Philosophie der Muster    Buch "Wie Denken funktioniert"

Klaus Neubeck

Wie Denken funktioniert

Warum ich denke, wie ich denke



für Gela

»Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie ich sagen.« (Th. W. Adorno)

Ich danke Andreas Ohlendorf für seine inspirierende Mitwirkung an diesem Buch durch Fragen, Rat und Kritik


Dr. Klaus Neubeck, Dr. phil., geboren 1939, Studium der Soziologie, Philosophie und Psychologie in Frankfurt am Main, Stadtplaner, Atemtherapeut, Heilpraktiker.

Anschrift des Autors: Dr. Klaus Neubeck, Destouchesstr. 29, 80803 München, Email: klaus.neubeck@mnet-online.de

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 9783743100862

Herstellung: Books on Demand GmbH, Norderstedt

Das Foto "Schattenriss" auf dem Umschlag stammt von Ilagam. Quelle: www.piqs.de/fotos/113719.html (Ausschnitt)

© Alle Reche liegen bei dem Autor, München 2017

Inhaltsverzeichnis




1. Einleitung

»Denken und Tun, Tun und Denken, das ist die Summe aller Weisheit.« (Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meister)

Die Sprachformel vom »im Einklang mit sich selbst« wird gern benutzt, obwohl es ein Rätsel ist, wie die entsprechende Empfehlung umgesetzt werden soll. Sind dafür Selbstliebe, Selbsterkenntnis, Selbstvergebung oder Selbstmitgefühl geeignete Methoden? Jedenfalls scheint es eine sichere Methode, wie man sich mit sich selbst in Einklang bringen kann, nicht zu geben. Wenn es eine sichere Methode gäbe, hätte sie sich längst herumgesprochen. Ich habe den Eindruck, dass es sich bei der Formel lediglich um eine Metapher handelt, die einen wünschenswerten seelischen Zustand mit der Sprache der Musik umschreiben soll. So wie ein Dirigent die vielen Instrumente zu einem harmonischen Klang zusammenführt, so sollen im Inneren die vielen Teile der Seele in Einklang miteinander gebracht werden. Aber die Metapher verwirrt mehr, als dass sie etwas klärt.

Dass jeder die Aufgabe hat, Harmonie in seinem Inneren herzustellen, ist offenkundig. Aber wer das innere Orchester dirigieren soll, ist höchst umstritten. In der Philosophie und Psychologie werden verschiedene Kandidaten dafür genannt: das Ich, das Selbst, der Geist, die Vernunft, die Seele, das Gehirn u. Ä. Viele Menschen sind von der Existenz eines inneren Dirigenten überzeugt. Die Zweifel an deren Existenz und Funktion sind aber nie zur Ruhe gekommen.

Könnte es nicht sein, dass die Frage nach dem inneren Dirigenten falsch gestellt ist? In der Weisheitsliteratur werden immer wieder Empfehlungen ausgesprochen, die konträr zum inneren Dirigenten stehen, wie z. B. dass man »seinem Herzen folgen«, »seiner Intuition vertrauen« oder auf »die innere Stimme hören« soll. Solche Formulierungen suggerieren, dass es eine andere Art von innerem Dirigenten gibt, der von sich aus die Menschen führt, ohne dass er beeinflusst werden kann. Teilweise wird sogar verboten (z. B. im Taoismus), nach dem Namen des inneren Dirigenten zu fragen. Es wäre anmaßend, danach zu fragen, weil man dann fälschlicherweise glaubt, ihn steuern zu können.

Kann das Ich, so wie die innere Steuerungsinstanz gegenwärtig meistens bezeichnet wird, einfach als Fiktion verworfen werden, so wie es im Buddhismus empfohlen wird? Das mag im Buddhismus mit seinem nicht-dualistischen Menschenbild noch vertretbar gewesen sein. Seitdem aber das naturwissenschaftliche Denken sich durchgesetzt hat, ist es naiv zu glauben, dass das Problem erledigt wäre, wenn das Ich als Fiktion durchschaut wird. Dann bliebe nur die Überzeugung, dass man wie eine Marionette gelenkt wird. Da dies aber dem eigenen Grundverständnis und den Erfahrungen widerspricht, muss jede Kritik am Ich wirkungslos bleiben. Denn nach dem traditionellen Selbstverständnis ist es nicht zu vereinbaren, dass man sich führen lässt und gleichzeitig für sich verantwortlich ist. Entweder befindet man sich im aktiven oder im passiven Zustand. Entweder führt man sich selbst oder wird von fremden Kräften gesteuert. Entweder befindet man sich im Reich der freien Entscheidung oder im Reich der kausalen Notwendigkeit.

Die Kritik am Ich speist sich aus der Erfahrung, dass viele Prozesse des Denkens und Fühlens spontan ablaufen und nicht gesteuert werden können. Es ist sicherlich kein Zufall, dass die oben genannten Sprachformeln, die das Sich-führen-lassen empfehlen, überwiegend aus dem esoterischen Denken stammen. Denn das esoterische Denken ist noch in der älteren Lebensform des Sich-führen-Lassens verwurzelt, wie sie in Stammesgesellschaften vorherrschend war. Sie basiert auf der Erfahrung, dass die Dinge sich wie von selbst regeln und dass das Problem sich nicht stellt, zwischen Handlungsalternativen wählen zu müssen, weil man immer schon weiß, was zu tun ist. Im Fall der Unsicherheit ist es ratsam, solange zu warten, bis sich die richtige Entscheidung einstellt. Es besteht keine Notwendigkeit, sein Leben zu kontrollieren, da man in jedem Moment genau weiß, was das Richtige ist.

Aus diese Sicht ist das Ich nicht bloß eine Vorstellung, die einfach abgeworfen werden kann, sondern Bestandteil einer komplexen Lebensform1, die mit charakteristischen Überzeugungen, Einstellungen und Verhaltensweisen verbunden ist. Die Lebensform des Ich basiert auf der Intuition, dass man frei ist, die Handlungen auszuwählen, die als richtig erkannt werden und dass man für sein Handeln selbst verantwortlich ist. Alles was man tut, wird als Verdienst oder Schuld angerechnet. Jeder muss für sich selbst sorgen. Vor allem sind die Gefühle zu kontrollieren. Jeder ist seines Glückes Schmied! Das Ich drückt damit eine bestimmte Weise aus, wie die eigene Person und die Welt erlebt und interpretiert werden. Die traditionelle Grundeinstellung des Sich-führen-Lassens wird verdrängt.

Im Grunde wurde die abendländische Philosophie von Anfang an von der Lebensform des Ich geprägt, die in der Antike die traditionelle Lebensform des Sich-führen-Lassens ersetzt hat, die in den Stammesgesellschaften dominant war. Die Philosophie war eine Antwort auf die Probleme, die sich aus dem Zwang zur Selbstverantwortung ergeben haben, der mit der Einführung des Privateigentums und der Geldwirtschaft entstanden ist. Da die abendländische Philosophie das Denken als eine aktive Leistung des Geistes begreift, das vom Einzelnen kontrolliert werden kann, müssen ihr spontane Prozesse rätselhaft bleiben.

Die Analyse des Ich steht deshalb vor der fundamentalen Schwierigkeit, dass die abendländische Philosophie keine Begriffe und Konzepte zur Verfügung stellt, mit denen die verschüttete Grunderfahrung des Geführt-Werdens reaktiviert und artikuliert werden kann. Das theoretische Denken der Philosophie geht davon aus, dass alles menschliches Handeln seine Ursache in geistigen Gründen und Zwecken hat, so wie auch die Natur nach Gesetzen abläuft. Da die Gründe und Zwecke bewusst vom Denken selbst gesetzt und ausgewählt werden, kann das Denken nur als ein selbsttätiger Prozess gedacht werden.

Die Analyse des Ich kann aber nur gelingen, wenn eine Theorie des Denkens entwickelt wird, die ohne die Idee der Kontrolle auskommt. Es muss denkbar sein, dass die Menschen sich sowohl als aktive Autoren ihrer Handlungen als auch als passiv Geführte erleben können. Ebenso muss denkbar sein, dass im Denken sich die Erkenntnisse von selbst einstellen, die für die Lösung eines Problems erforderlich sind. Erst dann kann verstanden werden, dass das Ich keine unabdingbare Bedingung des Menschseins ist, sondern historisch entstanden ist und dass mit der Durchsetzung der Ich-Lebensform wesentliche menschliche Erfahrungsmöglichkeiten verloren gegangen sind.

Im vorliegenden Buch wird eine Theorie des Denkens vorgeschlagen, die ihren Angelpunkt im Begriff des Musters hat. Die Musterbildung scheint ein grundlegender Mechanismus der Natur zu sein, um die Wahrnehmungen zu ordnen. Für alle wahrgenommenen Objekte werden Muster gebildet, damit sie schnell wiedererkannt und im Denken miteinander verknüpft werden können. Für alle natürlichen Bewegungen werden Muster entwickelt, damit sie stabil, schnell und sicher ablaufen können. Es geht also nicht allein um die Ordnung von Oberflächen, sondern vor allem um die Ordnung von innerkörperlichen Prozessen und Handlungen. Die Muster können mit Hilfe von Erfahrungen modifiziert werden. Darauf basiert die Flexibilität des menschlichen Denkens und Handelns.

Die Analyse des Denkens beginnt mit der Hypothese, dass das Handeln darin besteht, dass verschiedene Bewegungsmuster miteinander kombiniert werden. Nach einiger Übung können sie auch in der Vorstellung miteinander verknüpft werden. So kann man z. B. in der Vorstellung den Weg zurückgehen, auf dem man vermutlich etwas verloren hat. Wenn man mit einem Problem konfrontiert wird, kann man in der Vorstellung probieren, mit welchen Bewegungsmustern das Problem gelöst werden könnte. Daraus ergibt sich die Hypothese, dass das Denken ein probeweises Handeln ist.

Die Analyse des Denkens legt offen, dass auch das Denken von Mustern geprägt wird. Es zeigt sich, dass die Denkmuster sich aus der Art ergeben, wie gehandelt wird. Für die Problematik des Ich ist insbesondere das polare Denkmuster relevant, mit dem alle Aktivitäten entweder als aktiv und passiv klassifiziert werden. Eine Handlung, die mit dem subjektiven Erleben der willentlichen Absicht verbunden ist, erscheint als aktiv. Wenn das subjektive Erleben fehlt, wird von passiven Prozessen gesprochen. Bei aktiven Prozessen wird unterstellt, dass sie von einer inneren Instanz gesteuert werden. Auch die Gefühle basieren auf körperlichen Bewegungsmustern, bei denen ebenfalls die Atemmuskeln im Zentrum stehen. Die Gefühle werden als etwas Sinnvolles erlebt, weil ihre Muster mit sozialen Erfahrungen und Handlungsimpulsen gekoppelt sind. Dieses neue Verständnis kognitiver Prozesse bietet einen Ansatzpunkt, mit dem der traditionelle Körper-Geist-Dualismus überwunden werden kann. Alle mentalen und psychischen Fähigkeiten incl. dem Bewusstsein können in dem Sinne als natürlich verstanden werden, dass sie auf spontanen körperlichen Prozessen basieren.

Es wird sich zeigen, dass das Konzept der Muster alle gängigen philosophischen Grundbegriffe wie z. B. Geist, Selbst, Freiheit, Wahrheit, Person u. Ä. infrage stellt. Es stellt ein Paradigma zur Verfügung, mit dem alle Probleme, die sich bei der Analyse des Denkens stellen, plausibler gelöst werden können. Insbesondere wird deutlich, unter welchen Bedingungen das Denken Scheinprobleme produziert. So wird z. B. die Frage, wie materielle Prozesse erlebnisfähige, selbstreflexive Ich-Subjekte hervorbringen können, als eine Scheinfrage entlarvt, da nicht erkannt wird, dass die verwendeten Allgemeinbegriffe Materie und Ich nur abstrakte Hilfsbegriffe sind, denen nichts Reales entspricht.

Im Grunde stellt das Konzept der Muster keine neue Theorie, sondern eine neue Denk- und Sichtweise dar. Der Blick richtet sich einerseits auf die Denkmuster, die das Denken steuern, und andererseits auf die realen Lebensverhältnisse, die den Anlass geben, bestimmte Denkmuster zu entwickeln. Um etwas zu verstehen, sei es ein Begriff, eine Beziehung zu einem anderen Menschen, eine Maschine oder eine Erzählung, genügt es, die Muster zu erkennen, die dabei im Spiel sind. Die neue Denkweise der Muster läuft darauf hinaus, dass philosophische Probleme so umformuliert werden müssen, dass sie durch überlegtes Handeln gelöst werden können. Die Probleme verschwinden, so wie eine Krankheit nach ihrer Heilung verschwindet. Zu Recht hat Ludwig Wittgenstein die Entwicklung einer neuen Denkweise als Voraussetzung für die Lösung von philosophischen Probleme angesehen.

Die neue Denkweise kann letztlich nicht bewiesen werden. Solange aber mit ihr die Phänomene des Denkens, Fühlens und Handelns besser verstanden werden können, als dies mit der traditionellen Theorie des Geistes gelingt, ist sie nützlich. Die Theorie der Muster bietet nicht mehr als eine neue Erzählung über das Funktionieren der psychisch-mentalen Innenwelt an. Sie löst die Erzählungen ab, die vom Geist handeln.

Aus der kritischen Analyse des Denkens ergibt sich das Primat des Handelns. Das bedeutet, dass alle Probleme beim Handeln entstehen und nur damit gelöst werden können. Gemessen an sinnvollen Fragen, die sich auf praktisch zu lösende Probleme richten, sind philosophische Probleme deshalb häufig scheinhaft, weil sie nichts zum alltäglichen Leben beitragen. Wenn das »Handeln, Verhalten, zum Zentrum gemacht wird, brechen die traditionellen Schranken zwischen Geist und Körper zusammen und lösen sich auf.« (Dewey 2003 S. 295) Das Primat des Handelns bedeutet, dass sich viele philosophische Probleme auflösen, wenn sie unter der Perspektive des Handelns betrachtet werden.

Das Paradigma des Handelns stellt das traditionelle Vorgehen infrage, dass bei der Erklärung des Denkens und Fühlens ausschließlich von geistigen Begriffen wie z. B. Grund, Absicht, Ziel, Wille, Überzeugung u. Ä. ausgegangen wird2. Danach zeichnen sich die Menschen dadurch aus, dass sie nach Gründen handeln. Die Gründe gehören zur geistigen Sphäre. Wer die Gründe kennt, versteht das Handeln. Nach dem Paradigma des Handelns kann die Sonderstellung, die dem Denken im Verständnis des Menschen als geistiges Wesen bisher eingeräumt wurde, nicht mehr aufrechterhalten werden. An die Stelle der geistigen Begriffe tritt das Konzept der Verhaltensmuster, demzufolge das menschliche Handeln nur zu verstehen ist, wenn man die Bewegungsmuster kennt, nach denen Handlungen organisiert werden. Sich selbst verstehen heißt, die eigenen Bewegungsmuster zu kennen. Auch das Handeln anderer wird verstanden, wenn man die Muster, an denen sie sich ausrichten, aus eigener Erfahrung kennt. Im Verlauf dieser Arbeit wird deutlich werden, warum die geistigen Begriffe beim Verständnis des Denkens und Fühlens versagen.

Aus dem Primat des Handelns folgt, dass alle Theorien lediglich Versuche sind, Erfahrungen, die beim Handeln gemacht wurden, sprachlich zu fixieren. Theorien müssen sich im Handeln bewähren. Deshalb ist die Frage nach ihrer Wahrheit überflüssig. Unabhängig vom Praxistest ist sie ohnehin nicht zu beantworten. Da Theorien letztlich die Funktion haben, das Handeln anzuleiten, haben sie den Charakter von Erzählungen. Wie alle Erzählungen sollen sie eine Orientierung geben, wie bestimmte Ziele zu erreichen sind.

Aus dieser Sicht hat die Philosophie die Aufgabe, das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass alle philosophischen Theorien nur Begleiterscheinungen von bestimmten Lebensformen sind. Es geht nicht darum zu beweisen, welche Lebensform rationaler ist, sondern sichtbar zu machen, dass bei jeder Lebensform bestimmte Aspekte des Lebens hervorgehoben und andere zu kurz kommen oder ganz ausgeblendet werden, d. h. dass bestimmte Nachteile in Kauf genommen werden müssen, wenn man sich für eine bestimmte Lebensform entscheidet. Erst Klarheit über die wesentlichen Aspekte einer Lebensform macht es möglich, sich bewusst für eine Lebensform zu entscheiden bzw. sich von einer bisherigen Lebensform zugunsten einer anderen zu verabschieden.

Die Kritik des Ich ist eine Kritik der Lebensform, die Selbstkontrolle und Selbstverantwortung erzwingt. In einer Kultur mit ausgeprägter Konkurrenz und starkem Leistungsstreben wird alles, was den Wettbewerb einschränken könnte, als Schwäche abgewertet. Mitleid, Solidarität und Respekt werden zwar als Wert hochgehalten, aber in der Praxis ständig mit Füßen getreten. Es erscheint als selbstverständlich, dass die Sieger privilegiert und die Versager benachteiligt werden. Dies wäre in einer Kultur des Geführt-Werdens, in der die dominanten Orientierungen Empathie und Solidarität sind, undenkbar. Versager würden dort gefördert werden, damit sie wieder ein gleichberechtigtes Mitglied der Gemeinschaft sein können.

Gegenwärtig lässt sich nur grob umreißen, welche Konturen die Vision einer Lebensform des Sich-führen-Lassens hat. Sicherlich gehören dazu Empathie, Toleranz, Respekt, Selbstakzeptanz und Solidarität. Die oben erwähnten Sprachformeln: »auf die innere Stimme hören«, »dem Herzen folgen«, »sich führen lassen« oder »der Intuition vertrauen« lassen sich im Rahmen der Theorie der Muster als Ausdruck einer im Menschen wirkenden Selbststeuerung verstehen. Mit dem Begriff der Selbststeuerung wird das Konzept der Selbstorganisation, das von der Biologie entwickelt wurde, auf mentale Prozesse übertragen. Es wird sich zeigen, dass diese Übertragung sehr fruchtbar ist. Auf dieser Basis kann akzeptiert werden, dass Denken und Fühlen spontane Prozesse sind, die nicht vom Bewusstsein gelenkt werden können.

Die Selbststeuerung ist kein positives, deterministisches Prinzip, das die Menschen automatisch zum Besseren führt. Sie bewirkt lediglich eine Anpassung an die jeweiligen Lebensbedingungen. Wenn die Menschen z. B. glücklich sind, ist ihnen die Anpassung an die Lebensbedingungen gelungen. Sie können sich von emotionalen Abhängigkeiten befreien und im Einklang mit ihren Bedürfnissen handeln. Wenn sie dagegen mit sich selbst unzufrieden sind oder sogar an sich leiden, heißt das, dass sie unter widrigen Lebensbedingungen leben müssen. Vermutlich hängt die Heftigkeit, mit der ein starkes Ich gefordert und verteidigt wird, damit zusammen, dass die Selbststeuerung die Menschen zu einem unglücklichen Leben zwingt und dadurch die Erwartung geweckt wird, dass das Leiden mit einer inneren Anstrengung bewältigt werden könnte.

Ohne Zweifel war der Glaube, sich autonom gestalten zu können, von Anfang an eine Selbstüberschätzung, da die persönliche Lebensführung mehr oder minder von den äußeren Lebensbedingungen erzwungen wird. Die Erfahrung spricht dafür, dass alle Veränderungen, die dem Einzelnen gelingen, sich den Umständen verdanken. Jeder Wunsch nach Selbstveränderung, der nicht auf die inneren und äußeren Bedingungen Rücksicht nimmt, mündet zwangsläufig in Enttäuschung.

Es wird davon ausgegangen, dass die Analyse des Ich nicht mit den konventionellen mentalistischen Konzepten gelingen kann. Die Ich-Vorstellung kann nur im Zusammenhang mit der Entwicklung von Gesellschaft, Sprache und Philosophie verstanden werden. Das relativ neue theoretische Rüstzeug der Muster scheint dafür geeignet zu sein. Da die Theorie der Muster und der Selbstorganisation Neuland betritt, verlangt die Analyse einen längeren Ausflug in das Reich des Handelns, der Sprache und des Denkens, so dass erst nach der ersten Hälfte des Buches das eigentliche Thema des Ich wieder aufgegriffen werden kann. Wenn mancher Leser zwischendurch den Eindruck hat, dass dabei das eigentliche Ziel aus den Augen verloren wurde, sollte er daran denken, dass das Ich tief in tradierten Denkmustern verwurzelt ist und dass ein besseres Verständnis der Muster des Denkens, Fühlen und Handelns nicht nur für das Verständnis des Ich, sondern auch viele andere Probleme nützlich ist.





2. Theorie der Muster

»An einem kleinen Muster können wir oft das ganze Stück beurteilen.« (Miguel de Cervantes)

Die vorliegende Arbeit geht von der Idee aus, dass alle natürlichen Prozesse mit Mustern organisiert werden. Die Natur gestaltet nicht nur die Oberflächen von Körpern mit Mustern, sondern gibt damit auch allen inneren Prozessen eine feste Struktur. Das gilt nicht nur für das Handeln, sondern auch für alle kognitiven und psychischen Prozesse, wie Erfahrungen gesammelt und verarbeitet werden. Aus dieser Idee entstand die Hypothese, dass die Muster der zentrale Mechanismus sind, wie die Natur in allen Wachstumsprozessen Ordnung schafft und stabiles und dennoch flexibles Handeln ermöglicht.

Muster in der Natur entstehen durch die Anwendung von einfachen Regeln. Deshalb werden Muster verstanden, wenn man die ihnen zugrundeliegenden Regeln kennt. So wird z. B. ein Gesicht dadurch erkannt, dass die Besonderheiten des Gesichts mit den dafür geeigneten Regeln erfasst werden. Oder anatomische Strukturen werden verstanden, wenn darin die Regel des Goldenen Schnittes erkannt wird. Die fraktale Geometrie hat den Blick dafür geschärft, dass die Natur mit wenigen Mustern komplexe Strukturen mit neuen Fähigkeiten aufbauen kann. Die Musterbildung scheint ein universaler, überall in der Natur wirksamer Mechanismus zu sein.

In den Naturwissenschaften ist der Begriff des Musters längst etabliert. Es hat sich immer wieder bei der Erkenntnis von Regelmäßigkeiten als fruchtbar erwiesen. Für den Kybernetiker Norbert Wiener war der Begriff des Musters das Schlüsselmerkmal des Lebens (vgl. Capra S. 88). Er forderte, dass das Interesse der Wissenschaften sich auf die gemeinsamen Muster der lebendigen Systeme richten soll. In der Biologie scheint der Begriff des Musters unverzichtbar zu sein (vgl. z. B. Coen). Auch in der Gehirnforschung setzt sich der Begriff des Musters immer mehr durch. Es wird angenommen, dass die Menschen unablässig nach Mustern suchen, um sich in der Welt zurechtzufinden.

In den Geisteswissenschaften wird der Musterbegriff bisher nur am Rande benutzt. Es kann vermutet werden, dass er dort wegen seiner Verwendung in den Naturwissenschaften argwöhnisch betrachtet wird. Schließlich wird der Begriff mit Ordnung, Gesetzmäßigkeit und Struktur verbunden, also mit Zusammenhängen, die sich dem Verstehen zu entziehen scheinen.

Das zentrale Problem der Geisteswissenschaften besteht darin, wie Erfahrungen so strukturiert werden, dass sie für das Denken und Handeln nutzbar sind. Dafür ist eine Vielzahl von Konzepten entwickelt worden. Stets liegt die Vorstellung zugrunde, dass die Erfahrungen so gesättigt mit sinnlichen Elementen sind, dass eine Reduktion vorgenommen werden muss, damit das Denken damit operieren kann. Das Ergebnis wurde bisher mit verschiedenartigen Begriffen erfasst. Der Psychologe Jean Piaget hat den Begriff des Schemas verwendet, um die Strukturierung von Wahrnehmungen und Erkenntnissen zu verstehen. Dieser Begriff wird auch in der kognitiven Psychologie von D. Rumelhart als Schlüsselbegriff verwendet (vgl. Lenk S. 24). Die Gestaltpsychologen bevorzugen den Begriff der Gestalt. In der Linguistik werden häufig die Begriffe des Konzepts und der Kategorie verwendet. So heißt es z. B. bei George Lakoff, dass Konzepte Erfahrungen strukturieren (Lakoff S. 139) oder dass Erfahrungen konzeptualisiert werden. Nach Hofstadter werden die Erfahrungen zu Kategorien verarbeitet, die er als mentale Gebilde versteht, denen im zweiten Schritt Begriffe zugeordnet werden können, damit das Denken mit ihnen arbeiten kann. Umberto Eco arbeitet mit dem Begriff des kognitiven Typus (vgl. Eco). Der Anthropologe Michael Tomasello verwendet den Begriff des kognitiven Modells, wenn er über die Bausteine des Denkens nachdenkt. So spricht er davon, dass Erfahrungen in kognitiven Modellen schematisiert werden (Tomasello S. 29). Die Linguisten verwenden den Begriff Frame, wenn sie deutlich machen wollen, dass die Bedeutung eines Begriffs von etwas Übergreifenderem bestimmt wird (vgl. Wehling). In der Philosophie hat der Begriff des Schemas eigentlich eine lange Geschichte. Bei Kant war er das zentrale Verbindungsglied zwischen den Sinneseindrücken und den Begriffen. Schemata seien erforderlich, damit die bildlichen Erfahrungen mit abstrakten Begriffe verbunden werden können (vgl. Lenk S. 35). Allerdings wurde der Begriff des Schemas von Kant noch nicht für die Analyse des Denkens und Handelns genutzt, wie es in der hier vorliegenden Arbeit versucht wird.

Das Gemeinsame aller Konzepte besteht darin, dass ein kognitives Element eingeführt wird, dass zwischen der sinnlichen Wahrnehmung und dem Verstehen vermittelt. Es steht die Aufgabe an, in dem Wirrwarr der verschiedenen Begriffe, die für das Problem verwendet werden, wie Erfahrungen strukturiert werden, etwas Ordnung zu schaffen. Dafür wird hier der Begriff des Musters vorgeschlagen. Sein Vorteil ist, dass er der gemeinsame Nenner der oben genannten Begriffe wie Schema, Gestalt, Konzept, Kategorie und kognitives Modell ist.3 Die etymologische Wurzel des Musterbegriffs zeigt, dass er – wie die anderen Begriffe auch – ein theoretischer Kunstbegriff ist. Es darf deshalb nie vergessen werden, dass er nur ein hilfreiches mentales Konstrukt ist.

2.1. Wie entstehen Muster?

»Handeln beseitigt alle Zweifel, welche die Theorie nicht aufzulösen vermag.« (Tehyi Hsieh).

Wenn ein Kind zum Sternenhimmel hinaufschaut, sieht es eine verwirrende Vielfalt von Lichtpunkten ohne jegliche innere Ordnung. Kundige Menschen weisen es auf bestimmte Bilder hin: den großen Bär, die Waage, den Giraffen, den Drachen, die Andromeda und vieles mehr. Die Menschen konstruieren Sternbilder, weil sie automatisch nach einer Ordnung suchen. Obwohl diese Bilder astronomisch nicht begründbar sind, erleichtern sie die Orientierung am Sternenhimmel. Lange Zeit waren sie für die Seeleute eine unentbehrliche praktische Hilfe bei der Navigation.

Das Säugling erkennt seine Mutter primär an deren typischen Geruch und Stimme, aber nicht an ihren Gesichtszügen. Für ihr Gesicht wird erst allmählich aus der Vielzahl der Sinnesreize ein Muster aufgebaut. Es kann dann seine Mutter wiedererkennen, auch wenn es ihren Geruch und ihre Stimme nicht wahrnehmen kann. Erwachsene bilden von den Gesichtern der Menschen, mit denen sie häufiger Kontakt sind, spontan ein Muster, damit sie leichter wiedererkannt werden können.

Wird ein Tisch zum ersten Mal wahrgenommen, wird spontan ein Muster davon entwickelt. Es enthält die charakteristischen Eigenschaften, wie dass es vier Beine und eine waagerechte Platte drauf hat, und die wahrgenommenen Funktionen; nämlich dass es sich um einen Gegenstand handelt, an dem man sitzen und essen kann. Dass man auch daran arbeiten und spielen kann, wird evtl. später zusätzlich in das Muster aufgenommen. Je öfter unterschiedliche Formen von Tischen gesehen werden, desto mehr tritt die ursprüngliche konkrete Vorstellung des wahrgenommenen Tisches in den Hintergrund und wird durch abstraktere Merkmale ersetzt. Schließlich besteht der zentrale Inhalt des Tischmusters darin, dass man an einem bestimmten Gegenstand sitzen, essen, spielen und arbeiten kann. Wenn der Begriff Tisch gehört wird, werden spontan die mit dem Muster verbundenen Aspekte des Tischs aktualisiert.

Ebenso wird von den Bewegungen anderer Menschen, die man lernen möchte, ein Muster hergestellt. So wird z. B. beim Lernen von Pfeil und Bogen ein internes Muster für das Bogenschießen gebildet. Mit zunehmender Übung, durch die wiederholte Beobachtung der Bewegung bei Könnern und durch deren Hinweise wird das anfänglich grobe Muster differenzierter, so dass ihre Ausführung immer besser gelingt. Bei wahrgenommenen Bewegungen gehören zum Muster nicht nur der reine Bewegungsablauf, sondern auch die Auslöser der Bewegung, welche Ziele mit der Bewegung erreicht werden sollen, und die Bedingungen, unter denen die Bewegung gelernt wurde. Lernen besteht letztlich darin, dass für ein bestimmtes Lernfeld (z. B. Geige- oder Schachspielen) geeignete Muster gebildet werden.

Ebenso hängt die Art und Weise, wie die Gefühle ausgedrückt werden, davon ab, welche emotionalen Reaktionsmuster gelernt wurden. Jeder hat deshalb charakteristische Muster, wie er emotional reagiert. So kann man andere allein an der Art ihres Lachens wiedererkennen.

Auch für Geschichten werden spontan Muster gebildet. So kam z. B. in der Fabel »Der Fuchs und die sauren Trauben« von Äsop ein hungriger Fuchs an einem Baum vorbei, von dem Trauben herabhängen. Wie sehr sich auch bemühte, es gelangt ihm nicht, sie zu pflücken. »Der Fuchs biss die Zähne zusammen, rümpfte die Nase und meinte hochmütig: „Sie sind mir noch nicht reif genug, ich mag keine sauren Trauben.“ Mit erhobenem Haupt stolzierte er in den Wald zurück.« Aus dieser kleinen Geschichte wird spontan das Muster abgeleitet, dass es falsch ist, die Dinge, die man nicht erreichen kann, mit Worten schlecht zu machen und dass es vielmehr darauf ankommt, sich ehrlich seine Schwäche einzugestehen. Das Muster der sauren Trauben wird dann in vielfältigen ähnlichen Situationen wiedererkannt, auch wenn dies oft nicht bewusst ist.

Nach Auffassung der Hirnforscher hat das Gehirn die Tendenz, überall Muster zu erkennen (Gazzaniga S. 96). »Das Gehirn sucht nach Mustern im Chaos und will Konsistenz. Unsere Gehirne sind meisterhafte Erzähler, sie verstehen es ausgezeichnet, sogar aus eklatanten Widersprüchen eine stimmige Geschichte zu spinnen. Mit Hilfe von Geschichten ergeben verwirrende Informationen einen Sinn.« (Eagleman S. 157) Die Musterbildung basiert offensichtlich auf der natürlichen Fähigkeit, mehrere Sinnesreize, die ähnlich sind oder zeitlich und räumlich zusammengehören, als eine Gestalt wahrzunehmen. Die Gestaltpsychologie, die diesen Mechanismus entdeckt hat, spricht hier von einer Figur-Grund-Unterscheidung.

