisen ich auf die Ausgangssituation hätte reagieren können und welche ich für angemessen halten würde, wenn ich frei in der Wahl der Reaktionsweisen gewesen wäre. Ich bekomme ein Gefühl dafür, wie ich zwanghaft mit konditionierten Reflexen reagiert habe, anstatt in der Situation das Bewusstsein dafür zu behalten welche Rollenidentität aus einsichtigen Gründen angemessen gewesen wäre, ohne sich mit ihr völlig zu identifizieren. Ich spüre, dass ich einen tieferen Bezugspunkt zu mir finden muss, um frei die situationsgerechten Reaktionsweisen wählen zu können.

Die Verhaltensforderungen der Umwelt können erst dann als eigene assimiliert werden, wenn ich die Kraft und die Fähigkeit gefunden habe, Forderungen an die Umwelt zu stellen, die als Ausdruck der eigenen Wünsche empfunden werden. Damit eigne ich mir die normale Selbstverteidigung wieder an,~

die durch die kindlichen Verletzungen zerstört worden sind, zunächst in der Phantasie, um sie später in der Realität erproben zu können. Erst wenn ich den Konflikt zwischen den von außen vorgegebenen und den eigenen Wünschen bewusst durchgekämpft habe, kann ich Kompromisse finden, die ich bejahen und damit integrieren kann. Diese innere Konfrontation ist keineswegs ein intellektueller Vorgang. Vielmehr fließen emotionale Ansprüche und als emotionaler Druck wahrgenommene Umweltforderungen zusammen und werden durch komplizierte Prozesse zu neuen affektiven Einstellungen verarbeitet. Die therapeutische Redeweise, dass die verdrängten Gefühle in die Person integriert werden müssen, wird erst in dieser gesellschaftskritischen Perspektive verständlich. Integrieren ist nicht einfach bejahen, sondern das Erreichen eines neuen Gleichgewichts von Individuum und Gesellschaft, in dem man sich etwas mehr als vorher behauptet.

Die innere Konfrontation von sozialen Verhaltensforderungen mit den eigenen Wünschen ist der Kern jeder richtig verstandenen Gesellschaftskritik. Gesellschaftskritik ist der Versuch, die fremd gewordene Realität wieder anzueignen, indem man die gesellschaftlichen Forderungen an den eigenen Bedürfnissen misst. Die gegenwärtig von der Soziologie angebotene Gesellschaftskritik taugt nur begrenzt für die zurückzugewinnende Fähigkeit zur Gesellschaftskritik. Unter dem Druck des Wissenschaftlichkeitsanspruchs hat sie sich professionalisiert, dabei von den konkreten persönlichen Erfahrungen abgelöst und als Theorie verselbständigt. Die private Gesellschaftskritik lebt von den eigenen Beobachtungen und eigenen Wünschen. Ihre Wirkung wird nicht eingeschränkt, wenn die subjektiven Reflexionen weit hinter dem angeblichen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis zurückbleiben.

Das Bewusstsein der Beschädigung löst die Trauer darüber aus, bisher nicht geliebt worden zu sein oder das Leben versäumt zu haben. Die entspannende Wirkung der Trauer kann die Kraft geben, die Erfahrung der Negativität anzunehmen. Der geschärfte Blick auf das Bestehende resultiert nicht aus Hass, sondern aus gesteigerter Sensibilität. »Nur wer es vermöchte, in der blinden somatischen Lust, die keine Intention hat und die letzte stillt, die Utopie zu bestimmen, wäre einer Idee von Wahrheit fähig, die standhielte«.237 Die Schmerzen der erfahrenen Negativität können erst in dem Moment ertragen werden, wie ein etwas besserer Zustand antizipiert werden kann, wie es z.B. in der Trauer möglich wird. Die Symptome gesellschaftlicher Deformation können integriert werden, weil ihre Funktion, die sinnliche Erregung zu dämpfen, durchschaut wird und mehr Erregung zugelassen werden kann.~

11.3. Denken ist heilendes Denken

Die Vernunft gilt als die Fähigkeit, das Wesen der Dinge erkennen zu können. In diesem Vernunftbegriff steckt ein unangemessener Absolutheitsanspruch. Er unterstellt, dass es eine wahre Sicht der Dinge gibt. Da die objektivistische Voraussetzung für die Wahrheit als eine Fiktion durchschaut werden muss, kann der Vernunftbegriff nicht länger der Bezugspunkt des kritischen Denken sein. Der Allgemeinheitsanspruch der Vernunft hat das subjektive Denken entmündigt und steht im Widerspruch zum Ziel der individuellen Autonomie. Vernunft konnte solange sich behaupten, wie die Autoritätshörigkeit der Menschen gegenüber ihren Herrschern auch auf ihre Produkte der geistigen Verdinglichung wie die Vernunft und die Wahrheit übertragen wurde.

Soziale Herrschaft hat ihr Substanz darin, dass sie die spontane Entwicklung von neuen, den sinnlichen Bedürfnissen der Menschen angepassten Verhaltensnormen verhindert. Sie unterbindet deshalb stets die Diskussion über die gesellschaftlichen Ziele. Die Gewalt der Allgemeinbegriffe der Vernunft war letztlich mit der Gewalt der Waffen identisch. Tzvetan Todorow zeigt in seinem Buch: »Die Eroberung von Amerika. Das Problem des Anderen«, wie das begriffliche Denken u. a. auch mitverantwortlich ist für den Genozid von etwa 25 Mill. eingeborenen Amerikanern.238 Zurecht kennzeichnet Adorno das im begrifflichen Denken angelegte Identitätsprinzip als das Unwahre, den Tod.239 Das begriffliche Denken entwirft ein geschlossenes Bild der Welt, in dem das von ihm nicht zu verstehende Fremde und Andere in die Einheitlichkeit des Begriffs hineingepresst wird. Indem es sich die ganze Welt gleichmacht, entwickelt es einen Totalitätsanspruch des Verstehens, der paradoxerweise unfähig macht, das Fremde als Fremdes wahrzunehmen. Mit dem begrifflichen Denken wurde im Abendland ein Umweltkontakt aufgebaut, bei dem die inneren Impulse weitgehend unter Kontrolle gebracht wurden. Dadurch konnte die potentielle Bedrohung des Fremden, der an das aus den Verdrängungen entstandene Fremde im eigenen Inneren erinnert, ausgelöscht werden. Wenn man aber sich selbst nicht mehr als Fremder erfahren kann, ist die Gewalt, die man sich selbst antun muss, stets bereit, sich gegen den Fremden zu richten.

Autonomes Denken ist identisch mit heilendem Denken. Denken wird durch den Schmerzimpuls angeregt, der eine innere Disharmonie anzeigt. Da der Schmerz durch äußeres Fehlverhalten verursacht wurde, kann das Denken das Leiden durch die Erkenntnis der Ursachen des Fehlverhaltens abbauen.~

Voraussetzung ist, dass das Fremde und Bedrohliche am Schmerzimpuls ausgehalten und der Neigung widerstanden wird, es mit dem begrifflichen Denken in bestehende Denkmuster einzuordnen. Heilendes Denken wird erst wirksam, wenn es sich vom Schmerz überwältigen lassen kann. Nur dann können sich die mit dem Schmerzen verbundenen Erfahrungen und Gefühle ausbreiten und ins Bewusstsein treten. Solches Denken begreift, dass es Ausdruck der organismischen Selbstheilungskräfte ist. Alles Denken, das nicht aus dem Schmerz heraus erfolgt, ist mechanischer Vollzug fremder Gedanken, ist verdinglichtes Bewusstsein.

Autonomes Denken kann auf den inneren Arzt verzichten. Im Bewusstsein, dass der innere Arzt ein kulturgeschichtlich bedeutsames Konstrukt war, um krankheitsverursachende Störungen im sozialen Dialog aufzulösen, kann es nach wie vor als Fiktion bewusst zu diesem Zweck eingesetzt werden. Es ist aber völlig ausreichend, direkt erkrankte Körperteile anzusprechen, um sich die von ihnen gesammelten Heilerfahrungen bewusst zu machen.

Wegen der Subjektivität des Schmerzes kann man prinzipiell nur für sich selbst denken. Die Ergebnisse sind nur für das betreffende Subjekt verbindlich. Das schließt nicht aus, dass man für andere denken kann. Das kann aber nur darin bestehen, ihnen mit einfühlsamen Fragen zu erkennen helfen, wo sie sich am eigenen Denken behindern. Aus dieser Erkenntnis heraus setzt sich in der Psychotherapie langsam die Erkenntnis durch, dass nur die Lösungen tragfähig sind, auf die der Patient selbst gekommen ist. Vorgegebene Lösungen verfestigen nur die Probleme, weil sie nicht mehr als notwendige Fiktionen erkannt werden können.

Aus dem Bewusstsein, dass das leibliche Denken keine Wahrheit im traditionellen Sinne kennt, ergibt sich ein gleichsam spielerisches Verhältnis zu den eigenen Gedanken. Das Spiel zeichnet sich dadurch aus, dass wegen seiner Ferne zur Ernsthaftigkeit der Alltagspraxis die kulturellen Bewegungsformen mit Spaß und ohne Druck gelernt werden können. Im freien, kreativen Umgang mit den einzelnen Bewegungselementen lernt man deren Sinn und die in ihnen angelegten Möglichkeiten kennen. Aber das Spiel ist kein Freiraum jenseits des Alltages, sondern bleibt durch die freie Nachahmung seiner Bewegungsformen mit ihm verbunden. Auch gegenüber den kulturellen Symbolen kann eine spielerische Haltung eingenommen werden: ich kann sie kreativ hin- und herwenden, um nicht nur souveräner mit ihnen umgehen zu können, sondern auch um ihre Bedeutung in der Kontrastierung mit den eigenen Impulsen, die sich ja in der eigenen Bildungsgeschichte mit subjektiven Vorstellungsbildern verschmolzen haben, zu durchschauen. Der spielerische Umgang mit den Gedanken eröffnet so die Erfahrung, dass das Denken wie~

das Leben immer zugleich Schauspiel und Ernst ist. Im spielerischen Umgang weiß ich, dass ich auch anders denken und handeln könnte.

Im Spiel orientiert sich der Organismus spontan am Prinzip der Lust. Selbstverständlich kann der Organismus im Spiel nur soviel Lust zulassen, wie ihm aufgrund seiner psychophysischen Verfassung möglich ist. Aber im spielerischen Umgang des Denkens mit seinen Vorstellungen kann es die Erfahrung machen, dass sein eigentliches Ziel darin besteht, die Behinderungen sinnlicher Lust aufzudecken und zu beseitigen.

Die Notwendigkeit des inneren Dialoges speist sich letztlich daraus, dass jeder seinen eigenen Weg aus den Konflikten heraus finden muss. Wenn sich das Denken damit bescheidet, nur für sich selbst denken zu können, wird es nicht mehr die Allmachtsphantasie zulassen, dass absolute Gesundheit erreichbar sei. Es verzichtet aber nicht resignativ auf das Ziel der Gesundheit, weil es spürt, dass sich der Zustand in dem Maße verbessert, wie es die inneren Stimmen aus der Vergangenheit und der Gegenwart anhören kann und im Gespräch mit ihnen die Zusammenhänge zwischen subjektiver Störung und eigenem Verhalten durchsichtig werden.

11.4. Ekstatisches Denken

Der Ratschlag, als Gegengewicht zum täglichen Leistungsstress sich mehr Muße zu gönnen, ist in der patriarchalen Kultur nahezu unverständlich geworden. Das instrumentelle, zweckorientierte Denken ist so allmächtig geworden und durchdringt alle Lebensbereiche so sehr, dass eine gelassene, teilhabende oder empfangende Einstellung gegenüber dem Leben kaum noch mit eigenem Leben gefüllt werden kann. Arbeiten hat im psychischen Haushalt einen so hohen Stellenwert erhalten, dass Untätigkeit als etwas Sinnloses erfahren wird und vor allem tiefe Unruhe auslöst, wenn sie nicht sogar als etwas sittlich Anstößiges gehalten wird, für das man sich rechtfertigen muss. Immer weniger Menschen können sich eine Tätigkeit vorstellen, die eine Nichtarbeit ohne Anstrengung und mit Muße ist. Jede Untätigkeit löst sofort das Gefühl der Langeweile aus.

Muße als Gegenpol zur Arbeit musste unverständlich werden, weil die Individuen von der ekstatischen Erfahrung abgeschnitten wurden. Muße bedeutet nichts anderes, als mit dem Energiestrom des vegetativen Körpers, der sich einerseits als sinnliche Erregung und andererseits als innerer Dialog äußert, in Kontakt zu kommen und sich von ihm tragen zu lassen. In der Muße gibt das »Ich« die Kontrolle auf und überlässt sich der Wahrnehmung der im Inneren~

des Körpers selbsttätig ablaufenden sinnlichen und mentalen Prozesse. In der Muße wird die sonst distanzierende, kontrollierende Haltung gegenüber dem Leben verlassen und versucht, wieder mit ihm eins zu werden. Deshalb erfährt die Muße ihre eigentliche Bedeutung erst durch die Ekstase. Ekstase ist unentbehrlich, um sich selbst zu verstehen, da der regelmäßige Kontakt mit dem vegetativen Körper eine Grundbedingung humanen Lebens ist. Sie befriedigt das tiefe animalische Bedürfnis nach Kontakt mit sich selbst.

Infolge der Unterdrückung jeder Form von Sinnlichkeit ist in der abendländischen Kultur von den ekstatischen Ritualen der archaischen Kulturen nur die Muße übriggeblieben. In dieser Lebensform dominiert die Forderung nach ruhiger Selbstbesinnung. Der Mußebegriff hat sicherlich seinen altmodischen Klang daher bekommen, dass Besinnung in der rastlosen Leistungsgesellschaft als dysfunktional erscheint. Nicht unwesentlich ist aber auch, dass dunkel gespürt wird, dass durch die Reduktion auf etwas Unsinnliches seine eigentliche Bedeutung zerstört worden ist.

Wenn auch in den letzten Jahren mit den Esoterikimporten eine gewisse Wiederkehr der Ekstaserituale stattgefunden hat, ist die Anerkennung der Ekstase als einer legitimen Form der Selbstveränderung noch unvorstellbar. Nach wie vor halten die meisten gegenwärtigen Definitionen der Ekstase an dem traditionellen spirituellen Bezugsrahmen einer höheren Wirklichkeit fest. Die Ekstase muss dann als ein Ausnahmezustand erscheinen, als »ein nicht-gewöhnlicher, nicht-alltäglicher Bewusstseinszustand, der Zugang schafft zu einer nicht-gewöhnlichen, außerordentlichen Wirklichkeit«.240 Die anstehende Aufgabe, dem Bedürfnis nach Ekstase zeitgemäße Rituale zur Verfügung zu stellen, wird dadurch erschwert.

Insbesondere in der ekstasefeindlichen Leistungsgesellschaft braucht die Ekstase Rituale, damit sie sich in einem vom Lebenskampf geprägten Alltag behaupten und entfalten kann. Sie braucht geschützte Zonen, um sich gefahrlos in den vegetativen Prozess fallen lassen zu können. Früher wurde die Ekstase stets zum Inhalt zeremonialer Feiern gemacht, um sie gegenüber den vordringlich erscheinenden Aufgaben des Alltags zu schützen. Die feiernde Haltung gegenüber der Ekstase klingt noch in dem Wort Feierabend nach. Muße war nicht eine beliebige alltägliche Aktivität, sondern wurde als zentrale menschliche Daseinsform hochgeschätzt und ihr deshalb stets eine spirituelle Dimension beigemessen.

Es wäre aber falsch, die alten Rituale wieder zu beleben; dafür hat sich der religiöse und geistige Hintergrund zu sehr gewandelt. Die Wiederkehr der~

Ekstase setzt voraus, dass die den Ritualen der religiösen Ekstase zugrundeliegende psycho-physische Funktion von ihren kulturabhängigen Überformungen unterschieden wird. Er muss erkannt werden, dass die spirituellen Symbolsysteme nur eine mögliche Gestalt sind, um die Ekstasefähigkeit zu fördern. Wenn die Entstehung des Bewusstseins und der Seele aus der Sprache konsequent zu Ende gedacht wird, hört die Vorstellung der höheren Wirklichkeit auf, eine brauchbare Fiktion zu sein. Es wird deutlich, dass die religiöse Ekstase eine entfremdete Form der Ekstase ist. Es müssen dem gegenwärtigen kulturellen Bewusstseinsstand entsprechende Rituale entwickelt werden, die auch für die Korrektur der alltäglichen Beziehungsprobleme nutzbar sind. Ekstase würde dann nicht mehr als Ausnahmezustand erlebt, sondern könnte als der Normalzustand eines Organismus verstanden werden, dessen Selbstorganisation nicht behindert wird. Es kommt vielmehr darauf an, dass alle Tätigkeiten so ausgeführt werden, dass sie sich in den Atemrhythmus einfügen und der bewusste Kontakt zum Körper gewahrt bleibt. Der Sinn der abgedroschenen Formel, dass richtiges Leben heißt, im Einklang mit den natürlichen Rhythmen der Natur zu leben, wird vielleicht erst dann erfahrbar, wenn die körperlichen Eigenrhythmen der Atmung, des Pulses, der Resonanz mit anderen Menschen erlebt werden können.

Seitdem das sprachlich vermittelte Denken alle psychischen Abläufe strukturiert, muss die Ekstase primär aus ihrem Zusammenwirken mit dem sprachlichen Denken bestimmt werden. Wenn der Ekstase die Funktion zugeschrieben wird, »dass sich der Körper seiner Fähigkeit erinnert, sich vom Geist befruchten, sich begeistern zu lassen«241 oder dass sie fähig macht, aus veralteten Mustern »herauszustehen«, so wird damit bereits mit einer nicht-spirituelle Funktionsbestimmung der Ekstase begonnen. Ekstase ist nach meinen Überlegungen der Bewusstseinszustand, indem die Abhängigkeit der eigenen Vorstellungen von sozialen Verhältnissen spontan erfahren wird. Im veränderten Bewusstseinszustand kann gewahr werden, dass in bestimmten emotionalen Konstellationen Erfahrungen gemacht und verallgemeinert wurden, die dann als fixierte Vorstellungen das Verhalten beherrschen. Dabei wird das verdrängte Bewusstsein wieder wach, wie der innere Dialog durch Erfahrungen sozialer Herrschaft zerstört worden ist. Im ekstatischen Zustand können mit dem inneren Dialog die Gespräche fort- und zuendegeführt werden, die im Alltag abgebrochen werden mussten, weil man sich nicht behaupten konnte oder man sich gegenüber Beleidigungen und Kränkungen nicht wehren konnte. Es können auch Verletzungen bearbeitet werden, die dem Organismus~

auf einer vorsprachlichen Entwicklungsstufe widerfahren sind. Dies setzt aber voraus, dass bei allen neu entwickelten Ekstaseritualen die Sensibilität dafür geschärft werden muss, in sich die Nachwirkungen sozialer Herrschaft wahrzunehmen. Es muss verlangt werden, dass sie kritische Gedanken und »negative« Gefühle, insbesondere Impulse des Widerstandes, der Zerstörung u.ä. zulassen. Die gegenwärtigen Ekstaseangebote bleiben weit hinter dieser Anforderung an zeitgemäße Ekstaserituale zurück, da sie im Grunde nichts weiter als Kopien esoterischer Praktiken sind.