Das Gemeinsame aller oben erwähnten Beispiele für Muster besteht darin, dass sie unmittelbar auf das Handeln bezogen sind und dem Handeln eine Orientierung geben. Ein Muster für ein bestimmtes Objekt enthält im Wesentlichen die Informationen, wie und für welchen Zweck es benutzt werden kann. Muster für Bewegungen enthalten alle Aspekte, die für den Ablauf der Bewegung wesentlich sind. Muster für Situationen und Geschichten enthalten deren Sinn, meistens eine Empfehlung, was man zweckmäßigerweise tun oder unterlassen sollte. Bei der Musterbildung werden die Merkmale der Wahrnehmung, die wesentlich für die Funktion des Gegenstandes oder der Bewegung zu sein scheinen, erfasst und neu geordnet. Die Muster werden demnach nicht in den Gegenständen oder Bewegungen vorgefunden, sondern neu konstruiert.

Offensichtlich besteht zwischen den Mustern für Gegenstände und für Bewegungen kein wesentlicher Unterschied. Beides Mal geht es darum, welche Bewegungen auszuführen sind, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Selbst wenn in Sätzen ohne Verben von Tatsachen gesprochen wird, wie z. B. dass am Himmel ein Vogel ist, wird zwangsweise die Bewegung des Fliegens mitgedacht, da dies mit zum Muster des Vogels gehört. Wenn also im Folgenden von Mustern gesprochen wird, handelt es sich nicht um die Oberflächengestaltung von Textilien, Tapeten, Blättern o. Ä., sondern um die innere Gestaltung des Handelns beim Umgang mit Objekten und Menschen. Der Kern der Muster besteht darin, dass damit eine bestimmte Aufgabe handelnd erledigt werden kann.

Übrigens leitet sich der Begriff des Musters vom italienischen mostra ab, der auf das lateinische monstrare (zeigen) zurückgeht und Probestück bedeutet. Er stammt aus dem Bedürfnis, anderen Menschen komplexe Gegenstände (wie z. B. Stoffe) anhand einer Probe zu veranschaulichen. In dieser Bedeutung wird der Begriff immer noch verwendet. In dieser Arbeit wird der Begriff metaphorisch benutzt, um damit auf die implizite Ordnung und die erkennbaren Regelmäßigkeiten von Bewegungen im Umgang mit Gegenständen und Menschen hinzuweisen.

Das zentrale Merkmal der Muster ist ihre Abstraktheit. Aus der unendlichen Vielzahl der Sinnesdaten, die von einem Gegenstand wahrgenommen werden, werden nur diejenigen ausgewählt, die für seinen Gebrauch erforderlich sind. Ebenso werden von komplexen Bewegungen nur die Elemente übernommen, die für die Bewegungsplanung benötigt werden. Obwohl jede Körperbewegung nahezu den ganzen Körper mit seinen mehreren hundert Muskeln einbezieht und jede Teilbewegung unterstützende (Gegen)-Bewegungen anderer Körperteile zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts braucht, können die vielen Phasen einer Bewegung zu einem einzigen Muster verdichtet werden. Durch die Reduktion werden die Muster immer abstrakter. Je mehr z. B. Tische gesehen werden, umso abstrakter wird das entsprechende Muster. Schließlich ist es nur noch eine relativ ebene Platte, auf der man essen, spielen und arbeiten kann. Auf wie viel Beinen die Platte steht oder ob sie bloß aufgehängt ist, spielt keine Rolle. Je abstrakter die Muster im Laufe der Erfahrung werden, umso weniger ist in ihnen das Bildhafte enthalten, das im ersten Muster noch vorhanden ist.

Der Abstraktionsprozess wird besonders bei komplexen Zusammenhängen und Prozessen deutlich, wie z. B. bei einer Maschine oder bei Erzählungen. Denn die vielen Aspekte können zu einem einzigen Muster – wie z. B. dem Muster der sauren Trauben – verdichtet werden. Muster können deshalb verschiedenen Abstraktionsebenen angehören. Beim Abstraktionsprozess spielt allerdings die Analogisierung keine Rolle, die für Douglas Hofstadter von zentraler Bedeutung bei der Musterbildung ist. »Jede Kategorie ist das Ergebnis einer langen Reihe spontaner Analogien.« (Hofstadter S. 62) Dagegen ist einzuwenden, dass bei jeder Wahrnehmung automatisch geprüft wird, ob dafür bereits ein Muster vorhanden ist. Wenn die formale Struktur und Funktion eines bekannten Musters ungefähr passt, wird weiterhin geprüft, ob das Muster erweitert bzw. verallgemeinert werden muss. So wird der zweite Tisch nicht in Analogie zum ersten gesehen, sondern in ihm ein bereits bekanntes Muster wiedererkannt. Deshalb macht der Begriff der Analogie bei der Musterbildung keinen Sinn. Der Mangel des Konzeptes von Hofstadter besteht darin, dass nicht erkannt wird, dass das Wesentliche an den Mustern die Funktionen und nicht die Eigenschaften der Dinge, Bewegungen oder Situationen sind.

Da die Musterbildung eine Reduktion von Komplexität ist, sind die Muster etwas Allgemeines. Die Verallgemeinerung bei der Musterbildung darf aber nicht als ein logischer Vorgang verstanden werden. Sie ist ein kreativer Akt, bei dem ein möglichst einfaches Muster entwickelt wird. Insofern werden Muster nicht gefunden, sondern erfunden. Die Musterbildung ist im Grunde ein Handeln, bei dem für eine bestimmte Konfiguration von sinnlichen Merkmalen eine neue Gestalt hergestellt wird. Dadurch wird der frühere Bewegungsspielraum der Einzelteile eingeschränkt und das innere organische Milieu verändert. Hermann Haken drückt dies drastisch als Versklavungsprinzip aus (Haken S. 80).

Der Prozess der Musterbildung, bei dem einige Elemente einer einmaligen Erfahrung zu einem allgemeinen Muster zusammengefügt werden, ist keineswegs willkürlich und beliebig. Die Muster werden weder von den Objekten vorgezeichnet, noch werden sie von den handelnden Individuen geschaffen. In sie gehen Elemente von beiden Seiten ein. Die Muster berücksichtigen sowohl die Eigenart der Objekte als auch die Gesamtheit der persönlichen Erfahrungen. Dennoch sind die Muster bei den Individuen einer kulturellen Gemeinschaft relativ ähnlich, da die Muster sich immer auch an den allgemeinen kulturellen Bedingungen orientieren (Varela S. 243). Da die Muster spontan in der Auseinandersetzung mit der Umwelt gebildet werden, ist gewährleistet, dass sie auf die Umwelt passen (Welsch 2012 S. 118). Muster sind deshalb weder etwas Subjektives, Mentales und Konstruiertes noch etwas rein Objektives.

Von herausragender Bedeutung ist, dass die Musterbildung spontan erfolgt. Muster ergeben sich direkt aus dem Zusammenwirken von handelnden Menschen und der Wirklichkeit, ohne dass sie durch bewusstes Eingreifen von mentalen Instanzen (Seele, Geist, Ich, Bewusstsein u. Ä.) beeinflusst werden können. Sie sind allein abhängig von der Schärfe der Beobachtung, der Intensität der Aufmerksamkeit und der Stärke des Interesses.4 Die Grammatik der Sprache ist ein gutes Beispiel dafür, wie spontan Muster entstehen. Kinder lernen die Sprache, ohne dass ihnen jemand die Regeln der Grammatik zu erklären braucht. Aus der Struktur der gehörten Sprache werden spontan deren Muster abgeleitet. Nachdem z. B. der Aufbau eines Satzes in Subjekt, Prädikat und Objekt erfasst wurde, können ganz mühelos wohlgeformte Sätze gebildet werden. Das liegt keineswegs daran, dass die grammatikalischen Regeln angeboren sind, sondern weil jeder Mensch die Fähigkeit hat, aus dem Verhalten anderer die zugrundeliegenden Muster zu erkennen. Die Grammatik braucht deshalb nicht über formales Lernen weitergegeben zu werden, sondern wird ausschließlich über die Musterbildung gelernt. In diesem Punkt unterscheidet sich das Lernen der Grammatik in nichts vom Lernen von normalen Bewegungen. Deshalb wäre es verfehlt anzunehmen, dass bei der Erfindung der Sprache neben den Begriffen auch die Grammatik festgelegt wurde. Nach Rolf Elberfeld ist die Beschäftigung mit Grammatik immer nur eine nachträgliche Reflexion der vorgefundenen Muster der Sprache (Elberfeld S. 126).

Muster zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht weiter reduzierbar sind. So kann z. B. das Muster für die Zahl 8 in Gestalt zweier übereinanderliegender Kreise nicht reduziert werden, ohne dass seine Bedeutung zerstört wird. Ebenso wenig können Muster aufgrund ihres qualitativen Charakters gemessen oder gezählt werden. Muster können deshalb nicht in mathematischen Formeln erfasst und nur annäherungsweise verbal dargestellt werden.

Das Lernen von Kenntnissen über Gegenstände und das Lernen von neuen Bewegungen gehen Hand in Hand. Denn beim Lernen von neuen Handlungsmustern wird erfahren, wie auf Objekte in der Umwelt eingewirkt und welches Ziel damit erreicht werden kann. Damit wird den Objekten eine Bedeutung zugewiesen. Sie ergibt sich daraus, welche Bewegungen im Hinblick auf Objekte sinnvoll sind. Muster sind deshalb implizite Aufforderungen zu einem bestimmten Handeln bzw. Handlungsanweisungen. Wenn z. B. ein kleines Kind lernt, eine Tasse zum Mund zu führen, weist es der Tasse die Bedeutung zu, dass man damit trinken kann. Sieht es die Tasse, wird es daran erinnert. Insofern kann man sagen, dass die Objekte Handlungsaufforderungen darstellen. Zu Recht wird von Wirklichkeit gesprochen, weil nur das wirklich ist, was wirkt.

Das Konzept der Handlungsaufforderung wurde von James J. Gibson entwickelt, der vom Angebotscharakter der Dinge sprach.5 Die Objekte bieten praktisch bestimmte Handlungsweisen an. Nach Gibson werden die Angebote direkt aus der Umwelt ausgelesen. Es ist aber ein Fehler, den Angebotscharakter als eine Eigenschaft der Objekte zu betrachten. Er wird den Objekten in der handelnden Interaktion zugewiesen.

Wenn man einen Gegenstand oder eine Bewegung wahrnimmt, wird spontan geprüft, ob er einem bereits gebildeten Muster entspricht. Evtl. wird ein vorhandenes Muster korrigiert oder ein neues Muster gebildet. Dabei orientiert man sich an den möglichen Funktionen des Gegenstandes bzw. der Bewegung. Zugleich weiß man blitzschnell, was noch unbekannt ist. Die bewusste Aufmerksamkeit kann sich sofort auf das Unbekannte fokussieren. Muster schärfen so den Blick für das Noch-nicht-Bekannte und Neue.

Jedes neue Muster muss in die Gesamtheit der bereits gebildeten Muster eingefügt werden. Da auch für größere Komplexe, wie z. B. die Natur, das Weltall, die Menschen u. Ä. Muster gebildet werden, werden die Muster von einzelnen Gegenständen oder Zusammenhängen von allgemeinen Mustern geprägt. Deshalb steckt in jedem Muster das Ganze und lassen sich einzelne Muster nur im Kontext des Ganzen verstehen. So hat z. B. die Überzeugung, dass der Kosmos eine vernünftige Ganzheit ist, die ganze antike Philosophie geprägt. Wird ein Teilaspekt eines Zusammenhangs erkannt, wird sofort das ganze Muster aktiviert. Beim Hören von Wörtern werden sofort die Muster aktiviert, die zu ihnen gehören. Das erleichtert ihr Verständnis ungemein.

Es muss beachtet werden, dass Muster prinzipiell nur für klar umrissene Gegenstände und reale Bewegungen gebildet werden können. Die Musterbildung braucht Anhaltspunkte, erkennbare Grenzen und klare Funktionen. Das ist bei vielen Phänomenen – z. B. bei den Gefühlen (Liebe u. Ä.) – nicht der Fall. Hier muss das Denken sich mit der Übertragung von Mustern aus anderen Erfahrungsbereichen behelfen.6 Man sagt dann z. B.: »Liebe ist Arbeit« oder »Liebe macht blind«. Wie sich zeigen wird, ist deshalb die Verwendung von psychologischen und philosophischen Begriffen mit zahlreichen Fallstricken durchsetzt.

Die abstrakte Qualität der Muster begründet die Möglichkeit, dass sie leicht miteinander verknüpft werden können. Das wird nicht nur bei der Verknüpfung von grobmotorischen Bewegungen (z. B. bei der Benutzung von Werkzeugen), sondern auch bei der Verknüpfung von Lauten zu Begriffen genutzt. Ihre Abstraktheit macht es möglich, dass das Handeln flexibel an wechselnde Situationen angepasst werden kann. Außerdem können mit Hilfe der Muster komplexe Bewegungsabläufe automatisiert werden, so dass der Planungs-, Energie- und Aufmerksamkeitsaufwand minimiert wird. Deshalb können komplexe Bewegungen rasch und mit geringem Aufwand ausgeführt werden. Wenn man ein bestimmtes Ziel erreichen will, braucht nur das entsprechende Muster aktiviert zu werden.

Muster für Bewegungen enthalten Regeln. Regeln geben vor, welche konkreten Bewegungen in einer bestimmten Situation zweckmäßig sind. Alle in der Natur zu beobachtenden Muster ergeben sich aus der Anwendung von einfachen Regeln (vgl. Fisher). Ein Muster erkennen heißt, die Regeln erkennen, mit denen es gebildet wurde. Die Erfahrung zeigt, dass Handlungen am sichersten und einfachsten ausgeführt werden können, wenn sie nach klaren Regeln organisiert werden. So werden z. B. menschliche Gesichter anhand ihrer charakteristischen Muster erkannt. Dabei wendet das Gehirn Regeln an, welche Merkmale auszuwählen und welche Abstände zu vermessen sind. Die Regeln werden nach den auffallenden Merkmalen gebildet. Wenn z. B. in einer Gemeinschaft alle die gleiche Nasenform haben, braucht man dafür keine Regel!

So wie die Muster werden auch die Regeln nicht von der Natur vorgegeben, sondern sind sie lediglich mentale Konstruktionen. Die Regeln sind lediglich Versuche, die Muster zu verstehen. Das bedeutet, dass es falsch wäre anzunehmen, dass das Verhalten durch die Regeln gesteuert wird. Man wird den Regeln nur gerecht, wenn sie als Interpretationen aufgefasst werden.

Da alle Muster im Zusammenhang mit Sinneswahrnehmungen gebildet werden, sind sie auch mit sinnlichen Vorstellungen verbunden. So kann man sich häufig ganz genau an die Situation erinnern, in der eine neue Bewegung gelernt wurde. In die Muster gehen somit sowohl Aspekt des Objektes als auch Aspekte der kulturellen Situation ein, in der der Handelnde steht. Muster sind somit komplexe Einheiten aus motorischen, sensorischen und mentalen Elementen.

Die Muster haben zwar einen mentalen Aspekt, da sie aus einem Abstraktionsprozess hervorgehen. Da dieser aber unbewusst abläuft, wäre es nicht richtig, die Muster als das Ergebnis eines mentalen Aktes aufzufassen. Deshalb können die Muster nicht als geistige Entitäten verstanden werden. Es wäre auch falsch anzunehmen, dass die Muster unabhängig von den Bewegungen als eigenständige Phänomene abgespeichert werden. Vielmehr werden die Muster benutzt, um neue Bewegungsprogramme aufzubauen oder vorhandene Bewegungsprogramme zu verbessern. Muster werden von vornherein in Bewegungsprogramme integriert. Sie legen z. B. fest, welche Gegenstände als Tisch benutzt werden können oder welche Handlungskonsequenzen aus Geschichten abgeleitet werden. Sie können deshalb auch als Prägeformen konkreter Bewegungsabläufe verstanden werden.

Wenn die Gehirnforscher von Aktivitätsmustern sprechen, meinen sie nicht die Muster in dem hier verwendeten Sinn. Aktivitätsmuster beziehen sich auf Netzwerke von miteinander verschalteten Neuronen. Es wird vermutet, dass neuronale Aktivitätsmuster die Grundlage aller mentalen Prozesse sind. Sicherlich werden die Muster, wie sie hier postuliert werden, auch durch neuronale Verschaltungen realisiert. Es ist aber noch keineswegs gesichert, ob die neuronalen Zellen die einzigen Träger der motorischen und mentalen Aktivitäten sind. So wird vermutet, dass auch die Gliazellen und die Mikrotubuli dabei eine Rolle spielen. Insofern dürfen die Muster nicht mit den neuronalen Aktivitätsmustern identifiziert werden.

Im Folgenden wird teilweise von Bewegungsmustern und teilweise von Handlungsmustern bzw. Verhaltensmustern gesprochen. Ein Bewegungsmuster ist die kleinste Einheit körperlicher Bewegungen: z. B. sich an die Nase fassen, ein »a« aussprechen oder ein »a« auf dem Computer schreiben. Wenn mehrere Bewegungsmuster zu einer komplexen Bewegung zusammengesetzt werden, wird von Handlungsmustern gesprochen. Beispiele für Handlungsmuster sind z. B. Klavierspielen, Begriffe artikulieren oder Kaffee kochen.

Gegenüber den oben erwähnten Begriffen wie Schema, Modell, Konzept, Kategorie oder Gestalt hat der Begriff des Musters den Vorteil, dass er einerseits den Aspekt der Ordnung von mehreren Teilen hervorhebt und andererseits kein mentalistischer Begriff ist. Das erleichtert es zu begreifen, dass Muster nicht bewusst produziert werden, sondern eine spontane Leistung des Gehirns sind.

Häufig wird die Musterbildung als Kategorisierung bezeichnet (Edelman S. 107, Hofstadter). Diese Begriffswahl ist irreführend, weil Muster überhaupt nichts mit Begriffen zu tun haben. Es wird lediglich eine Gruppe von sinnlichen Reizen zu einem einheitlichen Muster zusammengefasst. Erst im zweiten mentalen Akt kann den Mustern ein Zeichen, Symbol, Begriff oder eine Geste zugeordnet werden. Die Muster können wirksam sein, ohne dass ihnen ein Symbol oder Begriff zugeordnet wird. Man denke nur die Wiedererkennung von Gesichtern! Die Verwendung des Begriffs der Kategorie verführt dazu, dass die tiefe Kluft zwischen Muster und Begriff aufgehoben wird. So werden in der Arbeit von Hofstadter häufig die Kategorien mit den Begriffen verwechselt und den Begriffen Eigenschaften zugeordnet, die sich eigentlich nur auf die Kategorien beziehen. So wird z. B. behauptet, dass die Begriffe die Wahrnehmungen filtern, obwohl dies von den Kategorien (d. h. von den Mustern) vorgenommen wird.

Auch der häufig benutzte Begriff der Klasse kennzeichnet die Musterbildung nicht korrekt, da er einen mentalen Prozess suggeriert. Aus diesem Grund ist auch der Begriff des Konzeptes (von lateinisch concipere (erfassen)) abzulehnen, der in der Alltagssprache als Plan verstanden wird. Der hier vorgeschlagene Begriff des Musters ist vorteilhafter, da er auch die Musterbildung von Bewegungen umfasst und nicht auf mentale Prozesse eingeschränkt ist.

Der Begriff des Musters hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Begriff der Form, so wie er von Aristoteles verwendet wurde. So wie bei Aristoteles die Form die Materie organisiert und ihr Lebendigkeit verleiht, so organisieren Muster lebendige Prozesse. Beide existieren nicht losgelöst von materiellen Prozessen. Der entscheidende Unterschied liegt darin, dass die Formen von Aristoteles als feststehende, universale Prägefaktoren verstanden wurden, während die Muster als von Menschen geschaffene und veränderbare Prägefaktoren aufgefasst werden. Während die Form bei Aristoteles ein metaphysischer Begriff ist, wird der Begriff des Musters als ein pragmatischer Begriff verstanden, der der Fähigkeit lebendiger Organismen gerecht wird, Verallgemeinerungen vornehmen zu können. Während die Formen bei Aristoteles in den Dingen enthalten sind und vom Geist erkannt werden können, entstehen die Muster erst in der Interaktion mit den Dingen.

Bei den Menschen treten die Muster praktisch an die Stelle der Instinkte bei den Tieren. Sie funktionieren wie angeborene Reflexe. Im Idealfall steht für ein bestimmtes Ziel ein funktionsfähiges Bewegungsprogramm zur Verfügung. Die Muster unterscheiden sich von den Instinkten dadurch, dass sie jederzeit ins Bewusstseins gehoben und die mit ihnen verbundenen Regeln modifiziert werden können. Die Muster haben die Festgelegtheit der Instinkte aufgelöst, ohne ihre sichere Verhaltenssteuerung aufzuheben. Dadurch haben die Menschen die Fähigkeit erworben, ihre Muster und Regeln des Verhaltens durch Nachdenken neu bestimmen zu können.

Die Fähigkeit zur Musterbildung besitzen wahrscheinlich alle Lebewesen. Aber bei den Menschen hat sie eine überragende Bedeutung erlangt, weil nach der Zufallsentdeckung, dass Gegenstände als Werkzeug benutzt werden können, das Bedürfnis entstand, die Werkzeuge systematisch weiterzuentwickeln. In diesem Prozess verfeinerte sich die Musterbildungs- und Mustererkennungsfähigkeit, der sich – wie im weiteren Verlauf dieser Arbeit gezeigt werden wir – alle höheren kognitiven Fähigkeit verdanken. Daraus folgt die Hypothese, dass alle typischen Fähigkeiten der Menschen wie das Denken, die Selbstreflexivität, die flexible Handlungsfähigkeit u. a. Produkte des wachsenden Werkzeuggebrauchs sind. Insofern kann behauptet werden, dass die Menschen mit ihrem kreativen Handeln die Evolution auf eine höhere Entwicklungsstufe angehoben haben. Die Menschen haben sich praktisch mit Hilfe der Muster als kulturelle Wesen selbst erschaffen.

Als Fazit ist festzuhalten, dass es falsch ist, die Muster primär mit den charakteristischen Eigenschaften der Dinge zu definieren. Die Muster haben ihren Kern vielmehr in den Funktionen, die die Dinge, Bewegungen und Situationen für die Menschen haben. Da die Menschen handelnde Wesen sind, richtet sich ihr Interesse primär auf die Funktion der Dinge. Aus dieser Sicht können auch Muster in Bewegungen, Gefühlen und Situationen thematisiert werden, was bei der traditionellen Sichtweise meist ausgeklammert wird. Der große Vorteil dieser Betrachtungsweise wird sich bei der Analyse der Sprache und des Denkens zeigen.

2.2. Die Muster des Handelns

»Der Mann, der den Berg abtrug, war derselbe, der anfing, kleine Steine wegzutragen.« (Chinesisches Sprichwort)

Ganz allgemein betrachtet besteht Handeln darin, dass auf andere Menschen oder auf die Umwelt eingewirkt wird. Die Art und Weise, wie dies erfolgt, wird aber nicht ständig neu festgelegt, sondern richtet sich danach, welche Muster dafür gelernt wurden. Dies ist die Generalthese, von der die folgenden Überlegungen ausgehen.

Jeder neugeborene Mensch wächst in einer soziale Gruppe hinein, die über ein festes Repertoire an Verhaltensmustern verfügt. Die lange Entwicklungszeit der Kinder hängt damit zusammen, dass sie nur wenig angeborene Verhaltensmuster mitbringen und eine riesige Menge von Handlungsmustern lernen müssen, angefangen von den Mustern für die alltäglichen Verrichtungen bis hin zu den Mustern für die sprachliche Verständigung. Der Lernprozess wird von der Motivation angetrieben, alles zu können, was bei den Erwachsenen beobachtet wird. Wenn der Neuankömmling die Sprache seiner Gruppe beherrscht, entwickelt er den Ehrgeiz, allen sprachlich ausgedrückten Erwartungen und Anforderungen gerecht zu werden und sich die moralischen Gebote, religiösen Überzeugungen, Erzählungen und Lebensweisheiten seiner Gruppe anzueignen.

Eigentlich sind diese Überlegungen banal. Aber trotzdem wird in der Regel vergessen, dass die Menschen sich in den ersten Jahren als Gruppenwesen entwickeln, die vollständig von den Verhaltensmustern der Gruppe geprägt werden. Die Umwelt bestimmt absolut, welche Fähigkeiten und Verhaltensmuster entwickelt werden bzw. unentwickelt bleiben. Es besteht zunächst überhaupt kein Anlass, bestimmte Verhaltensmuster abzulehnen.

Beim Lernen der Muster muss die Realität genau wahrgenommen werden, damit das Handeln erfolgreich ist. Insbesondere müssen die räumlichen, zeitlichen und inhaltlichen Bedingungen der jeweiligen Situation beachtet werden. Wenn man z. B. mitten durch den Wald geht, muss die Position der einzelnen Bäume beachtet werden, um sich nicht an ihnen zu stoßen. Oder wenn eine Maschine bedient oder ein Gerät benutzt wird, müssen die Körperorgane mit Hilfe der Sinne so gelenkt werden, wie es von der Konstruktion der Maschine oder des Gerätes verlangt wird. Erfolgreiches Handeln setzt also voraus, dass die besonderen Umstände einer Situation vollständig berücksichtigt werden.

Das Ziel des Wahrnehmens ist letztlich, mit Hilfe der Sinneseindrücke die für die jeweilige Handlungssituation am besten geeigneten Handlungsmuster auszuwählen. Im Idealfall weiß man bei jeder Wahrnehmung, was mit den wahrgenommenen Objekten getan werden kann, weil spontan die dafür geeigneten Handlungsmuster aktiviert werden. Allerdings ist dieser Prozess völlig habitualisiert, so dass man sich dessen in der Regel nicht bewusst ist.

Wer seine Handlungsmuster kennt, erkennt sich selbst. Andere Menschen verstehen verlangt, die Verhaltensmuster zu kennen, die sie in ihrem Verhalten anwenden. Da ihre Verhaltensmuster zu einem erwartbaren Verhalten führen, kann man damit rechnen, wie sie sich in einer bestimmten Situation verhalten werden. Noch besser versteht man andere, wenn man ihre Lebensgeschichte kennt und weiß, unter welchen Einflüssen ihre Verhaltensmuster entstanden sind.

Der Besitz von Handlungsmustern erleichtert das Handeln ungemein. Es ist nicht erforderlich, bei jedem Ziel zu überlegen, welches Handlungsmuster dafür geeignet ist. Vielmehr wird ein bereits verfügbares Handlungsmuster als Ganzes aktiviert und damit die Handlung organisiert. Auch das Handeln anderer kann damit eingeschätzt werden, da sich aufgrund der Muster spontan Erwartungen bilden, wie es wahrscheinlich ablaufen wird. Da im Idealzustand für alle kulturell bedeutsamen Handlungen fertige Muster zur Verfügung stehen, ist sicheres und schnelles Handeln gewährleistet.

Mit Hilfe der Muster kann alles Verhalten, das häufig wiederholt wird, als Gewohnheit eingerichtet und automatisiert werden. Gewohnheiten sind ein Versuch, mit einem Minimum an bewusstem Erleben auszukommen. Die Gewohnheiten haben einen schlechten Ruf, weil ihnen vorgeworfen wird, dass sie unflexibel und blind für die Vielfalt der Welt machen. So werden die Menschen häufig abfällig als Gewohnheitstiere bezeichnet. Es wird unterstellt, dass die Gewohnheiten mit den Instinkten gleichzusetzen sind. Ohne Zweifel enthalten die Gewohnheiten die Gefahr, dass beim Handeln sinnvolle Alternativen übersehen werden. Das kann aber vermieden werden, wenn die Gewohnheiten so gelernt werden, dass sie sich leicht an veränderte Bedingungen anpassen lassen. Die entscheidende Bedingung dafür ist, dass die Gewohnheiten in einem angstfreien Klima gelernt werden (vgl. Neubeck 2009 S. 153). Dann können die Gewohnheiten jederzeit wieder aufgelöst oder modifiziert werden.

Alles was habitualisiert wird, braucht nicht mehr ins Bewusstsein geholt werden. Je besser Prozesse habitualisiert werden, umso mehr kann sich das Bewusstsein auf die aktuellen Probleme konzentrieren. Gewohnheiten unterdrücken demnach nicht das Bewusstsein, sondern schaffen die Möglichkeit, dass es in dem Moment, in dem es benötigt wird, voll zur Verfügung steht und Lösungen für neue Probleme gesucht werden können, für die noch keine Handlungsmuster zur Verfügung stehen. Zu Recht hebt Gerhard Roth hervor, dass Organismen eine starke Tendenz haben, alle Prozesse so weit wie möglich zu automatisieren, da das Bewusstsein eine kostbare Ressource ist, das mit einem hohen Energie- und Stoffumsatz verbunden ist (Roth 2003 S. 218).

Was funktioniert, überzeugt. Alle Überzeugungen basieren letztlich auf effizienten Gewohnheiten bzw. komplexen Handlungsmustern. Sie sind im Grunde nur der verbale Ausdruck von Mustern. Es wäre deshalb falsch, sie als rein geistige Gebilde aufzufassen.

Das Paradebeispiel für gewohnheitsmäßiges Handeln ist das Sprechen. Sprechen ist im Grunde nichts anderes als eine besondere Form des voll automatisierten Handelns. Es werden dabei eine Vielzahl von Muskeln bewegt, die die sprachlichen Laute artikulieren, ohne dass bewusste Entscheidungen getroffen werden müssen. Man muss sich nicht bewusst vornehmen, einen bestimmten Begriff zu verwenden. Die Menschen haben überhaupt kein Problem damit, dass die Sprache aus ihnen hervorsprudelt, ohne dass sie die Absicht verspüren, gerade diesen Satz auszusprechen. Sie würden sofort durcheinander kommen, wenn sie sich zu sehr auf den Fluss der Wörter konzentrieren. Ohne Habitualisierung wäre das Sprechen undenkbar. Es wäre unmöglich, sich beim Autofahren mit dem Beifahrer unterhalten. Das Sprechen zeigt, dass auch kognitive Fähigkeiten davon profitieren, dass sie in Gewohnheiten umgewandelt werden.

Es stellt sich die Frage, ob die Gewohnheiten mit dem Begriff der Konditionierung verstanden werden können. Schließlich werden sie durch bestimmte Auslösereize aktiviert. Ursprünglich wurde dieser Begriff für die starre Assoziation von Reiz und Reaktion bei Tieren gebildet. Ohne Zweifel spielen Konditionierungen auch beim Menschen eine große Rolle. Aber die menschlichen Konditionierungen unterscheiden sich von denen, die im Verhalten von Tieren zu beobachten sind, dadurch, dass sie jederzeit ins Bewusstsein gehoben, problematisiert und durch neue Erfahrungen modifiziert werden können. Gewohnheiten lassen es zu, dass die Handlungsspielräume, die sich in neuen Situationen anbieten, genutzt werden. Die hohe Flexibilität des Handelns, die durch die Muster ermöglicht wurde, wird durch die Gewohnheiten keineswegs eingeschränkt oder aufgehoben.

Aus diesem Grund ist der Vorwurf, dass Handlungsmuster dem Prinzip der persönlichen Freiheit widersprechen und den Eigenarten des menschlichen Handelns nicht entsprechen würden, nicht berechtigt (Ros S. 498). In bekannten Situationen laufen die Handlungsmuster wie konditionierte Reize ab. Man kann dann die Potenz der Handlungsmuster ausnutzen, sich anderen Dingen zuzuwenden. Wird aber beim Handeln bemerkt, dass die Muster nicht passen, setzt eine Verunsicherung ein. Werden die Erwartungen, die sich auf das Verhalten von Menschen beziehen, nicht erfüllt, entsteht Enttäuschung. Verunsicherung und Enttäuschung machen die Realität, die scheinbar vertraut zu sein schien, zu etwas Fremden. Sie stimulieren das Denken, mit der Suche nach neuen Mustern das Fremdheitserlebnis zu beseitigen.

Gewohnheiten schließen nicht aus, dass man sich als Akteur des eigenen Handelns erlebt und bereit ist, dafür die Verantwortung zu übernehmen. Menschliches Handeln ist immer damit verbunden, dass es aus der Perspektive der moralischen Kategorien von Verdienst und Schuld betrachtet wird. Darin liegt der entscheidende Unterschied zum tierischen Verhalten (Janich 2009 S. 132). Gleichwohl ist man sich beim Handeln meistens nicht bewusst, welches Ziel eigentlich damit verfolgt wird, da der überwiegende Anteil des Handelns gewohnheitsmäßig erfolgt.

Von zentraler Bedeutung ist, dass das Handeln stets mit einem Sich-selbst-Erleben verbunden ist. Man weiß in jedem Moment um den aktuellen Zustand der Handlung und kann die Handlung modifizieren, wenn absehbar ist, dass das angestrebte Ziel verfehlt wird. Das Erleben, der Urheber der eigenen Aktionen zu sein, ist von elementarer Bedeutung, da nur gehandelt werden kann, wenn die eigenen Handlungen von denen anderer Menschen unterschieden werden können und man fähig ist, sich jederzeit reflektieren zu können. Vor allem beim Zusammenarbeiten ist dieses Erleben unentbehrlich. Schließlich muss man wissen, bei welchen Handlungen man in der Lage ist, sie zu verbessern und für welche Handlungen man nicht verantwortlich ist. Ohne das Erleben von sich selbst als einem Akteur mit bestimmten Handlungsdispositionen wäre zwischenmenschliches Handeln nicht möglich. Nur dadurch entsteht die Bereitschaft, sich mit anderen Menschen abzustimmen. In pathologischen Fällen kann das Gefühl der Urheberschaft verloren gehen. Man fühlt sich dann für das Verhalten anderer Menschen verantwortlich oder verspürt den starken Drang, deren Verhalten zu kontrollieren.

So wie man sich selbst als ein von Absichten geleitetes handelndes Wesen erfährt, so wird auch der andere begriffen. Gemeinsames Handeln setzt voraus, dass die Absichten der anderen genau gespürt werden und dass man fähig ist, die eigenen Impulse zurückzuhalten und mit anderen Menschen abzustimmen. Es ist ein wesentlicher Unterschied gegenüber höher entwickelten Säugetieren, dass die Menschen in der Lage sind, andere als intentionale Akteure, also als Wesen mit Absichten und Zielen wahrzunehmen (vgl. Tomasello). Die einzigartige Kooperationsfähigkeit der Menschen war ohne Zweifel mit ein Antriebsfaktor, dass sich die überragende Intelligenz der Menschen entwickelt hat (Lieberman S. 146).

Die zentrale Frage, von wem die Initiative des Handelns ausgeht, hat im Laufe der Geschichte verschiedene Antworten erhalten. Bei den indigenen Völkern stellte sich diese Frage wahrscheinlich nicht, da sie mit ihrem Handeln grundsätzlich einverstanden sind. Sobald aber man immer wieder in völlig ungewohnte Situationen kommt, für die keine Verhaltensmuster zur Verfügung stehen, drängt sich diese Frage auf. Es haben sich im Wesentlichen die folgenden Antworten herausgebildet:

1. Handeln ist ein Sich-handeln-lassen. Es wird im Taoismus mit der paradoxen Formulierung des Nicht-Handelns (wu wei) umschrieben. Nicht-Handeln bedeutet also nicht, nichts zu tun, sondern das Handeln so geschehen zu lassen, dass sich das Tun in der Entwicklung des Handelns wie von selbst erzeugt. »Es ist ein Zustand der inneren Stille, der zur richtigen Zeit die richtige Handlung ohne Anstrengung des Willens hervortreten lässt.« (Wikipedia, Stichwort Wu Wei). Das setzt voraus, dass das Handeln nicht in das Korsett eines vorgefertigten Plans gezwängt wird, sondern sich von den Umständen beeinflussen lässt (Elberfeld S. 247). Das Handeln ist von dem Vertrauen getragen, dass sich das Richtige von selbst einstellt, da alles Handeln von dem universellen Prinzip des Tao gelenkt wird. Die Menschen fühlen sich bei diesem Handlungsverständnis nicht für ihre Handlungen verantwortlich.

2. Göttliche Stimmen bestimmen das Handeln. Die Handlungsinitiative geht von den Göttern aus. Julian Jaynes vertritt die These, dass diese Form der Handlungskontrolle in der historischen Phase der frühen Verstädterung im 3. und 2. Jahrtausend v. Chr. vorherrschend war (Jaynes). Er stützt sich auf historische Dokumente, wie z. B. die Ilias von Homer, die belegen, dass die Menschen ihre Entscheidungen auf göttliche Befehle zurückführten. Vermutlich gehen die göttlichen Stimmen auf theokratische Herrscher zurück, deren Befehle absolute Autorität hatten. Auch in der Gegenwart erfahren viele Menschen, dass sie von inneren Stimmen gelenkt werden, auch wenn sie sie nicht mehr einem göttlichen Ursprung zuschreiben.

3. Eine innere immaterielle Instanz (Ich, Selbst, Seele, Verstand, Geist, Bewusstsein u. Ä.) lenkt das Handeln. Jeder Einzelne trägt die Verantwortung für sein Handeln, da er sich frei dafür entschieden hat. Das Handeln wird anhand von moralischen Normen bewertet. Dieses heute vorherrschende Modell hat sich in der Antike herausgebildet.

4. Das Handeln wird durch Gesetze und feste Reiz-Reaktionsmechanismen festgelegt. Zugrunde liegt die wissenschaftliche Überzeugung, dass alles Handeln kausal determiniert ist. Dieses Modell ist erst im wissenschaftlichen Zeitalter aufgekommen.

5. Handlungsimpulse stoßen das Handeln an. Der konkrete Ablauf des Handelns wird durch erfahrungsbedingte Muster festgelegt. Man identifiziert sich spontan mit seinen Handlungsimpulsen, weil man das Gefühl hat, dass sich in ihnen die persönlichen Bedürfnisse und Überzeugungen ausdrücken. Zu Recht gilt eine Handlung als authentisch, wenn sie ausschließlich von den persönlichen Bedürfnissen geprägt ist und Rücksichtnahmen auf Erwartungen anderer oder auf gesellschaftliche Konventionen u. Ä. keine Rolle spielen. Bei diesem Handlungsverständnis wird die moralische Verantwortung durch die Verantwortung in dem Sinne ersetzt, dass man für die Folgen seines Handelns eintritt.

In diesem Modell sind körperliche und emotionale Bedürfnisse die eigentlichen Antriebskräfte im Organismus. Sie drücken sich in Handlungsimpulsen aus. Die Auswahl der dafür geeigneten Handlungsmuster erfolgt völlig unbewusst. Da sie in der Regel mit festen Gewohnheiten verbunden sind, vollzieht sich das meiste Handeln nur mit geringer Beteiligung des Bewusstseins. Vermutlich besteht zwischen den Handlungsimpulsen, die auf physiologische Bedürfnisse (Hunger, Durst, Wärme, Sexualität, Schutz, Sicherheit u. a.) zurückgehen und den Handlungsimpulsen aus seelischen Bedürfnissen (Anerkennung, Bindung, Zugehörigkeit, Kompetenz, Macht, Abwechslung u. Ä.) kein wesentlicher Unterschied. So wie bei den physiologischen Bedürfnissen gelernt werden muss, mit welchen Bewegungsmustern sie befriedigt werden können, so gilt dies auch für die seelischen Bedürfnissen. So wie sich die physiologischen Bedürfnisse unbewusst bilden und zur Aktion drängen, so fordern auch die seelischen Handlungsimpulse zum Handeln auf, wenn sie durch innere oder äußere Umstände aktiviert werden. Die seelischen Handlungsimpulsen können deshalb auch als natürliche Bedürfnisse betrachtet werden. Wegen ihrer biologischen Verwurzelung entziehen sie sich einer rationalen Erklärung.

Es muss hervorgehoben werden, dass es nicht darum gehen kann, welche der fünf Varianten die Richtige ist. Alle sind nur mögliche Interpretationen, die sich auf bestimmte Aspekte des erfahrenen Handelns stützen. Im weiteren Verlauf der Arbeiten werden Argumente gesammelt, die für die fünfte Variante sprechen. Sie hat den Vorteil, dass sie die wesentlichen Elemente der ersten und zweiten Variante in sich aufnehmen kann und dass sie die Beschränktheit der vierten Variante aufzeigt. Die Schwäche der dritten Variante besteht darin, dass sie die anderen Interpretationen nicht in ihr Konzept integrieren kann.

Die wissenschaftliche Handlungsforschung hat bestätigt, dass das Wahrnehmen auf das Handeln bezogen ist. Zwischen dem Prozess der Wahrnehmung, der einen Handlungsimpuls auslöst, und der Ausführung der Handlung besteht eine untrennbare Verbindung. Die Wahrnehmung wird bereits von der beabsichtigten Handlung gesteuert und wählt nur das aus, was dafür erforderlich ist. Aus der Erfahrung, dass die Wahrnehmung bestimmter Umweltereignisse automatisch bestimmte Handlungsprogramme auslösen kann, wurde die Folgerung gezogen, dass Wahrnehmungen immer auf Handlungen bezogen werden und dass zwischen Wahrnehmungen und Handlungen eine enge Kopplung besteht. Wolfgang Prinz spricht davon, dass Wahrnehmungen und Handlungen gemeinsam codiert werden (Roth 2003 S. 477). »Die schnelle und automatische Aktivierung von Bewegungen durch wahrgenommene Umweltmerkmale legt nahe, dass in Bewegungsrepräsentationen Aufrufbedingungen spezifiziert sein können, deren Wahrnehmung die Bewegung »als Ganzes« aktiviert« (Karnath S. 369). Damit erweist sich die traditionelle Unterscheidung zwischen Wahrnehmung und Handlung als sehr künstlich. Da Wahrnehmungen von vornherein in den Zusammenhang mit Handlungen gebracht werden, erledigt sich das schwierige Problem, wie die Übergänge zwischen den Sinneswahrnehmungen, der zentralen Verarbeitung und der motorischen Handlungen zu verstehen sind.

Das hier entwickelte Konzept der Handlungsmuster baut auf dem Konzept der gemeinsamen Codierung von Wahrnehmung und Handlung auf. Danach sind Handlungsmuster komplexe Einheiten, die den motorischen Ablauf einer Handlung mit allen ihren vielfältigen Aspekte steuern. Dazu gehört z. B. das Spektrum der möglichen Anwendungsfälle, das damit zu erreichende Ziel, die Erinnerung, in welchem Kontext das Muster gelernt worden ist, die Bewertung der Handlung, evtl. auch die Erinnerung an frühere Anwendungen u. a.7 Handlungsmuster können deshalb auch als Verhaltensbereitschaften verstanden werden. Es wäre verfehlt, Handlungsmuster ausschließlich als motorische Programme aufzufassen.

Als Fazit ist festzuhalten, dass nicht der Einzelne bestimmt, welche Handlungsmuster entwickelt werden, sondern dass sich dies aus der Interaktion mit der Umwelt ergibt. Deshalb muss auch die verbreitete Vorstellung aufgegeben werden, dass das Gehirn die Entwicklung bestimmt. Das Gehirn übernimmt lediglich die Aufgabe, Verhaltensmuster für die Anforderungen und Aufgaben aufzubauen, die von der Umwelt verlangt werden.

2.3. Muster der Sprache

»Vergiß nicht, daß Dein Satz eine Tat ist.« (Antoine de Saint-Exupéry)
»Es wird alles immer gleich ein wenig anders, wenn man es ausspricht.« (Hermann Hesse)

Bevor die Muster des Denkens analysiert werden sollen, muss auf die Muster der Sprache eingegangen werden. Denn das Denken kann nur richtig begriffen werden, wenn es als eine spezielle Form des Handelns verstanden wird. Vorweg ist anzumerken, dass ich in meinem Buch »Die Intelligenz der Regeln« die Sprache ausführlich unter dem Gesichtspunkt behandelt habe, dass sie aus einem System von Regeln besteht (Neubeck 2012 S. 54ff). Mit der Theorie der Muster werden die früheren Überlegungen nicht in Frage gestellt, sondern weiter fortgeführt und vertieft. Die Funktion der Regeln kann besser verstanden werden, wenn ihr Zusammenhang mit den Mustern geklärt wird.

Die traditionelle Analyse der Sprache wurde bisher von der Überzeugung beherrscht, dass die Sprache konstitutiv für das menschliche Denken sei. Diese Überzeugung kommt bereits in dem Bibelspruch zum Ausdruck: »Am Anfang war das Wort.« (Johannes 1,1). Die meisten Philosophen und Gehirnforscher gehen davon aus, dass die Repräsentationen, die das Gehirn von der Welt bildet, sprachlich strukturiert sind. Die bisherigen Überlegungen regen den Verdacht an, dass diese Auffassung auf einer Fehleinschätzung der Sprache basiert.

Da das Handeln mit Mustern arbeitet, liegt die Hypothese nahe, dass sich auch die Sprache der Fähigkeit der Musterbildung verdankt. Denn Sprechen ist auch nur eine besondere Form des Handelns, bei der mit Hilfe von Lauten auf andere Menschen eingewirkt wird. Sprache entsteht, wenn einem Muster für einen Gegenstand oder eine Bewegung ein Lautsymbol (Begriff)8 zugeordnet wird, so dass automatisch an den Gegenstand oder die Bewegung gedacht wird, wenn der Begriff gehört wird. Die Lautsymbole selbst sind komplexe Muster, die aus den Mustern für die einzelnen Buchstaben zusammengesetzt werden. Sprache entsteht somit aus der Verknüpfung von Mustern für Gegenstände mit Mustern für komplexe Laute.

In der Menschheitsgeschichte wurden die Muster für Gegenstände und Bewegungen lange Zeit mit Gebärden verbunden. Als entdeckt wurde, welche großen Vorteile die Kommunikation mit Lautsymbolen hat, wurde die Gebärdensprache schnell durch die Lautsprache verdrängt, ohne dass sie aber ihre frühere Bedeutung völlig verloren hat. Muster waren demnach schon lange da, bevor sie mit Gebärden und Lautsymbolen verknüpft wurden.

Daraus ergibt sich, dass die Begriffe ihre Bedeutung von den Mustern erhalten. Da der Gehalt der Muster davon geprägt wird, auf welche Funktionen sie verweisen, was also getan werden muss, um einen bestimmten Effekt zu erreichen, wird die Bedeutung funktional bestimmt. So wird z. B. das Muster für Tische davon geprägt, dass man vor ihnen sitzen und darauf essen, spielen oder arbeiten kann. Wenn man z. B. den Begriff Tisch zum ersten Mal hört, wie z. B. in dem Satz: »Setz' dich dort an den Tisch und esse die Suppe!«, wird der Begriff auf das bereits bekannte Muster des Tisches bezogen, das typischerweise aus einer erhöhten Platte besteht, vor der man sitzt und auf der ein Teller zum Essen steht. In den Begriff geht die Bedeutung des Sitzens und Essens ein, die man bereits vorher von dem Tisch gebildet hatte. Das Muster wird im Laufe der Erfahrung mit unterschiedlich geformten Tischen und verschiedenen Verwendungsweisen von Tischen immer abstrakter. Die eigenen Muster können sich von den Mustern anderer Menschen unterscheiden, da sie abhängig von individuellen Erfahrungen sind. Man kann sich trotzdem mit anderen Menschen darüber verständigen, weil sie sich im Kern durch den Bezug auf die Funktionen der Gegenstände stark überschneiden.

Scheinbar wird einem sinnlich wahrnehmbaren Objekt ein Begriff zugeordnet, aber das ist eine Täuschung. In Wirklichkeit wird der Begriff einem Abstraktum zugeordnet, nämlich einem Muster. Insofern ist es falsch anzunehmen, dass der Sprache eine Abstraktionsleistung innewohnt (Werani S. 369). Wie oben gezeigt wurde, findet die Abstraktion bereits bei der Musterbildung statt.9

Begriffe sind auch deshalb abstrakte Gebilde, weil sie mit Ausnahme von Eigennamen nie Einzeldinge bezeichnen, sondern immer Klassen von Objekten oder Bewegungen. Begriffe bleiben aber trotzdem immer auf das Besondere bezogen, weil sie in konkreten Situationen gelernt werden. Der Bezug zur Situation, in der sie gelernt werden, geht nie ganz völlig verloren. Vermutlich wird für jeden auf sinnliche Gegenstände bezogenen Begriff ein prototypisches Objekt festgehalten (z. B. der Spatz für Vögel). Aber das Besondere an den Objekten kann grundsätzlich nicht mit Begriffen erfasst werden.

Der Gehalt von Begriffen ergibt sich somit aus den Funktionen, die mit den Mustern assoziiert werden. In diesem Sinn hat Charles Sanders Peirce, der Begründer des amerikanischen Pragmatismus, die Auffassung vertreten, dass die Bedeutung eines Begriffes verstanden wird, wenn man weiß, was mit dem Gegenstand, auf den sich der Begriff richtet, getan werden kann. Es wäre ein Missverständnis, wenn davon ausgegangen wird, dass sich die Begriffe auf die Eigenschaften von Objekten beziehen würden. Welche Gestalt ein Tisch oder Stuhl hat, wie viel Beine er hat oder aus welchem Material er gefertigt wurde, ist belanglos. Deshalb kann auch ohne weiteres ein Baumstumpf als Tisch angesehen werden.

Erst relativ spät wurde ich darauf aufmerksam, dass die hier entwickelte Mustertheorie der Begriffe im Kern der Theorie des Denkens von Aristoteles entspricht. Nach der Auffassung von Aristoteles wird ein Ding nicht an seinen materiellen Teilen und seiner Struktur, sondern daran erkannt, was es kann und leistet. Alle Dinge seien auf eine bestimmte Aufgabe ausgerichtet. Deshalb müsse bei jedem Gegenstand zwischen seinen sinnlichen Erscheinungsweisen und seinem Vermögen, ein bestimmtes »érgon«, ein Werk, eine Aufgabe zu vollbringen, unterschieden werden. Wird die Aufgabe erkannt, weiß man, mit was oder mit welchem Gegenstand man es zu tun hat (vgl. Schmitt S. 115).

Alle gegenstandsbezogenen Begriffe sind auf das Handeln bezogen. Deshalb konnte Jean Piaget sagen, dass die ersten Worte für ein Kind Befehle sind. »Das Wort ist zunächst an eine Handlung gebunden - es ist Bestandteil der Handlung. Später kann es allein die Handlung auslösen.« (Piaget S. 16f.) »Ball« verstehen Kinder als Aufforderung: »Hier, nimm den Ball!«. Kinder wenden dies umgekehrt genauso an: »Ball« heißt, »Dort ist ein Ball, nimm ihn, gibt ihn mir, ich möchte ihn haben«. Wörter sind für Kinder unverkennbar Handlungsanweisungen. Diesen Charakter verlieren die Wörter nie mehr. Wenn ein Begriff artikuliert wird, werden latent alle Handlungsmöglichkeiten aktiviert, die bisher mit dem Begriff gelernt wurden. Die Begriffe fordern mehr oder weniger zu einem bestimmten Handeln auf. Aus dieser Sicht wird die Schöpfungsgeschichte im Alten Testament verständlich: »Gott sprach, es werde Licht. Und es wurde Licht.«

Die implizite Handlungsanweisung eines Begriffs ergibt sich daraus, dass – wie oben dargestellt wurde – alle Objekte in der Wirklichkeit so erlebt werden, als hätten sie einen Aufforderungscharakter. Da der Aufforderungscharakter in die Muster eingeht, wird er auch mit den Begriffen assoziiert. Während Kinder die Handlungsaufforderung noch unmittelbar spüren, tritt sie bei den Erwachsenen in den Hintergrund. Wenn man z. B. den Begriff Auto hört, tritt sofort in Erinnerung, wofür ein Auto gut ist und was persönlich hinsichtlich des eigenen Autos noch zu tun ist. Die Handlungsanweisung des Begriffs löst ein virtuelles Handeln aus, das in der Regel unbewusst bleibt und das nicht unbedingt ausgeführt werden muss. Sprache ist damit sowohl beim Sprecher als auch beim Zuhörer Handeln. Der Sprecher muss mit den Atemorganen handeln, um die Laute zu artikulieren. Der Zuhörer muss innerlich handeln, um die Begriffe zu verstehen.

Da die Begriffe eine relativ eindeutige Handlungsanweisung enthalten, eigenen sie sich hervorragend als Kommunikationsmittel. Gemeinsames Handeln setzt voraus, dass die dabei verwendeten Begriffe eine scharfe Bedeutung haben, so dass aus dem Kontext eindeutig hervorgeht, welche Bedeutung gemeint wird und dass sie sich auf Muster beziehen, die für alle Mitglieder der Sprachgemeinschaft relativ gleichartig sind. Denn bei der Kommunikation werden nicht Begriffe, sondern Muster ausgetauscht. Unscharfe Begriffe würden das gemeinsame Handeln mit Missverständnissen und Irreführungen belasten.

Bei der verbreiteten Auffassung, dass die Begriffe ihrem Wesen nach unscharf, unbestimmt und verschwommen sind (z. B. Hofstadter S. 85), wird übersehen, dass alle Begriffe einen funktionalen Kern haben. In den Begriff der Vögel können zwar unzählig unterschiedliche Exemplare aufgenommen werden, so dass es oft schwierig ist zu entscheiden, ob ein Exemplar noch zum Begriff gehört oder nicht. Wenn man sich aber nicht an den Eigenschaften (hat das Exemplar Federn?), sondern an den wesentlichen Funktionen (z. B. fliegen können) orientiert, entfallen – zumindest in pragmatischer Sicht – die Schwierigkeiten.

Bei der Benutzung der Begriffe ist zu beachten, dass sie häufig nur die Eckpunkte in einem Kontinuum sinnlicher Erfahrungen erfassen. So bilden die Begriffe hell und dunkel ein Gegensatzpaar, wobei beide Seiten sich mehr oder weniger durch ihr Gegenteil bestimmen lassen. So ist z. B. hell eine Eigenschaft, die nicht exakt festgestellt werden kann. Hell definiert sich aus der Abwesenheit von dunkel. Dunkel kann nur erfasst werden durch die Abwesenheit von Licht. Beide Begriffe sind dialektisch aufeinander bezogen. Das gilt für viele Begriffspaare wie z. B. Materie - Geist, Natur - Kultur, Egoismus - Altruismus, Einheit - Trennung, Willensfreiheit - Determinismus u. v. m. Jedes Mal wird die Wirklichkeit in zwei binäre Kategorien aufgeteilt, wobei unterstellt wird, dass den Begriffen etwas Reales entspricht. An den Begriffen hell und dunkel zeigt sich, wie trügerisch das ist.

Die Begriffe können als Anker für komplexe Sachverhalte benutzt werden, so dass diese mit ihrer Hilfe jederzeit ins Bewusstsein geholt werden können. Das hängt damit zusammen, dass für komplexe Zusammenhänge ein einziges Muster gebildet und zwischen Muster und Begriff eine Assoziation hergestellt wird. Wenn der Begriff aufgerufen oder gehört wird, ist sofort das mit ihm verbundene Muster präsent. Ebenso können mit Begriffen komplexe Situationen vergegenwärtigt werden. So kann z. B. eine Urlaubsreise mit den einschlägigen Begriffen noch einmal durchlebt werden.

Jedes Sprechen ist mit einer Absicht verbunden, anderen etwas mitzuteilen und sie von etwas zu überzeugen. Es ist deshalb mit dem Gefühl der Urheberschaft verbunden. Als eine Form des Handelns zieht es eine bewusst erlebte Grenze zwischen Innen und Außen. Das Gefühl der Urheberschaft kann natürlich beim Sprechen wegen seiner Habitualisierung wie beim Handeln völlig in den Hintergrund treten. Sprechen ähnelt dem Handeln auch darin, dass es überwiegend spontan abläuft. So wie das meiste Handeln nicht mit einer bewussten Endscheidung beginnt, sondern wie von selbst abläuft, so ist auch das Sprechen ein automatisches Geschehen. Es ergibt sich aus den Handlungsimpulsen, die sich in Reaktion auf reale oder vorgestellte Situationen einstellen. Da das Sprechen fast völlig gewohnheitsmäßig abläuft, ist man sich nicht bewusst, wie die verbalen Mitteilungen gebildet werden. Man ist sich nur bewusst, dass man spricht und damit etwas erreichen will. So befiehlt man z. B. jemanden, etwas zu tun, um nicht selbst handeln zu müssen. Oder man verspricht, in Zukunft ehrlich zu sein.

Sobald aber die sprachlichen Gewohnheiten versagen und nach einem treffenden verbalen Ausdruck gesucht wird, tritt die sprachliche Aktivität ins Bewusstsein. Man spürt, dass zwischen den vorsprachlichen Handlungsimpulsen und dem verbalen Ausdruck eine Kluft besteht. Um den richtigen Ausdruck zu finden, muss geprüft werden, welche anderen Begriffe für das auszudrückende Muster verwendet werden könnten. Die Kluft kann durch kreative sprachliche Formulierungen überbrückt werden. Bewusstes Sprechen ist deshalb äußerst anstrengend. Beim Sprechen ist das gleiche Phänomen wie beim Handeln zu beobachten, dass es unbewusst abläuft, dass aber jederzeit das Potential zum bewussten Erleben und zu kreativen Lösungen vorhanden ist. Obwohl Sprache ein System von Regeln ist, wird sie nicht völlig durch Regeln festgelegt, sondern lässt kreative Weiterentwicklungen zu. Auch in der Sprache drückt sich die menschliche Kreativität aus, die das menschliche Handeln auszeichnet.

Das Sprechen ist auf Bewusstsein angewiesen, da in jedem Moment geprüft werden muss, ob das Artikulierte vom anderen verstanden wird. Kleinste Zeichen in der Mimik des anderen können anzeigen, dass man sich nicht deutlich genug ausgedrückt hat. Nur mit dem bewussten Erleben der eigenen Sprache und der Reaktionen des anderen kann die Sprache so kontrolliert werden, dass das Verständigungsziel erreicht wird. Bewusstsein muss demnach schon existiert haben, bevor sich die Sprache entwickelt hat.

Bedeutung

Mit diesem Konzept können die Schwierigkeiten vermieden werden, mit denen sich die Begriffstheorien bisher herumgeschlagen haben. In der traditionellen Auffassung muss zunächst von jedem Gegenstand, über den nachgedacht werden soll, ein inneres Abbild, meistens als innere Vorstellung oder Repräsentation bezeichnet, gebildet werden. Der Geist bildet die Bedeutung, indem er aus der Vorstellung das Wesen des Gegenstandes herauszieht. Dann wird der Bedeutung ein Begriff zugeordnet. Diese theoretische Konstruktion enthält zahlreiche Probleme. Erstens ist es schwierig sich vorzustellen, wie aus einer Vorstellung, die sich auf etwas Besonders bezieht, etwas Allgemeines wie die Bedeutung herausgezogen werden kann. Wie können Vorstellungen die Gegenstände vertreten? Außerdem ist völlig umstritten, ob die Gegenstände ein inneres Wesen haben.

Merkwürdigerweise ist die Frage, woher die Begriffe ihre Bedeutung haben, nach wie vor sehr umstritten. Lange Zeit erschien die Theorie von John Locke, dass die Begriffe ihre Bedeutung aus dem Bezug zu Gegenständen erhalten, als plausibel. Seitdem Gottlob Frege darin eine psychologistische Erklärung sah und die Bedeutung aus dem Kontext der Sprache und aus dem hinter den Sätzen stehenden Gedanken ableiten wollte, muss sich jeder Sprachphilosoph an der Bedeutungsfrage abarbeiten.

Sehr einflussreich war der Vorschlag von Ludwig Wittgenstein, der meistens als Gebrauchstheorie der Bedeutung bezeichnet wird. Nach der verbreiteten Interpretation der Gedankensplitter von Wittgenstein zu dieser Frage wird die Bedeutung eines Begriffs gelernt, wenn wahrgenommen wird, wie er von anderen Menschen in Handlungszusammenhängen gebraucht wird. Dabei werden die Regeln gelernt, die festlegen, welcher Gebrauch eines Begriffs richtig und welcher falsch ist. Es sind also durchweg implizite Regeln. Es ist bemerkenswert, dass weder bei Wittgenstein noch bei seinen Kommentatoren Beispiele zu finden sind, wie diese Regeln im Einzelnen aussehen. Es wird deshalb herumgerätselt, wie eigentlich die Regeln zu verstehen sind.

Georg Bertram schlägt vor, die Bedeutung im Kontext der Sprachspieltheorie von Ludwig Wittgenstein über die zu interpretieren (Bertram S. 99ff). Sprachspiele werden als Zusammenhänge von sprachlichen und nicht-sprachlichen Handlungen verstanden. So setzt sich z. B. das Sprachspiel des Begrüßens aus bestimmten verbalen Grußformen und dem Händeschütteln und Anschauen zusammen. Da sie eindeutig einen normativen Gehalt haben, nimmt Wittgenstein an, dass ihnen Regeln zugrunde liegen. Die Sprachspiele werden in der sozialen Praxis gelernt. »Darum ist >der Regel folgen< eine Praxis.« (Wittgenstein 2003 § 202). Demnach haben sprachliche Ausdrücke ihre Bedeutung aus Sprachspielen und da alle Sprachspiele einer Sprache miteinander zusammenhängen, ergibt sich die Bedeutung aus dem Kontext der ganzen Sprache.

Die hier vorgeschlagene Theorie der Bedeutung greift den Ansatz auf, dass das Sprechen aus Sprachspielen besteht, die in der sozialen Praxis gelernt werden. Danach werden neue Begriffe von anderen Menschen beim konkreten Umgang mit Objekten aufgenommen. Wenn beim Hinweis auf ein Objekt oder einen Zusammenhang ein bestimmter Begriff verwendet wird, kommt es zu einer Assoziation zwischen beiden. Der entscheidende Unterschied zu Wittgenstein besteht darin, dass der Begriff nur dann übernommen werden kann, wenn für das Objekt bereits ein Muster gebildet wurde. Die Bedeutung der Begriffe ergibt sich demnach nicht aus den Regeln des Gebrauchs, wie Ludwig Wittgenstein angenommen hatte, sondern aus den Mustern, die beim Gebrauch der Objekte gelernt wurden. Man kann einen neuen Begriff erst gebrauchen, wenn er auf ein bekanntes Muster bezogen werden kann. Ohne Beteiligung an einer sozialen Praxis und ohne vorgängige Musterbildung könnte also kein einziger Begriff gelernt werden.

Die Muster enthalten tatsächlich Regeln, aber nicht dafür, wie die Begriffe, sondern wie die Objekte benutzt werden. Diese Regeln haben nicht den Charakter von Spielregeln, wie es Ludwig Wittgenstein annahm. Während Spielregeln willkürlich gesetzt werden, werden die Regeln, die den Begriffen zugrunde liegen, spontan aus der Natur der Objekte abgeleitet. Sie lassen sich deshalb nicht richtig begreifen, wenn sie nach dem Vorbild von Spielregeln verstanden werden.