Die Ekstase kann die Funktion der Reinigung von Selbstmystifikationen, Verdinglichungen, Fetischisierungen übernehmen, so dass der durch sie blockierte Fluss des Lebens wieder in Gang kommen kann. Ekstatisches Denken ist der eigentliche Gegenbegriff zum instrumentellen Denken. Ekstase ist das Medium der spontanen Selbstkorrektur des Denkens. Das drückt sich z.B. verschlüsselt in der folgenden esoterischen Überzeugung aus: »Man kann nie genug seinen Geist mit dem Atem in Übereinstimmung zu bringen suchen. Unser Atem ist unser Geist und unser Geist ist unser Atem«.242 Autonomie gegenüber sinnlichen und geistigen Prozessen gelingt nur im sensiblen Atembewusstsein. Die Ekstase hält das Bewusstsein wach, dass alle Vorstellungen nur Fiktionen sind, um sich im Leben zurechtzufinden und dass die Fiktionen zu Fesseln werden, wenn sie wörtlich genommen werden. Das ekstatische Denken ist ganzheitlich im wahren Sinne des Wortes, weil es hinter die dualistischen Begriffsfetische zurückgeht und die unmittelbaren sinnlichen Empfindungen des ganzen Organismus als Quelle der Erkenntnis nimmt.

Nur aus der Perspektive des rastlos tätigen Leistungsneurotikers erscheint die Ekstase als Passivität; in Wirklichkeit verlangt sie eine sehr aktive, wachsame Aufmerksamkeit, um nicht in Zerstreutheit oder Tagträumerei abzugleiten. Ekstase ist aktives Nichtstun, insofern sie durch aktive Aufmerksamkeit versucht, sich den autonomen inneren Prozessen zu überlassen und mit ihnen gemeinsam zu schwingen. Langeweile kann deshalb in diesem Zustand nicht aufkommen. Aus der Grundhaltung der Muße werden alle Tätigkeiten langsamer und entsprechend den Atempausen durch kurze Pausen unterbrochen. Dabei stellt sich ein geeignetes Milieu für den inneren Dialog her. Der Organismus stellt sich gleichsam auf Empfang für die inneren Stimmen, die in der Hektik des Alltags überhört werden und die Erfahrungen enthalten, was zu kurz gekommen ist. Ekstase im Alltag führt zu einer neuen Zeitorientierung, die sich nicht mehr an der Effizienz und Zweckrationalität des Handelns ausrichtet, sondern darauf aus ist, die Gemeinschaft mit anderen Menschen und den Dingen zu finden, bei der man sich in sie einfühlt und mit ihnen in Resonanz tritt.

12. Aktivierung des inneren Dialoges

Die Atemtherapie hat eine lange Tradition. Udo Derbolowski stellt fest, dass früher jede seelische Krankenbehandlung ausschließlich Atemtherapie war.243 Er verweist darauf, dass in China die Kunst, Krankheiten mittels Atemanwendungen zu behandeln, noch vor der Akupunktur bekannt war und dass im Inneren der Pyramiden Ägyptens und im Alten Testament atemtherapeutische Ratschläge überliefert sind.244 Die alten magischen Praktiken der Atemtherapie hatten ihre große Wirksamkeit dadurch, dass sie mit Tanz, Musik und Gesang den Körper in einen Entspannungszustand versetzten, in dem sich mit den verspannten Körperstellen zugleich die angstbesetzten Vorstellungen lösen konnten. Die Identifikation mit starken Tieren im ekstatischen Tanz erfüllte diese Funktion genauso wie der therapeutische Heiltraum oder der kathartische Gesang. Indem die Atmung aus dem Korsett der Bewegungseinschränkungen befreit wurde, konnten sich die das Handeln einengenden Vorstellungsbilder auflösen und frühere Reaktionsmuster reaktiviert werden. Die Heilung ist identisch damit, dass die negativen Erfahrungen des Ich, die zu einer Bewegungshemmung geführt haben, durch die positive Erfahrung neuer innerer Kräfte ersetzt werden. Die neuen Kräfte wachsen aus der lustvollen Erfahrung des sich bewegenden Körpers, der in freien Bewegungen seine bisher unterdrückten Gefühle freigeben kann.

Wahrscheinlich erhalten alle Therapien letztlich ihre Wirkung von einer veränderten Atmung. Unübersehbar ist dies bei Therapien mit Tanz, Musik und Gesang. Aber auch die Traumtherapie ist eine Atemtherapie, da die Traumbewegungen aus der Sicht des Organismus gleichwertig wie reale~

Bewegungen sind und damit ebenso Atembarrieren auflösen können. Auch die Gesprächstherapie ist insofern Atemtherapie, als ihre Wirkung darin besteht, durch die konkrete Erinnerung an die angstauslösenden Bedingungen die Barrieren aufzulösen, die den Gefühlsausdruck und damit die Atmung behindern. In den neuen Körpertherapien nimmt die Atmung eine wichtige Rolle ein. Da aber ihre soziale und ekstatische Natur nicht erkannt wird, bleibt die Atmung stets auf eine Hilfsfunktion beschränkt. Vermutlich bezieht letztlich jede erfolgreiche Psychotherapie ihre Wirkung daraus, dass sie den Atem aus den Fesseln befreit, die ein spontanes emotionales Reagieren des Organismus auf seine soziale Umwelt behindern.

12.1. Kritik der klassischen Atemtherapien

Im Vordergrund des gegenwärtigen Angebots an Atemübungen steht die Vertiefung der Atmung durch verstärkte Bauchatmung. Eine Vielzahl an Atemübungen wird vorgeschlagen, um die bei der Fehlatmung meist vorherrschende Brustatmung durch die vom Zwerchfell getragene Bauchatmung zu ersetzen. Es besteht Konsens darüber, dass die Zwerchfellatmung die »natürliche« Atmung ist, die im Ruhezustand den Organismus mit Sauerstoff versorgt und nur bei körperliche Anstrengung durch die Brustatmung ergänzt wird. Aber die Empfehlungen, wie das »richtige Atmen« gelernt werden kann, sind so zahlreich wie die Atemtherapien. Letztlich sind alle Atemübungen anfänglich gleich überzeugend, da sie stets deutliche Auswirkungen auf das Wohlbefinden haben. Das liegt daran, dass in der Regel die Atmung so sehr eingeschränkt ist, dass jede Verbesserung des Tonus der Atemmuskulatur die Atmung wesentlich effektiver macht und jede vertiefte Atmung sofort das Wohlbefinden verbessert.

Atemübungen, die in isolierten Übungssituationen direkt am Atem ansetzen, haben den Nachteil, dass sich der Atem in dem Moment ändert, wie man sich ihm bewusst zuwendet. Die Übungen konditionieren den Atem mit fixierten Vorstellungen und unterwerfen ihn einem äußerlich vorgegebenen Rhythmus. Damit wird ein instrumentelles Verhältnis zu ihm eingenommen. Indem er aus seinen funktionalen Zusammenhängen herausisoliert wird, wird seine Eigenart, ein spontaner, unmittelbarer Reflex des Körpers auf seine Umwelt zu sein, verleugnet. Stattdessen wird gelernt, den Atem willkürlich zu beeinflussen. »Willensmäßiges Atemtraining bei körperlicher Leistung, das heißt willkürliche Verlangsamung und Vertiefung der Atemzüge, etwa durch Regelung des Atems nach Dauer und Tiefe, mit Zählen, wie es oft gemacht~

wird, hilft nur scheinbar. Es unterdrückt die Unruhe und täuscht dadurch über die innere Gleichgewichtsstörung hinweg. Aber es beseitigt nicht die Ursache«.245 Im Extremfall kann mit der willkürlich gesteuerten Atemtechnik der Körper zu einem Kunstprodukt deformiert werden, der sich völlig vom natürlichen Atem entfremdet hat und seine vegetative Regulierung verloren hat.

Rein körperliche Atemübungen tragen in sich die Gefahr, dass sie das mechanistische Missverständnis des Körpers, das gerade überwunden werden muss, noch verstärken. Der französische Philosoph Cioran warnt: »Wehe denen, die wissen, dass sie atmen«. Er will darauf aufmerksam machen, dass der Atem nicht als Instrument missbraucht werden darf, um damit die Kontrolle über den Körper zu verstärken und die Herrschaft des Geistes zu stabilisieren. Damit würde der Mensch gerade im Glauben, sich ganz nahe zu sein, den Kontakt zu seiner animalischen Natur verlieren und sich im extremen Maß von sich selbst entfremden. Instinktiv haben die archaischen Völker den Atem spiritualisiert, um ihn vor jedem Missbrauch zu schützen.

Die Problematik der mechanistischen Atemübungen wird besonders deutlich an dem von Bhagwan empfohlenen chaotischen Atem ohne jeglichen Rhythmus.246 Dadurch soll ein Chaos in den unterdrückten Gefühlen ausgelöst werden. Der Körper wird mit soviel Energie aufgeladen, dass die Panzerung durchbrochen wird und sich die unterdrückten Gefühle entladen können. Dieses gewaltsame Herauspressen der Gefühle überwältigt den Organismus. Es ändert sich nichts an der Unfähigkeit, im Alltag mit den Gefühlen umzugehen, sie voll wahrzunehmen und in das Verhalten integrieren zu können. Die forcierte Methode des Gefühlsausbruchs bleibt meist nicht nur folgenlos, sondern provoziert den Aufbau von noch tiefer liegenden sekundären Abwehr- und Spaltungsmechanismen. Die auf diese Weise vom übrigen Handeln völlig abgetrennten Gefühle können dann jederzeit gefahrlos abreagiert werden.

Die Veränderung des Bewusstseins durch forciertes Atmen ist durch die von Leonhard Orr entwickelte Rebirthing-Psychotherapie sehr stark verbreitet worden. Die Faszination des Rebirthing gründet hauptsächlich in dem emphatischen Versprechen des Neuanfangs und der uneingeschränkten Lebensfreude,~

wenn der »natürliche Atem« von den Fesseln des Geburtstraumas, bei dem sich der Atem angstvoll verkrampft hat, befreit wird und sicherlich auch in dem Versprechen, über den Atem in einen veränderten Bewusstseinszustand zu gelangen. Grof hat experimentell nachgewiesen, dass der verstärkte Atem für die Herstellung von veränderten Bewusstseinszuständen dieselbe Funktion wie Psychopharmaka übernehmen kann. Er fordert, dass »der Klient schneller und effektiver als gewöhnlich atmet und dabei das Bewusstsein voll auf die psychischen Vorgänge richtet«.247 Der intensivierte Atem vermag zweifellos psychische Abwehrmechanismen abbauen und unbewusstes Material freizusetzen und so einen Heilungsprozess in Gang setzen. An der Methode ist allerdings problematisch, dass die Verstärkung der Atmung emotionale Prozesse auslösen kann, die die psychische Verarbeitungsfähigkeit des Einzelnen übersteigen. Denn der Dialog zwischen Therapeut und Klient ist äußerst schwierig, da der Klient im veränderten Bewusstseinszustand nicht verbal auf die Interventionen des Therapeuten reagieren kann, so dass er ihm nicht mitteilen kann, ob dessen Interventionen gerade zu seinem aktuellen Bewusstseinszustand passen oder ihn stören. Viele Klienten sind kritiklos gegenüber den Interventionen und lassen sich so in einen Erfahrungsprozess hineintreiben, der sie überfordert. Die überwältigende Intensität der Erlebnisse im Rebirthing ist unbestritten, fraglich ist aber, wie sie in den Alltag integriert werden können. Die Haltung des Abwartens, welche Gefühle und Bilder sich von selbst einstellen, unterstützt ein passives Verhalten gegenüber den inneren Prozessen, das gerade überwunden werden muss, solange sie von Selbstnegationen beherrscht werden. Das Rebirthing verstärkt außerdem das instrumentelle Missverständnis, dass mit einer bestimmten Atemtechnik die emotionalen Probleme »in den Griff« zu bekommen seien.

Um die Fallstricke mechanistischer Atemtechniken zu vermeiden, wird von einigen Atemtherapeuten empfohlen, nur solche Übungen zu machen, in denen der Atem nicht unmittelbar beeinflusst wird, sondern sich primär auf bestimmte Bewegungen (Schütteln), bestimmte Körperzonen (z.B. Beckenkreisen), Empfindungen (z.B. Müdigkeit in den Augen), Körperrhythmen (z.B. Puls), bestimmte Töne und Klänge u. a. voll und ganz zu konzentrieren und nur nebenbei zu beobachten, was für eine Atmung dadurch ausgelöst wird. Es wird gefordert, den Atem kommen und gehen zu lassen, wie er ist. Die Erfahrung des Atems kann auch durch bewusstes Dehnen, Gähnen, Berühren von Druckpunkten u. a. ausgelöst werden.248 Mit dem tastenden~

und spürenden Beobachten einzelner Körperteile soll die bewusste Erfahrung der unterschiedlichen Atemformen und Atemräume geweckt werden. Solche Übungen sind wertvoll, um ein Gespür für die Eigenständigkeit der Atmung im Zusammenspiel mit anderen körperlichen und geistigen Fähigkeiten zu bekommen. Ihr therapeutischer Nutzen muss aber beschränkt bleiben, solange sie den sozialen Bezugsrahmen der Atmung nicht berücksichtigen. Es ist nicht verwunderlich, dass die neu gelernte Fähigkeit, den Atem im therapeutischen Raum loszulassen, im Alltagssituationen versagt.

Vielfach wird empfohlen, bestimmte Körperbewegungen mit der Ein- bzw. Ausatmung zu synchronisieren.249 Solche Übungen können zweifellos ebenfalls die Sensibilität gegenüber der Atmung verbessern, wenn sie in der Einstellung gemacht werden, den Atem zu beobachten, wie er auf die Bewegungen reagiert. Sie werden aber problematisch, wenn sklavisch an einem festen Atemrhythmus festgehalten wird. Wenn auch typische Verbindungen zwischen bestimmten Bewegungsgestalten und den Atemmustern bestehen (z.B. Greifen und Einatmen), wäre es ein Irrtum, von festen Verknüpfungen auszugehen. Ausschlaggebend ist immer, in welchem Kontext die Übungen stehen und welche Vorstellungen gerade das Bewusstsein ausfüllen.

In vielen Atemlehren wird großer Wert auf eine bewusste Tiefenatmung gelegt. In esoterischen Atemlehren erscheint die Tiefenatmung als Garant für gesundes Leben.250 Beim »Mutteratem« der Sufi-Tradition wird gefordert, 7 Sekunden einzuatmen, 1 Sekunde den Atem anzuhalten, 7 Sekunden auszuatmen und wiederum eine Sekunde den Atem anzuhalten. Dieser Rhythmus soll dem Pulsschlag des Universums entsprechen.251 Auch naturwissenschaftlich orientierte Ärzte haben die Heilwirkung tiefer Atmung bestätigt. Sehr viele somatische Krankheiten wie Herzkrankheiten, Lungenerkrankungen, Arteriosklerose, Krebs, Erkrankungen des Stoffwechsels, des Nervensystems, des Rückgrades, der Augen u. a. sprechen auf die vertiefte Atmung positiv an.252 Die vertiefte Atmung soll dadurch erreicht werden, dass mit Zischlauten wie »s«, »sch« oder »f« der Ausatmung ein Widerstand entgegengesetzt wird. Die Wirksamkeit der Tiefenatmung ergibt sich aus der verbesserten Sauerstoffversorgung des ganzen Körpers, der zunehmenden Spannkraft des Zwerchfells,~

der Stimulierung des Solarplexus und der Massage des Bauchorgane durch die verstärkte Zwerchfellarbeit. Die Tiefenatmung ist zweifellos zweckmäßig, wenn sie gezielt zur therapeutischen Behandlung von bestimmten Krankheitssymptomen eingesetzt wird. Sie ist aber als Dauerübung entbehrlich, da sich die Atmung spontan in dem Maße von selbst vertieft, wie ein vitales Interesse an der Umwelt eine Steigerung der Atmung nötig macht. Eine tiefe Atmung resultiert ganz zwanglos aus dem zugelassenen Atem.

Die Aktivierung der Atmung wird dadurch erschwert, dass sich unter dem Einfluss eines langjährigen Fehlgebrauchs der Atmung die Atemmuskeln verkürzen. Da sich die Muskeln des Hals-, Rücken- und Zwerchfellbereichs kontrahieren, ist eine vorübergehende bewusste Aktivierung der Atmung außerstande, die in Formveränderungen des Bindegewebes abgelagerten Ängste aufzulösen. Der somatischen Widerstand ist nur zu überwinden, wenn die Einwirkungen nachhaltig sind und die Sicherheit vermitteln, dass die Ängste keinen Grund mehr haben. Es kann deshalb zweckmäßig sein, die Verhärtungen der Muskeln durch geeignete Massagetechniken, wie sie z.B. von Rolfing oder von Alta Mayor angeboten werden, aufzulösen und die Muskeln zu dehnen, so dass die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass der Atem wieder mehr Bewegungsspielraum erhält und dadurch auch mehr Gefühle zugelassen werden können. Die Wirkung der Massage kann aber nur dauerhaft sein, wenn der gewonnene Ausdrucksspielraum im Alltag auch genutzt werden kann.

Das grundsätzliche Problem aller mechanistischen Atemübungen ist, dass der Atem keine Rücksicht auf die Signale nimmt, die vom gegenwärtigen Zustand des Körpers oder von der äußeren Situation ausgehen. Dies hat zur Folge, dass die Erregbarkeit der Atemzentren geschwächt wird. Es wird verlernt, sich flexibel an den inneren Empfindungen zu orientieren. In den isolierten gymnastischen Atemübungen wird so der Gewinn der verbesserten körperlichen Beweglichkeit durch den Verlust der Spürfähigkeit gegenüber den inneren Empfindungen wieder aufgehoben. Die isolierten Atemübungen sind im Grunde kontraproduktiv, da sie die spontane Wahrnehmung der Atmung im alltäglichen Lebensvollzug verschlechtern und den falschen Umgang mit sich selbst eher noch verstärken. Deshalb empfiehlt Bertherat zurecht: »Wer leicht und frei atmen will, muss nicht etwas tun wollen, und schon gar nicht muss er sich im Atmen üben wollen. Die Atmung ist unsere natürlichste Körperfunktion. Auf unseren Eifer kann sie verzichten«.253~

12.2. Berücksichtigung der sozialen Natur der Atmung

Aus den bisherigen Überlegungen folgt, dass der Atem die Quelle der psychischen Selbstheilungskräfte ist. Er kann diese Funktion übernehmen, da in ihm selbst alle Prozesse stattfinden, die den Kontakt zur Umwelt und zu sich selbst steuern. Die herausragende Bedeutung der Atmung in der Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt muss sich auch in den Methoden der Atemtherapie ausdrücken. Wenn die Störungen des sozialen Kontakts sich in einer Schwächung der Erregbarkeit des Atemzentrums auswirken, kommt es bei der Atemtherapie zunächst darauf an, in simulierten sozialen Situationen die vegetative Ansprechbarkeit des Atemzentrums wiederherzustellen. Nur dadurch ist höhere Sensibilität im zwischenmenschlichen Kontakt und auch im Kontakt mit sich selbst zu erreichen.

In der Atemliteratur fehlen Übungen, die bewusst die soziale Dimension der Atmung berücksichtigen. Die Schwäche der Atemtherapie besteht gerade darin, dass sie in isolierten, künstlichen Situationen stattfindet, in denen die Komplexität der emotionalen Wechselbeziehungen nur unzureichend reproduziert werden kann. Es wird keine Aufmerksamkeit darauf gelenkt, wie der Atem auf die soziale Umwelt reagiert. Die Atemtherapie steht vor der Aufgabe, Atemübungen zu finden, die ein weitgehender Ersatz für das wirkliche Leben sind, so dass sehr bald die Erfahrungsmöglichkeiten des Alltags wieder genützt werden können. Denn das eigentliche Übungsfeld für den Atem ist das Leben selbst.