Damit kann die linguistische Streitfrage, ob sich die Bedeutung der Begriffe atomistisch aus dem Bezug zu Gegenständen oder holistisch aus dem Zusammenhang der Sprache ergibt, entschieden werden. Da die Begriffe durch Muster definiert werden und die Muster sich auf die objektiven Funktionen der Objekte beziehen, muss angenommen werden, dass jedem Begriff eine eigenständige Bedeutung zukommt. Damit ist der holistische Ansatz infrage gestellt. Er ist auch deshalb problematisch, da die Sprache immer in praktischen Zusammenhängen verwendet wird. Es ist ganz normal, dass für unterschiedliche Gegenstände identische Begriffe verwendet werden. Jeder Sprecher versteht z. B. sofort, was mit Bank gemeint ist, wenn es um Geld oder um Ausruhen geht. Wenn der Kontext fehlt, weiß man, dass man nach dem konkreten Zusammenhang fragen muss. Es ist richtig, dass Begriffe nur in Sätzen sofort verstanden werden können. Aber daraus darf nicht geschlossen werden, dass sie ihre Bedeutung nur aus dem Gesamtzusammenhang der Sprache erhalten. Beim Begriff Butter weiß jeder unabhängig vom Kontext, was gemeint ist. Wenn sie keine angestammte Bedeutung hätten, könnten sie auch im Kontext der ganzen Sprache nicht verstanden werden. Die linguistische Streitfrage, ob die Bedeutung der Begriffe atomistisch oder holistisch zu erklären ist, erweist sich als ein Scheinproblem.

Diese Überlegungen gelten natürlich nicht für die indexikalischen Begriffe wie jetzt, bald, hier, dort, morgen, ich, selbst, die, das u. Ä., die im Rahmen der Grammatik entwickelt wurden, um den zeitlichen, räumlichen und akteursmäßigen Kontext des Handelns genau bestimmen zu können. Ohne diese grammatikalischen Begriffe könnten die normalen Begriffe, die sich auf direkt wahrnehmbare Gegenstände oder Bewegungen beziehen, nicht so miteinander verknüpft werden, dass die darzustellende Handlungssituation eindeutig nachvollzogen werden kann.

Aus der Mustertheorie der Begriffe folgt, dass alle Theorien, die die Sprachfähigkeit und die Grammatik als angeboren betrachten (z. B. Noam Chomsky), abgelehnt werden müssen. Sprache wird genauso wie z. B. Fahrradfahren gelernt. Die Regeln der Sprache sind nur wesentlich komplexer. Eine weitere Konsequenz besteht darin, dass die Dinge kein inhärentes Wesen haben, das zu erkennen ist. Dieser Irrtum konnte entstehen, weil übersehen wurde, dass sich die Bedeutungen der Begriffe aus der sozialen Praxis ergeben und immer historisch bedingt sind. Es ist deshalb nicht zulässig, nach dem Wesen der Dinge oder des Menschen zu fragen.

Da sich die Bedeutungen aus den Mustern ergeben, kann es aus dieser Sicht kein eigenes Zentrum im Gehirn geben, in dem Bedeutungen erfasst werden. Man wird sich der Bedeutung von Begriffen in dem Moment bewusst, in dem Bewegungen virtuell aktiviert werden. Deshalb können Begriffe – wie oben erwähnt – hervorragend als Anker für Erinnerungen benutzt werden.

Wie oben bereits erwähnt wurde, sah sich bereits Immanuel Kant gezwungen, Muster anzunehmen, um die Funktion von Begriffen verstehen zu können. Um einen allgemeinen Begriff auf einen besonderen Gegenstand anzuwenden, wäre es erforderlich, eine allgemeine Vorstellung von dem Gegenstand zu bilden, die er Schema nannte. Wie das Schema von der Einbildungskraft hergestellt wird, war für Kant ein rätselhafter Vorgang. »Dieser Schematismus unseres Verstandes [...] ist eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten und sie unverdeckt vor Augen legen werden« (Kant, B 180/181).

Die Theorie, dass sich alle Begriffe auf vom Gehirn gebildete Muster beziehen, erlaubt es, den platonischen Begriff der Idee in einem neuen Licht zu sehen. Als Platon die Existenz von Ideen annahm, ging er intuitiv von der Existenz von Mustern aus. Es war kein Fehler, die Muster als Ideen zu bezeichnen. Sein Fehler bestand darin, sie als transzendente Größen zu verabsolutieren. Die Korrektur von Aristoteles, die Muster als Form in die Dinge selbst zu legen, hat den Fehler nicht beseitigt. Beide Interpretationen der Muster sind problematisch, da die Muster zu metaphysischen Wirkprinzipien verabsolutiert wurden.

Wenn davon ausgegangen wird, dass die Muster nicht die Ordnung der Realität wiedergeben, sondern nur eine Ordnung im Hinblick auf das menschliche Handeln herstellen, muss die Auffassung zurückgewiesen werden, dass mit der Sprache objektiv vorhandene Sinnstrukturen begrifflich nachgezeichnet werden (z. B. Gabriel 2013 S. 148). Die idealistische Position, dass die Realität einen inhärenten Sinn enthält, der mit der Sprache zum Ausdruck gebracht wird, erweist sich als falsch.

Besonderheiten der Sprache der Gefühle

Die in der Menschheitsgeschichte zuerst entstandenen Begriffe hatten ohne Zweifel die Funktion, körperliche Gesten zu ersetzen, mit denen auf konkrete Gegenstände oder Lebewesen gezeigt wurde. Als sich die Menschen auf die Bearbeitung von Gegenständen konzentrierten, standen die Hände nicht mehr in allen Situationen für kommunikative Gesten und Gebärden zur Verfügung. Als Ersatz haben schnell Begriffe Eingang in die alltägliche Praxis gefunden.10 Begriffe haben dennoch ihre Funktion, auf etwas Konkretes zu verweisen, nie verloren. Sie haben die praktische Funktion, dass auch von Gegenständen gesprochen werden kann, auf die nicht direkt gezeigt werden kann.

Als das Zusammenleben komplexer wurde, entstand das Bedürfnis, auch in der mental-psychischen Innenwelt etwas Ordnung herzustellen. Von Anfang war klar, dass man die Innenwelt zwar erleben kann, dass es aber schwierig ist, in dieser diffusen Welt, in der keine geordneten Strukturen wahrzunehmen sind, eindeutige Unterscheidungen vorzunehmen. Man behalf sich mit dem plumpen Analogieschluss, dass die Innenwelt ebenso eine innere Struktur wie die Außenwelt hat und glaubte, dass es klar definierte Unterscheidungen – wie z. B. in Denken und Fühlen – gibt. Man griff zu dem Trick, seelische Zustände wie Objekte zu behandeln.

Die ersten Begriffe, die für das mental-psychische Innenleben verwendet wurden, hatten noch einen konkreten Bezug. So bezog sich z. B. der griechische Begriff pneuma, der traditionell mit Seele übersetzt wird, eindeutig auf den körperlich wahrnehmbaren und fühlbaren Atem. Der Atem schien die Grundlage aller Gedanken und Gefühle zu sein. Denn unübersehbar schwankt die Qualität der Gedanken und die Intensität der Gefühle in Abhängigkeit von der Dynamik und Heftigkeit des Atems. Auch in anderen Sprachen wurde der Atem als ein Schlüssel zum Verständnis des Innenlebens der Gedanken und Gefühle aufgefasst.

Beim Begriff des Atems ist die Strategie der Sprache zu erkennen, für Phänomene, die nicht eindeutig zu identifizieren sind, Begriffe zu verwenden, die bereits eine feste Bedeutung haben, denen aber in einem anderen Kontext eine neue Bedeutung zugewiesen werden kann. Der Begriff des Atems hat zwar eine gewisse Affinität zu dem Phänomen der Gedanken und Gefühle, aber es ist nicht zu übersehen, dass er metaphorisch verwendet wird. Es wurde in der Sprachgeschichte vermieden, völlig neue Begriffe zu prägen, da ihnen der Zeigecharakter abgehen würde.

In seiner Kritik an der Theorie des Naturalismus geht Wolf-Jürgen Cramm von der These aus, dass zwischen der Sprache für die Welt der Gegenstände einerseits und der Sprache für die Welt des Handelns, der Bedeutung und der Überzeugungen u. Ä. andererseits eine kategoriale Differenz besteht. Die Differenz komme dadurch zustande, dass es im Bereich des Handelns um Subjekte geht, die Normen befolgen und fähig sind, ggf. die Normen zu reflektieren und zu modifizieren. Demgegenüber sei der Bereich der Objekte normenfrei. In den Naturalismustheorien werde generell der Fehler gemacht, dass Redeweisen, die für den Bereich der Objekte entwickelt wurden, auch für Phänomene im Bereich des Handelns verwendet werden (Cramm S. 77). Dieser Kategorienfehler führe dazu, dass Phänomene des Handelns und Denkens als natürliche physische Ereignisse oder Zustände aufgefasst werden.

Die Analyse der strukturellen Differenz zwischen den Begriffen für die Gegenstandswelt und für die mental-psychische Innenwelt ist von zentraler Bedeutung, da sich fast alle zentralen philosophischen Begriffe auf den zweiten Bereich beziehen. In der Diskussion der philosophischen Probleme wurde die strukturelle Besonderheit der philosophischen Hauptbegriffe zu wenig beachtet. Es wird sich zeigen, dass es ein kapitaler Fehler ist, beide Begriffstypen als strukturell ähnlich anzusehen.

Die Begriffe für Gegenstände (mit Ausnahme der Namen) grenzen Klassen von ähnlichen Gegenständen bzw. Lebewesen von anderen ab. Für alle Klassenbegriffe kann problemlos ein gegenständlicher Prototyp benannt werden. Sie erhalten ihre Bedeutung daher, welche Funktion die bezeichneten Objekte für die Menschen haben. Wie oben dargestellt wurde, ergibt sich ihre Bedeutung aus dem Bezug zu Mustern. Da die Begriffe Handlungsanweisungen sind, haben sie eindeutig einen normativen Charakter. Die Normen beziehen sich auf Regeln, die in den Mustern enthalten sind, und dürfen nicht als moralische Werte missverstanden werden.

Es ist auffallend, dass alle Begriffe für die psychisch-mentale Innenwelt wie Geist, Seele, Wahrheit, Freiheit, Bedeutung u. Ä. keinen normativen Charakter haben. Sie geben dem Handeln keine Orientierung vor. Sie sind auch keine Klassenbegriffe, unter die sich vielfältige ähnliche Phänomene subsumieren lassen. Auch lassen sie sich keinem Prototyp oder einem materiellen Gegenstand zuordnen. Es sind reine mentale Erfindungen, die auf nichts in der Objektwelt bezogen werden können. Sie haben vor allem den gravierenden Mangel, dass ihnen nicht spontan ein Muster zugewiesen wird. Damit unterscheiden sie sich erheblich von den Begriffen für die Objektwelt.

Diese Besonderheit der Begriffe für die psychisch-mentale Innenwelt hängt damit zusammen, dass sie eine spezifische Entstehungsgeschichte haben. Die psychisch-mentale Innenwelt manifestiert sich in spezifischen Aktivitäten wie denken, überzeugen, hoffen, beurteilen, folgern, zweifeln u. Ä. Sie stehen in engem Zusammenhang mit dem Handeln und der zwischenmenschlichen Interaktion. Solange die Aktivitäten mit Verben ausgedrückt wurden, machten diese Begriffe keine Probleme. Das änderte sich, als aus den Verben, die sich auf bestimmte Sprachspiele beziehen, Substantive abgeleitet wurden. So wurde z. B. aus bedeuten: die Bedeutung, aus wahrnehmen: die Wahrnehmung, aus vernehmen: die Vernunft, aus vorhaben: die Absicht u. Ä. Auch der Allgemeinbegriff Wille ist unverkennbar aus dem Verb wollen abgeleitet worden. Auf diese Weise entstanden abstrakte mentalistische Begriffe wie Geist, Seele, Absicht, Gedächtnis, Bewusstsein, Unbewusstes, Selbst, Intentionalität u. Ä., die zur Strukturierung der Innenwelt entwickelt wurden, die aber nicht mit einem festen Muster verbunden sind, da sie nicht aus dem Handeln hervorgegangen sind. Offensichtlich sind alle psychologischen Begriffe aus der Versubstantivierung von Verben hervorgegangen. Sie lassen den falschen Eindruck entstehen, dass die seelische Innenwelt ähnlich wie die Gegenstandswelt strukturiert ist.

Wahrscheinlich wurden solche abstrakten Allgemeinbegriffe ursprünglich als Denkhilfen genutzt, um leichter über die komplexen inneren Prozesse sprechen zu können. Aber im jahrhundertelangen Gebrauch haben sie sich verselbständigt, so dass ihre ursprüngliche Hilfsfunktion vergessen wurde. Die Erfahrung, dass alle alltäglichen Begriffen auf etwas Wirkliches bezogen sind, wurde auf die Allgemeinbegriffe übertragen. Aus der Existenz des Begriffs wurde auf die Existenz einer entsprechenden Sache geschlossen. Da sie wie natürliche Subjekte behandelt werden, können ihnen sogar Eigenschaften zugewiesen werden.

Die künstlich geprägten psychisch-mentalen Begriffe unterscheiden sich grundsätzlich von den Objektbegriffen dadurch, dass nicht angebbar ist, worauf sie eigentlich gerichtet sind. Es fällt schwer, sie auf konkrete Erfahrungen zu beziehen. Es fehlt ihnen die Intentionalität, die nach Meinung der Sprachforscher allen Begriffen zukommt. Sie können nur im komplexen Geflecht verschiedener Begriffe verstanden werden. So macht z. B. der Begriff der Person nur in Relation zum Begriff der Freiheit Sinn. Der Begriff des Geistes erhält seine Bedeutung dadurch, dass sich die Menschen als bewusst handelnde Wesen verstehen und ihre gesamte Lebenspraxis davon bestimmt wird (vgl. Kap. 5.1.). Auch der Begriff des Bösen kann nur verstanden werden, wenn man die religiösen Geschichten kennt, die vom Teufel und anderen finsteren Mächten handeln. Die psychisch-mentalen Begriffe sind wie Hülsen, die mit beliebigen Inhalten aufgefüllt werden können.11 Es ist deshalb nicht zufällig, dass beinahe jeder Philosoph seine eigene Auffassung vom Begriff der Vernunft hat. Da die psychisch-mentalen Begriffe ihren Gehalt allein aus dem theoretischen Selbstverständnis der Menschen von sich selbst erhalten, muss man den gesamten kulturellen Kontext kennen, in dem die konstruierten Begriffe stehen, um ihre Bedeutung zu verstehen.

Da mit den Allgemeinbegriffen Prozesse vergegenständlicht werden, also Prozesse so behandelt werden, als ob sie Gegenstände wären, kann auch von Sprachfetischismus gesprochen werden. Der Begriff des Fetischs hebt hervor, dass einem mental konstruierten Produkt Eigenschaften zugesprochen werden, die es von Haus aus nicht hat. Besonders deutlich ist die Fetischisierung bei dem Begriff der Seele. Während dem griechischen Begriff pneuma noch die Herkunft aus dem Atemprozess anhaftet, ist dieser Bezug in der deutschen Übersetzung mit »Seele« nicht mehr anzumerken. Das hat die Verselbständigung des Begriffs beschleunigt und zugelassen, dass die Seele als ein transzendentes Wirkprinzip angesehen wurde.

Es ist schwierig anzugeben, worin eigentlich der Nutzen der Begriffe für die psychisch-mentale Innenwelt besteht. Für das direkte Handeln sind sie offensichtlich nicht notwendig. Es stellt sich die Frage, ob sie überhaupt in der Lage sind, Ordnung in den komplexen psychischen Prozessen herzustellen. Dies ist zu bezweifeln. Erst wenn Akteure aufgefordert werden, ihr Handeln zu rechtfertigen, kommen diese Begriffe ins Spiel.

Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Begriffsgruppen besteht demnach nicht darin, dass sich die Begriffe für die psychisch-mentale Innenwelt auf normative Zusammenhänge beziehen, während die Begriffe für die physischen Gegenstände empirische Aussagen ermöglichen, wie Wolf-Jürgen Cramm behauptet. Der Unterschied ist vielmehr daran festzumachen, dass es sich im ersten Bereich um Begriffe handelt, die keinen sinnlichen Wahrnehmungs- und Erfahrungsbezug haben. Entscheidend ist nicht, dass sie abstrakt sind – das sind auch die gegenstandsbezogenen Klassenbegriffe –, sondern dass sie inhaltlich unbestimmt sind, weil sie kein eigenes Muster haben. Mit Kant zu sprechen sind es leere Begriffe, da ihnen die Anschauung fehlt. Ihr Gehalt ergibt sich erst – wie bereits erwähnt – aus dem kulturellen Selbstverständnis und der vorherrschenden Weltanschauung. Da sie nicht auf bestimmte, aus der Erfahrung sich ergebende Muster bezogen sind, wie dies bei den gegenstandsbezogenen Begriffen der Fall ist, muss ihnen ein Muster zugewiesen werden. Dies geschieht mehr oder minder beliebig. Das macht den Umgang mit den philosophischen Hauptbegriffen so schwierig.

Beim Reden über Seelisches werden ausschließlich Sprachspiele verwendet, die mit Hilfe von Analogien und Metaphern gebildet wurden. Sie haben nur im sozialen Austausch Bedeutung. Wenn sie so behandelt werden, als würden sie sich auf innere Gegenstände oder Zustände beziehen, geht man in die Irre. Es wäre ein Fehler, sie so zu betrachten, als würde damit über innere Zustände berichtet (Schneider S. 232). Die seelischen Begriffe sind nur Redeweisen, mit denen die eigenen Gefühle und Empfindlichkeiten anderen Menschen mitgeteilt werden. Sie sind keine Berichte über innere Zustände, sondern Symbole für schwierig zu erfassende Gefühle, von denen angenommen wird, dass sie der andere kennt und deshalb verstehen kann. Wer z. B. erzählt, dass sein Herz gebrochen wurde, geht davon aus, dass diese Formulierung bloß ein Sprachspiel ist, das seine aktuelle Befindlichkeit grob umschreibt. Der Hörer macht nicht den Fehler, die Formulierung wörtlich zu nehmen. Er ist bereit, sich die Geschichte anzuhören, die zu den Gefühlen geführt hat. Wer z. B. erzählt, dass er bei seinem Handeln ein bestimmtes Ziel verfolgt hat, spricht nicht von einer festen mentalen Größe, sondern benutzt ein Sprachspiel, um die Gerichtetheit seines Handelns zu umschreiben.

Deshalb kann die mental-psychische Innenwelt nur auf die Weise verstanden werden, dass die Geschichten betrachtet werden, in denen über seelische Erfahrungen gesprochen wird. Die Seele des anderen erschließt sich nur, wenn man den Geschichten zuhört, die er über seine Aktivitäten erzählt. Aus den Geschichten geht hervor, wie bestimmte Situationen emotional verarbeitet wurden. Wer glaubt, unabhängig davon die Seele durch einen Blick nach innen verstehen zu können, verkennt, dass die seelischen Begriffe nur Sprachspiele sind, die versuchen, das Innere mit Hilfe von Analogien irgendwie zu erfassen.

Ursprünglich herrschte die Überzeugung vor, dass die Gedanken und Gefühle von den Göttern geschickt werden. Das Bedürfnis, die psychisch-mentale Innenwelt zu verstehen, konnte erst entstehen, als der Glaube an die Götter erschüttert und dadurch die Suche nach alternativen Erklärungen ausgelöst wurde. Die Kritik an den Religionen setzte historisch zu dem Zeitpunkt ein, als das Münzgeld erfunden und das Privateigentum eingeführt wurde und dadurch das wirtschaftliche und soziale Leben eine gewaltige Transformation erfuhr. Mit der Geldwirtschaft war einerseits die wachsende politische Macht der Händler und andererseits die Auflösung der Stammesgesellschaften verbunden. In dem neuen Zeitgeist des Individualismus, der mit dem Postulat der individuellen Verantwortung verbunden war, konnte das Handeln des Einzelnen nicht mehr durch seine Einbindung in seinen Stamm erklärt werden. Es entstanden die individualistischen Konzepte der Seele, des Geistes und der Vernunft, die implizieren, dass die psychischen Probleme der Menschen mit inneren Substanzen erklärt werden können. Daraus entwickelte sich das problematische individualistische Denkmuster, das alle Probleme aus der Perspektive des Individuums betrachtet (vgl. Kap. 2.4. und Neubeck 2012 S. 325). Es wird ausgeblendet, dass die Probleme nur aus der Perspektive einer bestimmten Kultur verstanden werden können, in der sich die Handlungsmuster, nach denen die Menschen ihr Leben organisieren, herausgebildet haben.

Es ist bestimmt nicht zufällig, dass die Philosophie am gleichen Ort in Ostgriechenland (Milet) entstand, an dem die Geldwirtschaft eingeführt wurde (vgl. Graeber S. 258). Die Philosophie stand vor der historischen Aufgabe, für die neuen Probleme des sozialen Zusammenlebens einen säkularen Ersatz für die traditionellen religiösen Antworten zu schaffen, die immer mehr versagten. Sie wurde dadurch begünstigt, dass in Griechenland die alphabetische Schrift erfunden wurde und andererseits die Schrift nicht wie z. B. in Israel Bestandteil der rituellen Praxis war (vgl. Assmann 2013 S. 259ff.). Die Existenz der Sprache ließ die Vorstellung aufkommen, dass der Welt eine sinnvolle Ordnung zugrunde liegt, die im Denken erfasst werden kann. Es konnte jetzt angenommen werden, dass die Realität erkannt werden kann, weil sie selbst sprachlich verfasst ist. Wahrscheinlich sind die abstrakten philosophischen Allgemeinbegriffe erst mit der Verbreitung der phonetischen Schriftsprache entstanden. Die Piktogramme der Sumerer und die Hieroglyphen der Ägypter haben den direkten Bezug zu Gegenständen nie aufgegeben. Erst die phonetische Schrift machte es möglich, dass Begriffe gebildet werden, die sich auf immaterielle Wesenheiten – wie z. B. die objektiven Ideen Platons – beziehen (Gray S. 71). Die neue Möglichkeit, sich auf bestehende Texte beziehen zu können, hat eine Ideenrevolution hervorgebracht. Es wird deshalb von der Geburt der Philosophie aus dem Geist der Schrift gesprochen.

Sprechen als soziales Handeln

Seit Platon neigen die Philosophen dazu, in der Sprache primär ein Erkenntnisinstrument zu sehen. Sprache scheint in erster Linie aus Aussagesätzen zu bestehen, in denen behauptet wird, dass etwas der Fall ist. Beim Sprechen geht es aber nicht primär darum, anderen etwas mitzuteilen, sondern sie zu beeinflussen. Wie Wittgenstein betont hat, benutzen die Menschen die Sprache auf vielfältige Weise. Die Mitteilung von Gedanken ist nur eine Funktion unter vielen anderen. Andere Funktionen bestehen im Grüßen, Versprechen, Gefühle ausdrücken, Kontakt aufnehmen, Befehlen, Trösten, Fluchen, Beichten, Taufen u. Ä.12 Das Gemeinsame dieser Funktionen besteht darin, dass versucht wird, auf die Gedanken, Gefühle und Handlungen anderer Menschen einzuwirken. So gibt z. B. das Versprechen keinen Sachverhalt in der Welt wieder, sondern stellt vielmehr einen Sachverhalt her, der die Welt geringfügig verändert. Sprechen ist offensichtlich kein Mitteilen, sondern eine spezielle Form des Handelns. Alles Sprechen stellt einen Versuch dar, die eigenen Handlungsimpulse mittels der Sprache auszuleben. Die Sprache dient nicht primär der Erkenntnis, sondern unterstützt die Menschen dabei, andere Menschen im Sinne der eigenen Interessen zu beeinflussen.

In der Alltagssprache kommen Aussagesätze in der Regel im Kontext von Sätzen vor, die ein Handeln beschreiben. So geht es z. B. in einem Bericht über einen Autounfall primär um das, was alles geschehen ist. An welchem Ort der Unfall war, um was für ein Auto es sich gehandelt hat u. Ä., kann mit Aussagesätzen ergänzt werden. Aussagesätze haben also die Funktion, Handlungen zeitlich, räumlich, der Intensität nach u. Ä. zu spezifizieren. Ihr Sinn erschließt sich nur, wenn sie im Kontext von Handlungszusammenhängen betrachtet werden. Nur auf Handlungen bezogen, können sie Interesse wecken.

In der menschlichen Kommunikation werden offensichtlich primär Sätze benutzt, die das Handeln anleiten. Ich habe dafür in meinem Buch »Die Intelligenz der Regeln« den Begriff Anweisungssatz vorgeschlagen, weil damit ihre Funktion zum Ausdruck kommt, dass mit bestimmten Handlungen etwas bewirkt werden soll bzw. was passieren wird, wenn man etwas macht oder anspricht. Auch wenn Prozesse beschrieben werden, handelt es sich um Anweisungssätze, weil sie nur verstanden werden können, wenn die Bewegungsabfolge mit Hilfe der eigenen Muster innerlich nachvollzogen werden (vgl. Neubeck 2012 S. 139). Da das Denken aus probeweisem Handeln besteht, kann der Inhalt der Sprache nichts anderes als ein Bericht über Handlungen sein. Beim Sprechen spielen Aussagesätze offenbar nur eine untergeordnete Rolle. Deshalb ist der Unterschied zwischen Aussage- und Anweisungssätzen unerheblich.

Im alltäglichen Gespräch überwiegen ohne Zweifel Erzählungen. Es wird erzählt, was man gemacht und erlebt hat oder was man vorhat. In den Erzählungen wird von vergangenen oder geplanten Handlungen berichtet. Vor allem drängen Handlungen, die nicht wie geplant abgelaufen oder misslungen sind, darauf, dass sie anderen erzählt werden. Denn sie lassen eine innere Unruhe zurück. Der unbeabsichtigte Verlauf wird auf Fehler in der Planung, auf mangelnde Achtsamkeit oder falsche Überzeugungen zurückführt. Im genauen Nacherzählen geht es darum, die unbeabsichtigten Nebenfolgen, die überraschenden Wendepunkte oder sonstige Widerfahrnisse zu verstehen, zu integrieren und so die innere Unruhe aufzuheben. Im Erzählen wird die Handlung noch einmal vergegenwärtigt und versucht, sie dem Zuhörer und sich selbst als ein sinnvolles Geschehen darzustellen. Erzählungen sind damit eine wesentliche Quelle für die Bildung neuer und die Korrektur bisheriger Verhaltensmuster. Die Menschen haben auch deshalb ein großes Bedürfnis, Erzählungen miteinander auszutauschen, da damit die sozialen Bindungen gefestigt werden können.

Gespräche erweisen sich immer wieder als ein kreatives Mittel, um sich der Probleme bewusst zu werden, die mit den eigenen Gedanken verbunden sind. Das hängt damit zusammen, dass man beim Sprechen gezwungen wird, seine Gedanken im virtuellen Probehandeln zu überprüfen. Damit der Zuhörer die Gedanken verstehen kann, wird man gezwungen, die einzelnen Schritte so realitätsnah wie möglich darzustellen. Im Gespräch mit einem Zuhörer kann man es sich nicht leisten, einzelne Schritte zu überspringen. Außerdem müssen evtl. auch die verwendeten Denkmuster offen gelegt und begründet werden. Sprechen hat deshalb häufig auch die Funktion, dass man sich selbst begreift und damit verändern kann. Insofern werden Zuhörer gebraucht, um die eigenen Erfahrungen besser verarbeiten zu können.

Aus diesen Überlegungen ergibt sich, dass das Erzählen nur scheinbar zweckfrei ist. In Wirklichkeit hat es im sozialen Austausch eine wichtige Funktion. Das wird besonders an der zentralen Rolle deutlich, die die Sprache bei der Organisation von großen sozialen Gruppen gespielt hat und immer noch spielt. Seit Entstehung der Hochkulturen ca. 3000 v. Chr. wird intensiv das Potential der Sprache genutzt, mit erfundenen Erzählungen soziale Probleme zu lösen, die durch soziale Herrschaft und enges Zusammenleben entstanden sind.

Erzählungen können vielfältige soziale Funktionen übernehmen. Mit Erzählungen können große Bevölkerungsgruppen, die in Städten zusammenleben, ohne dass jeder die Chance hat, mit allen anderen einen direkten Kontakt zu pflegen, zusammengehalten werden. Erzählungen, in denen dargestellt wird, dass die Gruppe ihre jetzige Stellung einem Helden verdankt, geben der Gruppe eine soziale Identität. Seit der Bildung von Imperien konnte das große Problem, wie das Zusammenleben von reichen, armen und rechtlosen (Sklaven) Menschen begründet werden soll, mit der Erzählung gelöst werden, dass die sozialen Verhältnisse der kosmischen Ordnung entsprechen. Könige konnten ihre Privilegien mit dem Willen der Götter begründen. Ebenso konnten soziale Normen, die für viele Bevölkerungsgruppen erhebliche Nachteile mit sich brachten, damit verteidigt werden, dass sie direkt von Gott verkündet worden seien. Die großen Erzählungen wurden von den herrschenden Eliten gepflegt, weil sie ein unersetzlicher sozialer Kitt für Gesellschaften waren, die ihr Zusammenleben nicht mehr in direkter Kommunikation ordnen konnten, wie es in den kleinen Gruppen der Jäger und Sammler möglich war. Alle Erzählungen wurden so intensiv ausgeschmückt, dass der Eindruck entsteht, als würden sie von tatsächlichen Ereignissen berichten. Wenn in der Neuzeit die überlieferten Erzählungen, die von Göttern, Königen und Helden handeln, kritisch als Mythen bezeichnet wurden, wird allzu leicht ihre große historische Prägekraft übersehen.

Für die historische Entwicklung Europas war z. B. die Exodus-Erzählung im Alten Testament, in der berichtet wird, wie Moses mit Hilfe Gottes die Juden aus der ägyptischen Gefangenschaft befreit hat, äußerst prägend. Sie hatte die Funktion, dem jüdischen Volk, das wiederholt von anderen Völkern unterdrückt wurde, eine Befreiungshoffnung und die soziale Identität als ein von Gott auserwähltes Volk zu geben. Diese Erzählung formten nicht nur die religiösen Überzeugungen der Juden, sondern legte den Grundstein für die Entwicklung des Christentums und für alle späteren sozialen Konflikte, mit denen die Juden konfrontiert waren (vgl. Assmann 2015).

Es ist nicht schwer nachzuweisen, dass die zentralen Begriffe aus dem Bereich der psychisch-mentalen Innenwelt – wie z. B. die Begriffe Geist, Seele, Person, Freiheit, Gerechtigkeit u. Ä. – historisch der Rechtfertigung sozialer Interessen dienten. Mithilfe der Begriffe Seele und Gerechtigkeit wurden die Menschen dazu gebracht, sich mit Armut und sozialer Benachteiligung abzufinden. Die Römer rechtfertigten die Unterdrückung anderer Völker, die sie als Barbaren bezeichneten, damit, dass sie im Besitz des Geistes seien. Auch mit dem Begriff des Bösen konnte die Unterdrückung verteidigt werden. Mit den Begriffen Freiheit und Person konnte die Bestrafung von Menschen begründet werden, die sich den repressiven Gesetzen der Herrschenden widersetzen.

Die sprachlichen Aktivitäten des Rechtfertigens und Legitimierens zeichnen sich dadurch aus, dass sie für Aktivitäten, die im Widerspruch mit den kulturellen Werten stehen, Gründe liefern können, die kulturell akzeptiert werden. Die Sprache macht Aktivitäten möglich, die eigentlich von der Mehrheit der Menschen abgelehnt werden. Sprache ermöglicht Doppelmoral.

Im Grunde unterscheidet sich das Sprechen nicht wesentlich von der Benutzung von Werkzeugen. In beiden Fällen wird etwas hergestellt, indem mit Hilfe von Mustern körperliche Aktivitäten aktiviert werden. Im Grunde ist die Sprache nur eine Erweiterung von körperlichen Fertigkeiten. Es spricht vieles dafür, dass sich ein so komplexes Handeln wie die Sprache erst entwickeln konnte, nachdem das praktische Handeln eine gewisse Komplexität angenommen hatte (Neuweiler).

Wolfgang Prinz ist zuzustimmen, dass die Kunstfertigkeit der Sprache in der Kunstfertigkeit des Handelns wurzelt (Prinz 2012 S. 425). Die Sprache konnte sich vermutlich erst entfalten, nachdem die Menschen beim Handeln eine große Fertigkeit im Umgang mit Mustern erworben hatten. Sie hat sich vermutlich ursprünglich zur Unterstützung des Handelns entwickelt.13 Gemeinsames Handeln wird wesentlich dadurch erleichtert, dass man sich mit Hilfe der Sprache mit anderen Menschen auf gemeinsame Ziele und Mittel einigen kann, Wissen mit anderen austauschen kann und Konflikte mit dem Austausch von Gründen geklärt werden können.

Aus diesen Überlegungen folgt, dass es ein Irrtum wäre, die Sprache primär als ein Erkenntnisinstrument zu betrachten. Sie wird primär als ein Instrument benutzt, um die zwischenmenschliche Kooperation zu erleichtern, auf andere einzuwirken und Wissen weiterzugeben. Da die Sprache eine spezielle Form des Handelns ist, mit der das Denken anderer Menschen beeinflusst werden kann, wird sie sowohl im privaten Bereich als auch von den sozialen und politischen Eliten gezielt dazu benutzt, um Interessen zu rationalisieren und zu legitimieren.

2.4. Die Muster des Denkens

»Die Sprache ist die Kleidung der Gedanken.« (Samuel Johnson)

Im Folgenden wird ein neues Paradigma des Denkens entfaltet, das nicht mehr wie im traditionellen Denken vom Geist oder vom Verstand ausgeht. Stattdessen wird versucht, das Denken auf der Basis der Theorie der Muster als einen körperlichen Prozess zu verstehen, der mit natürlichen Mitteln arbeitet.

Die Kernfrage lautet: Welches Medium wird beim Denken benutzt? In der philosophischen Literatur werden dafür Bilder, Symbole, Vorstellungen, Ideen, Begriffe oder eine eigene Sprache des Geistes (Jerry Fodor) angenommen. Schon die Vielzahl der vorgeschlagenen Medien zeigt, dass das Problem extrem schwierig zu sein scheint. Mit keinem dieser Medien konnte eine plausible Theorie des Denkens entwickelt werden.

Auch die älteren materialistischen Theorien, wie sie von Epikur, Lukrez und später von Hobbes entwickelt wurden, haben nicht erklären können, wie das Denken zustande kommt. Die These von Epikur, dass der Geist aus den allerfeinsten und kleinsten materiellen Urelementen (Atome) bestehe und sich die geistige Beweglichkeit aus der Glätte der Atome des Geistes ergebe, ist eine dogmatische Behauptung, die durch nichts begründet werden kann. Es erweist sich als unmöglich, mit den Atomen die Qualität der Gedanken zu erklären.

Der jüngste Versuch, das Medium des Denkens zu klären, besteht in dem Ansatz der Hirnforschung, das Gehirn in Analogie zu den elektrischen Schaltkreisen von Computern und dementsprechend als ein Informationsverarbeitungssystem zu betrachten. Es ist unklar, in welchem Sinne der Begriff der Information verwendet wird. Der Begriff der Information stammt ursprünglich aus der Nachrichtentechnik, bei der es allein um die technische Seite des Signaltransportes geht und die inhaltliche Seite unberücksichtigt bleibt. In der Alltagssprache ist der Begriff aber eindeutig mit dem Transport von bedeutungsvollen Nachrichten verbunden. Deshalb ist der Begriff nur in der zwischenmenschlichen Kommunikation sinnvoll zu verwenden. Er ist aber ungeeignet, um damit das Zusammenspiel der Neuronen zu erfassen. Die Vorstellung, dass dabei Informationen im Sinne von Nachrichten weitergegeben werden, ist problematisch, da nicht erwiesen ist, dass dabei wirklich Bedeutungen weitergegeben werden. In Bezug auf das Zusammenspiel von Neuronen ist der Begriff der Information eine irreführende Metapher (vgl. Janich 2009 S. 66ff). Der Begriff der Information ist zunächst nur eine semantische Analogie, da nicht erwiesen ist, dass er den neuronalen Prozessen angemessen ist (vgl. Falkenburg S. 310).

Von vielen Hirnforschern wird eingestanden, dass der Vergleich des Gehirns mit Computern höchst problematisch ist. Es gibt zahlreiche Argumente, warum die Analogie von Gehirn und Computer irreführend ist. Das wichtigste Argument besteht darin, dass die Analogie von Gehirn und Computer lediglich ein heuristisches Mittel ist, um in einem unbekannten Feld eine Struktur zu entdecken und im nächsten Schritt vielleicht Regelmäßigkeiten zu finden, die sich aus der Sache und nicht bloß aus der Analogie ergeben.

Es ist fraglich, ob im Computer wirklich Informationen übertragen und verarbeitet werden. Bei Computern, die z. B. Werkzeugmaschinen oder Flugzeuge steuern, ist evident, dass es nicht um die Verarbeitung von Informationen, sondern um die Steuerung von Aktivitäten geht. Demnach müssten Computer als Akteure verstanden werden, die mit den zur Verfügung gestellten Daten und unter Berücksichtigung von Nebenbedingungen, die durch Informationen bereitgestellt werden, bestimmte Manipulationen durchführen. Wenn Computer als virtuelle Akteure verstanden werden, die Aktivitäten steuern, ergibt die Analogie von Computer und Gehirn etwas mehr Sinn. Dann könnten Gehirne als Akteure verstanden werden, die nicht Informationen verarbeiten, sondern Bewegungen organisieren. Alle mentalen Fähigkeiten, wie z. B. in Wahrnehmungen Muster erkennen, Reaktionen anderer erwarten, Situationen bewerten u. a. können vermutlich besser verstanden werden, wenn sie als Teilfunktionen bei der Bewegungsorganisation verstanden werden. »Letztlich ist das gesamte Gehirn als »motorisches System« zu betrachten, denn alles, was dort abläuft, ist nur sinnvoll, wenn es früher oder später in Verhalten einmündet.« (Roth 2003 S. 442).

Die Annahme einiger Hirnforscher, dass die Aufgabe des Gehirns primär in der Organisation von Bewegungen besteht, konnte bisher empirisch nicht begründet werden. Sie ist sicherlich eine fruchtbarere theoretische Hypothese als das Informationskonzept, weil sich damit möglicherweise realitätsgerechtere Experimente entwickeln lassen.

Der eigentliche Grund für das Scheitern der neuronalen Erklärung des Denkens liegt daran, dass bei den mentalen Phänomenen das reduktionistische Denkmuster der Naturwissenschaften nicht angewandt werden kann. Eine Reduktion kann nur durchgeführt werden, wenn ein System in Einzelteile zerlegt werden kann. Dies ist bei den mentalen Phänomenen prinzipiell nicht der Fall, da sie sich nicht beliebig zerlegen, nicht quantifizieren und damit nicht messen lassen. Ebenso wenig können einzelne Aspekte isoliert werden. Mentale Zustände haben den Charakter von Gestalten. Wenn ein Element isoliert wird, verändert sich die ganze Gestalt. Zu Recht wird für das Verständnis mentaler Phänomene ein ganzheitliches Vorgehen gefordert. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass es der Hirnforschung trotz intensiver Forschungstätigkeit bisher nicht gelungen ist, das Rätsel des Denkens auch nur ansatzweise zu klären.

Die zweite Kernfrage bezüglich des Denkens lautet: Wie werden die Elemente des Denkens miteinander verknüpft. Auf diese Frage wurde bisher nur die vage Antwort gegeben, dass dies der Geist bewerkstelligt. David Hume nahm an, dass sich das Denken dabei nach Gewohnheiten richtet. Auch die These, dass das Denken ein lautloses Sprechen, ein Gespräch der Seele mit sich selbst sei, wie Platon annahm, ist wenig befriedigend. Denn bei dieser Definition wird bereits vorausgesetzt, dass das Denken mit Hilfe der Sprache funktioniert.

Aus den bisherigen Überlegungen ergibt sich die Hypothese, dass beim Denken nicht Vorstellungen, sondern Bewegungsmuster miteinander verknüpft werden. Da die Muster Bewegungsanweisungen sind, läuft das Denken konkret so ab, dass im Inneren mögliche Handlungsschritte simuliert werden.14 Es wird geprüft, welche Kombination von Mustern geeignet ist, ein Problem zu lösen. Wenn man z. B. Bauchschmerzen hat, wird man sich fragen, welche Handlungen dazu geführt haben könnten und welche Möglichkeiten zur Verfügung stehen, eine Linderung oder Heilung zu erreichen. Wenn man für die Lösung eines Problems nicht das richtige Werkzeug hat, muss überlegt werden, welche anderen Werkzeuge ersatzweise helfen könnten und dies in Gedanken ausprobieren. Wenn man sich mit jemanden zerstritten hat, wird man sich überlegen, welche Handlungsschritte den Konflikt lösen könnten. Es ist eine erstaunliche Fähigkeit der Menschen, frühere Bewegungen in der mentalen Innenwelt wiederholen zu können. So können komplexe Situationen vergegenwärtigt und frühere Erfahrungen wiederbelebt werden. Es ist auch ohne weiteres möglich, sich alternative Handlungen vorzustellen. Man kann handeln, ohne wirklich zu handeln.

Denken ist im Grunde eine Art inneres Handeln. Es wird ausprobiert, was passiert, wenn verschiedene Handlungen durchgespielt werden. Denken ist ein Handeln ohne direktes Handeln. Zu Recht hat Sigmund Freud den Begriff des Probehandelns verwendet. Hans Aebli, ein Schüler von Jean Piaget, spricht treffend vom Denken als Ordnen des Tuns. Im Folgenden wird deshalb das Denken als ein virtuelles Handeln bezeichnet.15

In der Mustertheorie wird das Denken aktiviert, wenn ein Problem nicht auf der Stelle mit den verfügbaren Handlungsmustern gelöst werden kann. Der Anstoß zum Denken geht stets von einer Verunsicherung aus, die sich als Verwirrung, Desorientierung, Schmerz, Scheitern, Verlust, Bedrohung u. Ä. ausdrückt. Auch Fragen können das Denken aktivieren, da sie Gefühle wie Unsicherheit oder Ärger auslösen. Gefühle sind somit der Motor des Denkens. Was man spürt, ist nur die Unsicherheit, die Unruhe und das Warten, bis sich ein Ergebnis einstellt. Man spürt den Impuls zu handeln, aber nicht das Denken selbst. Viele Anstöße führen direkt zum Handeln, manche nur indirekt, indem man angehalten wird, seine Überzeugungen zu überprüfen. Da Überzeugungen in Handlungsmustern wurzeln, läuft der Denkimpuls darauf hinaus, dass die eigenen Handlungsmuster überprüft werden sollen. Daraus ergibt sich, dass dem Denken stets ein vorsprachlicher Handlungsimpuls zugrunde liegt.16

Das Denken kann natürlich auch beim Lesen stimuliert werden. Solange man aber nur die Gedanken des Autors zur Kenntnis nimmt, findet noch kein Denken statt. Erst wenn die Handlungsmuster, von denen berichtet wird, mit den eigenen verglichen werden, kann es zu einem Denkanstoß kommen. Abweichungen führen zur kritischen Prüfung, ob ein Anlass besteht, die eigenen Handlungsmuster zu modifizieren. Lesen setzt somit die Bereitschaft voraus, in einen stillen Dialog mit dem Autor der Gedanken einzutreten und sich selbst infrage stellen zu lassen. Das gilt natürlich auch für das Lesen von philosophischen Texten, nur dass es hier wesentlich schwieriger ist, das eigene Denken zu aktivieren, weil der direkte Vergleich mit den eigenen Handlungsmustern in der Regel ausscheidet.

Meistens wird erst beim Handeln deutlich, wie komplex ein zu lösendes Problem ist oder in welcher Richtung nach der Lösung gesucht werden muss. Jeder kennt die Erfahrung, dass sich der Knoten eines Problems plötzlich löst, wenn mit dem Handeln begonnen wird. Aus den Erfahrungen, die beim Handeln gemacht werden, entstehen neue Gedanken. Das Handeln wird umso effizienter, je mehr es mit Hilfe von Erfahrungen optimiert wird. Und das Denken wird umso mächtiger, je mehr es auf vielfältige Bewegungsmuster zurückgreifen kann.

Die Abhängigkeit des Denkens vom Handeln kommt nirgends deutlicher zum Ausdruck als beim experimentellen Handeln der Naturwissenschaften. Die Methodik des wissenschaftlichen Experiments ist nichts anderes als die konsequente Anwendung der Prinzipien des praktischen Handelns. Im experimentellen Handeln werden die Gedanken getestet, die sich bei früheren Handlungen eingestellt haben. Zu Recht hat John Dewey betont, dass das Tun das innerste Prinzip der Erkenntnis ist (Dewey 2001 S. 40).

Das Ergebnis des Denkens sind neue Muster. Solche Muster können wiederum mit anderen Mustern in Beziehung gesetzt werden. Daraus erklärt sich, dass auch mit komplexen Gedanken spielerisch leicht umgegangen werden kann. Mit abstrakten Mustern können Zusammenhänge zwischen nicht direkt wahrnehmbaren Prozessen hergestellt werden. Es können auch relativ einfach Muster von einem Bereich auf einen anderen Bereich übertragen werden und dadurch evtl. neue Zusammenhänge entdeckt werden. Die große Produktivität und Kreativität des Denkens hängt damit zusammen, dass Muster vielseitig verknüpft und auch auf höheren Abstraktionsebenen gebildet werden können.

Der entscheidende Unterschied zur traditionellen Auffassung des Denkens besteht darin, dass nicht der Suchprozess, sondern nur der intuitive Einfall als Denken betrachtet wird. Im Normalfall weiß man sofort, was zu tun ist, wenn man mit einem bekannten Problem konfrontiert wird. Man greift unbewusst auf bewährte Lösungsmuster zurück. Wenn man aber ratlos ist, wie ein Problem zu lösen ist, setzt ein bewusster Suchprozess ein. Er besteht darin, dass die Problemsituation mit allen Sinnesorganen genau untersucht wird und geprüft wird, ob Lösungsmuster aus ähnlichen Situationen übernommen werden können. Das Suchen selbst ist noch kein Denken, da nur die Problemsituation durch wiederholtes Schauen oder Hören genau geprüft und gewartet wird, bis einem etwas einfällt. Ebenso wenig liegt Denken vor, wenn statt der geduldigen Suche andere Menschen oder Medien um Rat gefragt werden.

Da die Sinneswahrnehmungen stets mit Bewusstsein verbunden sind, ist der Suchprozess ein bewusster Vorgang. Das eigentliche Denken läuft aber unbewusst ab. Es präsentiert seine Ergebnisse in Einfällen, Intuitionen, Impulsen oder Gefühlen. Um Gewissheit zu erlangen, wird die gefundene Problemlösung gleich in der Vorstellung oder in der Praxis ausprobiert. Wenn sie versagt, wird die Suche fortgesetzt. Da man häufig zwischen Suche und Einfall hin- und herpendelt, kann der falsche Eindruck entstehen, dass man Schritt für Schritt denken würde. Wenn Suche und Einfall nicht klar voneinander unterschieden werden, kann leicht der Eindruck entstehen, dass das Denken ein bewusster Prozess ist.

Dieses Konzept des Denkens steht konträr zu der traditionellen Auffassung, nach der beim Denken vergangene Situationen vorgestellt werden. Da dabei der visuelle Sinn dominant ist, scheint man ein Bild zu sehen. Deshalb haben alle Elementen, die bisher als Bausteine des Denkens angenommen wurden (Vorstellungen, Bilder, Symbole, Ideen u. Ä.), einen bildhaften Charakter. Auch Begriffe wie Einsicht, Intuition, Verstehen, Anschauung, Einbildungskraft u. Ä., die bei der Analyse des Denkens verwendet werden, zeigen, wie prägend die Metaphorik des Gesichtssinns ist. Wegen der Dominanz visueller Metaphern konnte das Missverständnis entstehen, dass das Denken ein Operieren mit Vorstellungen ist. Demgegenüber besteht nach der Mustertheorie das Denken darin, dass frühere Handlungen nachvollzogen oder mögliche zukünftige Handlungen simuliert werden.

Die Mustertheorie des Denkens bricht auch mit der verbreiteten Vorstellung, dass das Denken ein Rechnen sei. Diese Vorstellung hat seinen Ursprung in der Überzeugung, dass das Gehirn wie ein Computer arbeitet. Sie ist längst von vieler Hirnforschern aufgegeben worden. Die Analogie mit dem Computer ist deshalb völlig verfehlt, weil das Denken besser verstanden werden kann, wenn es als ein inneres Handeln begriffen wird.

Das traditionelle Konzept des Denkens scheitert letztlich daran, dass die Vorstellungen, die als Repräsentationen der vorgegebenen Wirklichkeit verstanden werden, nur als ein Produkt des menschlichen Bewusstseins gedacht werden können. Es kann nicht überprüft werden, ob sie der äußeren Wirklichkeit entsprechen. Es kann nicht geklärt werden, warum bestimmte Vorstellungen miteinander verknüpft wurden. Außerdem ist ausgeschlossen, Gewissheit darüber zu erlangen, ob die Ergebnisse des Denkens wahr sind oder ob es sich nicht nur um Täuschungen handelt. Konsequenterweise ging Descartes von der Überzeugung aus, dass die Richtigkeit des Denkens durch Gott verbürgt wird.17

Arbogast Schmitt hat die Schwächen der Vorstellungstheorie des Denkens, die seit der Aufklärung dominant ist, ausführlich herausgearbeitet (vgl. Schmitt). Beim Vergleich mit der Theorie von Aristoteles, die – wie oben dargestellt –- von der Funktion der Gegenstände ausgeht, kommt er zum Ergebnis, dass der aristotelische Ansatz wesentlich attraktiver ist. Dass er in Vergessenheit geraten ist, liegt nicht an seiner eigenen Schwäche, sondern daran, dass er in der komplexen Rezeptionsgeschichte des Werkes von Aristoteles missverstanden wurde. Wegen der Fixierung der Philosophie auf das Denken, konnte die zentrale Bedeutung des Handelns, die Aristoteles noch gesehen hatte, nicht mehr erkannt werden. Der historische Wechsel zum Paradigma der Vorstellungen ließ die Erkenntnis nicht mehr zu, dass es bei der Wahrnehmung der Dinge primär um deren Funktion für das menschliche Handeln geht.

Bei den Theorien des Denkens ist viel Verwirrung dadurch entstanden, dass angenommen wurde, dass das Denken bewusst abläuft. So war Descartes der Überzeugung, dass das Denken immer bewusst sei. Er nahm an, dass das Denken nicht geschehen könne, ohne dass sich das Denken dessen bewusst sei (vgl. Heller-Roazen). Seit Descartes besteht eine starke Tendenz, das Bewusstsein mit dem Geist gleichzusetzen. Sigmund Freud hat dem bewussten Denken die Aufgabe zugeschrieben, die vom Unbewussten produzierten Gedanken auf ihre Realitätsgerechtigkeit zu überprüfen. Denken wird dabei als ein Dialog zwischen zwei ungleichen inneren Partnern angesehen.

Am bewussten Denken sind immer wieder Bedenken geäußert worden. Bereits Georg Lichtenberg hat betont, dass das Ich nicht der Urheber seiner Gedanken ist. »Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt. Zu sagen cogito, ist schon zu viel, sobald man es durch Ich denke übersetzt.« Martin Heidegger soll gesagt haben: »Es denkt in mir.« (Röd S. 63). Der Psychoanalytiker Georg Groddeck hat betont, dass es denkt.18 Auch Philosophen gehen zum Teil davon aus, dass das Denken völlig unbewusst und ohne sprachliche Einflüsse abläuft (z. B. Ray Jackendoff, in Werani S. 114). Unter Hirnforschern besteht Konsens, dass das Denken weitgehend unbewusst abläuft. Es wird angenommen, dass ca. 98 % außerhalb der bewussten Wahrnehmung stattfindet (vgl. Wehling S. 48). Nur bei schwierigen Problemen und Entscheidungen laufe das Denken im Bewusstsein ab (Roth 2003 S. 553).

Daniel Kahneman hat die Aufspaltung in zwei unterschiedliche Denkvermögen, das bewusste und unbewusste Denken, popularisiert (Kahneman). Das unbewusste Denken (»System 1«) habe die Fähigkeit, große Mengen an Informationen effizient zu verarbeiten, dabei arbeite es schnell und mühelos. Da es Fehler machen kann, komme dem bewussten Denken (»System 2«) die Aufgabe zu, eventuelle Fehler zu korrigieren. Diese Aufgabe ist anstrengend und deshalb langsam.

Es spricht vieles dafür, dass die Spaltung in bewusstes und unbewusstes Denken nicht haltbar ist. Wenn man sich aufmerksam beobachtet, fällt sofort auf, dass man nicht Schritt für Schritt denkt, sondern dass einem plötzlich eine Lösung einfällt. In Berichten über große Erfindungen wird immer wieder hervorgehoben, dass sich die Lösung des Problems plötzlich ohne Zutun eingestellt hat. Fast immer ging ein langer mühevoller Suchprozess voraus, aber die Lösung war ganz offensichtlich nicht das Werk des aktiven Denkens, sondern verdankte sich einem Einfall, der einem wie ein Geschenk in den Schoß fiel. Die Erfahrung lehrt, dass sich Probleme praktisch meist von selbst lösen. In der Regel stellt sich eine Lösung gerade dann ein, wenn man sich anderen Dingen zuwendet. Das Einzige, was bewusst zur Problemlösung beigetragen werden kann, ist, dass das Problem klar formuliert wird und dass man sich bemüht, möglichst alle relevanten Informationen zusammenzutragen. Am ehesten fällt einem eine neue Idee ein, nachdem man intensiv alle denkbaren Lösungsmöglichkeiten erfolglos durchdacht hat und an einem Punkt angekommen ist, der sich so anfühlt, als wäre man in eine Sackgasse geraten.

So entdeckte Archimedes, von dem der Ausruf »Heureka« als Ausdruck der Freude über eine Entdeckung stammt, den Auftrieb von Gegenständen, als er bemerkte, dass beim Eintauchen in die Badewanne der Wasserspiegel anstieg. Er hatte lange an dem Problem herum gedacht, wie bewiesen werden kann, ob eine Königskrone aus reinem Gold besteht. In der Badewanne kam ihm der Einfall, dass das verdrängte Wasservolumen von materialmäßig unterschiedlichen, aber gleich schweren Gegenständen unter Wasser unterschiedlich sein könnte. Im Vergleich mit einer gleich schweren Goldkugel zeigte sich, dass der Kranz, der nicht aus reinem Gold bestand, mehr Wasser verdrängte. Damit war erwiesen, dass der Kranz nicht vollständig aus Gold gefertigt war.

Wenn man sich seines Denkens bewusst wird, bedeutet das – wie oben bereits erwähnt – im Grunde nur, dass das Denken ins Stocken geraten ist, weil Informationen fehlen oder man Angst vor einer sich aufdrängenden Entscheidung hat. Man spürt den Impuls, dass nach neuen Informationen und anderen Lösungswegen gesucht werden muss. Da dafür alle Sinnesorgane, insbesondere das Sehen, Hören und die Propriozeption, aktiviert werden müssen, die immer mit bewusstem Erleben verbunden sind, kann der falsche Eindruck entstehen, dass die Gedanken bewusst gebildet werden. Sobald geeignete Muster gefunden werden, geht der unbewusste Denkprozess weiter, bis ein Ergebnis oder eine Entscheidung präsentiert wird. Sicherlich wird der Eindruck, bewusst zu denken, durch die Gewohnheit verstärkt, die Ergebnisse des Denkens immer sofort spontan zu verbalisieren.

Die Vorstellung, dass sich das Denken im Bewusstsein abspielt, erweist sich als eine Selbsttäuschung. Die Auffassung von Daniel Kahneman, dass es ein bewusstes und ein unbewusstes System des Denkens gibt, übersieht, dass das unbewusste Denken bei schwierigen Aufgaben immer wieder durch bewusste Suchbewegungen unterbrochen wird, die aber – wie oben ausgeführt wurde – nichts mit dem Denken zu tun haben. Offensichtlich läuft das Denken ausschließlich unbewusst ab und werden nur seine Ergebnisse bewusst erlebt.

Die Tatsache, dass Gedanken nicht Schritt für Schritt entwickelt werden, sondern sich in fertiger Gestalt einstellen, bedeutet, dass es eine Illusion ist zu glauben, dass man aktiv darauf Einfluss nehmen könne. »Aber wir wissen auch, dass gerade im Bereich des Denkens nichts erzwungen werden kann. Man kann sagen: Handeln und Denken des Menschen ordnen sich nach ihren eigenen Gesetzen.« (Aebli Bd. 2, S. 296) Die Gedanken bilden sich spontan außerhalb des Bewusstseins. Sie ergeben sich aus der Gesamtheit der Muster, die aus den bisherigen Erfahrungen abgeleitet wurden.

Neue Gedanken liegen also zunächst in vorsprachlicher Form vor. So wie man von seinen Gefühlen betroffen ist, so ist man auch von seinen Gedanken betroffen. Deshalb ist es auch ganz selbstverständlich, dass spontan alle Gedanken als die eigenen betrachtet werden. Wenn man sie sich selbst klarmachen oder anderen Menschen mitteilen will, muss zwangsläufig eine Transformation in die verbale Sprache vorgenommen werden. Dabei ist damit zu rechnen, dass die ursprünglichen Gedanken verzerrt werden können.

Folgt aus der Aussage, dass man nicht Subjekt seiner Gedanken ist, dass die eigenen Gedanken als fremd erlebt werden, dass man von ihnen abhängig ist? Die Formulierung, dass man von seinen Gedanken abhängig ist, geht implizit davon aus, dass sich im Inneren zwei Instanzen oder Wesen gegenüberstehen, eine, die abhängig macht und eine, die abhängig ist. Es ist problematisch, den Begriff abhängig auf das Verhältnis zu den eigenen Gedanken zu übertragen, da er für das Verhältnis zu äußeren Objekten gebildet worden ist. Die eigenen Gedanken sind gerade nichts Fremdes, sondern ein Teil von einem selbst. Außerdem liegt der Formulierung, dass man von seinen Gedanken abhängig ist, die problematische Idee eines Ich als einem aktiven Denkzentrum zugrunde. Im Kapitel 3.3. wird gezeigt, dass diese Vorstellung nicht zu halten ist.

Für das besondere Verhältnis zu den eigenen Gedanken könnte der Begriff des rezeptiven Bewusstseins verwendet werden. Es ist allerdings fraglich, ob sich die Sprache überhaupt dafür eignet, die Beziehung zu den eigenen Gedanken angemessen darzustellen. Das ist offensichtlich nicht der Fall, da sich das Denken aus dem Handeln heraus entwickelt hat und stets auf das Handeln bezogen ist. Erst wenn die Gedanken ausformuliert werden, kann man sich von ihnen distanzieren und ein Verhältnis zu ihnen einnehmen. Da man im Grunde kein bewusstes Verhältnis zu den vorsprachlichen Gedanken einnehmen kann, sondern von ihnen betroffen ist, erübrigt es sich, dafür einen eigenen Begriff zu bilden.

Die Frage, wie es das unbewusste Denken fertigbringt, rationale Gedanken zu produzieren kann, ist damit zu erklären, dass die Bausteine des Denkens, die Bewegungsmuster, unbewusst gebildet werden und sich deshalb für unbewusste Verarbeitungsprozesse eignen. Da das unbewusste Denken ein probeweises Handeln ist, orientiert es sich an allen bisherigen Erfahrungen. Die unbewusste Verarbeitung kann deshalb sehr schnell und relativ fehlerfrei sein.

Aus dem unbewussten Denken darf keineswegs geschlossen werden, dass es ein Unbewusstes gibt. Bislang konnte im Gehirn kein Organ für das Unbewusste identifiziert werden. Es ist fraglich, ob dies je gelingen wird, da alles dafür spricht, dass das ganze Gehirn am Denken beteiligt ist. Es wäre deshalb ein Fehler, das Unbewusste als eine reale psychische Instanz zu betrachten. Er wäre auch ein falscher Gebrauch des Begriffs, wenn behauptet wird, dass das bewusste Denken die Realitätsgerechtigkeit der unbewusst entstandenen Gedanken prüft. Genauso falsch wäre es zu sagen, dass die Menschen vom Unbewussten gesteuert werden und dass störende Gefühle ins Unbewusste verdrängt werden. Man kann nur soviel sagen, dass bestimmte angstbesetzte Gedanken oder traumatische Erfahrungen daran gehindert werden, bewusst zu werden. Das Unbewusste ist nicht mehr als eine Metapher dafür, dass das Verhalten durch die in der persönlichen Lebensgeschichte gebildeten Handlungsmuster geprägt wird, ohne dass man sich dessen bewusst ist.

Die Mustertheorie des Denkens basiert auf der Überzeugung, dass sich das Denken im Laufe der Evolution bei der Aufgabe entwickelt hat, das Handeln bei schwierigen Problemen zu unterstützen. Je komplexer das Handeln wurde, umso komplexer wurde auch das Denken. Das Denken ist genauso wie das Handeln ein motorischer Vorgang, mit dem Unterschied, dass dabei das Handeln nur simuliert wird. Das Denken bleibt stets an das Handeln gebunden. Zu Recht hat der Medizin-Nobelpreisträger Sir Charles Sherrington festgestellt: »Der motorische Akt ist die Wiege des Geistes.«

Es wäre allerdings falsch, davon auszugehen, dass das Denken ausschließlich im motorischen System des Gehirns stattfindet. Dann wäre nicht erklärbar, dass Menschen, die völlig gelähmt sind und nur eine geringe Kontrolle über ihrer Körper ausüben können, dennoch denken können. Der Hirnforscher Gregory Hickok hat viele Belege dafür zusammengetragen, dass die verschiedenen Gehirnareale, die an der Vorbereitung des Handelns beteiligt sind (z. B. der Temporallappen), in der Lage sind, wahrgenommene Bewegungen nachzuvollziehen und zu verstehen, ohne dass das motorische System direkt stimuliert werden muss (Hickory S. 221). Die Bewegungsmuster können offensichtlich auch außerhalb des motorischen Systems direkt miteinander verknüpft werden. Das bedeutet, dass die Verarbeitung von Bewegungen das Grundprinzip des Gehirns ist und dass viele Teilbereiche des Gehirns daran beteiligt sind.

Am Darwinismus wurde wiederholt kritisiert, dass er nicht in der Lage sei, das Denken zu erklären (vgl. Nagel S. 30). Das Prinzip der natürlichen Auslese sei bei der Erklärung des Denkens relativ nichtssagend, da es offen bleibt, welche biologischen Elemente für das Denken benutzt werden und warum sich das Denken erst auf einer bestimmten Entwicklungsstufe entwickelt hat. Die Mustertheorie liefert eine mit dem Evolutionsgedanken vereinbare Erklärung. Demnach ist das Denken dadurch möglich geworden, dass für die Koordination des Handelns die Bildung von Mustern erforderlich geworden war, die auch für das virtuelle Handeln des Denkens benutzt werden können.

Michael Tomasello führt die Einzigartigkeit des menschlichen Denkens darauf zurück, dass das menschliche Zusammenleben kooperativ geprägt ist, während das der Menschenaffen primär konkurrenzorientiert verläuft. Die Menschen mussten in der Konkurrenz mit anderen Primaten auf die Jagd von Großwild ausweichen, da sie bei der Suche nach leicht erreichbaren Nahrungsmittel wie Früchten und anderen Pflanzen benachteiligt waren (vgl. Tomasello S. 61). Bei der Jagd von größeren Tieren müssen gemeinsame Entscheidungen getroffen, Rollen verteilt, Ziele aufeinander abgestimmt und Informationen ausgetauscht werden. Das funktioniert nur, wenn die Fähigkeit vorhanden ist, die Perspektive des anderen zu simulieren. Gleichzeitig regte die Jagd die Entwicklung von Werkzeugen an. So entstanden Pfeile für das Erbeuten von großen Tieren und Faustkeile zum Zerlegen von Fleischstücken und zum Enthäuten. Insofern veranlassten ökologische Gründe die Entwicklung von komplexen Fähigkeiten des Denken, der Selbstbeobachtung und der Werkzeugherstellung. Die neuen Formen des sozialen Zusammenlebens haben wesentlich zur Differenziertheit des menschlichen Denkens beigetragen.