In der Atemliteratur lassen sich Formen der Atemmeditation finden, die im Ansatz die soziale Dimension der Atmung aufgreifen. Wenn z.B. bei der oben beschriebenen Sufi-Tiefenatmung über Begriffe wie Lebenskraft, Wünsche, Glauben, Hingabe, Liebe u. a. meditiert werden soll, so kommen dabei unvermeidlich subjektive Konflikte mit der sozialen Umwelt ins Spie1.254 Da aber Hinweise dazu fehlen, wie ein produktiver Dialog mit den eigenen Erfahrungen entfaltet werden kann, bleibt das im inneren Dialog angelegte Veränderungspotential unerschlossen.

Die soziale Natur der Atmung kann am besten gespürt werden, wenn erlebte soziale Situationen vergegenwärtigt werden. Am ergiebigsten sind Konfliktsituationen, in denen man gekränkt, angegriffen wurde oder sich nicht entscheiden konnte. Bei der Erinnerung an konkrete Erlebnisse ist es zweckmäßig, sich darauf zu konzentrieren, welche Vorstellungen sich in der Phase der Einatmung einstellen. Es kommt darauf an, sich in der Einatmung auf ein möglichst~

genau definiertes Beobachtungsfeld zu fixieren. Dabei dürfen die inneren Stimmen, die mit ihren Geboten, Ermahnungen, Forderungen, Kritiken, Vorwürfen u. a. ein positives Verhältnis zu sich selbst verhindern und dadurch den Atem belasten, nicht übersehen werden. Es können zur Klärung Fragen gestellt werden: Welche Impulse habe ich in der Situation innerlich gespürt, aber nicht offen zum Ausdruck gebracht. An was hat mich die Situation erinnert? Wenn frühere Konfliktsituationen mit größtmöglicher Konkretheit und Genauigkeit visualisiert werden, können die Gefühle artikuliert werden, die in der Konfliktsituation zurückgehalten werden mussten und das Unbehagen ausgelöst haben.255 Sie können zugelassen werden, weil in dem entspannten körperlichen Zustand, in dem auch die mentalen Prozesse nicht mehr blockiert werden, spontan alternative Lösungen hochkommen, wie auf die neuerlich erfahrene Situation anders reagiert werden könnte.

Es scheint ein psychisches Grundgesetz zu sein, dass der Organismus seine Umwelt so gestaltet, dass er immer wieder versucht, seine ursprünglichen Konfliktsituationen aufzuarbeiten. Die Psychoanalyse lehrt, dass die unbewussten Vorstellungen und Reaktionsmuster, die mit vergangenen Leidenserfahrungen verbunden sind, unbewusst auf die gegenwärtigen sozialen Kontaktpersonen übertragen werden. Offensichtlich werden alle sozialen Konflikte stets so inszeniert, dass die ungelösten psychischen Konflikte mit den früheren Bezugspersonen wiederholt werden. Dieser Vorgang läuft völlig zwanghaft und ohne jede subjektive Kontrolle ab. Das bedeutet, dass der Organismus solange in seinen zwanghaften Reaktionsmustern, die seinen Lernprozess behindern, hängen bleibt, wie er sich der allgemeinen Prozesse, die das konkrete Verhalten steuern, nicht bewusst wird. Insofern kann in jeder auch noch so geringen Störung im Kontakt zu anderen Personen zugleich ein Symptom für tiefer liegende Konflikte gesehen werden. Es ist deshalb keineswegs erforderlich, zur Lösung der Konflikte in die frühkindliche Vergangenheit zurückzugehen.

Da die vergegenwärtigte Situation erlebnismäßig die gleiche Bedeutung hat wie die erlebte Situation selbst, bietet diese Methode einen hervorragenden Zugang zum Atem. In der imaginierten Situation gelingt es relativ leicht, die Atmung zu beobachten. Es ist von entscheidender Bedeutung, sich auf eine ganz konkrete Phase der sozialen Situation zu konzentrieren und so lange dabei zu verweilen, bis sich ein eindeutiges Atemmuster meldet. Erst wenn man sich auf bestimmte konkrete Gefühle bezieht, werden spezifische ~

Atemmuster beobachtbar. Es soll stets gespürt werden, welche Verlaufsform der Atem hat, wie er sich anfühlt, wo er stecken bleibt, welche Eigentümlichkeiten er hat usw. Wenn die unterdrückten Gefühle ausagiert werden, steigt die physische Erregung, da das sympathische Nervensystem die Oberhand gewinnt. Wenn dann eine Alternative gefunden wurde, kann die physische Erregung wieder abklingen. Dies äußerst sich in einem gelösten, befreiten Atem. Das wache Bewusstsein, wie fortlaufend in konkreten Situationen der Atem eingeschnürt wird, ist die Gewähr, nicht wieder in angstvolle Reaktionsweisen zurückzufallen. Dabei kommt es nicht darauf an, dass das durch die Vorstellung ausgelöste Atemmuster identisch ist mit dem in der Realsituation erlebten Atemmuster, sondern vielmehr darauf, dass das Gespür entwickelt wird für die unterschiedlichen Atemmuster in Abhängigkeit von der äußeren Situation.

Der Sinn dieser Übungen besteht letztlich darin, die Spür- und Empfindungsfähigkeit für minimale Spannungsveränderungen im Körper zu verbessern. Entscheidend ist, dass das Bewusstsein für den dialogischen Charakter der Atmung gestärkt wird, so dass sie verstärkt für die Rückkoppelung des Verhaltens genutzt werden kann. In der vorgeschlagenen Übungsweise sehe ich die einzige Antwort auf die Frage von Jacobs, wie die Atmung gelenkt werden kann, ohne sie aus ihrer Einbeziehung in das innere leibliche Organgeschehen herauszulösen 256

Jedes Gefühl, das in solchen Wiederholungssituationen ausgedrückt werden kann, bedeutet, dass der früher unterbrochene Lernprozess, wie Verletzungen der eigenen Bedürfnisse bewältigt werden können, fortgesetzt wird. Mit dem Ausdruck der Gefühle werden neue Atemmuster gelernt, die in ähnlichen Situationen künftig die Reaktion erleichtern. Wenn z.B. anlässlich der gefühlsmäßigen Wiederholung eines traumatischen Ereignisses wieder geweint werden kann, bedeutet dies, dass in Krisensituationen der Atemreflex des Weinens wieder zur Verfügung steht, um sich auf diese Weise von übermäßiger Verspanntheit zu befreien. Wenn in der Imagination Wut ausgedrückt wird, ist der erste Schritt getan, dass sie auch im Alltag nicht unterdrückt zu werden braucht. Jetzt kann die zwanghafte Inszenierung von Situationen, in denen immer wieder erneut eine Bewältigung alter Konflikte versucht wird, unterbleiben.

Die Methode der Vergegenwärtigung von Konfliktsituationen wirft ein neues Licht auf die Streitfrage unter Atemtherapeuten, ob in Atemübungen der Atem aktiv geführt werden oder nur passiv erfahren werden darf. Bei der~

Vergegenwärtigung von früheren Konfliktsituationen wird selbstverständlich der Atem nur beobachtet, ohne ihn in irgendeiner Form zu beeinflussen. Sollten aber Schmerzen und Ängste auftreten, besteht die Möglichkeit, sie mit tiefem, ruhigem Weiteratmen aufzufangen. Denn jeder Schmerz ist leichter ertragbar, wenn tief und entspannt in die schmerzhafte Stelle hineingeatmet wird. Ähnlich kann in konkreten Situationen vorgegangen werden, wenn man sich emotional verfangen hat, indem bewusst eine beruhigende, stabilisierende Atemform gewählt wird. Dies zeigt, dass die Alternative zwischen aktiv und passiv, zwischen Loslassen und Festhalten der Atmung falsch gestellt ist. Diese Alternative ist Ausdruck des dualistischen patriarchalen Denkmusters. Loslassen und Festhalten erhalten ihre jeweilige spezifische Bedeutung in konkreten Situationen.

In körperlichen Extremsituationen wie der Geburt wird deutlich, dass die Fähigkeit unentbehrlich ist, sich selbst mit einer bewussten Atmung in Ruhe zu bringen. Wenn die Schwangere ruhig atmet und sich darauf konzentriert, ist es fast, unmöglich, in Panik zu geraten, meint Sheila Kitzinger.257 Wenn es gelingt, eine Harmonie zwischen dem Atem und den Wehen herzustellen, kann die Geburt fast schmerzlos, ja sogar lustvoll sein. Sobald aber die Wehen Angst auslösen und man Widerstand gegen sie leistet, treten Schmerzen ein. Tempo und Tiefe der Atmung müssen an die Stärke und Dauer der Wehen angepasst werden. Wenn die chronischen Körperverspannungen es nicht zulassen, dass der Atem während der Geburt sich spontan den Wehen anpasst, muss er durch eine bewusste Atemführung ausgeglichen werden. Die Konzentration auf den Atemrhythmus bewirkt, dass die Aufmerksamkeit auf etwas gelenkt wird, wo man selbst aktiv sein kann, sich selbst helfen kann, so dass die Geburt nicht passiv erlitten werden muss. Auf dem Höhepunkt der Geburt in der Austreibungsphase fallen Festhalten und Loslassen zusammen. Offensichtlich durchdringen sich in jeder Bewegung Momente von Loslassen und Festhalten, so dass über die Gegensätze hinweg ständig sich ihre Einheit durchsetzt.

Die soziale Natur der Atmung verlangt ein Verhalten zu sich selbst, das den Atem quasi als eigenständigen Gesprächspartner akzeptiert. Sich am Atem orientieren heißt, dem Atem völlige Reaktionsfreiheit zu lassen. Gleichwohl kann der Atem bewusst gesteuert werden. So wie ein realer Kommunikationspartner nur durch glaubwürdige Argumente oder durch direktes Vorleben überzeugt werden kann, muss bei bewusster Steuerung dem Atem gegenüber eine ähnliche Haltung eingenommen werden, indem man ihm gleichsam Angebote zur Nachahmung macht. Der Unterschied zur mechanistischen~

Steuerung der Atmung besteht darin, dass dem Atem nicht ein festes Muster aufgezwungen wird, sondern dass der Atem gleichsam überredet wird, es mit einem anderen Muster zu probieren. Das geschieht dadurch, dass im Bewusstsein Vorstellungen aktiviert werden, die die Veränderung des Atems unterstützen.

Wenn z.B. in einer Besprechung Gefühle der Müdigkeit und Langeweile aufkommen, wäre es zwecklos, sie mit Atemübungen zu bekämpfen. Stattdessen sollte die Frage gestellt werden, wie man ein Interesse an dem Thema herstellen bzw. wie das Thema so ändern könnte, damit es interessant wird. Indem man sich mit seinen Vorstellungen in die Situation einbringe, wird der Atem indirekt stimuliert, so dass die Müdigkeit vergeht.

Während normalerweise sich der Atem auf die äußere Welt richtet, besteht auch die Möglichkeit, dass der Atem einen Dialog mit der Innenwelt der sinnlichen Erregung aufnimmt. Dabei ist die körperliche Erregung das Milieu, auf das die Atmung reagiert und das sie durch die Änderung ihres Rhythmus intensiviert oder abschwächt. In dem sinnlichen Dialog zwischen Atem und Erregung kann sich der Körper für die Art und Weise sensibilisieren, wie er seine Erregung kontrolliert und zulässt. Dabei bestätigt sich z.B. die Beobachtung von Reich, dass »beim tiefen Ausatmen lebhafte Lustgefühle im Bauch« auftreten.258 Die Atemmeditation ist so ein legitimer Weg, die ekstatische Natur des Körpers kennenzulernen.

12.3. Die Methode des sozial-intuitiven Atems

Jede Verbesserung des psychischen Wohlbefindens setzt die Veränderung des Verhaltens und der ihm entsprechenden Atemmuster voraus. Oben wurde dargestellt, dass im veränderten Bewusstseinszustand die Verhaltensweisen probeweise geändert werden und dadurch die verhaltenssteuernden Vorstellungsbilder neu gebildet werden können. Mit Hilfe von Meditationstechniken kann dieser Zustand außerhalb des Alltags bewusst herbeigeführt werden. Dafür gibt es viele Wege. Aber die Atmung erscheint der einzige Weg zu sein, der stets verfügbar ist, kontrollierbar bleibt, als Teil des normalen Alltags organisiert werden kann und die Fähigkeit des autonomen Umgangs mit den körperlichen Prozessen auf die Dauer insgesamt verbessert. Vor allem schafft sie keine Abhängigkeit von einem Therapeuten, weil sie völlig selbstständig ausgeübt werden kann.~

Wenn die Vergegenwärtigungsmethode im veränderten Bewusstseinszustand ausgeübt wird, kann ihre Wirkung erheblich gesteigert werden. Diese Atemmethode, die der sozialen und ekstatischen Natur der Atmung am besten gerecht wird, möchte ich als sozial-intuitive Methode bezeichnen. Damit sollen die zwei entscheidenden Merkmale hervorgehoben werden: die Spontaneität der Atmung und der Bezug der Atmung zur sozialen Umwelt. Die vorgeschlagene Atemmethode kann als eine mögliche Form betrachtet werden, wie ein zeitgemäßer Ersatz für die archaischen Rituale der religiösen Ekstase gestaltet werden könnte.

Die sozial-intuitive Atemmethode hat die Aufgabe, das psychische Milieu, in dem der innere Dialog stattfindet, so zu verändern, dass er seine kreative Funktion zurückgewinnt. Im normalen Bewusstsein hat der innere Dialog ein repressives Grundmuster: er ist der Wächter über die Impulse, um Abweichungen von den äußeren Normen zu verhindern. Dies gelingt, weil der innere Dialog weitgehend automatisiert und unbewusst bzw. auf dem Hintergrund des Bewusstseins abläuft. Dadurch verliert der innere Dialog die Fähigkeit der kreativen Problemlösung und wird zur inneren Selbstzensur pervertiert. Auch wenn man sich bewusst bemüht, positiv mit sich umzugehen, neue Regeln ausprobiert und sich kritisch mit den inneren Stimmen auseinandersetzt, ist es wahrscheinlich, dass man nach anfänglichen Erfolgen wieder in den früheren Zustand des negativen, repressiven Dialoges zurückfällt, solange das Milieu des inneren Dialoges unverändert bleibt. Mit der sozial-intuitiven Atemmethode kann das Milieu des inneren Dialoges kurzfristig verändert werden. Im veränderten Bewusstseinszustand wird das bildhafte Denken aktiviert, so dass es mühelos gelingt, sich Situationen zu vergegenwärtigen. Das Gewahrsein für die inneren Empfindungen, Impulse und Stimmen wird verbessert. Die bisher verdrängten Ängste können zugelassen werden und die Angst vor der Wiederholung früherer Verletzungen wird überwunden. Im veränderten Bewusstseinszustand können so die Blockaden des inneren Dialoges entfallen und damit frühere Konflikte aufgelöst werden.

Im sozial-intuitiven Atem wird eine ruhige, gleichmäßige und entspannte Atmung angestrebt. Die Vorstellung, dass der Atem wie in einem Kreis verläuft, ist dabei sehr hilfreich259. Dabei ist z.B. die Vorstellung nützlich, dass die Atemluft durch eine gedachte Öffnung in der Fußsohle oder im Becken ~

eingesaugt wird. In diesem Bild wird er durch das Rückgrat hochgezogen, er strömt dann unter der Kopfhaut zur Nase, um außerhalb des Körpers wieder zum Ausgangspunkt zurückzuströmen, wo er wieder kräftig eingesaugt wird. In dieser Vorstellung steckt das Bild des geschlossenen Kreises. Der Einatemimpuls sollte dann ausgelöst werden, wenn der Atem entsprechend dem gewählten Bild an die Ansaugstelle zurückgeströmt ist. Auch andere Vorstellungen können nützlich sein, wenn sie im individuellen Fall ein kreisförmiges, ununterbrochenes Fließen des Atems unterstützen wie z.B. die Vorstellung der sich überschlagenden Schiffsschaukel u. a. Die Selbstbeeinflussung kann auch mit Sprachformeln unterstützt werden wie z.B. beim Einatmen: »der Atem wird von einem Vakuum in meinem Körper angesaugt« oder beim Ausatmen: »entspannt strömt der Atem zur Ansaugstelle zurück«. Der Atem kann auch durch magische Worte beschworen werden, wie »mein Atem ist gleichmäßig und kreisförmig« oder »mein Atem ist ganz leicht und entspannt«.

Wesentlich ist, dass der Atem kräftig und lustvoll eingesaugt wird und ihm im Rachenraum kein Widerstand entgegengestellt wird. Dies ist dann der Fall, wenn im Rachenraum das Gefühl herrscht, dass er ganz offen und weit ist. Die Ausatmung ist durch ein entspanntes Loslassen charakterisiert. Der Atemrhythmus sollte in keinem Fall forciert werden. Er sollte in der Anfangsphase auch nicht vom spontanen Einatemimpuls bestimmt werden, da dabei die Gefahr besteht, dass der Ausatem zu sehr »versackt« und die kreisförmige, ununterbrochene Bewegung nicht zustandekommt. Von zentraler Bedeutung ist, dass zwischen den Phasen der Aus- und Einatmung keine Unterbrechungen des Atemflusses auftreten. Es ist deshalb besonders darauf zu achten, dass beide Atemphasen nahtlos miteinander verbunden werden. Auf diese Weise wird der Rhythmus des natürlichen Ruheatems hergestellt. Die Augen sollen geschlossen sein, da dadurch die Konzentrationsfähigkeit für die inneren Empfindungen verbessert wird.

Die Veränderung des Bewusstseinszustandes kann dadurch erleichtert werden, dass ein bestimmtes Ritual entwickelt wird, in welcher Reihenfolge die Entspannung in bestimmten Körperzonen gesucht wird. So könnte z.B. in den ersten vier Atemzügen die Entspannung in beiden Armen und Füßen angestrebt werden, um anschließend die Augen, die Zunge, die Lippen, den Kehlkopf und den Rücken zu entspannen. Wichtig ist, dass man anfangs die Entspannung durch selbstgewählte Sprachformeln im Sinne des Autogenen Training unterstützt (z.B. »meine Lippen sind ganz weich und locker«, oder »alle Spannungen fließen mit dem Ausatem aus meinen Lippen(). Entsprechend der oben erwähnten Erweiterungsübung empfiehlt es sich auch, die Empfindungen mehrerer Bereiche gleichzeitig im Bewusstsein zu behalten. Bei

diesem Ritual konzentriert sich das Bewusstsein primär auf die Entspannungsempfindungen in den jeweiligen Körperteilen; dazwischen muss darauf geachtet werden, dass der Atem noch gleichmäßig und kreisförmig verläuft. Günstig ist, wenn man zu Beginn der Atemmeditation den ganzen Körper ausschüttelt oder mit improvisiertem Tanzen das Denken beruhigt. Im Tanzen geht das Denken völlig darin auf, Bewegungsimpulse zu setzen und die verschiedenen Bewegungsvorgänge miteinander zu koordinieren, so dass das Denken sich ganz auf die im Jetzt stattfindende Bewegung von Körper und Atem konzentrieren muss. Wenn eine bestimmte Reihenfolge immer wieder eingehalten wird, wirkt das Ritual nach einiger Übung wie ein konditionierter Reflex, der das veränderte Bewusstsein schlagartig auslöst.260

Am Anfang braucht es einige Zeit, um in den veränderten Bewusstseinszustand zu gelangen. Das größte Problem ist, mit dem Bewusstsein bei den Empfindungen zu bleiben und das Abschweifen des Bewusstseins auf die unerledigten Probleme des Alltags zu verhindern. Als sehr wirksame Konzentrationsmethode hat sich erwiesen, den Puls in verschiedenen Zonen des Körpers von innen heraus zu spüren. Eine andere effektive Möglichkeit besteht darin, sich nacheinander zu fragen, »Was denke ich jetzt?«, »Was fühle ich jetzt?« und schließlich »Was empfinde ich jetzt?«. Sobald die erste Antwort auf eine Frage da ist, soll zur nächsten Frage gewechselt werden. Dadurch wird das Denken auf die Gegenwart hingelenkt und die unerledigten Probleme ohne großen Kraftaufwand abgewiesen. Wegen der Schwierigkeit, den veränderten Bewusstseinszustand herzustellen und aufrechtzuerhalten, ist es ratsam, sich für jede Atemmeditation eine Stunde lang in einen ungestörten Raum zurückzuziehen.