Es soll noch einmal hervorgehoben werden, dass die Mustertheorie des Denkens einen engeren Begriff des Denkens verwendet, als er gemeinhin im Alltag verwendet wird. So wird im Alltag vom Denken gesprochen, wenn eine Überzeugung geäußert, eine Aufgabe erledigt oder eine Geschichte erzählt wird. Wenn eine Problemlösung aus einer der vielen Quellen geholt oder eine Aufgabe mit den verfügbaren Routinen erledigt wird, kann noch nicht von Denken gesprochen werden. Denken liegt erst vor, wenn versucht wird, mit den eigenen Ressourcen ein Problem zu lösen, für das man in seinem Musterarsenal noch keine Antwort hat. Deshalb bezeichnet Anke Werani zu Recht das Denken als ein Problemlösen (Werani S. 184).

Denken ohne Sprache

Die traditionelle Überzeugung, dass das Denken auf der Verknüpfung von Begriffen basiert, beruft sich in der Regel auf die intuitive Erfahrung, dass das Denken im Medium der Sprache stattfindet. Kann man dieser Intuition vertrauen? Aus der Sicht der Mustertheorie des Denkens ist die Antwort: nein. Diese Intuition kommt vermutlich dadurch zustande, dass die Menschen als dialogische Wesen von Anfang an lernen, die Ergebnisse ihres Denkens immer sofort in sprachlicher Form auszudrücken. Da sich das Denken im gemeinsamen Handeln entwickelt hat, wird es immer auch auf andere Menschen bezogen.

Aus den bisherigen Überlegungen ergibt sich, dass die Ergebnisse des Denkens nicht in sprachlicher Form, sondern in Form von Handlungsimpulsen vorliegen. Da die Elemente des Denkens, die Muster, keinen sprachlichen Charakter haben, gilt dies auch für die Ergebnisse. Das »gewusst wie« braucht nicht unbedingt verbal ausformuliert werden. Häufig ist es sogar wesentlich leichter, es vorzumachen, als es korrekt in der Sprache auszuformulieren. Empirische Untersuchungen zeigen, dass das unbewusste Denken gerade deshalb so leistungsfähig ist, weil es ohne Sprache auskommt (Ayan S. 126).

Sätze entstehen erst, wenn Gedanken in sprachliche Gestalt gebracht werden. Es wäre deshalb irreführend, die sprachliche Umformung der Ergebnisse des unbewussten Denkens als Übersetzung zu bezeichnen. Dieser Begriff, der sich auf die Übertragung in andere Sprachen bezieht, kann hier nicht angewendet werden, weil die Ergebnisse des Denkens darin bestehen, wie ein Problem handelnd gelöst werden kann. Dieser Charakter der Gedanken geht bei der Übersetzung meistens verloren, weil dabei das problematische Denkmuster angewandt wird, Sätze als Berichte über Tatsachen zu verstehen.

Die Differenz zwischen vorsprachlichen Gedanken und artikulierten Sätzen wird in der Regel übersehen, da man im Gespräch mit anderen Personen meistens nicht merkt, dass zunächst gedacht wird, bevor man spricht. Dafür ist das unbewusste Denken zu schnell. Man spürt zwar den Impuls, was man ausdrücken will, aber wie der Impuls konkret sprachlich ausformuliert wird, ergibt sich beim Formulieren wie von selbst. Selbst wenn man im Stillen denkt, wie man auf das Gegenüber reagieren könnte, kommt in der Regel beim Reden doch etwas anderes heraus.

Daraus ergibt sich, dass alle Sätze unter dem Blickwinkel gelesen werden müssen, dass sie direkt oder indirekt Bewegungsprozesse ausdrücken. So steckt in dem Satz, dass das Denken ausschließlich unbewusst abläuft, die Aufforderung, nicht auf das Denken Einfluss zu nehmen, da es seinen eigenen Gesetzen folgt. Oder in dem philosophischen Satz, dass Wahrheit in der Übereinstimmung von Vorstellung und Wirklichkeit besteht, wird dazu aufgefordert, Sätze mit der Wirklichkeit zu vergleichen. Der Gedanke, dass Sätzen aus Handlungsanweisungen bestehen, gilt also nicht nur für Sätze aus dem Alltag, sondern auch für philosophische Sätze, bei denen der Bezug zum Handeln oft nicht direkt auf der Hand liegt.

Wie oben bereits erwähnt wurde, können den Bewegungsmustern unterschiedliche Symbole zugeordnet werden. Damit erklärt sich, dass auch taubstumme Menschen, die sich mit der Gebärdensprache unterhalten, denken können. Es braucht auch nicht mehr in Abrede gestellt werden, dass unsere Vorfahren bereits vor 200.000 Jahren denken konnten, also lange bevor die Sprache entstanden ist. Menschen ohne verbale Sprache erfahren ihre Denkergebnisse in ihren Handlungsimpulsen, so wie gespürt wird, dass man hungrig ist. Die These vieler Linguisten, dass erst die Sprache das bewusste Denken möglich gemacht hat, ist nicht haltbar.

Bei jeder sprachlichen Formulierung kann ein Spannungsverhältnis zwischen der Erfahrung – also dem Konkreten und Besonderen – einerseits und dem verbalen Ausdruck – also dem Allgemeinen – andererseits gespürt werden. Abstrakte Allgemeinbegriffe lassen deshalb den Wunsch nach dem Konkreten entstehen. Nach Theodor W. Adorno richtet sich das Interesse der Philosophie auf das Einzelne und Besondere, auf das, was ihr durch die Allgemeinheit der Begriffe versperrt wird. Seine Formel dafür lautet: »über den Begriff mit dem Begriff hinaus gelangen« (Adorno 2007 S. 140). Dabei wird aber übersehen, dass das sinnlich Konkrete immer schon etwas Abstraktes ist, da die Sinnesreize durch die Muster überformt werden. Die konkrete, musterbedingte Erfahrung enthält so viele besondere Einzelheiten, wie für das Handeln benötigt werden. Die Muster erhöhen eher die Wahrnehmung für das Abweichende und Besondere, als dass sie es verdecken. Das Problem mit der Allgemeinheit stellt sich wegen des Zwangs, die Erfahrungen auf den Begriff zu bringen, um sie anderen mitteilen zu können. Denn vieles entzieht sich der begrifflichen Erfassung. Für den Sender der Botschaft geht die erfahrene Konkretheit nicht verloren. Sie bleibt im Hintergrund erhalten und kann jederzeit zurückgeholt werden. Nur der Empfänger steht vor der Aufgabe, die abstrakten Begriffe mit seinen eigenen konkreten Erfahrungen aufzufüllen. Wenn er nicht über entsprechende Erfahrungen verfügt, bleiben die gehörten Wörter blass. Daraus ergibt sich, dass der philosophische Anspruch, das Besondere der Gegenstände jenseits der Sprache zu erfassen und es anderen sprachlich mitteilbar zu machen, eine Fiktion ist.

Da das Denken nicht im Medium der Begriffe stattfindet, ist die häufig zu hörende Behauptung, dass mit der Sprache das Denken verbessert werden kann (z. B. Werani), infrage zu stellen. Anke Werani beruft sich auf Experimente, die zeigen, dass Menschen, die beim Problemlösen laut sprechen oder einen inneren Dialog führen, bessere Ergebnisse erzielen (a. a. O. S. 351). Vermutlich hängt dieser Effekt nicht mit der Sprache selbst zusammen, sondern damit, dass durch das Sprechen die Konzentration auf die zu lösende Aufgabe verstärkt wird und so störende Ablenkungen vermieden werden. Dies entspricht der Erfahrung, dass beim Niederschreiben von Gedanken das Denken angeregt wird.

Es wäre auch falsch zu behaupten, dass die Sprache das Denken ordnet (a. a. O. S. 384). Die Ordnung wird vielmehr von den Mustern vorgenommen. Es ist nachgewiesen worden, dass die Muster unabhängig von der Sprache entstehen. Kleine Kinder verfügen bereits über Muster, bevor sie sprechen können (Schramm S. 116). Sie können Begriffe wiedererkennen, bevor sie sie überhaupt sprechen können. Die Sprache drückt bloß die durch die Muster hergestellte Ordnung aus.

Es ist fraglich, ob mit Hilfe der Sprache Kontrolle über die Realität gewonnen werden kann. »Bevor wir über Worte und Sätze verfügen, sind wir blind den kausalen Kräften der Welt ausgesetzt. Mit dem Lernen von Sprache ändert sich unsere Position der Welt gegenüber: Weil wir auf ihre kausale Macht nun mit einem System von Symbolen reagieren können, wird sie zu einer verständlichen Welt, die wir uns gedanklich anzueignen vermögen.« (Bieri S. 63). Damit wird die Funktion der Sprache überschätzt. Wie gezeigt wurde, wird etwas verstanden, wenn das entsprechende vorsprachliche Bewegungsmuster nachvollzogen wird. Wer über geeignete Bewegungsmuster verfügt, besitzt Kontrolle über die Realität.

Kann man nur das denken, was auch ausgedrückt werden kann? Limitiert also die Sprache das Denken? (Bennett S. 454 und 469). Auch diese Fragen implizieren die falsche These, dass das Denken im Medium der Sprache stattfindet. Die Sprache kann bei neuen Phänomenen tatsächlich zum Problem werden, wenn dafür noch keine geeigneten Begriffe vorhanden sind. Aber in der Regel ist es relativ leicht, dafür vorhandene Begriffe umzudeuten oder neue Begriffe einzuführen. Es ist deshalb zu bezweifeln, dass das Denken durch die Sprache begrenzt wird.

Da die Sprache weder das Verständnis der Welt bestimmt noch für das Denken konstitutiv ist, haben die Menschen im Grunde ein rein instrumentelles Verhältnis zur Sprache, wie es bereits Aristoteles beobachtet hatte. Wie beim Gebrauch von Werkzeugen muss darauf geachtet werden, dass die Begriffe sachgerecht benutzt werden. Dies wird an den Rückmeldungen der Dialogpartner erfahren. Im normalen Sprachgebrauch ist die Sprache allerdings keineswegs so beliebig wie ein Werkzeug verfügbar. Man folgt unbewusst dem Duktus der Sprache, so dass der Eindruck entstehen kann, dass man von der Sprache beherrscht wird. Sobald man aber nach einem angemessenen Ausdruck für einen ungewöhnlichen Gedanken oder für ein ungewöhnliches Gefühl sucht, wird deutlich, dass jenseits der Sprachgewohnheiten ein instrumentelles Verhältnis zur Sprache besteht. Besonders für emotionale Erfahrungen fehlen meistens geeignete Begriffe. Man ist dann gezwungen, sich mit Metaphern zu behelfen.

Unreflektierter Gebrauch der Sprache

Die Theorie von Wilhelm von Humboldt, dass die Sprache konstitutiv für das Denken ist, hat das Denken über die Sprache nachhaltig geprägt. Seitdem ist es nahezu ein Dogma, dass die Art und Weise, wie die Welt verstanden wird, durch die Sprache vermittelt wird und dass ohne Sprache ein Verständnis der Welt ausgeschlossen ist.

Legen die Begriffe wirklich ein bestimmtes Verständnis der Realität fest? Zur Beurteilung dieser Frage muss man davon ausgehen, dass alle Menschen in eine bereits existierende Kultur mit ihren vielfältigen Bedeutungen hineinwachsen. Sie übernehmen dabei eine Sprache, die für den Umgang mit der Umwelt und den kulturellen Techniken entwickelt wurde. Wenn neue Erfindungen die Praxis verändern, werden dafür neue Begriffe geschaffen. Neue kulturelle Aktivitäten oder Interpretationen werden mit Hilfe der Sprache verbreitet. Insofern muss die These abgelehnt werden, dass die Sprache ein Filter ist, der ein bestimmtes Verständnis der Realität erzeugt. Vielmehr drückt sich in der Sprache nur das vorherrschende kulturelle Verständnis aus. So lässt z. B. der Begriff Körper das Verständnis entstehen, dass die Körper von Lebewesen Maschinen sind. Ihm liegt der kulturelle Grundsatz zugrunde, dass Lebewesen in Analogie zu von Menschen hergestellten Maschinen verstanden werden können. Da die Begriffe nur Anweisungen sind, wie in der gegenwärtigen Kultur mit der Realität umzugehen ist, stellt die Sprache nicht eine bestimmte Weltsicht dar, wie Wilhelm von Humboldt behauptet hatte, sondern gibt sie nur die Handlungsmuster wieder, die die jeweilige Kultur prägen. Die Sprache ist nur ein Spiegel der Kultur.

In ihren historischen Anfängen hatte die Sprache ohne Zweifel die Funktion, anderen Menschen erlebte Situationen zu beschreiben und die Kooperation zu erleichtern. Solange es beim Denken um sinnlich erfassbare Probleme geht, hat die Sprache keinen Einfluss auf die Qualität des Denkens. Probleme entstehen erst, wenn das Denken mit abstrakten Allgemeinbegriffen operiert. Wie oben dargestellt wurde, gibt es eine kategoriale Differenz zwischen den Allgemeinbegriffen für reale Objekte einerseits und für die Phänomene der psychisch-mentalen Innenwelt andererseits. Bei den Allgemeinbegriffen für Objekte besteht immer die Möglichkeit, bei Verständnisschwierigkeiten auf prototypische Gegenstände zurückzugreifen. Dies scheidet bei den Begriffen für die psychisch-mentale Innenwelt aus, deren Phänomene überhaupt nicht voneinander abgrenzbar sind. Während die Allgemeinbegriffe für Objekte noch etwas Konkretes an sich haben, haben die letzteren Allgemeinbegriffe einen völlig abstrakten Charakter.

Da sich die Begriffe für die psychisch-mentale Innenwelt nicht auf sinnlich wahrnehmbare Gegenstände beziehen, ist ihre Verwendung sehr schwierig und immer mit der Möglichkeit von falschen Anwendungen verbunden. Bei Begriffen, die nicht mit Anschauung aus dem eigenen Leben gefüllt werden können, wird ihr Verständnis leer bleiben. Ihr Hauptmangel besteht darin, dass sie nicht auf ein Muster bezogen sind, das sich spontan in der direkten Interaktion mit Gegenständen entwickelt hat. Das Denken kann mit ihnen nur auf die Weise operieren, dass ihnen ein künstliches Muster zugewiesen wird. Das ist nur auf die Weise möglich, dass bereits bekannte Muster metaphorisch benutzt werden, wie im Folgenden an einigen Beispielen gezeigt wird:

Wer z. B. ausdrücken will, dass er von einer Erfahrung überwältigt wurde, spricht davon, dass er an einer Erfahrung zerbrochen ist. Das Verb brechen wird metaphorisch verwendet, da es normalerweise für physische Objekte verwendet wird.

Bei dem diffusen Phänomen der Seele wurde ursprünglich an den realen Prozess des Atems gedacht und damit den Atem zur Metapher für die begrifflich unfassbare Seele gemacht.

Zum Verständnis des Körpers wird auf die Metapher der Maschine zurückgegriffen.

Der abstrakte Allgemeinbegriff Natur, wie er in materialistischen Erklärungen seit Diogenes und Leukipp verwendet wird, wurde im griechischen Denken mit den Metaphern des Aufgehens und Blühens und im römischen Denkens mit der Metapher des Gebärens verbunden. Weil er in Analogie zu den Göttern betrachtet wurde, die alles hervorgebracht haben, erschien er ein Schlüssel für die Erklärung von Naturphänomenen zu sein.

Mit dem philosophischen Begriff der Wahrheit kann nur gekonnt hantiert werden, wenn z. B. die Metapher des Vergleichs verwendet wird.

Sehr häufig wird das Muster der Person auf mentale oder psychische Phänomene übertragen. Sie werden dann so behandelt, als wären sie lebende Wesen mit bestimmten Eigenschaften. Es kann dann z. B. gesagt werden, dass die Angst die Seele auffrisst. Das Denken greift zu dem Trick, aus abstrakten Zusammenhängen Als-ob-Handlungen zu machen.

Metaphern sind also ein Notbehelf, um Begriffen für schwer abgrenzbare Phänomene eine scheinbar eindeutige Definition zu geben. Da meistens die Differenz zwischen den abstrakten Allgemeinbegriffen für die psychisch-mentale Innenwelt und den normalen Begriffen für die Gegenstandswelt übersehen wird, entsteht die Überzeugung, dass ihnen auch etwas real Existierendes entspricht. Die Sprache wird verdinglicht. So wird z. B. der Begriff des Bewusstseins, der aus der Versubstantivierung des Adjektivs bewusst hervorgegangen ist und häufig metaphorisch mit dem Spiegel bestimmt wird, wie ein Subjekt behandelt. Dementsprechend wählt das Bewusstsein aus, entscheidet und ordnet es oder erzeugt die subjektive Wirklichkeit. Häufig wird auch behauptet, dass das Bewusstsein seine Gedanken selbst erzeugt. Philosophische Texte sind voll von Aussagen, was das Quasi-Subjekt Bewusstsein alles kann und tut. Auch bei den Gehirnforschern wird ganz selbstverständlich nach den neuronalen Grundlagen des Bewusstseins gesucht, obwohl es keineswegs ausgemacht ist, ob es das Bewusstsein als einen eigenständigen Seinsbereich oder als ein eigenständiges Organ überhaupt gibt.

Der Begriff des Bösen ist ein Paradebeispiel für substanzlose, leere Begriffe, denen nichts in der Realität entspricht, die aber wie reale Subjekte behandelt werden. Wie oben bereits erwähnt, erhält der Begriff nur dadurch den Anschein von Realität, dass er mit religiösen Geschichten aufgeladen wird, in denen das Böse in der Person des Teufels oder anderer finsterer Mächte auftritt. Mit dem Begriff des Bösen kann nur operiert werden, wenn er wie ein Quasi-Subjekt behandelt und verdrängt wird, dass das Böse nur eine fiktive Vorstellung ist.19

Die philosophischen Hauptbegriffe Geist, Seele, Vernunft, Bewusstsein, Freiheit, Wille, Wert, Ich, Wahrheit u. a. gehören alle zur Kategorie der abstrakten Allgemeinbegriffe, denen kein aus der Erfahrung gewonnenes Muster zukommt, sondern denen ein fremdes Muster zugewiesen werden muss. Da sich ihre Funktion nicht aus dem praktischen Handeln ergibt, muss sie von jedem, der sie gebraucht, neu bestimmt werden. Daraus erklärt sich, dass diese Begriffe im Laufe der Philosophiegeschichte immer wieder neue Definitionen erfahren haben. In der Regel stützt man sich auf die Definitionen von anerkannten Autoritäten. Damit hängt zusammen, dass das Denken mit den traditionellen philosophischen Grundbegriffen unbemerkt zu autoritärem Denken verleitet. Zwischen der Idealisierung großer Denker und dem autoritären Denken besteht ein direkter Zusammenhang.

Mit den abstrakten philosophischen Begriffen wurde viel Unheil bewirkt, da sich damit soziale Unterdrückung und Ungleichheit legitimieren lassen. Gedankengebäude, die auf abstrakten Begriffen aufbauen, gewinnen Macht über die Wahrnehmung der Welt, da sie zur Akzeptanz von Ungerechtigkeiten führen. Sprache erleichtert die Beherrschbarkeit der Menschen, indem mit Hilfe der Sprache Ideologien verbreitet werden können. Oben wurde bereits die Vermutung geäußert, dass die meisten abstrakten Allgemeinbegriffe primär aus dem Bedürfnis nach der Legitimation sozialer Herrschaftsinteressen hervorgegangen sind.

Die Behauptung von George Lakoff, dass die Begriffe auf Grund ihrer metaphorischen Bestimmung verstanden werden können, trifft nicht zu (Lakoff S. 163). Die Metaphern können nur eine Scheinerklärung bieten, da die Frage, ob die Übertragung des Musters aus einem anderen Erfahrungsbereich gerechtfertigt ist, prinzipiell nicht überprüft werden kann. Viele Metaphern führen dazu, dass bestimmte Aspekte des jeweiligen Phänomens ganz ausgeblendet oder einseitig in den Mittelpunkt gestellt werden, wie dies z. B. bei der Metapher der Maschine für den Körper der Fall ist.

Denkmuster

Wie dargestellt, besteht Denken darin, dass Muster miteinander verknüpft werden. Wie die Muster miteinander verknüpft werden, kann das Denken selbst nicht entscheiden, sondern wird ihm von den Bewertungen vorgegeben, die sich im Zusammenhang mit den Erfahrungen bei praktischen Problemen herausgebildet haben.20 Das Denken ist außerstande, die Bewertungen aus eigener Kraft vorzunehmen. Es ist im Grunde nur ein formaler Mechanismus der Musterverknüpfung.

Das bedeutet, dass sich das Denken nicht nach den Regeln der formalen Logik, sondern nach den Regeln richtet, die sich aus der Logik der Objekte ergeben. Deshalb ist die Auffassung irrig, dass man besser denken könne, wenn man die Regeln des Denkens beherrschen würde. Auch der Appell, dass man sich bemühen müsse, logisch zu denken, ist sinnlos.

Welche Verknüpfung vorgenommen wird, ergibt sich keineswegs aus der Erfahrung, sondern richtet sich nach eigens dafür gebildeten Denkmustern. Ob eine Beziehung zwischen zwei Mustern als zufällig oder notwendig, regelmäßig oder kausal, induktiv oder deduktiv, ganzheitlich oder reduktionistisch u. Ä. beurteilt wird, ergibt sich nicht aus der Sache selbst, sondern aus Denkmustern, von denen man überzeugt ist. Denkmuster sind damit Metamuster, die die Verknüpfung von Mustern steuern.

Ein spezielles Problem stellt die Verknüpfung von abstrakten Allgemeinbegriffen dar, weil sich hier das Denken nicht auf Erfahrungen stützen kann. Wie unten dargestellt wird, muss sich das Denken mit speziellen inhaltlichen Denkmustern behelfen.

Im Folgenden werden zunächst die Denkmuster behandelt, die einer Verknüpfung eine Bedeutung geben. Bei der Diskussion der Denkmuster soll zugleich die These veranschaulicht werden, dass sich alle Denkmuster aus dem Handeln ableiten. Alle kognitiven Prozesse hängen mit sensomotorischen Prozessen zusammen. Der Gedanke, dass die Struktur des Handelns die Struktur des Denkens prägt, ist erstmalig von Jean Piaget entwickelt worden und wird von vielen Autoren anerkannt (z. B. Churchland, in Fingerhut S. 381, Varela 1992 S. 242, Mark Johnson).

Ein zentrales Denkmuster ist die Zweck-Mittel-Rationalität: Wer das Ziel A erreichen will, muss das Mittel B einsetzen. Offensichtlich leitet sich dieses Denkmuster unmittelbar aus der Struktur des Handelns ab: die Anwendung einer Regel hat immer eine bestimmte Wirkung. Es wird z. B. angewandt, wenn man das Handeln anderer verstehen will. Man fragt nach den Zielen, die angestrebt werden und prüft, ob die eingesetzten Mittel dafür zweckmäßig sind.

Wird die Beziehung zwischen Mittel und Zweck als ein gesetzmäßiger Zusammenhang interpretiert, entsteht das Denkmuster der Kausalität. Kausalität ist ein heuristisches Prinzip, das davon ausgeht, dass alle Prozesse von Gesetzen bestimmt werden (vgl. Falkenburg S. 59). In den Naturwissenschaften hat sich dieses Prinzip als fruchtbar erwiesen. Ob es allerdings berechtigt ist, bei beobachteten Regelmäßigkeiten von kausalen Gesetzen zu sprechen, ist letztlich nicht überprüfbar. Auf jeden Fall gibt es im menschlichen Verhalten keine festen Regelmäßigkeiten, die es rechtfertigen würden, von einer kausalen Determination auszugehen. Alle Versuche, das menschliche Handeln nach dem kausalen Modell der Naturwissenschaften zu erklären, sind bisher gescheitert.

Auf Aristoteles geht das Denkmuster zurück, dass allen Objekten eine Substanz als deren Wesen zugrunde liegt. Aristoteles nahm an, dass die Eigenschaften (Prädikate) der Objekte vom menschlichen Denken erkannt werden können. Das Denken könne in reiner Kontemplation das Wesen der Dinge erfassen (vgl. Vasek S. 169). Alle mentalistischen und psychologischen Begriffe basieren auf diesem Denkmuster. Das Denkmuster des Wesens ist äußerst problematisch, da es von der Annahme ausgeht, dass die Wirklichkeit rational strukturiert ist. Seine Anwendung führt zwangsläufig zu metaphysischen, d. h. nicht begründbaren Aussagen.

Das Denkmuster der Identifikation spricht einem Objekt eine bestimmte Eigenschaft zu. So impliziert z. B. der Satz »Das Universum ist unendlich« die Auffassung, dass das Wesen des Universums darin besteht, unendlich zu sein. Allerdings kann er nur als Hypothese gemeint sein, da die Erkenntnis des Universums als Ganzes dem menschlichen Denken verwehrt ist. Eine problematische Anwendung dieses Denkmusters liegt vor, wenn Menschen bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden. Wenn z. B. jemand die Zuschreibung in sein Selbstbild aufnimmt, asozial oder faul zu sein, kann das zur Konsequenz haben, dass er sich selbst als asozial oder faul identifiziert und andere Verhaltensmöglichkeiten unentwickelt lässt. Es wird nicht erkannt, dass die Bewertung nur einen Aspekt des Verhaltens in einer bestimmten Situation betrifft.

Viele Denkmuster beziehen sich darauf, wie die Beziehung von Teilen zum Ganzen gedacht wird. Beim systemischen und ganzheitlichen Denken wird danach gefragt, welche Funktion das Teil für das Ganze hat. Voraussetzung ist natürlich, dass vorher ein Muster vom Ganzen (z. B. die Natur, die Evolution, die Gesellschaft u. Ä.) gebildet wurde. Für das systemische Denken ist es ausgeschlossen, dass das Muster des Ganzen aus den Mustern der Teile abgeleitet werden kann. Allerdings kann für das Ganze nur ein provisorisches Muster gebildet werden, da es sich der direkten Erfahrung entzieht. Im Kontrast dazu steht das reduktionistische Denkmuster, bei dem davon ausgegangen wird, dass das Ganze nur auf dem Wege verstanden werden kann, dass ihre Teile untersucht werden. Wenn das Muster der kleinsten Teile bekannt ist, soll sich daraus das Muster des Ganzen ableiten lassen.

Viele abstrakte Allgemeinbegriffe treten als Gegensatzpaare auf: Natur - Kultur, Individuum - Gesellschaft, Egoismus - Altruismus u. a. In den Gegensatzpaaren drückt sich das vorherrschende Denkmuster aus, die Wirklichkeit in zwei binäre Kategorien zu spalten. Da sie schwierig zu definieren sind, muss versucht werden, sie hilfsweise durch das Gegenteil zu bestimmen. Die polaren Begriffe verführen zu einem Entweder-Oder-Denken. Jemand ist z. B. entweder egoistisch oder altruistisch. In der Wirklichkeit gibt es aber keinen Menschen, der in jeder Situation egoistisch oder altruistisch ist. In jedem Menschen mischen sich beide Eigenschaften. Es wird vergessen, dass beide Pole miteinander verschränkt sind. So ist der Begriff altruistisch nur verständlich, wenn man den Begriff egoistisch kennt. Die polaren Begriffe haben die verhängnisvolle Tendenz, dass eine Seite höher als die andere bewertet wird. Wenn Altruismus als eine höherwertige Eigenschaft angesehen wird, werden die Menschen gezwungen, ihre egoistischen Strebungen zu verheimlichen oder zu rationalisieren.

Ein problematisches Denkmuster ist die Definition von Begriffen. Wenn z. B. verlangt wird, den Begriff des Handelns zu definieren, gerät man schnell in Schwierigkeiten. So ist es z. B. unmöglich, alle verschiedenen Formen des Handelns in einer Definition zu erfassen. Gehört dazu auch das Geschehen-lassen? Gehört dazu das reaktive Handeln, dass nicht bewusst gewollt wurde? Die Schwierigkeiten lösen sich auf, wenn man davon ausgeht, dass dieser Begriff eine problematische Versubstantivierung des Verbs handeln darstellt. Er ist lediglich ein abstrakten Hilfsbegriff, der durch eine versuchsweise Definition entstanden ist. Kinder lernen neue Begriffe nicht durch Definitionen. Es wird ihnen einfach gezeigt, wie ein Begriff genutzt wird. Sie erfahren, dass von Handlungen gesprochen wird, wenn es um körperliche Bewegungen geht, für die sie die Verantwortung übernehmen (vgl. Wittgenstein 2003 § 658).

Es ist bemerkenswert, dass bei vielen mentalen Prozessen räumliche Muster benutzt werden, wie z. B.: »Die Philosophie ist in eine Sackgasse geraten.« Tomasello führt dies darauf zurück, dass sich die Sprache aus dem Gebärdenspiel heraus entwickelt hat, das im Raum stattfindet (Tomasello S. 109).

Andere Denkmuster beziehen sich darauf, ob ein Gedanke das Ergebnis eines in sich schlüssigen Prozesses der Verallgemeinerung aus sinnlichen Einzeldaten ist (Induktion) oder aus allgemeinen Grundsätzen oder Gesetzen abgeleitet wurde (Deduktion). Es ist bemerkenswert, dass es keine anerkannten Verfahren für die Verallgemeinerung gibt. Einige Philosophen wie z. B. David Hume und Karl Popper haben sogar bestritten, dass es die Induktion gibt. David Hume ging von der menschlichen Neigung aus, Erfahrungen zu verallgemeinern, wobei immer das Wissen mitschwingt, dass die Verallgemeinerungen falsch sein können. Hume bestritt deshalb, dass aus Erfahrungen allgemeingültige Aussagen abgeleitet werden können. Popper hielt die Induktion für logisch nicht begründbar. Diese Zweifel legen es nahe, in der Induktion nur einen anderen Namen für die menschliche Fähigkeit zur Verallgemeinerung zu sehen. Induktion ist damit nichts anderes als eine wissenschaftlich klingende Bezeichnung für die ständig spontan stattfindende Musterbildung. Sie darf deshalb nicht als eine Denkweise mit festen Methoden verstanden werden. Was als Ergebnis einer Induktion bezeichnet wird, ist nichts anderes als die sprachliche Artikulation eines neu gebildeten Musters. In der Psychologie wurde erkannt, dass die Musterbildung die Voraussetzung für Verallgemeinerungen und Klassifizierungen ist. Denn Verallgemeinerungen basieren darauf, dass in der Fülle der Sinnesdaten Regelmäßigkeiten und Ähnlichkeiten erkannt wurden.

Ebenso problematisch ist das Denkmuster der Deduktion, das auf der Annahme basiert, dass es allgemeingültige Gesetze und Grundsätze gibt, aus denen Erkenntnisse abgeleitet werden können. Aus der Analyse der Sprache geht hervor, dass die sogenannten Gesetze und Grundsätzen nicht in der Sache selbst wurzeln, sondern das Produkt von Verallgemeinerungen sind.

Das schlussfolgernde Denken gilt als Inbegriff des logischen Denkens. Genau betrachtet ist es nichts anderes als die Anwendung von Regeln. Aus vielen Erfahrungen mit gleichartigen Dingen wurde z. B. die Regel abgeleitet, dass eine Teilmenge dieselben Eigenschaften hat wie eine andere Teilmenge der gleichen Gesamtmenge. Es wäre deshalb falsch anzunehmen, dass diese Regel angeboren oder eine inhärente Eigenschaft des Denkens ist.

Auch der Satz vom Widerspruch beruht auf der Anwendung von gelernten Regeln. Aus der Beobachtung, dass die Dinge dauerhafte Eigenschaften haben, wurde die Regel abgeleitet, dass ein Ding nicht gleichzeitig eine bestimmte Eigenschaft und die dazu gegensätzliche Eigenschaft haben kann. Insofern ist auch der Satz vom Widerspruch ein Ergebnis der biologischen Musterbildung. Das Gleiche gilt für den Satz der Identität. Es werden nicht die Objekte selbst, sondern die für sie gebildeten Muster miteinander verglichen und ihre Gleichheit oder Ungleichheit festgestellt.

Aus den bisherigen Überlegungen kann abgeleitet werden, dass die Logik keine eigenständige Sphäre ist, die unabhängig von der menschlichen Welt existiert. Alle logischen Regeln stammen aus beobachteten Regelmäßigkeiten. Sie sind nichts anderes als Denkmuster, die sich bisher immer wieder bewährt haben. Sie können deshalb auch jederzeit durchbrochen werden.

Es wäre ein Irrtum anzunehmen, dass Denkmuster angeboren sind. Sie sind nichts anderes als Versuche, Verknüpfungen zu verstehen. Sie werden benötigt, damit die Gedanken als ein sinnvoller Zusammenhang erfahren werden können. Sie sind mentale Konstruktionen, die von bestimmten Überzeugungen abhängig sind. Wer z. B. glaubt, dass alles in der Welt gesetzmäßig organisiert ist, nimmt alle Verknüpfung als kausal bedingt wahr. Letztlich sind Denkmuster nicht begründbar. Sie können nur damit gerechtfertigt werden, dass damit den Gedanken eine sinnvoll erscheinende Ordnung gegeben werden kann.

Ob das unbewusst ablaufende Denken bereits von Denkmustern beeinflusst wird, kann prinzipiell nicht geklärt werden. Sicherlich ist aber die These von George Lakoff falsch, dass das Denken weitgehend metaphorisch geprägt ist (Lakoff S. 13). Es wurde gezeigt, dass sich die elementaren, gegenstandsbezogenen Begriffe auf Muster beziehen. Nur bei konstruierten abstrakten Allgemeinbegriffen und Gefühlsbegriffen sind Metaphern erforderlich. Metaphern sind keine echten, sondern für die Zwecke der sprachlichen Artikulierung zweckentfremdete Muster. Da die Denkmuster für die Form der sprachlichen Artikulierung der Denkergebnisse prägend sind, muss ihre kritische Reflexion eine zentrale Aufgabe der Philosophie sein.

Bei dieser kurzen Analyse einiger Denkmuster mussten viele Denkmuster – wie z. B. das reziproke Denken – unberücksichtigt geblieben. Es sollte das Augenmerk darauf gelegt werden, dass die Musterbildung auch das virtuelle Handeln des Denkens prägt.

Es stellt sich die Frage, wie die abstrakten, metaphorisch bestimmten Allgemeinbegriffe miteinander verknüpft werden können. Denn ihre Verknüpfung ist nicht ohne weiteres möglich, da sie keine aus der Sache sich ergebenden Muster haben. Deshalb kann sich die Verknüpfung nicht auf sinnliche Erfahrungen stützen. Das Problem wird dadurch gelöst, dass das Denken sich mit eigens für bestimmte Probleme konstruierten Denkmustern behilft. Inhaltliche Denkmuster sind Hilfsmittel, wie etwas, das von der Sache her nicht verknüpft werden kann, weil es kein eigenständiges Muster hat, trotzdem verbunden werden kann. Beim Denken mit Denkmustern ist man sich in der Regel nicht bewusst, dass sie konstruiert wurden. Deshalb ist man sich der auf diese Weise entstandenen Gedanken genauso gewiss, wie wenn konkrete Erfahrungen zu Gedanken verarbeitet werden. Im Unterschied zu den allgemeinen Denkmustern, die lediglich die von den sinnlichen Erfahrungen vorgegebene Verknüpfung bewerten, bestimmen sie auch die Art der Verknüpfung.

Wenn z. B. über das Problem der Relativität der Werte nachgedacht wird, kommt man nur weiter, wenn man über inhaltliche Denkmuster verfügt, wie Werte zustande kommen. Wenn man z. B. das Denkmuster akzeptiert, dass sich die Werte aus absoluten Ideen oder aus heiligen Schriften ableiten, oder vom Denkmuster überzeugt ist, dass Werte aus sozialer Vereinbarung hervorgehen, kennt man die Schritte, wie das Problem zu lösen ist. Ohne solche sachdienlichen Denkmuster wäre das Problem unlösbar. Ein anderes Beispiel: Beim Nachdenken über die Frage der Freiheit des Handelns kommt man nur weiter, wenn man z. B. über das inhaltliche Denkmuster verfügt, dass alles Handeln kausal determiniert ist oder dass die Menschen als Personen freie Wesen sind. Im Grunde ist damit die Antwort bereits vorentschieden. Wenn man dagegen von dem Denkmuster überzeugt ist, dass der Begriff der Freiheit grundsätzlich nicht auf das menschliche Handeln angewandt werden kann, muss die Frage automatisch als Scheinproblem abgelehnt werden.

Mit den philosophischen Hauptbegriffen wie Geist, Seele, Selbst, Ich und Wille kann nur gearbeitet werden, wenn das inhaltliche Denkmuster angewandt wird, dass alle Bewegungen von einem Akteur veranlasst werden. Als verallgemeinerte Regel kann es auf nicht-menschliche Prozesse übertragen werden, bei denen kein Akteur dingfest gemacht werden kann. Natürliche Prozesse werden dann wie Handlungen begriffen, die einen Urheber haben. Dies führt z.B. zu Formulierungen wie: «Der Donner donnert.» Es wird ein Täter unterstellt, der etwas tut, obwohl keiner auszumachen ist. Dieses personale Denkmuster liegt auch den Mythen zugrunde, denen zufolge alles was ist, auf das Wirken von Göttern zurückgeführt wird. Wenn z. B. behauptet wird, dass das Phänomen der objektiven Gleichgültigkeit der Welt zu den fundamentalen Erfahrungen der Menschen gehört (Geier S. 86), wird das personale Denkmuster eingesetzt. Die Vorstellung, dass sich die Welt gegenüber den Menschen gleichgültig verhält, setzt voraus, dass die Welt als ein Quasi-Subjekt gedacht wird.

Wer z. B. klären will, wie Vernunft und Sprache zusammenhängen, wird wie Arthur Schopenhauer dazu neigen, die Vernunft als eine Person anzusehen, die die Sprache erschafft. Damit wird zugleich der Begriff der Vernunft als Fähigkeit definiert, mit Begriffen umzugehen. Man kann natürlich genauso die Position vertreten, dass die Vernunft die Sprache vorfindet, weil sie angeboren ist. Alternativ kann die Sprache als ein Werk des Seins (Heidegger) oder als Ergebnis sozialer Vereinbarung betrachtet werden. Solche Thesen sind nicht begründbar. Denn der Begriff der Vernunft versteht sich nicht aus sich selbst heraus, sondern nur aus dem Kontext mit anderen Begriffen.

Die Personalisierung von Allgemeinbegriffen hängt mit dem Glauben zusammen, dass die Menschen primär geistige Wesen seien. Erfahrungen werden infolgedessen als geistige Erfahrungen verstanden. Diese Theorie blendet die wichtige Erfahrung aus, dass die Menschen über das praktische Handeln ein unmittelbares Verhältnis zur Wirklichkeit haben. Es wird übersehen, dass die Gegenstände unmittelbar über ihren körperlichen Gebrauch, ihre Widerständigkeit und Veränderbarkeit erfahren werden. Das Verständnis von Gegenständen wird also nicht sprachlich gelernt, sondern in vorsprachlicher direkter Erfahrung erworben. So wie beim Kleinkind und den Frühmenschen ein vorsprachliches Verhältnis anzunehmen ist, so haben die erwachsenen Kulturmenschen nach wie vor ein unmittelbares vorsprachliches Verhältnis zur Wirklichkeit, das durch sprachliche Interpretationen nicht aufgehoben, sondern nur überdeckt wird (Welsch 2015 S. 537).

Das personale Denkmuster wurde früher als finales oder teleologisches Denken bezeichnet. Bei Aristoteles hatte das finale Denken einen Vorrang vor dem kausalen Denken. Für ihn waren alle Naturvorgänge auf ein Ziel ausgerichtet. Offensichtlich orientierte sich Aristoteles bei dieser Konzeption am menschlichen Handeln, das von Zielen und Zwecken beherrscht wird (Falkenburg S. 66). Als die Naturwissenschaften im 16. Jahrhundert ihren Siegeszug antraten, wurde das teleologische Denken diskreditiert. Angesichts der überragenden Erklärungskraft der Naturgesetze schien es absurd zu sein anzunehmen, dass dem Naturgeschehen Sinn, Zwecke und Ziele zugrunde liegen. Das kausale Denken wurde absolut gesetzt und der Anspruch erhoben, dass damit alle Bereiche der Welt erklärt werden können.

Das personale Denkmuster ist eng mit dem Denkmuster verwandt, alle Aktivitäten als aktiv oder passiv zu klassifizieren. Die Unterscheidung wird nach dem Kriterium getroffen, ob eine Aktivität mit dem Selbsterleben von Wille und Absicht verbunden ist. Deshalb neigen die Menschen dazu, alles außerhalb ihrer selbst als passives Geschehen zu begreifen. Aber beim menschlichen Handeln und Denken ist es nicht möglich, eindeutig zwischen aktiven und passiven Prozessen zu unterscheiden. Intuitionen sind z. B. ohne Zweifel passiver Natur, aber es gehen unverkennbar auch aktive Elemente in sie ein. Denn sie entstehen auf dem Boden aktiver Anstrengungen, ein Problem zu lösen. Sie basieren letztlich auf passiv erworbenen Erfahrungen, die bei aktiven Bemühungen, ein Problem zu verstehen, gesammelt wurden. Es zeigt sich, dass dieses polare Denkmuster bei der Analyse des menschlichen Denkens äußerst problematisch, wenn nicht sogar ungeeignet ist. Es verführt zu Kategorisierungen, die die Analyse eher erschweren.

Es gibt mehrere Phänomene, die sich mit dem aktiv-passiv Denkmuster überhaupt nicht erklären lassen. So ist das Wachsen oder Aufwachen überhaupt nicht mit diesem Muster zu verstehen. Deshalb kennen viele Sprachen wie z. B. das Sanskrit und das Altgriechische die dritte Form des Mediums, das sich auf Prozesse bezieht, die aus sich selbst heraus ablaufen, dass also weder ein eindeutiges Subjekt noch Objekt vorausgesetzt werden muss (vgl. Elberfeld S. 237).

Inhaltliche Denkmuster führen zu einem hyperabstrakten Denken, da die Verknüpfung von mehreren Begriffen – wie beim normalen Denken, das immer auch abstrakt ist – inhaltlich nicht begründet werden kann. Es kann grundsätzlich nicht geprüft werden, ob die Denkmuster, die den Charakter von Grundsätzen haben, den Problemen angemessen sind.21 Sie können weder logisch noch theoretisch begründet werden. Welche Denkmuster angewendet werden, hängt vor der zufälligen Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur oder Denkschule ab. Es bleibt nur die Möglichkeit, die Denkmuster miteinander zu vergleichen und zu fragen, ob sie mit miteinander kompatibel sind. Daraus erklärt sich, dass in der über zweitausendjährigen Diskussion über die philosophischen Grundfragen nicht der geringste Fortschritt erzielt worden ist. So haben z. B. panpsychistische Positionen (»Alles ist beseelt«) nach wie vor Konjunktur, obwohl ihr im Idealismus wurzelndes Denkmuster (z. B. intelligibler Gehalt der Welt) jeglicher empirischer Begründung entbehrt.

Diese Überlegungen machen verständlich, warum es so schwierig ist, philosophische Texte zu verstehen, die mit abstrakten Allgemeinbegriffen operieren. Das normale Verstehen, das sich auf die von den Begriffen angesprochenen Bewegungsmuster im virtuellen Handeln stützt, versagt bei philosophischen Texten, da sie nicht von Bewegungen realer Subjekten handeln. Eine Rückführung der Allgemeinbegriffe auf sinnliche Erfahrungen kann nicht gelingen. Es bleibt lediglich der Ausweg, die Allgemeinbegriffe so zu behandeln, als ob sie handelnde Subjekte wären. Alle Probleme, die sich dabei einstellen, dürfen aber nicht mit den Problemen gleichgesetzt werden, die sich aus gescheitertem Handeln ergeben. Es sind Pseudoprobleme, da sie aus künstlich konstruierten sprachlichen Zusammenhängen hervorgehen. Während Probleme, die sich beim praktischen Handeln ergeben, einen vitalen Aufforderungscharakter haben, lösen die Probleme, die sich allein aus dem Gebrauch von Allgemeinbegriffen ergeben, keinen Impuls zum Handeln aus. Wer z. B. der Lösung des Problems nachjagt, was der Sinn des Seins ist, erliegt der Verhexung des Verstandes durch die Mittel der Sprache, wie Ludwig Wittgenstein analysiert hat.

Aus diesen Überlegungen folgt, dass beim Versuch, mit philosophischen Begriffen Ordnung in der mental-psychischen Innenwelt zu schaffen, das Gegenteil bewirkt wird. Durch willkürliche Abgrenzungen entstehen unlösbare Probleme. So wurde z. B. nicht erkannt, dass die Suche nach einer Lösung des Problems, wie Körper und Geist zusammenhängen, völlig vergeblich ist, weil es sich dabei um eine willkürliche sprachliche Unterscheidung handelt.

Bereits vor ca. 100 Jahren hat der Philosoph Hans Vaihinger in seinem Buch »Die Philosophie des Als ob« darauf aufmerksam gemacht, dass die meisten philosophischen Begriffe im Grunde Fiktionen sind. Die abstrakten Allgemeinbegriffe würden so behandelt werden, als ob sie wahr wären und ihnen etwas Reales entsprechen würde. Trotz ihrer Fiktivität sind sie für Vaihinger nicht nur nützliche, sondern auch unentbehrliche Hilfsmittel des Denkens. Demgegenüber ergibt sich aus der Mustertheorie der Begriffe die Konsequenz, dass das Denken mit abstrakten Allgemeinbegriffen im Bereich der psychisch-mentalen Innenwelt zu falschen Ansichten führt. Denn das Denken kann mit ihnen nur operieren, wenn es sie wie selbstständig handelnde Subjekte behandelt. Da sie in der Regel keine Handlungsrelevanz haben, können sie nicht im Handeln auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Demnach lassen sich mit der Als-ob-Perspektive die philosophischen Grundbegriffe nicht retten.

Es ist also nicht die Sprache selbst, die zu einer verzerrten Wahrnehmung der Realität führt, sondern ihr fehlerhafter Gebrauch. Der Gebrauch abstrakter Allgemeinbegriffe ist mit der Illusion verbunden, dass die beschriebenen Phänomene tatsächlich existieren würden. Allzu leicht wird vergessen, dass die auf ihnen basierenden Beschreibungen nichts mehr als Erzählungen sind. Dementsprechend sind für Richard Rorty Theorien keine Einsichten in die innere Natur der Dinge, sondern lediglich Neubeschreibungen. »Sie sind Veränderungen unserer Redeweise und damit Veränderungen dessen, was wir tun wollen und was wir zu sein glauben.« (Rorty 1995 S. 47)

2.5. Selbstreflexivität

»Der Mensch findet die größte Freude in dem, was er selbst neu findet oder hinzulernt.« (Thomas von Aquin)

Es gilt als das hervorstechendste Merkmal der Menschen, dass sie fähig sind, über ihre eigenen Gedanken nachzudenken, sich mit ihren Gefühlen zu beschäftigen und ihre Gewohnheiten zu überprüfen, also die Aufmerksamkeit kritisch auf die Inhalte des Geistes zu lenken. Viele Philosophen vertreten die Auffassung, dass die Selbstreflexivität das herausragende Sonderstellungsmerkmal der Menschen sei, mit der die Menschen das tierische Bewusstsein qualitativ überragen. Nur die Menschen könnten Stellung zu sich selbst beziehen und sich wie ein Objekt betrachten.

Um die Selbstreflexivität zu verstehen, muss man davon ausgehen, dass die Menschen das Potential haben, über die Effizienz ihrer Handlungen nachzudenken. Beim Handeln wird ganz selbstverständlich in jeder Phase geprüft, ob es noch auf das angestrebte Ziel ausgerichtet ist und damit das Ziel erreicht werden kann. Die Kontrolle läuft in der Regel unbewusst ab. Sie tritt sofort ins Bewusstsein, wenn das Handeln zu scheitern droht. Man prüft dann intuitiv, auf welche Weise es korrigiert werden muss. Die Selbstkontrolle ist eine wesentliche Eigenschaft handelnder, Ziele verfolgender Lebewesen. Da sie ein Nachdenken über das eigene Verhalten ist, hat sie die Qualität der Selbstreflexion, die normalerweise für das Denken reserviert wird.

Es spricht vieles dafür, dass die Selbstreflexivität überhaupt erst durch die Musterbildung möglich geworden ist. In den Mustern verfügen die Menschen praktisch über ein inneres Modell für richtige Handlungen. Solange die Bewegung noch nicht richtig gekonnt wird, kann eine Differenz zwischen dem im Muster festgelegten Sollzustand und der aktuellen Bewegung gespürt werden. Durch die interne Rückkopplung kann in jedem Moment geprüft werden, ob das Handeln den gelernten oder aus Erfahrungen abgeleiteten Mustern entspricht. Neue Bewegungen müssen so lange kontrolliert ausgeführt werden kann, bis sie beherrscht werden und völlig automatisch ablaufen. Dazu muss die Differenz bewusst sein. Nur bewusst wahrgenommene Bewegungen können verändert werden.22

Da Selbstreflexion Bewusstsein voraussetzt, sollen im Folgenden zunächst einige Überlegungen ausgebreitet werden, warum in der Evolution das Bewusstsein entstanden ist. Beim Reizreaktionsmechanismus ist noch kein Bewusstsein erforderlich, weil keine erfahrungsabhängige Modifikation des Verhaltens angestrebt wird. Die Geburtsstunde des Bewusstseins war, als versucht wurde, das eigene Handeln in Anpassung an die Umwelt mit den eigenen Erfahrungen zu verbessern. Um Erfahrungen machen zu können, muss sich der Organismus mit Hilfe der Sinnesorgane im Raum gezielt bewegen können und fähig sein, aus der Fülle der Sinnesreize von Gegenständen Gestalten (d. h. Muster) zu identifizieren, die für das Handeln bedeutsam zu sein scheinen. Die Musterbildung ist praktisch ein Unterscheiden: bestimmte Aspekte der Gegenstände heben sich vom Hintergrund ab. Etwas kann nur wahrgenommen werden, wenn es von den übrigen Sinnesreizen unterschieden wird. Unterschiede existieren nur, wenn sie bewusst wahrgenommen werden.23

Wenn z. B. die Finger die Oberfläche eines Gegenstandes abtasten, können die Tastempfindungen erst identifiziert werden, wenn gelernt worden ist, durch Unterscheiden bestimmte differenzierte Eigenschaften wahrzunehmen und das Handeln daran zu orientieren. Die Tastempfindungen können nur dann dem Handeln dienlich sein, wenn sie bewusst erlebt werden. Der Tastsinn zeigt, dass das bewusste Erleben direkt an die Sinneswahrnehmungen gebunden ist. Wahrnehmung der Umwelt mit den Sinnesorganen, Musterbildung und Fähigkeit der bewussten Selbstwahrnehmung hängen eng miteinander zusammen.

Es ist eine Eigenart aller Sinnesorgane, dass sie mit bewusstem Erleben gekoppelt sind. Ohne ihre Bewusstheit könnten die Sinneswahrnehmungen nicht die Funktion übernehmen, dem Handeln im Raum der Objekte eine Orientierung zu geben. Daraus folgt die Hypothese, dass das Bewusstsein eine Eigenschaft der verschiedenen Sinneswahrnehmungen ist. Jeder Sinn hat sein eigenes Bewusstsein.

Da das Bewusstsein vermutlich entstanden ist, als die Sinnesorgane zur handelnden Erkundung der Umwelt entwickelt wurden, muss angenommen werden, dass die Entstehung des bewussten Erlebens sehr früh in der Entwicklung des Lebens stattfand. Aus dieser Sicht ist anzunehmen, dass alle Tiere, die sich in ihrer Umgebung gezielt bewegen, ein bewusstes Erleben besitzen (vgl. Bennett S. 423). Da Tiere Sinnesorgane haben, muss bei ihnen auch Bewusstsein angenommen werden. Dafür spricht, dass ihr Gehirn einen ähnlichen Aufbau wie bei den Menschen hat und bei vielen Tieren ein planvoller Werkzeuggebrauch zu beobachten ist (Werth S. 167). »Ich dagegen glaube, daß jedes Wesen, das ein Gehirn hat, wie rudimentär es auch sein mag, auch einen dementsprechenden Grad von Bewußtsein hat.« (Greenfield, in Blackmore S. 139).

Wenn das Bewusstsein ein Aspekt der Sinneswahrnehmung ist, wird es fraglich, ob es überhaupt noch sinnvoll ist, von dem Bewusstsein als einem einheitlichen Vermögen oder Organ zu sprechen. Offensichtlich ist der subjektive Eindruck, dass das Bewusstsein etwas Einheitliches ist, eine Selbsttäuschung. Man muss vielmehr davon ausgehen, dass jedes Sinnesorgan mit einem eigenen bewussten Selbsterleben verbunden ist. Interessanterweise lehrt auch der Buddhismus, dass jeder Sinn sein eigenes Bewusstsein hat (Varela S. 103).

Wenn Lebewesen lernen, ihre Bewegungen mit selbst gewählten Bewegungsmustern zu koordinieren, entsteht selbstbezügliches Verhalten. Die Aufmerksamkeit, die sich bisher nur auf die Außenwelt gerichtet hat, wird jetzt auch auf das eigene Verhalten gelenkt. Es wird also gelernt, die Aufmerksamkeit auf innere Zustände zu richten und sich mit dem zu beschäftigen, was im eigenen Inneren abläuft. Indem die Menschen ihr Handeln an Mustern ausrichten, können sie ihre Aufmerksamkeit auch auf das probeweise, virtuelle Handeln richten. Die Selbstreflexion, die sich zunächst als eine motorische Fähigkeit entwickelt hat, kann auf das Denken übergreifen, da es selbst nur eine andere Form des Handeln ist. Die mentale Selbstreflexion entwickelt sich so in dem Maße, wie versucht wird, Bewegungen möglichst optimal zu gestalten. Sie erweist sich somit als eine natürliche Fähigkeit, die sich mit dem erfahrungsgeleiteten Handeln herausgebildet hat. Insofern haben die Muster die psychisch-mentale Innenwelt des Nachdenkens hervorgebracht.

Die Fähigkeit der Selbstprüfung und Selbstkorrektur ist aber nicht angeboren, sondern muss erst entwickelt werden. So ist z. B. beim Lernen der Sprache der Erfolg größer, wenn die ständige Fehlerkorrektur durch die Eltern unterbleibt. Die Kinder spüren selbst, wenn sie Fehler machen, da sie ständig das Sprachverhalten der Eltern beobachten. Sie entwickeln das Vertrauen, selbst herauszufinden, welche Antworten vernünftig sind und welche nicht (Holt S. 127). Sie entwickeln ein Gespür dafür, bei welchen Aspekten eine sprachliche Bewegung ineffizient ist und weiter trainiert werden muss. Es wird möglich, allein durch Versuch und Irrtum bessere Ausdrucksweisen zu finden. Unter dem Druck einer autoritären oder repressiven Erziehung bleibt die Selbstkorrektur des eigenen Verhaltens häufig unentwickelt oder geht sogar völlig verloren, so dass nicht mehr gespürt wird, dass das eigene Verhalten suboptimal ist. Denn die Selbstreflexion des eigenen Verhaltens braucht eine ausreichende Sensibilität für unvollkommene und gestörte Handlungen.

Bei komplexen Bewegungen erfolgt allerdings die bewusste Korrektur des eigenen Verhaltens nicht automatisch, sondern muss im Dialog mit anderen Menschen gelernt werden. Ein Extrembeispiel ist z. B. das Turmspringen. Der Trainer hat ein klar definiertes Muster im Kopf, wie der ideale Sprung ins Wasser aussieht. Er macht seinen Schüler auf Abweichungen davon aufmerksam. Der Schüler lernt daraus, wie der ideale Sprung aussehen soll. Die Preisrichter bestätigen beim Wettbewerb, wer das Muster am besten eingehalten hat. Durch wiederholte Hinweise von anderen Menschen, wie das Verhalten verbessert werden kann, wird die Fähigkeit entwickeln, sich aus eigenem Antrieb selbst zu korrigieren. Der prüfende Blick von außen wird zum inneren Kontrollblick. Es wird gelernt, die Muster zur Kontrolle des eigenen Verhaltens zu benutzen.

Differenzierte Muster schärfen den Blick auf die Wirklichkeit. Es wird intuitiv geprüft, ob ein gelerntes Reaktionsmuster, das in ähnlichen Mustern verwendet wurde, passt. Wenn das nicht der Fall ist, wird z. B. durch Fragen geklärt, welche anderen Alternativen bestehen. Wenn bemerkt wird, dass man vorschnell reagiert hat, wird man in Zukunft bei ähnlichen Situationen genauer hinschauen und der Neigung widerstehen, die Situation zu generalisieren. Die nachträgliche Reflexion ist nichts anderes, als dass eine Handlung noch einmal innerlich nachvollzogen wird, in der Hoffnung, dass dabei alle relevanten Gesichtspunkte beachtet werden und sich neue Handlungsmuster bilden. Nachdenken ist im Grunde ein Nach-Handeln. Deshalb ist der beste Weg, im Nachdenken weiterzukommen, wenn man sich konkrete Situationen vergegenwärtigt und sich den damals erlebten Gefühlen noch einmal aussetzt. Dadurch wird ein virtuelles Handeln ausgelöst, das möglicherweise neue Wege sichtbar macht.

Der Anstoß zur Selbstreflexion kommt von dem Gefühl, dass eine Handlung nicht den eigenen Zielen und Bedürfnissen entspricht. Deshalb ist der Appell, in einer kritischen Situation innezuhalten und zu überlegen, ob die Reaktion richtig ist, eine mentale Überforderung. Die Erfahrung zeigt, dass dies in Situationen, in denen man unter Druck steht, in der Regel nicht gelingt. Gerade in Stresssituationen verschwindet der innere Beobachter, wie häufig die innere Distanz zu sich selbst metaphorisch umschrieben wird. Wenn man im Vorfeld der Handlung unsicher ist, setzt spontan die Selbstreflexion ein. Wer sich aber sicher fühlt, hat keinen Anlass innezuhalten.

Wenn vergangene Handlungen noch einmal inszeniert werden, verlässt sich das Denken auf die intuitiven Einfälle, die sich dabei einstellen. Die Focusing-Psychotherapie führt die intuitiven Einfälle darauf zurück, dass mit jeder Erfahrung ein gefühlsmäßiger Gesamteindruck verbunden ist, der für die Erkenntnis genutzt werden kann.24 In dem Gesamteindruck drücke sich die Weisheit und Intelligenz des Körpers aus, die auf die Weise genutzt werden kann, dass man sich ihr fragend und achtsam zuwendet (vgl. Gendlin). Da er eine körperliche Reaktion ist, hat er die Qualität einer Empfindung und kann deshalb nicht ohne weiteres sprachlich gefasst werden. Wenn man sich ihm aber einige Zeit mit bewusster Aufmerksamkeit zuwendet, kann sich seine Bedeutung erschließen. Plötzlich geht einem auf: »Ja, so ist es!« Die dabei verwendete Metapher, dass man in sich hineinhören soll, macht deutlich, dass man offen sein soll für alles, was an Impulsen, Gefühlen, Empfindungen und Gedanken hochkommt.

Diese Sichtweise ist eine Mystifikation des Körpers. Die Intelligenz des Körpers besteht aus nichts anderem als aus der spontanen Nutzung der in den Mustern akkumulierten persönlichen Erfahrungen. Es bildet sich spontan ein Handlungsimpuls, wie in der Situation sinnvoll gehandelt werden könnte. Er ist häufig unklar und diffus. Deshalb ist die geduldig fragende, achtsame Grundhaltung gegenüber dem eigenen gefühlsmäßigen Eindruck die einzig sinnvolle Strategie, um seine Bedeutung zu erfassen. Der Gesamteindruck ist also nichts Mysteriöses, sondern besteht aus einem Handlungsimpuls, der häufig diffus und unklar ist, der aber grundsätzlich geklärt und bewusst gemacht werden kann.25 Häufig steht er im Widerspruch zu den bisherigen Verhaltensweisen. Er kann auch darin bestehen, dass bestimmte Bewertungen nicht mehr sinnvoll sind.

Bei der Selbstreflexion spielen die Gefühle eine wichtige Rolle, da sie die Aufmerksamkeit auf unerledigte Probleme lenken. So macht z. B. das Gefühl der Trauer immer wieder darauf aufmerksam, dass das eigene Leben nach dem Verlust eines Partners oder eines Objektes neu geregelt werden muss. Die Trauer wird so lange anhalten, wie die alten Gewohnheiten noch so wirken, als wäre der Verlust nicht geschehen. Oder das Gefühl des Ärgers signalisiert, dass man eine emotionale Verletzung erfahren hat, gegen die man sich nicht wehren konnte und dass die Aufgabe ansteht, sich in Zukunft mit der Entwicklung von geeigneten Verhaltensmustern vor solchen Verletzungen zu schützen. Wenn in einer Situation ein Gefühl, wie z. B. die Wut über eine Kränkung, nicht ausgedrückt wird, meldet es sich weiterhin in Erinnerungen oder auch nur in körperlichen Signalen, um daran zu erinnern, dass etwas noch unerledigt ist.

Die Gefühle können ihre Funktion nur erfüllen, wenn sie bewusst wahrgenommen werden. Dies gilt insbesondere für Situationen, für deren Bewältigung der Organismus noch nicht über fertige Routinen verfügt. Die Gefühle geben aber keine direkte Antwort vor, sondern stellen lediglich eine implizite Aufforderung zum Lernen, zum Sich-Umorientieren und zum Handeln dar. Diese Signale können allerdings leicht überhört werden, insbesondere bei emotionalen Verletzungen!

Demnach wird man dem Denken nicht gerecht, wenn davon gesprochen wird, dass man sich beim Nachdenken von sich selbst distanziert. Die Idee der Distanzierung arbeitet mit der Metapher des räumlichen Abstands. Sie ist gegenüber realen Bildern sinnvoll, aber bei dem Verhältnis zu den eigenen Gedanken irreführend. In Wirklichkeit tritt man den eigenen Gedanken nicht als ein Beobachter gegenüber. Da die Gedanken nur aus flüchtigen Verbindungen von Mustern bestehen, können sie nicht wie Objekte betrachtet werden. Sie zu überprüfen kann nur gelingen, wenn das Problem so oft wiederholt durchgespielt wird, bis sich ein Gefühl der Gewissheit einstellt.

Wenn versucht wird, sich selbst beim Denken zuzuschauen, fällt auf, dass die Gedanken nicht auf die gleiche Weise beobachtet werden können, wie äußere Bewegungen wahrgenommen werden. Das Denken ist kein sukzessiver, sondern ein sprunghafter Prozess. Plötzlich ist ein Gedanke da, ohne dass angegeben werden kann, wie er im Einzelnen zustande gekommen ist. Zudem kann über Gedanken nur in der Form nachgedacht werden, wie sie sich nach ihrer sprachlichen Transformation präsentieren. Der zugrundeliegende Denkprozess, der mit Hilfe der Muster, also ohne Sprache abläuft, entzieht sich dem Gewahrsein. Im Grunde kann man dem eigenen Denken nicht zuschauen.