Im Gegensatz zur klassischen Atemmeditation261 ist bei der vorgeschlagenen Atemmethode zulässig, in der ersten Phase aktiv auf den Atem Einfluss zu nehmen. Alle Hilfsmittel sollen aber in die Grundvorstellung eingebettet werden, dass sie den eigenständigen Atem anregen, ein vorgeschlagenes Atemmuster nachzuahmen, von dem man erfahren hat, dass es die Atemlust, das innere Gleichgewicht oder den Dialog mit den verdrängten Gefühlen wecken kann. Alles was »ich« bewusst mache, muss so erlebt werden, dass es nur Teil eines Dialoges mit dem Atem ist. In dieser Einstellung erfährt man am leichtesten, wie~

plötzlich der Organismus in das ekstatische Milieu umschaltet und sich die lustvolle Selbsttätigkeit der Atmung, ihr Dialog mit der sinnlichen Erregung entfaltet. In dem Moment, wie im veränderten Bewusstseinszustand spontan Bilder und Gedanken ausgelöst werden, wird sich die Länge der Ein- und Ausatmung abhängig von den jeweiligen Bewusstseinsinhalten selbsttätig steuern. Die aktive Lenkung des Atems kann entfallen. Sie ist bloß eine Vorstufe, um die Bewusstseinsbedingungen herzustellen, in denen das vegetative Atemzentrum die Steuerung übernehmen kann.

Der innere Dialog durchläuft prinzipiell die vier Phasen der Wahrnehmung der Empfindungen, der Benennung der Gefühle, der kritischen Auseinandersetzung und der Formulierung von Ansprüchen.262 Diese vier Phasen entsprechen den in den ersten Kapiteln dargestellten vier zentralen Aspekten der aktiven Auseinandersetzung mit der Umwelt: Vorstellungsbilder, Gefühle, Sprache und sinnliche Lust. Das bedeutet, dass der innere verbale Dialog immer wieder neu aus den Elementen der Vorstellungen, Gefühle und Sprache aufgebaut wird. Es ist gleichgültig, in welcher Reihenfolge die Phasen durchlaufen werden. In der Regel wird man mit der 1. Phase beginnen und zwischen den einzelnen Phasen hin und her pendeln. Wichtig ist nur, dass alle Phasen berücksichtigt werden, insbesondere die 3. und 4. Phase.

Es wäre falsch, das sozial-intuitive Atmen als eine Technik mit festen Vorschriften anzuwenden. Der eigentliche Lehrer ist der intuitive Atem selbst. Er ermutigt, alle Wege zu verfolgen, die sich aufdrängen, alle Ideen weiter zu verfolgen, die einfallen und immer wieder neue Zusammenhänge auszuprobieren. Wer dem intuitiven Atem vertraut, anstatt auf Theorien zu hören, kann im Grunde nichts falsch machen.263

Entsprechend dem Ziel, im sozial-intuitiven Atem nicht bloß eine tiefe Entspannung zu genießen, sondern diesen Zustand für die psychische Entwicklung fruchtbar zu machen, kann vor Beginn überlegt werden, ob ein aktuelles Problem bearbeitet werden soll oder ob die Problemauswahl vom Organismus selbst vorgenommen werden soll, im Vertrauen darauf, dass er die vordringlichen Probleme anpacken wird.~

1. Phase: Empfindungen wahrnehmen

Wenn man sich kein konkretes Problem vorgenommen hat, streift zunächst das Bewusstsein durch alle Bereiche des Körpers und achtet auf alle Besonderheiten. Es kommt darauf an, genau darauf zu achten, welche Bereiche gleichsam von sich aus die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Es muss das Vertrauen vorhanden sein, dass die offene und unvoreingenommene Aufmerksamkeit ohne das eigene Zutun auf die besonders kritischen Bereiche gelenkt wird. Sehr schnell stellt sich ein Gespür ein, welche Bereiche sich taub, unlebendig, kalt, verspannt und schmerzhaft anfühlen und welche als weich, warm, pulsierend erfahren werden. Der kreisförmige Atem bewirkt, dass die Verspannungen bewusster wahrgenommen werden. Es ist deutlich zu spüren, welche Körperteile am ganzkörperlichen Atemrhythmus teilnehmen und welche davon ausgeschlossen sind. Der Erfahrungsprozess kann durch die Routinefrage unterstützt werden, ob der Atem überall leicht »durchgeht«.

Das Bewusstsein soll dann bei den schmerzhaften Stellen verweilen und mit ihnen einen Dialog beginnen: An was erinnert mich die unangenehme Empfindung? Welche Botschaft enthält die Empfindung? Was will ich mit der Empfindung erreichen? Wenn spontan Vorstellungsbilder oder Stimmen auftauchen, soll versucht werden, sie genau zu betrachten und ihre Einzelheiten bewusst wahrzunehmen. Dabei wird häufig spontan der Zusammenhang zwischen den unangenehmen Empfindungen und bestimmten psychischen Verletzungen klar.

Wenn ein konkretes Problem bearbeitet werden soll, empfiehlt es sich, zunächst die Problemsituation in allen Facetten so genau wie nur möglich zu betrachten. Die Situation soll so lebhaft nachvollzogen werden, als würde sie gerade passieren. Was habe ich vom anderen erwartet? Wie habe ich mich körperlich verhalten? Was ist mir am Verhalten des anderen aufgefallen? u. a. Es kommt also darauf an, in alle Einzelheiten der Situation hineinzugehen und möglichst alle Sinnesempfindungen bewusst zu machen. Sehr bald müssen aber auch die inneren Empfindungen beachtet werden: Welche Reaktionen habe ich in meinen Empfindungen gespürt, aber nicht geäußert? Welche Empfindungen hatte ich in unterschiedlichen Phasen der Begegnung. Wichtig ist, dass man solange bei den Empfindungen verweilt, bis sich Bilder und Gefühle einstellen, die ihre Bedeutung erhellen.

Der Prozess der Selbsterkenntnis kommt erst in Gang, wenn man bereit ist, die Schmerzen auszuhalten, die mit den Muskelverspannungen und den auftauchenden Angstvorstellungen verbunden sind. Die Intensität der Erfahrungen lässt viele davor zurückschrecken, sich auf den Erfahrungsprozess des Atems einzulassen. Das Aushalten der Schmerzen verlangt aber kein Zähne~

zusammenbeißen oder Lust am Leiden, sondern eine andere Haltung gegenüber den Schmerzen. Statt sie aus Angst zu meiden, müssen sie als Signal für grundsätzliche Störungen im Verhältnis zu sich selbst und zur Umwelt verstanden werden. In dieser Einstellung sind Schmerzen ein notwendiges Durchgangsstadium, das für das bessere Verständnis von sich selbst unentbehrlich ist. Man muss sich vergegenwärtigen, dass der Grund für die Verspannungen erst verstanden wird, wenn die auslösende Situation mit ihrer ganzen gefühlsmäßigen Dramatik und damit ihren Schmerzen erlebt wird. In den bejahten Schmerzen steckt die Antizipation der künftigen Kraft, nicht mehr vor den Schmerzen davonzulaufen.

In der Haltung des sozial-intuitiven Atems gelingt die bejahende Wahrnehmung der Schmerzen leichter. Wenn ich ruhig mit dem kreisförmigen Atem durch den Schmerz hindurchatme, stellt sich das Gefühl ein, dass ich mich mit dieser Atemform davor bewahren kann, von den Schmerzen überwältigt zu werden. Bald bildet sich das Vertrauen, dass nichts passieren kann, wenn ich ruhig weiteratme. Wenn Krämpfe, Zittern u. a. auftreten sollten, erinnere ich mich daran, dass diese harmlose Symptome eines Ungleichgewichts zwischen Ein- und Ausatem sind und dass sie verschwinden, wenn ich den Ausdruck meiner Ängste und schmerzhaften Gefühle zulasse. Der Atem erweist sich als wirksame Stütze, um sich auf kritische Prozesse einzulassen, deren Ende nicht abzusehen ist. Wenn zusätzlich der Atem bewusst in die schmerzenden Zonen gelenkt wird, kann durch die bessere Sauerstoffversorgung der Schmerz weiter gelindert werden. Ohnehin lässt der Widerstand des Organismus gegen die Änderung des bisherigen Gleichgewichts nur ein langsames Vorgehen zu, so dass die traumatische Situation nur nach und nach in ihrer ganzen Schmerzhaftigkeit bewusst wird. Im selbstherapeutischen Prozess habe ich es stets in der Hand, wie weit ich gehen will und kann und werde deshalb den Prozess nur so weit treiben, wie die eigene Schmerzgrenze es zulässt. Wenn ich wiederholt eine traumatische Situation vergegenwärtige, wird spürbar, wie sich die Schmerzgrenze verändert. Es wird als außerordentlich positiv erfahren, wie in diesem Prozess der Kontakt zu sich selbst, der durch die schmerzauslösenden Ereignisse verlorengegangen ist, zurückgewonnen wird. Dabei tritt häufig ein erlösendes Gefühl auf, oft verbunden mit Tränen der Freude. Das erlösende Gefühl wird ganz körperlich erfahren, wenn z.B. sich die verspannten Beckenmuskeln erstmals lösen und ein nie gespürtes weiches Gefühl sich ausbreitet. Aus diesem Grunde ist das sozial-intuitive Atmen trotz aller Schmerzen sehr lustvoll. Es wäre falsch, wegen der auftretenden ekstatischen Gefühle Schuldgefühle zu haben. Wie oben dargestellt, sind sie ein normales Begleitphänomen des gelösten Atems.~

2. Phase: Gefühle ausdrücken und benennen

Die in den Muskeln eingefrorenen Gefühle werden sich häufig spontan äußeren, wenn die Problemsituation ganz konkret imaginiert wird. Wenn dies nicht der Fall ist, können sie durch gezielte Fragen stimuliert werden: Welches Gefühl hatte ich in einem bestimmten Moment? Welche Gefühle wollte ich zeigen? Die Äußerung der Gefühle hat den Sinn, dass ein klares Bewusstsein dafür entstehen muss, wie ich auf die jeweilige Situation, in der ich verletzt wurde, gefühlsmäßig reagierte. Indem im imaginativen Raum die Emotionen der Wut, des Hasses, der Hilflosigkeit, der Trauer u. a. zugelassen werden, können sie gleichsam neu gelernt werden. Da sie früher nicht ausgedrückt werden konnten, wurden für sie keine Reaktionsmuster gebildet. Denn alle angeborenen Grundgefühle müssen im kulturellen Milieu auf sozialverträgliche Weise modifiziert werden, damit sie ihr Ziel erreichen.

Sobald die Emotionen eine klare Gestalt angenommen haben, muss versucht werden, für sie einen angemessenen Begriff zu finden. Dies ist ein ganz wesentlicher Schritt: durch die möglichst genaue Benennung der Emotionen kann der für die psychische Störung charakteristische Zustand der Verwirrung und Unklarheit aufgehoben werden. Die Begriffe tragen dazu bei, Emotionen als »rechtmäßig« anerkennen zu können. Die Gefühle verlieren ihre bedrohliche Fremdheit. Sie können so ausdifferenziert werden, dass sie sich in die kulturellen Reaktionserwartungen einfügen. Wenn Gefühle ausgedrückt werden, wird häufig klar, wie ich mich selbst körperlich an dem Ausdruck der Gefühle gehindert habe. Wer nach langer Zeit z.B. wieder weint, spürt, wie sich die Verhärtungen im Rücken, im Kehlkopf und den Augen auflösen und es wird deutlich, dass man ständig unbewusst selbst die Verspannungen aufrechterhalten hat und deshalb selbst dafür verantwortlich ist. Wenn erfahren wird, aus welchen Gründen und mit welchen Mitteln die Verspannungen herbeigeführt wurden, besteht für die Verspannung kein Grund mehr. Es wird deutlich, dass die Angst die Funktion hatte, sich vor der Wiederkehr verletzender Situation zu schützen. Die negativen inneren Stimmen wurden geduldet, weil sie eine Selbstschutzfunktion hatten. Eine Überprüfung der Situation zeigt vielleicht, dass sie nicht mehr benötigt werden.

Wenn die Situation so lebhaft nachvollzogen wird, als würde sie gerade passieren, können die Gefühle als die eigenen zugelassen werden. Es kommt weniger darauf an, die Gefühle auszudrücken, als darauf, sie als einen Teil von sich selbst anzuerkennen. Wenn Gefühle erzwungen werden, schafft dies nur eine vorübergehende Erleichterung. Gefühle können erst integriert werden, wenn sie als spontaner Ausdruck der inneren Natur erlebt werden und sich der~

ganze Organismus mit ihnen identifiziert. »Solange du dich entscheiden kannst, ein Gefühl, das du gerade wahrnimmst, auszudrücken oder weiter zu atmen, entscheide dich dafür, bei deiner Atmung zu bleiben. Wenn ein Gefühl in dir so stark ist, dass es sich ausdrücken muss, wird es das von ganz allein tun«.264 Ein Gefühl ist integriert, wenn es gelebt werden kann und nicht länger abgewertet werden muss.

3. Phase: Auseinandersetzungen zu Ende führen

Ziel der Methode ist, den früheren Dialog, der mit einer Niederlage der eigenen Bedürfnisse geendet hatte, erfolgreicher zu Ende zu führen. Misshandlungen und Verletzungen, die früher hingenommen wurden, weil man nicht die Kraft hatte, sich zur Wehr zu setzen, werden meist auch heute noch widerstandslos hingenommen, da man unbewusst immer noch davon überzeugt ist, sich nicht durchsetzen zu können. Heute verfügt man aber in der Regel über wesentlich mehr sprachliche und emotionale Kräfte für eine aktive Behauptung der eigenen Interessen. Diese Kräfte können im veränderten Bewusstseinszustand benutzt werden, die Auseinandersetzung mit den Personen, von denen man sich misshandelt und verletzt fühlt, auf dem jetzt erreichten sprachlichen Niveau wieder aufzugreifen. Ihr Verhalten soll in Frage gestellt werden. Man kann von ihnen eine Begründung ihrer Forderungen verlangen. Ihre Forderungen können kritisch zurückgewiesen werden. Dabei kommt es darauf an, dass man die Personen mit ihren eigenen Stimmen sprechen lässt, ihnen zuhört und darauf achtet, wie man spontan darauf reagiert. Es genügt also nicht, sich bloß vorzustellen, was sie sagen würden. Die Erfahrung zeigt, dass das Denken umso intensiver wird, je lebhafter das Gespräch mit einer bekannten Person simuliert wird, die Fragen stellt, kritisiert oder auffordert, sich auf bestimmte Weise zu verhalten.

Wenn der veränderte Bewusstseinszustand erreicht ist, können folgende und ähnliche Fragen gestellt werden: Welche Gefühle habe ich in der gewählten Konfliktsituation zurückgehalten? Welche Ängste waren im Spiel? Welche Erwartungen hatte ich gegenüber dem Verhalten des anderen und wie habe ich mich durch den anderen behindert gefühlt? u. a. Je konkreter ich mir die Konfliktsituation vorstelle, um so deutlicher kann ich mir klarmachen, was die anderen erwarten und was ich von ihnen erwarte. Die Konfrontation der eigenen Erwartungen mit denen der anderen erfolgt spontan und führt zum~

Bewusstsein widersprüchlicher Erwartungen oder unvereinbarer Einstellungen. Daraus ergibt sich der Impuls, darüber nachzudenken, mit welchen anderen Vorstellungen die Konflikte aufgelöst werden können.

In der kritischen Auseinandersetzung wird praktisch der imaginäre Dialog mit den Bezugspersonen so lange vorangetrieben, bis man das Gefühl hat, dass man die eigenen Gefühle angemessen ausgedrückt und seine Bedürfnisse durchgesetzt hat. Es stellt sich meist ein Gefühl der Erleichterung ein. Es ist keineswegs erforderlich, für das Verhalten der Bezugspersonen Verständnis zu finden oder ihnen sogar zu vergeben. Mit den neuen Erfahrungen gelingt es, sich besser von den alten Introjekten abzugrenzen. Spontan kommen Gefühle der Wut, gefolgt von denen der Trauer, da man künftig ohne die imaginierte Unterstützung und Zuwendung der Eltern auskommen muss.

4. Phase: Ansprüche formulieren

Der innere Dialog hat sein Ziel erreicht, wenn klar geworden ist, welche Ansprüche bisher zurückgesteckt und auf welche Lust verzichtet wurde. Es ist sehr wichtig, dass versucht wird, diese Ansprüche als Merksätze zu formulieren. Keine Atemmeditation sollte abgeschlossen werden, ohne dass solche affirmativen Sätze geschaffen werden, in denen der beabsichtigten Umorientierung des Verhaltens die Richtung gewiesen wird. Die Ansprüche können sich beispielsweise in folgende sprachliche Formeln kleiden: »Ich habe das Recht, dass ...«, »Ich brauche für mein Leben, dass ...« oder »Ich gebe mir die Erlaubnis, dass ...‹. Damit werden den negativen inneren Stimmen, deren Funktion als überholt eingesehen wurden, neue Botschaften entgegengestellt, die die Selbstbehauptung mehr unterstützen. Indem die eigenen Ansprüche formuliert und gegenüber den Bezugspersonen vertreten werden, wird gelernt, sich zu den eigenen Bedürfnissen zu bekennen und dafür einzutreten. Wenn die individuellen Merksätze wiederholt in Vergegenwärtigungen von Konfliktsituationen als persönlich wichtige Direktiven erfahren werden, können sie eine Wirkkraft erfahren, die die bisher wirksamen negativen inneren Stimmen hatten.

Wenn ich mich mit meinen Ansprüchen identifizieren kann, wird sich der innere Dialog wie von selbst ändern. Während ich früher überzeugt war, etwas nicht zu können, kann ich mich jetzt dafür entscheiden, es nicht zu wollen. Der entscheidende Unterschied liegt darin, dass ich mich nicht mehr als machtlos und abhängig erlebe, sondern im Bewusstsein meiner Kräfte und Fähigkeiten mich dafür entscheide, was ich tun will. Wenn ich mich z.B.~

deprimiert fühle, kann ich mir eingestehen, dass ich es angesichts meiner Hilflosigkeit vorgezogen habe, deprimiert zu sein. Briggs formuliert dies so, dass man sich für ein fürsorgliches Selbstgespräch entscheidet, in dem die Sprache der Entscheidung und Wahlmöglichkeiten gesprochen wird: für alles, was man tut und denkt, hat man sich letztlich selbst entschieden, weil es augenblicklich nutzt.265

Die neuen Ansprüche müssen in imaginären Handlungen ausprobiert werden. Es ist von zentraler Bedeutung, dass in der Einbildungskraft Handlungen zugelassen und mit Bewusstsein ausgeführt werden, die den eigenen Empfindungen, wie sie heute gespürt werden, entsprechen, so dass sie, aus dem Gefängnis der bisherigen Verspannungen befreit, sich mit der Sprache der Gefühle und Begriffe wieder ausdrücken können. Es können verschiedene Alternativen durchgespielt werden, um ein Gespür zu entwickeln, welche Variante am meisten den eigenen Empfindungen entspricht und zur größten Befriedigung führt. Im klaren Bewusstsein der eigenen Ansprüche gelingt es, sich von den Forderungen der anderen abzugrenzen. Auf diese Weise wird die eigene Geschichte nicht nur neu erzählt, sondern auch neu erlebt. Es können im probeweisen Handeln neue Fähigkeiten für den aktiven Umgang mit der Umwelt gelernt werden und neue Vorstellungsbilder entstehen, die im konkreten Handeln die alten ablösen können, vorausgesetzt, dass man bei der Benennung der Gefühle und bei der Zuendeführung des inneren Dialoges tatsächlich begriffen hat, dass sie keine sinnvolle Funktion mehr haben.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Aktivierung des inneren Dialoges den Sinn hat, die Angst vor aktiver Einflussnahme zu überwinden. Jede Atemtherapie beginnt mit der Entdeckungsreise, von welchen Vorstellungen und inneren Stimmen man unbewusst beherrscht wird. Im inneren Dialog wird erfahren, dass in jeder Situation verschiedene Handlungsalternativen möglich sind, um die Umwelt im Sinne der eigenen Bedürfnisse zu beeinflussen. Normalerweise läuft die Auswahl unbewusst ab. Es ist das Ziel der individuellen Entwicklung, den inneren Dialog mit mehr Bewusstsein zu führen. Je bewusster der innere Dialog abläuft, umso deutlicher werden die Handlungsspielräume und die prinzipiell unaufhebbare Unsicherheit des Handelns gesehen. Gleichzeitig wächst die innere Distanz und Gelassenheit.

Der Erfolg dieser Übungen wird sich daran zeigen, dass man in Situationen, in denen man früher mit Stress reagiert hat, spontan den eigenen Atem spürt und imstande ist, eine geeignete Reaktion zu wählen. Der häufig gemachte Vorschlag, in~

Stresssituationen bewusst tief und entspannt in den Bauch zu atmen, muss solange wirkungslos bleiben, wie der Stress gerade jede Selbstwahrnehmung ausschließt. Denn mit Stress zu reagieren ist Symptom des gestörten Atems. Natürlich kann man durch bewusstes Bauchatmen sich entspannen und beruhigen, nur sind die »guten Ratschläge« in kritischen Situationen, in denen die »rationale« Kontrolle versagt, meist nicht präsent. Solche Ratschläge werden nicht mehr benötigt, wenn die Selbstregulation der Atmung wieder funktioniert.

Die Methode des sozial-intuitiven Atems macht keineswegs die Methoden der klassischen Atemgymnastik überflüssig. Dehnen, Räkeln, Schütteln, Gähnen, Tiefenatmung, Koordination von Atem- und Körperbewegungen u. a. sind nützliche Methoden, um Verspannungen der Atemmuskulatur aufzulösen. Solange mechanische Übungen in dem Kontext eines Atemverständnisses stehen, das von der Reagibilität des Atems auf soziale Situationen ausgeht, besteht keine Gefahr, dass mit ihnen der Atem vergewaltigt wird.

13. Atemtheorie und Gesellschaft

Die Selbstunterdrückung der eigenen Lebendigkeit mit Hilfe der Atmung hat inzwischen zu einem individuell unterschiedlichen, aber gesellschaftlich typischen Entwicklungspunkt geführt, wo die elementare Funktion der Atmung, die Sauerstoffversorgung sicherzustellen, in Frage gestellt scheint. Dafür spricht die zunehmende Häufigkeit von Atemwegserkrankungen wie Bronchitis und Asthma und von sauerstoffmangelbedingten Erkrankungen wie z.B. Krebs und Depression, schließlich auch die häufigen Fälle kurzfristigen Atemstillstandes im Schlaf. Während die Orientierungsfunktion der Atmung früher in statischen Gesellschaftsformen mehr oder minder unbewusst funktionierte, tendiert die Entwicklung in der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation zu ihrer nachhaltigen Zerstörung, so dass sich ein tiefes Unbehagen breit macht, das sich immer weniger selbst versteht. Atemtherapie wird zum großen Hoffnungsträger, da sie unmittelbar an der Wurzel des Vitalitätsverlustes anzusetzen scheint.

13.1. Konsequenzen einer kritischen Atemtheorie

Wie jede Therapie steht auch die Atemtherapie vor der Aufgabe, wie sie diesen Prozess der Selbstzerstörung aufhalten soll. Atemtherapie braucht dafür eine Theorie, die die Selbstzerstörung als gesellschaftlich bedingten Prozess begreifen lässt, um zu vermeiden, dass mit kurzschlüssigen Empfehlungen falsche Hoffnungen auf Heilung verbreitet werden, die im Grunde die schlechten Verhältnisse eher noch stabilisieren. Es ist gezeigt worden, dass es nicht auf die »richtige Atemmethode« ankommt, sondern dass das Verhältnis des Einzelnen zu sich selbst grundlegend verändert werden muss. Das gegenwärtig einseitige, instrumentell-kalkulierende Denken kann nicht allein durch eine Korrektur des Denkens überwunden werden, sondern setzt die Entwicklung eines neuen~

Körpergefühls voraus, in dem die Priorität der Sinne neu bestimmt und für die vegetativen Regungen eine erhöhte Sensibilität entwickelt wird. Der Angelpunkt des neuen Körpergefühls ist das Atembewusstsein, das sich allen inneren Prozessen öffnet, die sich in den Schwingungen des Atems kundtun: den Empfindungen, den Gefühlen, den inneren Stimmen, den Vorstellungen, den Gedanken. Das Paradigma des damit verbundenen Körperverständnisses ist das dialogische Verhältnis zu sich selbst, in dem die innere Stimme und das innere Hören sich wechselseitig aufeinander beziehen.

Atemtheorie ist Gesellschaftstheorie, da sie den Atem als das eigentliche Medium der Kommunikation in den Mittelpunkt stellt. Der Atem konstituiert mit seinen Ausdrucksformen der Emotionen und Sprache überhaupt erst den kommunikativen Austausch. Damit ist die Möglichkeit geschaffen worden, dass die innere Natur mit der sozialen Umwelt vermittelt werden kann. Der Atem ist die einzige Schnittstelle, in der sich selbsttätige vegetative Prozesse mit vom Bewusstsein gesteuerten Kontrollinterventionen kreuzen. Diese Besonderheit der Atmung wurde von vielen Atemtherapeuten nur indirekt erkannt, wenn sie am Atem die Fähigkeit wahrnehmen, alle Erfahrungen zu spiegeln. Der Atem ist stets mehr als eine bloße physiologische Funktion, weil in jedem Atemzug die Bedeutung der erfahrenen sozialen Situation enthalten ist. Die kritische Atemtheorie integriert deshalb die somatischen, emotionalen und sprachlichen Aspekte der sozialen Kommunikation in einer ganzheitlichen Sicht.

Aus den bisherigen Überlegungen folgt, dass die Atemtheorie eine streng materialistische Erkenntnistheorie begründen kann, die wirklich alle mentalen und psychischen Prozesse stofflich, und zwar in Form von Klängen und Bewegungen, versteht und ohne Rückgriff auf jegliche ontologisierende Hilfskrücken auskommt. Stofflich heißt nicht, dass alles messbar sein oder alles in einer monokausalen Betrachtung aufgehen muss. Stofflich heißt vielmehr, dass scheinbar nicht-stoffliche Phänomene wie »Geist« und »Seele« als subtile Bewegungsvorgänge des Körpers abgeleitet werden können, die sich im Prinzip nicht unterscheiden von den äußeren Bewegungen. Dieser Ansatz darf nicht als reduktionistisch missverstanden werden. Es geht darum, dass im sprachlich sozialisierten Organismus körperliche Bewegungen und Impulse so tief mit den symbolischen Bedeutungen der gesellschaftlichen Anforderungen verschmolzen sind, dass »Körper« und »Geist« neu gesehen werden müssen. »Geist« kann als Inbegriff der bewussten Bewegungen definiert werden, mit denen der Organismus den kommunikativen Austausch mit der Umwelt aufnimmt. »Körper« ist dagegen die Gesamtheit der Bewegungen, mit denen der Organismus seinen stofflichen Austausch an die Umwelt anpasst. Beides ist nicht voneinander~

trennbar, da der Austausch mit der Umwelt immer mit dem ganzen Körper geschieht.

Die Atemtheorie, die die Basis aller Kommunikation an der »Sprache« des Atems festmacht, greift das materialistische Grundverständnis der vorsokratischen Philosophie wieder auf. Der Begriff der Bewegung wurde von den Vorsokratikern als selbstverständlich vorausgesetzt. Bewegung war der Grundbegriff der materialistischen Philosophie, da Bewegung für die menschlichen Sinnesorgane das einzige ist, was unmittelbare sinnliche Evidenz besitzt und was selbst nicht durch etwas Höheres, das die gleiche sinnliche Evidenz hat, erklärt werden kann. Die Wahrnehmung des atmenden Körpers vermittelte die Erfahrung, dass alle psychischen Prozesse mit Bewegungen einhergehen. Man glaubte, qualitative Veränderungen erkannt zu haben, wenn die Bewegung als deren wahres Wesen nachgewiesen wurde. Die moderne Physik bestätigt diese theoretischen Annahmen der Vorsokratiker, dass alle Bewegungen ihre Substanz in Schwingungsvorgängen haben. Die Atemtheorie greift die Aufgabe der materialistischen Theorie auf, die Vermittlung von Individuum und Gesellschaft mit Begriffen zu fassen, die die Umsetzung von gesellschaftlichen Anforderungen in körperliche Prozesse verständlich machen.

Es ist keineswegs so, dass das Bewusstsein der Repräsentant der Gesellschaft ist, während die vegetativen Prozesse die innere unberührte Natur vertreten. Die gesellschaftlichen Erfahrungen gehen unmittelbar in die physiologischen Abläufe ein: die inneren Vorstellungen, die im Kontakt mit der sozialen Umwelt gebildet wurden und die die Aufgabe haben, ihre Anpassung an die äußeren Umweltbedingungen zu gewährleisten, verschmelzen als neuronale Koordinationsmuster mit den physiologischen Impulsen. Vergesellschaftung bedeutet deshalb die physiologische Umstrukturierung der Sinnesorgane, des Nervensystems, der Atmung, des Immunsystems u. a.

Im Unterschied zum rationalen und esoterischen Denken wird in der Atemtheorie die zentrale Rolle der verbalen Sprache bei der Strukturierung sozialer Erfahrungen hervorgehoben. Versprachlichung des Körpers bedeutet, dass die innere Organisation des Organismus bis in die Physiologie hinein durch die Sprache verändert wird. Der Atem ist mit seinen unterschiedlichen Spannungszuständen die physiologische Matrix, mit der die begriffliche Sprache entwickelt wird. Denken hat in diesem Konzept die Funktion, die körperlichen Empfindungen spontan oder willkürlich in die Symbolsprache der Vorstellungen und verbalen Begriffe zu verschlüsseln, um damit das Potential innerer Erfahrungsverarbeitung zu vergrößern. In diesem theoretischen Konzept wird der rationale Kern der esoterischen Lehren von der »inneren Weisheit des Körpers« oder der »inneren Stimme« freigelegt.~

Indem in der Atemtherapie die ursprünglich blockierenden Situationen wiederbelebt werden, kann die verselbständigte, abstrakte Sprache sich zur konkreten Sprache des ganzen Körpers zurückverwandeln, die sich in Emotionen und Begriffen äußert. Die übliche Unterscheidung zwischen dem sprachlich-deutenden und dem körperlich-orientierten Zugang zu Kommunikationsstörungen löst sich auf, wenn man erkennt, dass alle emotionalen und begrifflichen Äußerungsformen des Organismus gegenüber seiner Umwelt Sprachen auf unterschiedlichen Abstraktionsniveaus sind. Letztlich kommt es darauf an, über die Wiederherstellung des Kontakts zu den Empfindungen die Sprachfähigkeit zu verbessern, um intensiver am Leben der sozialen Gruppe teilnehmen zu können. Denn psychische Krankheit ist stets Verlust des Kontakts zur sozialen Gruppe aufgrund des Verlustes der Sprachfähigkeit im weitesten Sinne.

Die aus dem sozialen Kontext heraus entwickelte Atemtheorie ist eine kritische Atemtheorie, da sie den Anspruch der traditionellen Theorien, vollständige Heilung zu ermöglichen, grundsätzlich in Frage stellt. Sie kritisiert an den traditionellen Atemtheorien, dass sie aufgrund ihres mechanistischen oder spirituellen Ansatzes die Verwicklung des Atems in die gesellschaftlichen Strukturzusammenhänge nicht sehen können und deshalb zur Überschätzung ihres Heilungsanspruches neigen.

Die Atemtherapien enthalten ausnahmslos die Fiktion, dass potentiell eine Harmonie zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft möglich sei. Aufgrund ihres unkritischen Verhältnisses zur Gesellschaft muss ihr therapeutischer Nutzen beschränkt bleiben. Auch wenn das therapeutische Ziel meist emphatisch formuliert wird, kann die Therapie nicht mehr als eine Anpassung an die bestehenden Verhältnisse erreichen. Letztlich wird nur das Widerstandspotential gegenüber den Forderungen der Gesellschaft wegtherapiert, das unerkannt in den Symptomen der Krankheit enthalten war. Es wird geleugnet, dass sich der Einzelne solange nicht den das Leiden verursachenden Verspannungen entziehen kann, wie die Sozialbeziehungen von Konkurrenz, Misstrauen, Feindseligkeit und Gleichgültig u. a. geprägt sind. Die Harmoniefiktion verdeckt, dass auch bei scheinbarer Gesundheit ein innerer Vorbehalt gegenüber den gesellschaftlichen Forderungen besteht. Unter Bedingungen gesellschaftlicher Herrschaft ist jede Form postulierter Freiheit Schein, weil aufgrund der überwältigenden Angsterfahrungen eine Integration der gesellschaftlichen Anforderungen mit den inneren Impulsen nicht gelingen kann und man zwangsläufig der inneren Natur Gewalt antun muss. Der offen artikulierte Widerspruch wäre gerade das sicherste Indiz für wirkliche Gesundheit.~

Die Überlegungen sollen zeigen, dass es darauf ankommt, sich von äußerlich vorgegebenen Übungen zu befreien und sie durch den von Neugierde geprägten spielerischen, schöpferischen Umgang mit der Atmung im Alltag zu ersetzen. Es gilt, das kreative Atemspiel im Alltag zu entdecken, also zu spüren, wie jede Reaktion auf die Umwelt sich im Wechsel des Atemrhythmus spiegelt. Der Atem wird als Indikator für die gesamte innere und äußere Lebenssituation erfahren. Sich dessen bewusst zu sein, verändert das Verhältnis zu sich selbst. Das lange Zeit verschüttete Entspannungsbedürfnis, das den Organismus in den Optimalzustand aller Funktionen zurückführen soll, wird wieder lebendig werden. Entspannung äußert sich in einem Gefühl der Leichtigkeit, des inneren Wohlbefindens, des Vertrauens in die eigenen Fähigkeiten. Es wird deutlich, dass Entspannung dann gelingt, wenn der Atem frei ist. Entspannung ist im Grunde nichts anderes als der Atem, der seine Selbstregulation zurückgefunden hat. Ein verändertes Verhältnis zum Leben wird nicht dadurch erreicht, indem man sich in ein neues Korsett von Verhaltenszwängen und Denkschemata hineinzwängt, sondern indem man sich in zunehmenden Maße der Regulation des Lebens durch die unbewusst ablaufenden Verarbeitungsmechanismen des Organismus anvertraut.

Atemtherapie kann nur gelingen, wenn mit den Mitteln der Atemstimulierung der innere Dialog belebt wird. In den inneren Vorstellung müssen die Blockierungen erkannt werden, die bisher ein situationsgerechtes Handeln verhindert haben. Bei gelingender innerer Kommunikation reagiert der Organismus damit, dass er aufatmet. Der Atem findet dann in seinen spontanen Rhythmus zurück und kann wieder mit seinen spontanen Selbstregulationsmechanismen das Verhalten lenken. Aufgrund ihrer Wechselwirkung mit der Umwelt kann die Atmung nur die Initialzündung für die Heilung geben. Die Atmung kann auf Dauer nur vertieft werden, wenn die sozialen Umstände eine Steigerung der Atmung zulassen bzw. nötig machen. Die gesellschaftlichen Verhältnisse müssen es zulassen, dass die gegenwärtige ohnmächtige, resignative Haltung gegenüber der Umwelt aufgegeben und durch eine Haltung ersetzt werden kann, die ein aktives, mitfühlendes Interesse ihr gegenüber einnimmt. Dann kann sich die vom technisch-instrumentellen Denken geprägte Denkgewohnheit, auch den Atem technisch zu manipulieren, auflösen und das Gefühl entstehen lassen, dass es darauf ankommt, den Atem als eine eigenständige Kraft zu respektieren. Daraufhin zielt die häufig gebrauchte Formel des Gewahrwerdens der Atmung, die nicht ein Nachdenken über sie, sondern ein unmittelbarer, sensibler innerer Nachvollzug, ein Mitschwingen mir ihr ist.

Mit der Bezeichnung »kritische Atemtheorie« soll nicht nur die Distanz zu den bisherigen Atemtheorien, sondern zugleich der Bezug zu der von ~

Horkheimer und Adorno entwickelten Kritischen Theorie der Gesellschaft hergestellt werden. Der zentrale Impuls der Kritischen Theorie der Gesellschaft ist der entschiedene Widerspruch gegen die Behauptung, dass der Einzelne bruchlos an die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse angepasst werden kann. Psychische Störungen werden als Male einer funktionsgestörten Gesellschaft begriffen. Der Mangel der kritischen Gesellschaftstheorie ist aber, dass sie den Widerstandskern im Einzelnen nur in philosophischen Begriffen festhalten konnte. Die Atemtheorie überwindet den philosophisch-sprachlichen Zugang zum Problem des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft. Sie macht den Widerstandskern unmittelbar an den Empfindungen fest, deren emotionaler Ausdruck unter dem Druck von sozialen Demütigungen und Versagungen abgespalten wurde. Unter dem harten Panzer der Muskelverspannungen bleiben die Empfindungen lebendig und zwingen den Einzelnen, die unerledigten Konflikte immer wieder erneut anzugehen. Die kritische Atemtheorie macht den Widerstandskern an den Erinnerungsspuren eines harmonischen Kontakts fest, der in den Bewegungsmustern des gelösten Atems erlebt wurde. Diese empfindungsmäßigen Erinnerungsspuren können aber nur wirksam werden, wenn sie durch geeignete Vorstellungen verlebendigt werden. Die kritische Atemtheorie vermeidet die resignative Wirkung der Gesellschaftstheorie. Jene hat im Bild der total verwalteten Welt den objektiven Verhältnissen eine solche Übermacht gegenüber dem Einzelnen gegeben, dass das Gefühl der absoluten Ohnmacht unvermeidlich war. Resignation breitete sich aus, da keine Ansatzpunkte aufgezeigt wurden, wie der Einzelne kleine Veränderungen erreichen und im täglichen Leben Widerstand leisten kann. Demgegenüber vertritt die kritische Atemtheorie die Überzeugung, dass der lebendige Kern an Eigensinn und Widerstand durch eine geeignete Selbsttherapie freigelegt werden kann. Sie hält die eingeschränkte Sensibilität nicht für unwiederbringlich verloren, wissend, dass sie in Grenzen zurückerworben werden kann. In dem Maße, wie die Grenzen der Veränderung unmittelbar erfahren werden, können sie durch praktisches Handeln auch so weit verändert werden, wie es die objektiven Strukturzusammenhänge zulassen. Geht die Hoffnung verloren, die unerledigten Konflikte aufzulösen, bleibt die körperliche Selbstzerstörung in Form von psychosomatischen Krankheiten der einzige Ausweg.

Atemtheorie muss auch in dem Sinne kritisch sein, dass sie alle Vorstellungen vom Wesen des Menschen als von den aktuellen gesellschaftlichen Zuständen und dem ihnen entsprechenden symbolischen Deutungssystemen abhängig begreift. Alle Vorstellungen können nie mehr sein als völlig vom sozialen Kontext abhängige Übersetzungsversuche, um die physiologisch erfahrenen Verletzungen und Einschränkungen auf der Ebene des verbal geprägten ~

Bewusstseins zu verarbeiten. Im Gegensatz zum Konstruktivismus muss davon ausgegangen werden, dass der Freiheitsgrad des Einzelnen beim Aufbau seiner Vorstellungswelt relativ gering ist und dass ihm auch das Maß an Rationalisierungen, mit denen er seine Verletzungen und Verhärtungen verschleiert, nicht bewusst ist. Erst die sensible Wahrnehmung des Atems kann das Bewusstsein dafür schaffen, wie sehr man sich durch negativ geprägte Vorstellungen unfreiwillig einschränkt und sich unbemerkt in sozialen Abhängigkeiten befindet, die man sich normalerweise nicht eingesteht. Rationalität kann nur darin bestehen, dass man sich des subjektiven, historisch relativen Charakters aller Vorstellungen bewusst ist und sie danach bewertet, ob sie lustvolles Handeln ermöglichen.

Die kritische Atemtheorie muss den Kardinalmangel der meisten Psychotherapien vermeiden, dass das Menschenbild, das ihren Empfehlungen zugrunde liegt, unreflektiert bleibt. In der gegenwärtigen Situation unterliegen alle Empfehlungen, die nicht aus dem Kontext einer Theorie entwickelt werden, die die Entstehung des individuellen Leidens aus den historisch-gesellschaftlichen Lebensbedingungen ableiten, der Gefahr, zur Legitimation des Herrschaftssystems umfunktioniert werden.

Die Atemtheorie muss Bezug zu den Theorien der philosophischen Anthropologie aufnehmen, die die Frage nach der Natur des Menschen auf der Basis des Erfahrungswissens der Wissenschaften zu beantworten suchen. Eine Antwort darauf ist unverzichtbar, da die Selbstzerstörung bereits so weit fortgeschritten erscheint, dass kaum noch bewusst ist, was eigentlich zerstört worden ist und in welcher Richtung die Anstrengungen gehen müssen, um die dumpf empfundene Unzufriedenheit zu überwinden. Die philosophische Anthropologie muss ein Körperverständnis entwickeln, das die dominanten, naturwissenschaftlich geprägten Vorstellungen vom Menschen mit einer über die Individualitätsfiktion hinausweisende Perspektive überwindet. Allerdings bietet die philosophische Anthropologie noch keine gesicherten Aussagen. Ihr Hauptmangel besteht darin, dass sie die Frage, warum Menschen unterdrückbar sind, bisher nicht ausreichend behandelt hat, so dass sie das, was unterdrückt worden ist, nicht benennen kann.

Mit ihrer sinnlichen Orientierung stellt die kritische Atemtheorie einen Ansatz dar, um die aus dem Dualismus von Körper und Geist erwachsene Theoriebedürftigkeit zu überwinden. Während alle bisherigen Gesellschaftstheorien sich in ihrer Theorielastigkeit überboten haben, bis sie schließlich untauglich wurden, das alltägliche Leiden der Menschen zu erfassen, geht die kritische Atemtheorie den umgekehrten Weg, das Denken zur Wahrnehmung der ihm zugrundeliegenden sinnlichen Prozesse, der inneren Empfindungen~

und Verspannungen, zurückzuführen. Denken soll sich rezeptiv öffnen gegenüber der »Sprache des Körpers. Denken, das sich primär auf konkrete, subjektive Probleme bezieht, kann sich seines metaphorischen Charakter und seiner Relativität bewusst werden.

Vernunft erweist sich als sensible Wahrnehmung aller Gleichgewichtsstörungen im Organismus und deren Interpretation mit den von der Kultur entwickelten sprachlichen Symbolen. Sie diskriminiert keine Erfahrung, die auf eine gestörte Kommunikation mit der Umwelt und mit sich selbst hinweist. Sie greift jeden Weg auf, um den blockierten Austausch wiederherzustellen. Alle Gedanken müssen daran gemessen werden, ob sie die Schmerzen des blockierten Kontakts lindern und die Lust der Resonanz steigern können. Vernunft steht nicht länger im Gegensatz zur Lust, sondern findet gerade in der lernfähigen Lust ihre Orientierung zurück. Vernunft ist damit das Vermögen, sich im sozialen Raum mit seinen Symbolen orientieren zu können. Wenn in der Tradition der abendländischen Philosophie Vernunft als »Vermögen der Zusammenschau übergreifender Zusammenhänge der Seinsordnung« definiert wird, wird ihre soziale Orientierungsfunktion verschleiert. Es ist klar, dass die ursprüngliche Unmittelbarkeit, die vor dem sprachbedingten Dualismus herrschte, nicht mehr in der alten Form zu retten ist. Es erscheint aber nicht ausgeschlossen, auf der Basis eines autonomen Umgangs mit den Gefühlen und der Sprache eine neue Unmittelbarkeit herstellen zu können.

13.2. Zur Dialektik der Aufklärung

Die Aufklärung hat ihr Ziel, die Menschen vom Naturzwang zu befreien, bisher nicht erfüllen können, weil sie sich auf die oberflächliche Schicht der das Denken leitenden Vorstellungen konzentriert hat. Da sie ihre Aufgabe primär darin sah, die Menschen aus der Abhängigkeit von mythischen und religiösen Vorstellungen zu befreien, hat sie durch die Art ihrer Kritik die Fiktion, dass das Leben durch rationales Denken zu organisieren sei, ständig perpetuiert. Im Zusammenhang mit der historischen Entstehung der Augendominanz wurde gezeigt, wie die gesellschaftlichen Veränderungen, die die Autonomie des menschlichen Denkens und Handelns eingeschränkt haben, stets auch die Sinnesorgane beschädigt haben. Denn gesellschaftliche Unterdrückung besteht regelmäßig in der Schwächung der Sinnesorgane, bei der der sensible Kontakt mit sich selbst und seiner Umwelt gestört wird. Die aufklärerische Kritik an mythologischen und religiösen Vorstellungen hat den Verlust der Sinnlichkeit verstärkt, da sie mit den mythologischen Vorstellungen auch die Rituale zerstört~

hat, die gerade die Funktion hatten, die zivilisationsbedingte Beschädigung der sinnlichen Sensibilität zu korrigieren. Die Zerstörung dieser Rituale hatte die Wirkung, dass mit den Mitteln des aufklärerischen Denkens die Herrschaft stabilisiert wurde. Adorno und Horkheimer haben die »Dialektik der Aufklärung« auf die Formel gebracht, dass jeder Schritt zur Befreiung vom Naturzwang noch stärker in ihn hineingeführt hat.

Adorno fordert von der Aufklärung, dass sie sich selbst darüber aufklärt, dass das bisherige Denken sublime Herrschaft war. Er konnte aber keinen überzeugenden Weg angeben, wie das Eingedenken des Denkens zustandekommen kann. Geist ist bei Adorno Folge der Selbstentzweiung der Natur. Der Geist ist blind für seine Naturhaftigkeit und kann deshalb kein angemessenes Verhältnis von sich als Teil der Natur entwickeln. Seine Selbstdefinitionen als etwas Immaterielles und Jenseits-von-der-Natur lassen ihn seine Naturhaftigkeit vergessen. Adorno sah nur den Weg, dass der Geist seiner Naturhaftigkeit inne wird, indem er mit den Begriffen über den Begriff hinaus denkt. Wenn aber das Denken glaubt, alles mit den Begriffen klären zu müssen, wird diese Aufgabe unlösbar. Grundsätzlich neigte deshalb Adorno dazu, dass das Eingedenken der Natur im Subjekt erst im Zustand der »versöhnten Natur« gelingen kann, in dem Begriff und Natur wieder identisch werden.266

Historisch konnte der Geist erst als entzweite Natur begriffen werden, nachdem er absolut gesetzt wurde und die Fäden, die das Denken mit physiologischen Prozessen verbinden, durchschnitten wurden. Der verabsolutierte Geist ist Ausdruck der Natur, die sich selbst negiert, wenn sie in ihrer Entfaltung eingeschränkt wird. Die Voraussetzung dafür, dass sich Denken seiner eigenen Naturhaftigkeit innewird, liegt deshalb darin, dass sich der Organismus von dem Autonomiedünkel des Geistes, der sich über seine sinnlichen Abhängigkeiten täuscht, befreit. Das bedeutet, dass eine wache Sensibilität dafür gewonnen werden muss, wie sich die emotionalen und empfindungsmäßigen Prozesse im begrifflichen Denken spiegeln. Da sich alle dialogischen Prozesse im Atem spiegeln, ist das Atembewusstsein der einzige Ort, in dem sich das Denken seiner selbst als ein naturhafter Prozess innewerden kann. Während in der Philosophie stets der Leib mit seinen vegetativen Funktionen als die Stelle angesprochen wurde, bei der ein Blick »hinter die Kulissen« getan werden kann und die vegetativen Impulse unmittelbar gespürt werden können, muss nach den vorliegenden Überlegungen dieser Ort mit dem Atem des Leibes präzisiert werden. Im bewussten Atem fließen die vegetativen Impulse mit ihren begrifflichen und vorstellungsmäßigen Interpretationen zusammen, so dass die~

Abhängigkeit von den tieferen vegetativen Prozessen unmittelbar erfahren werden kann.

In der abendländischen Geschichte wurde die im Atem angelegte Differenzierung der sozialen Kontaktmöglichkeiten für den Aufbau sozialer Herrschaft missbraucht. Aufgrund der herrschaftlich bedingten Eindämmung des Atemvolumens ist das Bewusstsein der gesellschaftlichen Abhängigkeit verlorengegangen. Die zerstörte innere Selbstorganisation, oft als Verlust des Kontakts zu sich selbst bezeichnet, wird mit der Fiktion der individuellen Autonomie kompensiert: die Verabsolutierung des Geistes ist die Folge der Verleugnung der gesellschaftlichen Abhängigkeit. Diese Fiktion verschleiert das zunehmende Übergewicht der Verhaltenssteuerung durch die herrschaftlichen Instanzen. Die Selbsthypostasierung des Geistes hat das ursprüngliche Vertrauen in die organismische Selbstorganisation zerstört, so dass eine tiefe Verhaltensunsicherheit entstanden ist. Der Versuch, die verlorengegangene Innenorientierung durch Fixierung an die aktuell geltenden gesellschaftlichen Ziel-und Wertvorstellungen wiederherzustellen, musste scheitern. Es entstand das Gefühl der Sinnlosigkeit des Lebens.

Die kritische Atemtheorie führt über die Aufklärung als bloß intellektuelles Phänomen hinaus, da sie sich des mythologischen Charakters allen Wissens vom Menschen bewusst ist. Zweifellos sind bisher alle Theorien, die beanspruchten, einen Schritt über den Mythos hinaus zu tun, sehr schnell vom Mythologieverdacht eingeholt worden. Diese Einsicht verlangt, dass alle Theorien aus dem Bewusstsein heraus entwickelt werden, dass sie nicht mehr sein können als ein neuer Mythos. Es muss offengelegt werden, welche Ziele mit den neuen Vorstellungen erreicht werden sollen. Bei den vorliegenden Überlegungen geht es darum, dass die mechanistischen Mythen, die die Selbsterfahrung behindern, durch solche ersetzt werden, die einerseits mehr Selbstbewusstsein und mehr Sinnlichkeit zulassen und andererseits zur Selbsttherapie ermutigen. Ihr Wahrheitsbeweis kann nur in ihrer praktischen Bedeutsamkeit beim (selbst)-therapeutischen Handeln liegen.

Aufklärung hätte ihr Ziel erst erreicht, wenn erkannt wird, dass die Menschen ohne Vorstellungsbilder nicht lebensfähig sind, aber alle Vorstellungsbilder immer zwangsläufig mythologische Qualität haben. Innere Vorstellungen sind unverzichtbar, weil die vegetativen Impulse nur auf diese Weise angeeignet werden können. Da die Menschen die Fähigkeit gewonnen haben, sich ihre Reaktionen nachträglich zu vergegenwärtigen, können sie die übernommenen kollektiven Vorstellungen mit den subjektiven Vorstellungen vergleichen, die sich spontan im Handeln bilden, und sich partiell aus ihrer Abhängigkeit befreien. Dazu gehört das Eingeständnis, dass jede Kontrolle dieser Prozesse~

zum Scheitern verurteilt ist und dass die inneren Prozesse nur gestaltet werden können, wenn man sich ihrer natürlichen Spontaneität anpasst. Im bewussten Eingeständnis seiner selbst als gestalteter Atem kann das Denken der Gefahr der Selbsthypostasierung, in der es sich absolut setzt und damit die Bedingungen seiner eigenen Existenz zu zerstören droht, entgehen. Radikale Vernunftkritik bedeutet deshalb, der Selbstorganisation der Natur zu vertrauen und nur dort einzugreifen, wo sie durch fremdbestimmte Eingriffe gestört wird.

13.3. Möglichkeiten und Grenzen der Selbsttherapie

Es ist ein wesentliches Kennzeichen des patriarchalen Herrschaftssystems, dass es selbsttherapeutisches Denken unterbindet. Die Unterordnung des Einzelnen gelingt durch die Zerstörung seiner Fähigkeiten, entsprechend dem eigenen Vermögen der Selbstregulation zu handeln. Soziale Herrschaft hat deshalb stets ihr Hauptaugenmerk darauf gerichtet, die Kräfte zu bekämpfen, die die Selbstheilungstendenzen des Einzelnen unterstützen (wie z.B. die heilkundigen »weisen Frauen« im Mittelalter). Die Entmündigung des Menschen im Umgang mit sich selbst ist durch Medizin und Psychologie auf einen absoluten Höhepunkt getrieben worden, da sie jede Form der Selbstheilung in Frage stellen.

Die Psychotherapie, obgleich von Freud ursprünglich aus der Selbstanalyse heraus entwickelt, hat zur Zerstörung des selbsttherapeutischen Potentials wesentlich beigetragen. Die Leugnung der Möglichkeit und Notwendigkeit der Selbsttherapie ist die Achillesferse der Psychoanalyse. Damit wurde die verhängnisvolle Entwicklung der abendländischen Kultur, Selbstbeobachtung zugunsten von Expertenurteilen abzuwerten, unterstützt und der Glaube in die Möglichkeit der Selbsttherapie untergraben. Nur wenige Psychoanalytiker wie K.Horney und E.Fromm haben nach Wegen und Möglichkeiten der Selbsttherapie gesucht.266 Bereits die Existenz von Therapien führt zu dem Verlust des Vertrauens, psychische Probleme aus eigener Kraft bewältigen zu können. Dazu hat zweifellos beigetragen, dass durch den Zerfall der sozialen Beziehungsgeflechte der Familie, Freundschaftsgruppen und sozialen Großgruppen es schwieriger geworden ist, mit psychischen Ungleichgewichten fertig zu werden. Die Therapeuten sind im Gegensatz zu den früheren Sozialnetzen weder fähig noch bereit, selbstverständliche Unterstützung zu gewähren,~

falls ein unkonventioneller Schritt scheitern sollte. Die Psychoanalyse schafft so den Zustand, den zu beseitigen sie vorgibt.

Die wachsende Flut an Therapiesystemen und -institutionen lässt sich als Trend zur Therapiegesellschaft charakterisieren. Die Zerstörung der Sozialkontakte und die Erosion aller sozialen Werte macht den Wunsch nach befriedigenden Sozialkontakten zu einem Bedürfnis, das in den Sozialnetzen des Alltags nicht mehr untergebracht werden kann. Es flüchtet sich in spezielle Institutionen. Es wird ein marktfähiges Bedürfnis, für das gezielte Psycho-Waren angeboten werden. Was schon immer bei der Sexualität Realität war, wird in dem warenförmigen Dienstleistungsangebot der Therapiegesellschaft auch für das Bedürfnis nach einfühlsamen, emotionalem Austausch, nach direktem Gefühlsausdruck und verständnisvollem Gespräch eingeführt. Der Psychotherapeut ist der »gute Freund«, dem man gegen Entgelt seine menschlichen Bedürfnisse nach Nähe und authentischem Gefühlsausdruck offen zeigen kann und von dem man Verständnis und Anerkennung erwarten kann. Der Therapeut soll das Gefühl vermitteln, dass man noch Gefühle hat, ja dass man noch lebendig ist. Das therapeutische Setting ist praktisch nur der Vorwand für das zugrundeliegende Kontaktbedürfnis. Die humanistischen Psychotherapien wenden sich deshalb auch ausdrücklich an die »normalen« Menschen, die nicht unter manifesten psychischen Störungen leiden, sondern nur sich »selber finden«, sich »vervollkommnen« oder »psychisch wachsen« wollen.

Häufig ist Fremdtherapie der einzige Weg, um aus einer ausweglos erscheinenden Konfliktsituation herauszukommen. Wenn massive Ablehnungen und Verluste verkraftet werden müssen, verschließt oft tiefer Hass auf den eigenen Körper den Weg, mit Hilfe des inneren Dialoges ein neues Verhältnis zu sich selbst zu finden. Dies gilt insbesondere für traumatische Erfahrungen in der frühen Kindheit, bei der die selbsttherapeutischen Fähigkeiten der Emotionen und Sprache noch nicht zur Verfügung standen und nur der somatische Lösungsweg blieb. Wenn die eigenen Probleme längere Zeit unbearbeitet geblieben sind, hat sich die ganze Persönlichkeitsstruktur daran angepasst. Der Blick nach innen ist dann von so viel Selbsttäuschungen und Wahrnehmungsverzerrungen geprägt, dass die dicke Schicht von Selbstverständlichkeiten, die sich in das Verhältnis zu sich selbst eingeschlichen haben, nicht ohne weiteres durchstoßen werden kann. Es bedarf dann einer Kontrolle durch Dritte, die auf den deformierten Umgang mit sich selbst aufmerksam machen. Eine Fremdtherapie kann den Nutzen haben, dass in der Übertragungssituation die Erfahrung gemacht werden kann, von einem anderen Menschen geliebt zu werden. Unbewusst erwartet der Patient vom Therapeuten, dass er es besser als die eigenen Eltern macht und dass er von ihm Fähigkeiten lernen kann, mit~

denen man sich besser gegen die Welt schützen kann. In der Erfahrung uneingeschränkter Zuwendung kann der Patient den emotionalen Lernprozess an dem Punkt wieder aufnehmen, an dem er ihn zur Abwehr seiner Schmerzen abgebrochen hat.

Da die Psychotherapie auf einem asymmetrischen Verhältnis zwischen Therapeut und Patient beruht, können weder völlige Einfühlung auf der einen Seite noch uneingeschränktes Selbstvertrauen auf der anderen Seite entwickelt werden. In der Regel umgeben sich die Therapeuten mit der Aura des höheren Wissens aufgrund ihres »befreiten Selbst« und verführen den Patienten dazu, sich narzisstisch durch die Identifikation mit dem übermächtigen Therapeuten zu bereichern. Die Patienten überlassen sich ihren Abhängigkeitsbedürfnissen und erwarten vom Therapeuten, dass er die Heilung herbeiführt, ohne dass sie dabei sich aktiv beteiligen und ihre Lebenshaltung verändern müssen. Die »wissenden« Therapeuten beleben mit ihren großartigen Heilungsversprechen unbewusst die kindlichen Allmachtsphantasien und unrealistischen Heilungs- und Erlösungshoffnungen. Das therapeutische Interpretationsmonopol zerstört allzu leicht beim Patienten den letzten Rest von Autonomie, der mit den sozialen Anforderungen nicht in Einklang gebracht werden konnte und sich in den neurotischen Symptomen gerettet hat.267 Indem die Psychotherapien nur vom Individuum eine Selbstveränderung erwarten, reden sie indirekt der Anpassung an die bestehenden Verhältnisse das Wort. Durch die individualistische Perspektive der Psychotherapie wird im Grunde die Fähigkeit, im Interesse der eigenen Bedürfnisse auf die Umwelt einzuwirken, weiter zerstört. Damit sind Psychotherapien zu Agentur der Anpassung und zum Kitt inhumaner gesellschaftlicher Zustände geworden. Die Psychotherapie konnte ihren Anspruch, psychische Leiden heilen zu können, bisher nur dadurch aufrechterhalten, dass sie ständig neue Therapiekonzepte entwickelt hat, auf die enttäuschte Heilungserwartungen umgelenkt wurden. Vielleicht muss Fremdtherapie sogar abgeschafft werden, damit die von der Psychotherapie entwickelten Methoden der Selbsterfahrung und des veränderten Umgangs mit sich selbst wirksam werden können.

Wenn schon Fremdtherapie unerlässlich ist, kann sie nur als erster Zwischenschritt zur Mobilisierung der eigenen Selbstheilungskompetenzen akzeptiert werden. Kritische Therapeuten versuchen, das traditionelle Rollenverständnis vom »wissenden« Therapeuten und »ratsuchenden« Patienten radikal zu ändern. Für die Weckung des selbsttherapeutischen Potentials wäre es von entscheidender Bedeutung, dass der Therapeut nur Methoden eines anderen Umgangs mit~

sich selbst anbietet und Fragen stellt, aber keine Interpretationen anbieten darf, die die Selbstentdeckungsreise auf falsche Wege bringen würden. Ein gutes therapeutisches Gespür für die Ambivalenzkonflikte des Patienten zwischen Autonomie und Abhängigkeit ist die Voraussetzung dafür, dass der Aufbau von Abhängigkeitsgefühlen verhindert werden kann. Für die Egalisierung des Verhältnisses zu sich selbst ist es gerade eine wesentliche Voraussetzung, dass ein bewusstes Gespür für die alltäglichen Unterwerfungs- und Dominanzmechanismen entwickelt wird und man sich dagegen zur Wehr setzen kann. Andernfalls führt die Hilfe eines Dritten nur dazu, sich von der »heilenden Kraft« anderer abhängig zu machen und gerade dadurch das geschwächte Selbstvertrauen weiter zu zerstören.

Der Klärungsprozess, von welchen inneren Vorstellungsbildern der Atem eingeschnürt wird, kann von Therapeuten lediglich angestoßen werden. Er hat nur Erfolg, wenn er selbständig übernommen wird und zur selbstverständlichen Routine bei der Bearbeitung von Träumen, Entscheidungsschwierigkeiten, Ängsten u. a. wird. Letztlich kommt es darauf an, Krankheiten als Aufforderung zur Selbstbesinnung anzunehmen, wo man sich konkret vernachlässigt hat. Je mehr Ängste gegenüber den eigenen Gefühlen zugelassen werden können, umso spontaner und bewusster wird der innere Dialog. Der aktivierte innere Dialog wird zur Quelle von neuen Ritualen, die mit ihrer Kombination von neuen Verhaltensmustern und Sprachformeln den Selbstveränderungsprozess verstärken. In dem Maße, wie die selbstgeschaffenen Rituale die Möglichkeiten der Selbstveränderung eröffnen, führen sie zu einem lebendigen Bewusstsein ihrer Grenzen, da die Grenzen erst wahrnehmbar werden, wenn sie in Veränderungsversuchen leibhaft erfahren werden.

Grundsätzlich können in einer Selbsttherapie nur so viele bisher unbewusste Gefühle vom Bewusstsein akzeptiert und integriert werden, wie vom Organismus ertragen werden können und von den Menschen, mit denen man zusammenlebt, akzeptiert werden. Aufgrund der übermächtigen Tendenz des Organismus, ein einmal gefundenes Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, kann keine rasche Bewusstseinserweiterung erwartet werden, sondern allenfalls eine sehr langsame Entwicklung mit vielen kleinen, fast unscheinbaren Einzelschritten. Diese Entwicklung wird sehr stark von den Bezugspersonen im sozialen Umfeld gebremst, die im Normalfall nicht bereit sind, ihren aktuellen Gleichgewichtszustand infrage stellen zu lassen und deshalb die geringsten Änderungen bei den anderen bekämpfen.

Selbstbesinnung (=die Sinne auf sich lenken) erfordert die Bereitschaft und Fähigkeit, die reale Abhängigkeit von anderen wahrzunehmen und in das Gespräch mit ihnen einzubringen. Ich kann nur die Abhängigkeiten wahrnehmen,~

wenn ich bereit bin, die Stimmen der anderen in mir selbst und in ihnen auch die Stimmen der gesellschaftlichen Forderungen zu hören. Ich muss erkennen, dass ein offener innerer Dialog nur geführt werden kann, wenn auch der soziale Dialog die gleiche Offenheit zulässt. Selbsttherapie ist deshalb auf eine Soziotherapie angewiesen, wenn sie nicht in den ersten Schritten der Selbstbefreiung stecken bleiben soll. Andernfalls wird der innere Dialog ein therapeutisches Postulat, das nur die innere Zwanghaftigkeit erhöht. Es ist nicht primär der eigene Widerstand, der die Selbstveränderung verhindert, sondern es sind die gesellschaftlichen Verhältnisse, die sich im inneren Widerstand eingenistet haben. Da »ich« den Widerstand zugelassen habe, kann »ich« ihn auch partiell infrage stellen. Dies kann aber nur erfolgreich sein, wenn der Konfrontation mit den Strukturprinzipien des gegenwärtigen Herrschaftssystems nicht aus dem Weg gegangen wird.

Ohne die Entwicklung einer gesellschaftskritischen Einstellung muss deshalb Selbsttherapie misslingen. Gesellschaftskritik hat die Aufgabe, ein realistisches Bild der Handlungs- und Veränderungsmöglichkeiten zu entwickeln, das mit jedem Schritt der persönlichen Veränderung neu zu bestimmen ist. Außerdem ist es erforderlich, dass die gesellschaftlichen Anforderungen durch die Erkenntnis des mit ihnen verfolgten Zweckes relativiert und dadurch eine kritische Distanz eingenommen werden kann. Ohne gesellschaftskritisches Bewusstsein wird es wahrscheinlich nie gelingen, die für eine Heilung notwendige Relativierung des Ich-Begriffs einzunehmen. Die Selbstheilungskräfte können erst dann wirksam werden, wenn das »Ich« den Autonomieanspruch aufgibt und die Abhängigkeit von Introjekten und gegenwärtigen Bezugspersonen erkennt.

Die politische Perspektive der Selbsttherapie besteht darin, das sensible Bewusstsein der Unterdrückung in den Alltagserfahrungen wiederherzustellen, so dass das Bewusstsein für die Widersprüche, in denen man lebt, verstärkt wird und dadurch die Bereitschaft geweckt wird, an sinnvollen kollektiven Lösungen mitzuarbeiten bzw. sich dem Mitmachen an kritisch zu beurteilenden Entwicklungen zu verweigern. Solange die gesellschaftlichen Widersprüche nicht bewusst am eigenen Leibe gespürt werden, ist der Prozess der Selbstbefreiung nicht in Gang gekommen. Selbstbefreiung manifestiert sich paradoxerweise im Leiden an den gesellschaftlichen Konflikten. Das Leiden zeigt an, dass die Verhärtungen aufzuweichen beginnen und die Erfahrungsfähigkeit für Lust und Ekstase zunimmt. Erst wenn ich erfahre, dass ich tagtäglich unterdrückt werde und wie ich mich daran beteilige, kann ich den Veränderungsspielraum ausloten und ausprobieren, wie viel Wut ich ohne Gefahr der Selbstzerstörung ausdrücken kann.~

Selbsttherapie kann erst in Gang kommen, wenn man sukzessive den leidensbedingten sozialen Rückzug überwindet und mit mehr Interesse am gemeinschaftlichen Leben teilnimmt. Sie braucht konkrete Erfahrungen aus der gemeinsamen Organisation der lebensnotwendigen Aufgaben und des Feierns, um das Selbstvertrauen in die Fähigkeit, aus eigener Kraft das Leben meistern zu können, wiederherzustellen. Glück kann nicht in der einsamen Atemmeditation oder in Psychogruppen gefunden werden; es setzt eine von wechselseitiger Achtung getragene Kommunikation mit anderen Menschen voraus, die sich aus den zentralen Aufgaben der gesellschaftlichen Reproduktion ergibt. Therapie ist keine solche Aufgabe, sondern nur die Voraussetzung, um an den gesellschaftlichen Aktivitäten teilnehmen zu können.

Zur Heilung gehört die Fähigkeit, sich damit bescheiden zu können, dass in einer funktionsgestörten Gesellschaft gesundes, glückliches Leben nicht möglich ist. Ohne ein gewisses Maß an Verhärtung wäre die Feindseligkeit der Umwelt nicht zu ertragen. Eine durchgreifende Selbstheilung ist unmöglich, da die realen Lebensverhältnisse so wenig Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum lassen, dass jedes vitale Engagement an den Problemen des Arbeitsplatzes und des öffentlichen Lebens erstickt werden muss, um nicht ständig in die Selbsterhaltung bedrohende Konflikte verwickelt zu werden. Die erzwungene Zurücknahme des Interesses verhärtet den Körper und schwächt den Atem.

Wahrscheinlich enthält das aktuell erreichte individuelle Gleichgewicht immer mehr an Verspannungen, als für das praktische Leben erforderlich sind. In einer funktionsgestörten Gesellschaft kann sich Heilung nur auf den individuellen Leidensüberschuss über das gesellschaftlich notwendige Maß hinaus beziehen. Diese Differenz ist je nach sozialer Situation verschieden. Jede Resignation blockiert den Selbstheilungsprozess. Nur wo Hoffnung auf Veränderung ist, kann sich der Atem lösen. Der Weg der Selbstheilung eröffnet sich vielleicht erst, wenn der Einzelne Nischen findet, in denen er einen spürbaren Prozess der Veränderung von sich selbst und des Verhältnisses zu anderen Menschen einleiten kann.

Selbsttherapie ist wahrscheinlich stärker gegen übertriebene Hoffnungen auf Selbstheilung gefeit. Sie unterliegt nicht der narzisstischen Neigung der Therapeuten, die Heilungsaussichten ihrer Therapien zu überschätzen. Selbsttherapie ist auch relativ immun gegen Methodenabsolutismus. Durch den langen, erfahrungsoffenen Prozess kann die Fixierung auf eine therapeutische Methode vermieden werden. Im konkreten Lernprozess werden die Methoden ständig modifiziert bzw. die Aufnahmefähigkeit für andere Methoden~

geschaffen. In der Selbsttherapie ist das Antriebsmoment primär die konkrete Erfahrung, dass sich das Wohlbefinden verbessert und nur sekundär die Hoffnung, dass die Fortschritte bis zum Punkt der Befreiung gesteigert werden können. Die tragende Erfahrung ist, dass sich die Grenzen allmählich verschieben. Selbsttherapie reflektiert die Kraft und die Bereitschaft, die Verantwortung für den Wachstumsprozess selbst zu übernehmen. Gegen die Enteignung des Körpers durch Ärzte, Therapeuten und sonstige Beratungsexperten muss Widerstand geleistet werden, da jede Hilfe die Selbstkompetenz untergräbt. Die Befreiung von der Expertenabhängigkeit ist ein wesentlicher Schritt im Rahmen gesellschaftlichen Veränderungen.

Der utopische Zielpunkt in der Entfaltung der selbsttherapeutischen Fähigkeit besteht darin, dass sie zum selbstverständlichen Bestandteil der Lebenspraxis wird. Die organismische Selbstorganisation kann dann als alltägliche, spontane Selbsttherapie wirksam werden. Solange Selbsttherapie als bewusstes Ritual eingesetzt werden muss, ist dies ein Zeichen, dass die Selbstorganisation erhebliche Mängel hat.

Selbsttherapie kann ab einem bestimmten Reifepunkt der emotionalen Autonomieentwicklung in künstlerische Betätigung übergehen. Die künstlerische Betätigung speist sich aus dem Impuls, dass die bewusst gewordenen inneren Spannungen eine Kraftquelle darstellen, für die Erfahrungen, die noch nicht in die alltägliche Kommunikation einfließen können, einen Ausdruck zu verschaffen. Man spürt, dass die subjektiven inneren Zustände, Spannungen oder Konflikte einer besseren Verarbeitung zugänglich gemacht werden können, wenn sie in künstlerischen Gestalten vergegenständlicht werden. Die zentrale Erfahrung in der Kunst ist die produktive, intuitive Transformation der dunklen, diffusen Empfindungen in klar strukturierte Vorstellungen in einem geschützten Raum, der dem Druck der Lebensnotdurft enthoben ist. Kultur bemisst sich nicht, wie es das bürgerliche Missverständnis will, an vorweisbaren Werken, sondern an der Entfaltung der körperlichen Sensibilität und Ausdrucksfähigkeit. Alle Produkte haben ihre Bedeutung nur als Medium des Selbsterfahrungsprozesses, der zur Konstituierung eines dialogfähigen Körpers führt.

13.4. Überwindung der Geschlechterpolarität

Erfolgreiche Selbsttherapie wird daran sichtbar, dass der Kontakt zu anderen Menschen offener und einfühlsamer wird. Da die Blockierung der Atmung am Anfang des Rückzugs aus dem sozialen Kontakt stand, um der damit verbundenen Gefahr von Verletzungen aus dem Weg zu gehen, ist umgekehrt die~

Wiederherstellung der spontanen Reagibilität des Atems identisch damit, dass die gestörte Kontaktfähigkeit zurückgewonnen wird. Der spontane Atem stellt den Kontakt wieder her, da der Atem das soziale Medium schlechthin ist. Im Folgenden soll gefragt werden, welche Konsequenzen sich aus der Atemtheorie für die Dynamik des Geschlechterverhältnisses ergeben.

Der zunehmende weibliche Separatismus, die Wiederverzauberung der Mutter und der wachsende esoterisch-mythologische Diskurs über die Geschlechterfrage lassen den Eindruck entstehen, dass sich die seit zwei Jahrzehnten intensiv geführte feministische Diskussion in ihrer Kritik am von männlichen Werten geprägten Herrschaftssystem festgefahren hat. Offensichtlich hat die feministische Bewegung an Schwung verloren, obwohl sich an der vorherrschenden Ungleichbehandlung der Frauen fast nichts geändert hat. Unter dem Druck des Individualisierungszwanges scheint die Fähigkeit zur kritischen Reflexion und Modifikation der Geschlechtsrollenmuster tendenziell sogar abzunehmen. Wahrscheinlich ist der Feminismus in eine Sackgase geraten, weil seine Kritik am patriarchalen Herrschaftssystem nach wie vor von einem anthropologischen Menschenbild ausgeht, das zutiefst von den Grundprinzipien geprägt ist, die bisher die Herrschaft der Männer legitimiert haben: den Dualismus von Körper und Geist, von Fühlen und Denken, von Sein und Sollen, von Natur und Kultur u. a. Es wurde zwar erkannt, dass diese Dualismen das Herrschaftssystem legitimieren, aber es wurde keine anthropologische Theorie entwickelt, die die Neigung vermeidet, weiterhin in versteckter Form mit geschlechtsspezifischen Denkformen und Reaktionsweisen zu argumentieren. Die kritische Atemtheorie stellt einen solchen Versuch dar, das dualistische Denken zu überwinden. Sie transzendiert die Geschlechterpolarität, indem sie ins Zentrum ihrer Überlegungen die Frage stellt, auf welche somatische Weise von beiden Geschlechtern die gesellschaftlichen Erfahrungen der Negation verarbeitet werden.

Das aus dem Atembewusstsein entwickelte Körperverständnis enthält die zentrale These, dass die Hauptachse der psychischen Entwicklung die Fähigkeit ist, sich von den inneren Vorstellungen distanzieren zu können. Handlungsfähigkeit setzt voraus, dass die handlungsleitenden Vorstellungen ständig kritisch überprüft und erneuert werden können. Das Entwicklungsziel der Autonomie ist verfehlt, wenn anstelle der kritischen Reflexionsfähigkeit eine zwanghafte Fixierung an den gelernten inneren Vorstellungen tritt. Dabei geht die aus den inneren Impulsen erwachsene Innenorientierung des Verhaltens verloren und muss durch eine Außensteuerung an gesellschaftlich vorgegebenen Verhaltensregeln ersetzt werden.

Die traditionellen Muster der Männlichkeit lassen sich in ihrer Grundstruktur~

aus einem fixierenden Verhalten gegenüber den inneren Vorstellungen ableiten. Die männlichen Werte der Stärke, Aktivität, Entschlossenheit, Rationalität und Selbstbeherrschung, die in der patriarchalen Kultur positiv bewertet werden, müssen in der Perspektive einer kritischen Entwicklungspsychologie als das Produkt der Neigung erkannt werden, sich mit den vorherrschenden Vorstellungen so stark zu identifizieren, dass sie als die Wirklichkeit selbst genommen werden. Das Verhalten bekommt dann einen fanatischen, zwanghaften, intoleranten Charakter. Denn anstelle der Einfühlung in die Situation der vom eigenen Handeln betroffenen Personen tritt die Orientierung an abstrakten Maßstäben. Damit ist die als typisch männlich geltende Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal anderer, die latente und manifeste Gewaltanwendung, die übermäßige Leistungsorientierung, die instrumentelle Benutzung anderer Menschen, das Dominanzstreben, die Intoleranz gegenüber abweichenden Meinungen u.ä. verbunden. Je mehr die Selbstbeherrschung gelingt, umso wahrscheinlicher ist, dass sich die sozialen Beziehungen durch eine aggressive Selbstbehauptung auszeichnen. Alle Impulse, die mit den von außen unkritisch übernommenen Vorstellungen in Widerspruch geraten könnten, werden abgewehrt und verdrängt. Daraus erklärt sich die tiefe emotionale Unsicherheit des männlichen Verhaltens. Stärke und Entschlossenheit sind nicht Ausdruck der Identität mit den inneren Impulsen, sondern Folge der immer auch gefährdeten Identifikation mit den aktuell vorherrschenden gesellschaftlichen Vorstellungen. Männliche Handlungsfähigkeit hat wenig mit Autonomie zu tun, da sie eine Selbständigkeit aus Selbstverleugnung ist.

Hauptsymptom der fehlenden Distanzierungsfähigkeit ist die oben bereits erwähnte Zwanghaftigkeit des Verhaltens. Das Verhalten folgt dabei mechanisch früher gelernten Reaktionsmustern ohne Rücksicht darauf, ob sie in der aktuellen Situation angemessen sind. Selbst wenn die Absicht besteht, am Verhalten etwas zu ändern, setzen sich die eingefahrenen Reaktionsmuster meist blindlings durch, da das Denken den Kontakt zu den inneren Prozessen verloren hat. Wenn es das Denken aufgegeben hat, die äußeren Anforderungen mit den inneren Impulsen abzustimmen, wird es zum abstrakten, instrumentellen Denken. Es kann sich in der Welt der Sachen und Beherrschung von Menschen bewähren, muss aber in der Bewältigung der persönlichen, emotionalen Lebensprobleme versagen, da es eine wechselseitige Anerkennung und Verständigung ausschließt.

Das »weibliche Prinzip« darf aber keineswegs mit dem distanzierten Verhalten gegenüber den inneren Vorstellungen gleichgesetzt werden. Auch wenn Frauen eher zum Pol des distanzierten Umgangs mit sich tendieren, wird deutlich, wie viel Defizite vorhanden sind, um zu einer emotionalen Autonomie zu~

kommen. Die typisch weiblichen Eigenschaften wie Fürsorge, Einfühlung und Passivität sind keine uneingeschränkt positiven Tugenden, da sie die Male der gescheiterten Handlungsfähigkeit tragen, die aus der Erziehung der Frauen für ein Leben für andere resultieren.268 Sie haben sich nur scheinbar komplementär zu den männlichen Eigenschaften entwickelt, in Wirklichkeit begründen sie die Fähigkeit, ein Leben in emotionaler Abhängigkeit ertragen zu können. Der Widerspruch zwischen der in Grenzen zugelassenen Innenorientierung und den damit konfligierenden sozialen Anforderungen hält die Frauen in ständiger Angst, sich mit ihren Bedürfnissen nicht durchsetzen zu können. Die häufig anzutreffende Unfähigkeit zur Abgrenzung zeigt, wie wenig gefestigt die Distanz zu den inneren Vorstellungsbildern ist.

Wenn die geschlechtsspezifische Differenzierung davon abhängt, inwieweit im Erziehungsprozess das Ziel eines distanzierten Verhältnisses zu den inneren Vorstellungen zustandekommt oder verfehlt wird, können die Unterschiede zwischen den Geschlechtern nicht länger mit den traditionellen Gegensätzen von Geist und Materie oder Verstand und Gefühl u.ä. erklärt werden. Sie sind so sehr Folgen der für beide Geschlechter kulturell unterschiedlichen Spiel­räume autonomer Handlungsfähigkeit, dass es problematisch ist, aus den empi­risch vorfindlichen Verhaltensunterschieden ein »männliches« und »weibliches« Prinzip herauszudestillieren. Diese Idealbilder hatten bisher immer die Funk­tion gehabt, die Geschlechter auf ein bestimmtes enges Verhaltensspektrum zu fixieren. Alle Festlegungen von Wesensunterschieden, auch die in kritischer Absicht vorgetragenen, vertiefen die historisch entstandene Geschlechterdiffe­renz oder halten zumindest an der Fiktion fest, dass ein »männliches« und »weibliches« Prinzip zu bestimmen sei.

Die gängigen Empfehlungen, wie die traditionellen Geschlechterrollen auf­zuweichen wären, setzen durchweg auf eine gesteigerte Reflexionsfähigkeit. Sie basieren auf den Vorstellungen, dass der eigengeschlechtliche durch den gegengeschlechtlichen Anteil zu ergänzen sei, dass der unterdrückte gegengeschlechtliche Anteil zugelassen werden sollte oder dass das eigengeschlechtliche Prinzip richtig zur Geltung zu bringen sei. Meist enthalten sie eine Liste von Verhal­tensweisen, die dafür sorgen sollen, dass sich jeder der Wirkung seines Han­delns auf andere Personen bewusst ist und sie nicht abhängig gemacht oder abgewertet werden. Es wird richtigerweise gefordert, mehr Rollendistanz zu üben. Es wird aber nicht gezeigt, wie die eigenen Barrieren gegenüber einer gesteigerten Reflexionsfähigkeit beseitigt werden können. Denn nach wie vor~

ist es ein Dogma des patriarchalischen Denkens, dass sich das Denken aus eige­ner Kraft und eigenem Antrieb aktivieren könne. Es wird völlig unterschätzt, dass das Denken primär ein spontaner Vorgang ist, der von tief in der Physio­logie verwurzelten Fähigkeit abhängig ist, insbesondere von der Fähigkeit der Distanzierung von den inneren Vorstellungen, die nur in langen Entwick­lungsprozessen erworben werden können.

Die Reflexionsfähigkeit wird dadurch behindert, dass aufgrund des fixieren­den Verhaltens der Kontakt zu den inneren Empfindungen und Impulsen gestört wird. Die inneren Vorstellungen legen sich wie ein Filter über die inne­ren Empfindungen und kanalisieren sie. Die Unfähigkeit, den inneren Regun­gen einen angemessenen Ausdruck zu geben, führt in die Dynamik sich selbst verstärkender Selbstkontrolle, die ihrerseits die Fixierung an Vorstellungen festigt. Die Kehrseite der intellektuellen und emotionalen Selbstkontrolle ist die radikale Aussperrung der ekstatischen Kultur aus der männlichen Lebens­welt, die historisch im weiblichen Lebenszusammenhang viel länger überlebt hat (z.B. in den dionysischen Ritualen im antiken Griechenland) und in der Gegenwart eine gewisse Renaissance haben (Tantra, Rituale nach Felicitas Goodman oder Kaye Hoffman). Die männliche Abspaltung des Bedürfnisses nach Ekstase löscht damit das im veränderten Bewusstseinszustand angelegte Potential von Verhaltensselbstkorrekturen aus. Die vorherrschende Ratlosig­keit, wie die allgemein als unbefriedigend empfundenen Sozialbeziehungen verbessert werden sollten, ist letztlich die Folge dieser radikalen Demontage der traditionellen Ekstaserituale.

Die Ekstaserituale sind in der patriarchalen Welt so wirkungsvoll zerstört worden, dass die These völlig unverständlich erscheinen muss, dass die destruk­tiven Männlichkeitsmuster Symptom des Verlustes der ekstatischen Kultur sind und dass sie nur durch eine Neuentwicklung angemessener Ekstaserituale transzendiert werden können. Schließlich ist die Ekstase als sinnliche Aus­schweifung diskreditiert worden und ihre geistige Zielsetzung, die den Kern der religiösen Ekstase ausgemacht hat, völlig vergessen worden. Die Überle­gungen zu den Voraussetzungen für Verhaltensänderungen zeigen jedoch269, dass eine kulturelle Transformation, insbesondere bei der Geschlechterfrage, nur vorstellbar ist, wenn die rationalistischen Dogmen durch ekstatische Erfahrungen langsam aufgeweicht werden und Raum für neue Erfahrungen geschaffen wird.

Die Aktivierung des inneren Dialoges bleibt eine permanente Aufgabe, solange man genötigt ist, unter Herrschaftsbedingungen zu leben. Durch den~

intensivierten inneren Dialog kann zwar nicht die Herrschaft beseitigt wer­den, es ist aber viel gewonnen, wenn man sich der eigenen Vorstellungen bewusst wird, die Unterwürfigkeit und Anerkennung der Dominanz bedin­gen. Man kann sich dann allmählich davon distanzieren und anstelle der bishe­rigen blinden Unterwerfung sich bewusst strategisch verhalten. Herrschaft ist dort in Frage zu stellen, wo der damit verbundene Preis an Stress und materiel­len Nachteilen geringer als die bisherigen Einschränkungen empfunden wer­den. An Stelle der unreflektierten, zwanghaften Identifikation mit den von Autoritäten übernommenen Vorstellungen würde ein etwas distanzierteres Verhalten treten, das im Idealfall spielerische Züge enthält, so wie der Schau­spieler sich ständig bewusst ist, dass er nur eine Rolle spielt. Wahrscheinlich ist es ein Teil der geschlechtsspezifischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen auch darauf zurückzuführen, dass Frauen im Gegensatz zu den Män­nern, die sich in der Regel in straffe hierarchische Herrschaftsverbände einord­nen und sich mit den Legitimationen sozialer Herrschaft identifizieren müs­sen, im Rahmen der durchsichtigeren familiären Abhängigkeiten leichter eine strategische Haltung einnehmen können, zumal sie sich der realen Möglichkei­ten ihrer Einflussnahme auf den Mann eher bewusst sind.

Die Frage, wie Männer und Frauen aus ihren einengenden Geschlechtsrollen ausbrechen können, findet somit ihre Antwort in der Aufforderung, die Blockade des inneren Differenzierungsprozesses aufzulösen. Es hilft deshalb nicht viel weiter, wenn man sich bloß die Vorstellungsbilder vergegenwärtigt, die der eigenen Geschlechtsidentität zugrundeliegen und z.B. traditionelle männliche Eigenschaften wie Aktivität und Stärke durch als weiblich geltende Eigenschaften wie Zuneigung, Gefühl und Einfühlung und umgekehrt die traditionelle Weiblichkeit durch männliche Züge der Selbstbeherrschung und Durchsetzungskraft ergänzt. Damit würde die Disposition, sich mit den inne­ren Vorstellungen übermäßig zu identifizieren und sie als männliches oder weibliches Prinzip zu mystifizieren, nicht aufgehoben.

Erst wenn im ganzen Verhalten eine gewisse Distanz zu sich selbst einge­nommen werden kann, wird auch im Kernbereich der geschlechtlichen Identi­tät etwas in Bewegung kommen. Dabei ist die Korrektur der Geschlechtsste­reotype weniger ein intellektueller Akt, in dem die bisherigen Verhaltensmu­ster bewusst verändert werden. Vielmehr werden die aus dem veränderten Ver­hältnis zu sich selbst gewonnenen Fähigkeiten der Entschlossenheit, Konzentrationsfähigkeit, des Einfühlungsvermögens, der Neugierde, des Los­lassens, der Relativierung des Kontrollzwanges u. a. von sich aus das Verhältnis gegenüber dem anderen Geschlecht verändern und fortwährend Anlass zur Korrektur der Geschlechtsmuster geben. Der innere Zwang eingefleischter~

Geschlechtsrollenmuster wird bewusst, so dass man sich bewusst über bestimmte Rollenerwartungen hinwegsetzen kann. Die Befreiung vom Identi­tätszwang wird sich daran zeigen, dass man auch angstfrei die Rolle des Gegen­geschlechts spielen kann. Dieser Veränderungsprozess hat ein offenes Ende. Es entspricht der zu entfaltenden Distanzierungsfähigkeit, dass man ohne vorweg festgelegtes Entwicklungsziel auskommen muss. Am Ende steht ein menschli­ches Verhältnis, wobei geschlechtsspezifische Differenzen wahrscheinlich eine eher untergeordnete Bedeutung haben werden.

Die inneren Barrieren müssen gleichzeitig von beiden Geschlechtern abge­tragen werden. Andernfalls besteht das Problem, dass das Gegengeschlecht die verunsichernde Identitätsveränderung durch Diskriminierung und Liebesent­zug bekämpft. So laufen Frauen Gefahr, das männliche Begehren, die bisherige Hauptsäule ihrer Identität, zu verlieren, wenn sie im Alleingang ihre Identität verändern. Nur wenn gleichzeitig auch Männer flexibler mit sich umgehen und sie sich deshalb nicht mehr vor weiblichem Selbstbewusstsein zu fürchten brauchen, werden sie Frauen, die die traditionellen Unterwerfungsrituale auf­zugeben versuchen, attraktiv finden. Der Prozess der gemeinsamen Emanzipa­tion von den inneren Vorstellungsbildern lebt davon, dass das eine Geschlecht dem anderen den Weg zum Entwicklungsziel autonomer Lebendigkeit vor­lebt. Dann könnte sich eine neue Geschlechtsidentität herausbilden, die frei ist von Unterwerfungsbedürfnissen und Dominanzphantasien.

Wenn das strategische Primat primär auf die Selbstveränderung gelegt wird, ist dies keineswegs eine resignative Einstellung. Die sozialen Strukturen sind so übermächtig geworden, dass die Befreiung von realer sozialer Herrschaft soweit jenseits des Horizonts möglicher gesellschaftlicher Veränderungen geraten ist, dass sie derzeit noch nicht einmal als Handlungsziel sinnvoll for­muliert werden kann. Traditionelle Politik konnte gerade deshalb nie struktu­relle soziale Veränderungen herbeiführen, da sie verleugnete, dass jeder struk­tureller Veränderung auch eine Selbstveränderung voraus- bzw. parallel gehen muss. Es wurde nicht erkannt, wie die alten bekämpften Verhältnisse noch im eigenen Körper herrschen und eine Wiederholung der alten Ordnung verlan­gen. Nachdem sich das Herrschaftssystem zum stillen Zwang der objektiven Verhältnisse konsolidiert hat, so dass es kaum noch im alltäglichen Leben wahrnehmbar ist, kommt es darauf an, zunächst den entscheidenden ersten Schritt zu tun, die Herrschaft in sich selbst wieder zu spüren. Dabei muss es offen bleiben, welche Dynamik daraus folgt, wenn dies viele Menschen tun.

In einer Gesellschaft, in der die körperlichen Bedürfnisse nur partiell und ersatzhaft befriedigt werden, drückt sich der täglich erfahrene Mangel an Lebendigkeit und Befriedigung in den utopischen Vorstellungen aus, wie es besser sein könnte. Sie halten in sprachlich mitteilbarer Form die schmerzhafte Erfahrung der Differenz zwischen den Bedürfnissen und den sozialen Versa­gungen fest.

Jedes Herrschaftssystem war bisher bestrebt, den utopischen Vorstellungen das kritische Potential zu nehmen, indem sie entweder die Bilder ins Jenseits oder in die Innerlichkeit projiziert hatten. Dementsprechend wurde in der bis­herigen Geschichte die Hoffnung auf Befreiung stets als Befreiung durch ein überweltliches Prinzip von oben oder durch eine starke politische Kraft von unten gedacht. Im Grunde ist dies die Umdrehung der Perspektive des unter­drückenden Herrschers: die Befreiung konnte nur so gedacht werden, dass an die Stelle eines mächtigen Herrschers eine andere starke Kraft gesetzt wurde.

In der Gegenwart sind die utopischen Vorstellungen überhaupt in die Krise geraten. Wenn die utopischen Bilder einer befreiten Gesellschaft fast völlig ver­schwunden sind, drückt sich darin die extrem angewachsene Abhängigkeit und Ohnmacht des Einzelnen aus. In dieser Situation erscheinen die utopi­schen Modelle nicht nur als absolut unerfüllbar, sondern geraten zudem in den Verdacht, totalitäre Ordnungen zu reproduzieren. Wenn das utopische Gefühl weitgehend verlorengegangen zu sein scheint, ist dies auch eine Folge der total gewordenen Selbstkontrolle, die ekstatische Glücksgefühle überhaupt nicht mehr zulässt oder sie in das Reich des Irrationalen abschiebt.

Letztlich ist aber die entscheidende Ursache für die Krise der utopischen Bilder, dass von ihnen stets erwartet wurde, dass sie einen Orientierungsrahmen für das politische Handeln bei der Veränderung der äußeren Verhältnisse geben können. Die Utopien machten den Fehler aller verbalen Weltdeutungsssysteme, dass sie ihre Sichtweise als real begründet ausweisen. Wenn sie an ihren Ansprüchen gemessen werden, ist ihre Infragestellung unvermeidlich. Es wurde nicht gesehen, dass die sprachlich vermittelten Utopien nur Reflexe des aktuellen Mangelzustandes sein können und alle Alternativen nicht über die abstrakte Negation der Verhältnisse hinausreichen.

Trotz der Unmöglichkeit von utopischen Gesamtbildern trägt jeder in sich Fragmente von utopischen Vorstellungen, in welche Richtung die Verhältnisse verändert werden müssten, ohne sich dessen immer bewusst zu sein. Ohne sie wäre das Leben nicht nur unerträglich, sondern auch unmöglich. Aus der Steuerung des Handelns durch innere Vorstellungen ergibt sich, dass jedes Handeln~

auf Zielbilder angewiesen ist. Sobald die gesellschaftlichen Verhältnisse es nicht zulassen, dass alle Impulse in das Handeln einfließen können, gehen die inneren Vorstellungen über die konkrete Situation hinaus. In ihnen wird fest­gehalten, was die gegenwärtige Situation verweigert (z.B. Toleranz, Einfüh­lungsvermögen, Ehrlichkeit u. a.).

Seit dem »Trauma der Individuation« ist utopisches Denken zum Teil der vegetativen Natur des Menschen geworden. Jeder Mensch erlebt im intrauteri­nen und postnatalen Zustand, später auch noch in Situationen des Glücks, der Intuition oder Meditation das Gefühl der Geborgenheit und des Eins-Seins mit der Welt, das wahrscheinlich vor dem »Sündenfall« das vorherrschende Grundgefühl war. In diesem vegetativ tief verwurzelten Gefühl überlebt die Erinnerung an die Geborgenheit und das Glück des paradiesischen Zustandes der unmittelbaren, harmonischen, ungebrochenen wechselseitigen Verschrän­kung mit der Umwelt. Sie ist der eigentliche Anker aller Utopien.

Da jedes Gefühl der Harmonie, des Mit-sich-identisch-Seins und Mit-der-Welt-in-Einklang-Seins auf dem befreiten, seinen spontanen Rhythmen fol­genden Atems basiert, hat das utopische Denken seinen eigentlichen Bezugs­punkt in der Erfahrung des gelösten Atems. Sie begründet die leiblich tief ver­ankerte Hoffnung, dass der gelöste Körperzustand häufiger erlebt werden kann. Hoffnung ist der Impuls, den früher erlebten gelösten Körperzustand in der Zukunft wieder zurückholen zu können. Im Atem hat der Mensch den einzigen Maßstab, an dem er seine Negativität gegenüber der Welt erfährt und der zugleich eine positive Erinnerung anbieten kann. Deshalb kann utopisches Denken künftig nur in dem Festhalten der Erinnerung an den Atem in seinem gelösten Zustand überleben. Dabei kann es sich nicht auf visuelle Bilder stüt­zen. Vielmehr bedarf es der wiederholten konkreten Erfahrung, wie sich der gelöste Atem anfühlt. Die Utopie beginnt bei einem neuen Körpergefühl, das in die ekstatische Natur des menschlichen Atems hineinhorcht.

Der bewusste Atem als Widerstandspotential ist zwar weitgehend verschüttet worden, so dass er sich kaum noch meldet, aber nicht so total, dass er nicht wieder aktiviert werden könnte. Die kritische Atemtheorie enthält die utopi­sche Vorstellung, über die Beseitigung der selbstgesetzten Atemblockaden jene tiefe Schicht der Resonanzerlebnisse wieder beleben zu können, die ein widerständiges utopisches Denken begründen. Nur die kritische Atemtheorie kann die Vergegenwärtigung und Verlebendigung des »natürlichen« Atems leisten, mit dem die im Individualismus tief verwurzelte Lebensverneinung überwun­den werden kann. Sie kann das Verstummen des Körpers bewusstmachen und das Bedürfnis wecken, sich im Alltag von Adornos Utopie als Miteinander des Verschiedenen leiten zu lassen.