Der Eindruck, dass das eigene Bewusstsein in einen Inhalt und einen Beobachter, der ihm gegenübertritt, gespalten ist, kann damit erklärt werden, dass alle Gedanken automatisch bewertet werden. Da die Bewertungen ursprünglich im Kontakt mit anderen Menschen gelernt wurden und man lange Zeit von Bewertungen der Bezugspersonen abhängig war, entsteht die Neigung, die inneren Bewertungen so aufzufassen, als ob sie von außen kommen würden. Darauf basiert das Gefühl, dass man sich beim Denken beobachten kann.

Häufig wird die These vertreten, dass das Nachdenken über sich selbst erst durch die Sprache möglich geworden sei. So behauptet Bennett, dass die Selbstreflexion erst möglich ist, wenn die Personalpronomen (ich, du u. a.) und der Gebrauch psychologischer Prädikate beherrscht werden. Man könne sich z. B. nur als eifersüchtig fühlen und über seine Eifersucht nachdenken, wenn man über den Begriff der Eifersucht verfügt. Oder man könne sich seiner Motive nur bewusst sein, wenn man einen Begriff davon besitzt. Diese These ist nicht plausibel. Das Nachdenken besteht darin, dass man sich Situationen vergegenwärtigt, in denen man sich unwohl gefühlt hat. Die eigene Eifersucht wird z. B. an dem Gefühl gespürt, dass der Partner auch einen anderen Menschen liebt. Dazu muss man nicht den entsprechenden Begriff kennen. Wenn man sich des Gefühls der Eifersucht bewusst wird, kann u. U. ein Impuls ausgelöst werden, mit der eigenen Eifersucht anders umzugehen.

Die Vorstellung, dass die Selbstreflexion der Sprache bedarf, ist vermutlich aufgrund der Erfahrung entstanden, dass über Gedanken leichter nachgedacht werden kann, wenn sie sprachlich verobjektiviert werden (vgl. Werani S. 375). Dabei wird offensichtlich die Analogie zum Schreiben benutzt, bei dem die zu Papier gebrachten Gedanken leichter überprüft werden können. Da die Selbstreflexion der eigenen niedergeschriebenen Gedanken im Grunde darin besteht, dass der dem Gedanken zugrundeliegende Sachverhalt noch einmal im inneren Handeln durchgegangen wird, findet sie gar nicht auf der Ebene der Sprache statt. Die Sprache kommt erst ins Spiel, wenn die Ergebnisse des virtuellen Prüfhandelns mitteilbar gemacht werden sollen.

Die Intuition, dass das Nachdenken auf Sprache angewiesen ist, wird auch damit begründet, dass das Nachdenken in Gang gesetzt wird, wenn man verbal kritisiert wird und versucht, die Kritik als ungerechtfertigt zurückzuweisen. Es wird ein innerer Dialog ausgelöst, in dem man sich wie in einem leibhaftigen Gespräch verteidigt. Aber wie bei einem Gespräch zwischendurch immer wieder gedacht wird, wobei man nur die Ergebnisse des Denkens im Bewusstsein vorfindet, so kann auch der innere Dialog nur voranschreiten, wenn im Hintergrund gedacht wird. Daraus folgt, dass der verbale Dialog das Denken entweder nur anstößt oder das Ergebnis eines unbewussten Denkens artikuliert, aber nicht Bestandteil des Denkens selbst ist.

Anke Werani weist darauf hin, dass sich das innere Sprechen erst entfalten kann, wenn das Sprechen mit Bezugspersonen beherrscht wird (Werani S. 389). Deshalb muss das innere Sprechen als eine Verinnerlichung des Sprechens mit anderen Menschen begriffen werden. Dafür spricht, dass nachgewiesen werden konnte, dass beim pathologischen Stimmenhören (auditive Halluzinationen) minimale Aktivierungen der für das Sprechen verantwortlichen motorischen Gehirnareale stattfinden (SZ 2.1.14). So wie gelernt wird, innere Impulse und Gefühle verbal mitteilbar zu machen, so hat der innere Dialog die gleiche Funktion, sie in einem imaginären Gespräch zu artikulieren. Wenn man sich selbst eine Frage stellt, hat dies die gleiche Wirkung, als wenn man mit einer Frage von anderen konfrontiert wird. Die Antworten im inneren Selbstgespräch stellen sich genauso spontan ein, wie sie sich beim Denken ergeben.

Zum Begriff der Verinnerlichung muss kritisch angemerkt werden, dass er ein falsches Bild vom Lernprozess vermittelt. Beim Lernen von Bewegungen aller Art (incl. dem Sprechen) wird das Ziel verfolgt, dass sie so perfekt beherrscht werden, dass sie gleichsam wie von selbst ablaufen und auch im virtuellen Handeln ausgeführt werden können. Verinnerlichung macht Bewegungen zum festen Bestandteil der inneren Natur und darf deshalb nicht als ein rein psychischer Akt missverstanden werden.

Es ist festzuhalten, dass die Fähigkeit, das eigene Handeln mit Hilfe von Mustern zu korrigieren, die innere Aktivität der Selbstreflexion entstehen lässt. Es zeigt sich, dass die mentale Selbstreflexivität in der motorischen Selbstreflexivität wurzelt. Sie ist eine Selbstkontrolle anhand der entwickelten Muster. Über sich selbst nachdenken heißt nichts anderes, als frühere Handlungen noch einmal nachzuvollziehen. Damit unterscheidet sich die Selbstreflexion gegenüber den eigenen Gedanken qualitativ nicht von der Selbstreflexion beim Handeln. Es gibt keinen Grund, dafür den Begriff des Selbstbewusstseins zu verwenden. Bewusstsein ist immer Bewusstsein von sich selbst, da seine Aufgabe darin besteht, die eigenen Aktivitäten bewusst zu erleben. Es gibt keinen Grund, die Selbstreflexivität als ein Alleinstellungsmerkmal der Menschen aufzufassen. Vermutlich verfügen auch höhere Tiere über motorische Selbstreflexivität.

2.6. Bewusste Entscheidungen?

»Der Mensch kann zwar tun, was er will, aber nicht wollen, was er will.« (Arthur Schopenhauer)

Der Begriff der Freiheit gehört ohne Zweifel zu den schwierigsten Begriffen der Philosophie. Kaum ein anderer Begriff hat eine so endlose Kontroverse ausgelöst. Immer noch fühlen sich die Philosophen dazu aufgerufen, die Freiheit gegen ihre Widersacher zu verteidigen (Gabriel 2015). Es ist schwer zu begreifen, warum dieses Thema nach einer mehr als zweitausendjährigen Philosophiegeschichte immer noch nicht zur Ruhe gekommen ist. Vermutlich liegt das daran, dass das kulturelle Selbstverständnis dem Prinzip der Freiheit absolute Priorität einräumt, dass es aber durch viele Erfahrungen infrage gestellt wird.

Es ist zweifelhaft, ob es überhaupt sinnvoll ist, das menschliche Handeln unter dem Gesichtspunkt der Freiheit zu betrachten. Beim praktischen Handeln kommt die Freiheit im Grunde nur dann ins Spiel, wenn man zu einem Tun gezwungen wird, das den eigenen Bedürfnissen entgegensteht. Sofern das Handeln nicht durch andere Menschen direkt eingeschränkt wird, fragt niemand danach, ob es frei ist, vielmehr kommt es darauf an, dass es in Übereinstimmung mit den eigenen Bedürfnissen und Präferenzen steht. Hier geht es darum, ob es gelingt, sich gegenüber den Erwartungen anderer Menschen abzugrenzen. Das hat mit Freiheit nur wenig zu tun.

Der Begriff der Freiheit wurde ursprünglich im Zusammenhang mit der Befreiung aus der Sklaverei (Graeber S. 228) und lange Zeit nur im Zusammenhang mit der politischen Abhängigkeit von anderen Menschen verwendet. Eine Verschiebung hin zur inneren Freiheit (Willensfreiheit) erfolgte erst, als die Römer Freiheit als das uneingeschränkte Verfügungsrecht über das eigene Eigentum definierten. Da auch der eigene Körper als Eigentum betrachtet wurde, lag es nahe, den Begriff der Freiheit auch auf die inneren Prozesse der Gedanken und des Handelns anzuwenden und anzunehmen, dass man frei über mögliche Alternativen entscheiden könne. Der Begriff der politischen Freiheit wandelte sich um in die innere Willensfreiheit. Jetzt wurde die Freiheit als Fähigkeit verstanden, zwischen mehreren Alternativen wählen zu können.

Die Verteidiger der Freiheit können außer der subjektiven Intuition keine stichhaltigen Argumente für die Willensfreiheit vorbringen. Die Behauptung, dass es selbstevident sei, dass man sich frei fühlt, ist aus der Sicht der Zweifler reiner Glaube. Ebenso wenig konnte bisher die Behauptung, dass sich die Freiheit aus dem Prinzip des Geistes, der Vernunft, der Person oder der menschlichen Natur ergibt, begründet werden. Auch mit der Widerlegung des Determinismus, dass also das menschliche Verhalten kausal zu erklären ist, kann die Existenz der Freiheit nicht bewiesen werden. Es drängt sich die Hypothese auf, dass die Alternative von Freiheit und Determinismus dem menschlichen Denken und Handeln nicht gerecht wird. Es ist eine andere Sichtweise erforderlich, um sowohl das Gefühl der Freiheit als auch die Abhängigkeit des Denkens und Handels als zusammengehörige Aspekte des Handelns verstehen zu können.

Im alltäglichen Verständnis des Handelns beginnt das Handeln mit der Absicht, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Wegen des engen Zusammenhangs zwischen Absicht und Handeln sind viele Menschen überzeugt, dass die Absichten die Gründe ihrer Handlungen sind. Viele Philosophen sind der Überzeugung, dass die Menschen die einzigen Wesen sind, die aus Gründen handeln können (Bennett S. 424). Viele Menschen vertrauen ihrer Intuition, dass sie das Subjekt ihrer Entscheidungen sind.

Die Überzeugung, dass das Handeln durch bewusste Gedanken gesteuert werden kann, hat eine lange Tradition. Bereits in der Antike wurde die Überzeugung vertreten, dass die Seele, der Geist bzw. die Vernunft als rationale Vermögen die Fähigkeit hätten, das Gute zu erkennen und den Körper zu steuern. Es stellt sich die Frage, wie psychische und mentale Prozesse auf den Körper einwirken. Wie lenken die Gedanken das Handeln? Können Absichten als mentale Ursachen angesehen werden? Kann man der persönlichen Intuition trauen, dass alle Entscheidungen bewusst getroffen werden? Im Folgenden wird argumentiert, dass diese Fragen auf einem falschen Verständnis basieren, wie Denken und Handeln zusammenhängen.

Aus den bisherigen Überlegungen ergibt sich die Hypothese, dass alle Handlungen wie von selbst geschehen. Man spürt in sich einen Impuls, eine bestimmte Handlung auszuführen, um damit ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Dem Impuls liegt keine bewusste Entscheidung zugrunde. Er stellt sich völlig spontan ein. Er ergibt sich nicht aus einem Plan, sondern aus den Bedürfnissen, den Gegebenheiten der aktuellen Handlungssituation und den verfügbaren Handlungsmustern. Die Situation wird spontan bewertet und auf dieser Basis festgelegt, welche Handlungsmuster ausgeführt werden.

Handlungen, die den Eindruck hinterlassen, dass sie bewusst geplant wurden, sind eher der Ausnahmefall. Bewusste Planungen sind erforderlich, wenn zur Lösung eines anstehenden Problems keine geeigneten Handlungsmuster zur Verfügung stehen, so dass nach geeigneten Handlungsschritten gesucht werden muss. Die Suche kann mehr oder weniger planvoll organisiert werden. Dabei können auch die Vorteile und Nachteile von Alternativen abgewogen werden. Aber die Entscheidung folgt nicht per logischer Schlussfolgerung aus den Gründen, sondern drängt sich spontan auf, sobald man das Gefühl hat, den richtigen Weg gefunden zu haben. Die Planung und das Sondieren der Gründe sind – wie oben dargestellt – kein Denken, sondern bloß die Suche nach Informationen, damit das unbewusste Denken in der Lage ist, eine Entscheidungen treffen zu können.

Wenn man sich der Absicht bewusst ist, eine bestimmte Handlung durchzuführen, bedeutet dies nur, dass man sich als Urheber der Handlung erlebt. Das Gefühl, die Handlung zu wollen, hat die Funktion, die geplante Handlung als persönliche Handlung zu kennzeichnen (vgl. Wegner, in Blackmore S. 352). Man handelt also nicht, weil man die Absicht dazu hat, sondern man hat die Absicht, weil man handelt. Der Begriff der Absicht ist aus der Umgangssprache hervorgegangen und bedeutet keineswegs, dass Absichten auch eine ursächliche Bedeutung für das Handeln selbst haben. Er dient bloß dem Versuch, das eigene Verhalten anderen gegenüber zu begründen. Wenn also behauptet wird, dass am Anfang einer Handlung eine Absicht steht, darf das nicht wörtlich genommen werden. Wenn man z. B. die Absicht hat, Kaffee zu trinken, hat sich der entsprechende Handlungsimpuls spontan aus dem Kontext herausgebildet, dass man Durst hat, das Bedürfnis nach einer Stimulierung hat oder dass eine Tasse mit dampfendem Kaffee auf dem Tisch steht. Es wird spontan ein dafür geeignetes Handlungsmuster ausgewählt. Die Absicht ist fast immer unbewusst, wenn sie dennoch ins Bewusstsein rückt, bedeutet das nichts anderes, als dass man sich als Urheber der Handlung erlebt.

Wenn die subjektiv erlebten Absichten keine kausale Bedeutung haben, muss konsequenterweise angenommen werden, dass auch Gedanken nicht das Handeln lenken. Deshalb ist die verbreitete Annahme, dass die Menschen nach Gründen handeln, also ihre Entscheidungen auf der Grundlage von abgewogenen Gründen treffen, anzuzweifeln. Nach den bisherigen Überlegungen bereiten die Gedanken das Handeln nur vor, indem sie Unsicherheiten beseitigen. Sie klären ab, welche Handlungsmuster zweckmäßig sind. Dabei müssen die Gedanken nicht unbedingt bewusst sein. Sie treten erst ins Bewusstsein, wenn man sich aufgrund von Erwartungen anderer genötigt sieht, sein Handeln zu rechtfertigen. Der Anstoß zum Handeln geht allein von den Bedürfnissen aus. Insofern ist es eine subjektive Täuschung, dass die Gedanken das Handeln verursachen.

Genauso wenig wie Absichten dürfen subjektive Ziele als motivationale Kräfte aufgefasst werden. Da Ziele als Aspekte von Handlungsmustern gelernt werden, sind sie bei der Ausführung von Handlungen immer mehr oder weniger präsent. Die Ziele treten eigentlich erst voll ins Bewusstsein, wenn man genötigt wird, sein Handeln zu begründen. Sie können deshalb leicht als Gründe missverstanden werden. Bekanntlich werden aber häufig andere Gründe vorgeschoben (Rationalisierungen), da es häufig nicht opportun ist, sich zu den wahren Bedürfnissen zu bekennen. Da Ziele in der sprachlichen Kommunikation als Gründe verwendet werden können, kann der Eindruck entstanden, dass sie etwas Mentales sind. Das ist ein Irrtum. John Dewey hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Ziele nicht willkürlich vom bewussten Denken gesetzt werden können, sondern tief in den Bedürfnissen und Gefühlen verankert sind (Dewey 2003 S. 119).

Die gleiche Problematik stellt sich auch beim Begriff der Entscheidung. Die Annahme, dass alle Handlungen auf bewussten Entscheidungen basieren, widerspricht der Erfahrung, dass sich die Handlungsimpulse spontan einstellen und die Handlungen gleichsam blind wie Gewohnheiten ablaufen. Grundsätzlich werden Verhaltensmuster nicht bewusst ausgewählt. Sie stellen sich von selbst ein. In konkreten Situationen weiß man in der Regel sofort, wie zu handeln ist. Wenn man unsicher ist, wartet man ab, bis sich Klarheit einstellt. Sich-Entscheiden ist deshalb keine mentale Aktivität, sondern besteht lediglich darin, dass man sich mit den unbewussten Handlungsimpulsen identifiziert.

Obwohl Entscheidungen, Ziele und Absichten dem Handeln vorauszugehen scheinen, dürfen sie nicht mit kausalen Ursachen gleichgesetzt werden. Die im Bewusstsein auftretenden Gedanken (Gründe, Wünsche, Absichten, Ziele, Wille u. Ä.) sind nur verbale Ausformulierungen von tiefer liegenden Prozessen. Es sind nur Beschreibungen, wie handelnde Personen ihr Handeln verstehen. Daraus ergibt sich, dass alle Versuche, das Handeln mit psychologischen Begriffen zu verstehen, problematisch sind. Deshalb muss die traditionelle Überzeugung, dass bewusste Gedanken die Ursachen von Handlungen sind und dass das Handeln mit psychologischen Begriffe erklärt werden kann, infrage gestellt werden.

Wenn es schwer fällt, eine anstehende Handlung auszuführen, liegt das daran, dass man sich nicht sofort entscheiden kann, weil noch nicht genügend Informationen zur Verfügung stehen. Sobald dies aber der Fall ist, gibt es keine Wahl mehr, sondern drängt sich die Entscheidung wie von selbst auf. Häufig steht man unter dem Druck, Erwartungen anderer Menschen zu entsprechen, die im Widerspruch zu der persönlich favorisierten Alternative stehen. In der Regel entscheidet man sich unbewusst, die Bedürfnisse anderer Menschen, meistens die des Partners, zu erfüllen, auch wenn dies auf Kosten der eigenen Bedürfnisse geht. Wenn schließlich eine bestimmte Handlung ausgeführt wird, liegt das nicht daran, dass man aus mehreren Alternativen eine ausgewählt hat, sondern weil man ein entsprechendes inneres Signal erhalten hat. In Wirklichkeit ist die Neuentscheidung darauf zurückzuführen, dass veränderte Umstände oder neue Informationen den Anlass gegeben haben, nach anderen Präferenzen vorzugehen.

Wenn sich die Entscheidung, auf eine bestimmte Weise zu handeln, gleichsam wie von selbst einstellt, heißt das nicht, dass man fremdbestimmt handelt oder vom Unbewussten gesteuert wird. Da sich jede Handlung aus der einmaligen individuellen Lebensgeschichte, den dabei gebildeten Handlungsmustern und der aktuellen Situation ergibt, und deshalb von persönliche Erfahrungen und Bedürfnisse geprägt wird, sind bei der Analyse des menschlichen Handelns Begriffe wie Determinismus, Ursache, kausale Notwendigkeit oder bewusste Entscheidung fehl am Platz. Es ist sinnlos, hier mit allgemeinen Gesetzen oder sogar mit Naturgesetzen zu operieren.

Die vorherrschende kulturelle Überzeugung, dass Entscheidungen auf einer bewussten rationalen Wahl basieren und dass man mit frei gewählten Gedanken Einfluss auf sein Handeln nehmen könne, gründet somit auf einem falschen Verständnis des Handelns. Es erweist sich als eine Fiktion, dass das Handeln durch bewusste Gedanken gesteuert werden könne und dass Handeln aus Einsicht möglich sei. Beim Handeln besteht niemals die Chance, zwischen gleichwertigen Alternativen auswählen zu können. In einer gegebenen Situation ergibt sich aufgrund der persönlich gebildeten Bewegungsmuster stets eine eindeutige Entscheidung. Wenn hin und wieder der Eindruck entsteht, dass man unter mehreren Alternativen auswählen kann, liegt das – wie oben erwähnt – daran, dass man unsicher ist, wie man sich entscheiden soll.

Das entscheidende Kriterium beim Handeln ist nicht die Freiheit, sondern ob das Muster, für das man sich entscheidet, den eigenen Präferenzen und Bedürfnissen entspricht. Dies ist dann der Fall, wenn das Muster aus Erfahrungen hervorgegangen ist, die nicht von Angst beeinflusst wurden. Solche Muster können uneingeschränkt bejaht werden. Wenn danach gehandelt wird, stellt sich nicht die Frage, ob man frei handelt, da man das Gefühl hat, mit sich einig zu sein. Erst wenn man durch äußeren Zwang zu einem bestimmten Handeln gezwungen wird, taucht das Problem der Freiheit auf. Aber dann ist es das alte Problem der sozialen Abhängigkeit und nicht das der Willensfreiheit.

Man weiß intuitiv, dass Muster, die in angstbesetzten Stresssituationen gebildet wurden, letztlich schädlich sind. Man klammert sich trotzdem an sie und verteidigt sie mit allen Mitteln, weil man glaubt, anders die jeweilige Situation nicht bewältigen zu können. Obwohl man dunkel weiß, dass sie einem langfristig schaden, hält man an ihnen fest, weil sie die Vermeidung von Leiden versprechen. Es kommt also nicht darauf an, dass das Handeln im Einklang mit den persönlichen Überzeugungen steht, wie Pauen meint (Pauen S. 291). Auch das Handeln der Suchtabhängigen steht in Übereinstimmung mit ihren Überzeugungen! Entscheidend ist, ob das Handeln den Bedürfnissen entspricht, die sich in angstfreien, positiv bewerteten Beziehungen herausbilden würden.

Aufgrund der Herkunft des Begriffs der Freiheit aus politischen Abhängigkeitsverhältnissen stellt sich die Frage, wer eigentlich frei ist. Die üblichen Antworten sind: der Geist, die Person, das Bewusstsein, das Ich oder das Selbst. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird sich zeigen, dass diese Instanzen willkürliche mentale Konstruktionen sind. Deshalb entbehrt der Begriff der Freiheit in Bezug auf das selbst geführte Handeln jeglicher Grundlage.

Häufig wird zwischen Handlungs- und Willensfreiheit unterschieden, wobei in der Regel die Handlungsfreiheit als gegeben betrachtet und die Willensfreiheit abgelehnt wird. Diese Unterscheidung ist nicht zielführend. Die Argumente, die oben gegen die Freiheit des Handelns vorgebracht wurden, beziehen sich auch auf diese beiden Formen der Freiheit.

Auch der Begriff der Willensfreiheit ist damit zu kritisieren, dass er sich auf eine Instanz bezieht, die nicht zu begründen ist. Weder Philosophen und Psychologen noch Hirnforscher konnten bisher die Existenz des Willens nachweisen. Er basiert vermutlich auf einer problematischen Interpretation der subjektiven Erfahrung, dass man beim Handeln den starken Impuls verspürt, ein gewähltes Ziel erreichen zu wollen. Alternativ wird auch von Absicht oder von Motiv gesprochen. Der Begriff des Willens ist offensichtlich ein metaphysischer Begriff. Bereits Ludwig Wittgenstein hatte erkannt, dass der Begriff des Willens bloß ein Sprachspiel ist, mit dem versucht wird, über seelische Prozesse zu sprechen, dass aber nicht der Fehler gemacht werden darf, dem Begriff einen seelischen Gegenstand oder eine eigenständige seelische Kraft zu unterlegen. Nach der hier entwickelten Theorie der Bewegungsmuster wird das Gefühl, etwas erreichen zu wollen, automatisch ausgelöst, wenn ein Bewegungsmu-ster aktiviert wird und ein gewisser Widerstand überwunden werden muss. Denn die Bewegungsmuster enthalten neben der reinen Bewegungsmechanik auch emotionale und kognitive Elemente.

Im Übrigen ist auch der Versuch der Hirnforscher, die Willensfreiheit zu widerlegen, gescheitert. Aus der Beobachtung, dass bereits Gehirnaktivitäten ablaufen, bevor man sich einer Entscheidung bewusst ist, kann keineswegs geschlossen werden, dass die Entscheidungen nicht vom Ich, sondern vom Gehirn getroffen werden. Wenn man davon ausgeht, dass alle Entscheidungen auf dem Basis der bisher gelernten Muster und der unbewussten Einschätzung der Handlungssituation getroffen werden, ist es überhaupt nicht weiter überraschend, dass das Gehirn im Vorfeld von Entscheidungen aktiv ist. Das ist sogar erforderlich, damit eine kohärente Entscheidung gefunden werden kann. Im Bewusstsein von beabsichtigten Handlungen drückt sich lediglich die Tendenz aus, wie aufgrund der gelernten Handlungsmuster ein aktuelles Problem gelöst werden kann.

Es zeigt sich, dass die Alternative Willensfreiheit oder Determinismus eine falsche Problemstellung ist. Weder das eine noch das andere trifft auf die Bedingungen des menschlichen Handelns zu. Beides sind unbegründete mentale Konstrukte. Die Menschen handeln notwendig entsprechend ihren Verhaltensmustern und Präferenzen, ohne dass dies als innerer Zwang erlebt wird. Man identifiziert sich mit den sich aufdrängenden Handlungsimpulsen, weil anders das Handeln nicht funktionieren würde. Jedes Handeln ist zugleich spontan und notwendig.

Er ist deshalb auch problematisch, anstelle des Begriffs der Freiheit den Begriff der Selbstbestimmung zu verwenden (vgl. Pauen, in Herrmann S. 69). Dieser Begriff ist abzulehnen, da er von der Existenz eines Selbst als Subjekt freier Entscheidungen ausgeht.

Das Musterverständnis des Handelns bedeutet keineswegs, dass man nicht selbstständig handeln kann. Natürlich gibt es die individuelle Fähigkeit, im Denken und Handeln neue Wege zu beschreiten und neue Alternativen auszuprobieren. Wer seinen Impulsen folgt, handelt kreativ und findet spontan und selbständig neue Wege der Problemlösung. Das selbständige Handeln hat aber nichts mit Freiheit zu tun, sondern ergibt sich daraus, dass ständig die Handlungsmuster mit dem Ziel überprüft und modifiziert werden, ihre Effizienz zu verbessern. Man greift die Anstöße zu Verhaltensänderungen von anderen Menschen auf, wenn sie überzeugend sind. Es ist aber sinnlos, hier von Freiheit zu sprechen, da sich die Art, wie man seine Verhaltensmuster ändert, aus der Art ergibt, wie man früher seine Verhaltensprobleme gelöst hat.

Häufig wird Freiheit damit definiert, dass man fähig ist, sich von vorgegebenen Mustern erkennend distanzieren zu können (Hampe S. 306) und in Übereinstimmung mit sich selbst zu handeln. Damit wird zutreffend die Qualität selbständigen, authentischen Handelns umschrieben. Aber es ist irreführend, das Handeln als frei zu bezeichnen. Damit wird der Aspekt der inneren Notwendigkeit verschleiert, der sich aus den akkumulierten Handlungsmustern ergibt.

Es stellt sich die Frage, warum die Menschen den Eindruck haben, bewusst und frei zu handeln. Das liegt vermutlich daran, dass sich das eigene Handeln nicht von selbst versteht, sondern interpretiert werden muss. Freiheit ist eine mögliche Interpretation des Handelns. Lange hat man sich an dem Modell des Steuermannes eines Wagens oder Schiffes orientiert. Frei ist man, wenn man dorthin fahren kann, wohin man will. Seit dem Siegeszug der Naturwissenschaften orientiert sich die Diskussion weitgehend an dem Modell, dass in der Natur alles nach Naturgesetzen abläuft. Dieses Modell verlangt den Nachweis, dass im Bereich des menschlichen Handelns sozusagen Lücken in der allumfassenden Determination bestehen. Entweder wird behauptet, dass sich das menschliche Handeln völlig außerhalb der Natur abspielt oder dass im Handeln neben den kausalen Ursachen auch vom Geist bestimmte Gründe eine Rolle spielen. Wenn dieses Denkmodell unreflektiert bleibt, kann die Wahrnehmung, dass das Handeln wie von selbst abläuft, nicht zugelassen werden. Die endlose Kontroverse um die Freiheit resultiert letztlich aus dem Denkfehler, dass die Freiheit nicht als eine Vorstellung, sondern als eine reale Beschaffenheit der menschlichen Natur behandelt wird. Damit wird die Freiheit zu einem metaphysischen Prinzip erhoben. Es kann nicht bewiesen werden, weil es kein wahrnehmbares Substrat hat.

In dieser Arbeit wird das Denkmodell vorgeschlagen, dass das Handeln genauso wie das Wasser den Weg des geringsten Widerstandes sucht. Es fließt von selbst entlang den von der Umwelt vorgegebenen Bedingungen. Dieses Modell scheint auch der antiken Vorstellung zugrunde zu liegen, dass richtiges Handeln darin besteht, gemäß der eigenen Natur zu leben. Dieses Modell stützt sich auf die Erfahrung, dass die meisten Handlungen spontan ablaufen. Wenn der Gedanke zugelassen wird, dass die eigenen Absichten und Ziele nur Interpretationen sind und dass sich das Handeln spontan aus früheren Erfahrungen und der gegenwärtigen Situation ergibt, kann gespürt werden, wie man mit seinen spontanen Denk- und Handlungsimpulsen verschmilzt. Man kann akzeptieren, dass man im Grunde gehandelt wird. Wenn es das kulturelle Klima zulassen würde, dass man sich von seinen Handlungsimpulsen leiten lässt, würde man eher merken, dass man oft einschränkenden sozialen Konventionen folgt und würde ihnen viel eher Widerstand entgegensetzen und aus dem Konformismus ausbrechen.

Darüber hinaus hat der Begriff der Freiheit auch erhebliche praktische Nachteile:

1. Wenn Menschen sich für das verantwortlich machen, was sie erreicht und nicht erreicht haben, führt das entweder zu Stolz, Überheblichkeit, übersteigertem Selbstwert mit Abwertung der anderen oder zu Minderwertigkeitsgefühlen, Scham und Schuldgefühlen. Die Willensfreiheit verhindert so eine realitätsgerechte Wahrnehmung der eigenen Leistungen und Schwächen. Da man sich seine Schwächen und Fehler nicht eingestehen kann, werden die eigenen Defizite rationalisiert, auf andere projiziert und/oder Andersdenkende unterdrückt. Die Bereitschaft und die Fähigkeit, sich zu verändern, wird erschwert.

2. Willensfreiheit ermöglicht die Bestrafung anderer. Strafe kann mit moralischer Schuld gerechtfertigt werden. Da Bestrafung als Gewalt erfahren wird, weckt sie den Impuls zur Gegengewalt. Willensfreiheit führt zu so zu noch mehr Gewalt. Sie verhindert, dass man dem anderen und sich selbst vergibt und damit eine Wiederversöhnung einleitet. Ohne Vergebung ist es unmöglich, aus der Gewaltspirale herauszukommen. Vergebung ist ausgeschlossen, solange man an das Prinzip der Willensfreiheit glaubt.

3. Der Glaube an die Willensfreiheit verhindert angstfreie Selbsterkenntnis. Man verdrängt die Erfahrung, dass alles, was man tut, sich aus den früheren Erfahrungen ergibt. Der Druck, die moralische Verantwortung für seine Handlungen übernehmen zu müssen, erschwert es, sich zu verändern (vgl. Kap. 3.9.).

4. Die Angst vor weiteren Verletzungen und Kränkungen und die fehlende Bereitschaft, zu seinen Schwächen zu stehen, beeinträchtigen die Dialogfähigkeit.

5. Die Willensfreiheit stellt ein gefährliches Scheinproblem dar, da es von der Aufgabe ablenkt, dass soziale Verhältnisse geschaffen werden müssen, in denen alle Verhaltensmuster ohne Angst vor Sanktionen gelernt werden können. Die Frage nach der Freiheit würde sich dann nicht mehr stellen.

Wenn die Freiheit offensichtlich ein Scheinproblem ist, drängt sich die Frage auf, welche historische Funktion dieses Konzept hatte. Unten wird erläutert, dass der historische Individualisierungsprozess, der durch die Entstehung des Eigentums ausgelöst wurde, vom Einzelnen verlangt, die Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen (Kap. 3.5.). Das führte zur Überzeugung, dass man sein Leben frei gestalten kann. Ein wichtiger Grund für die Verbreitung des Freiheitskonzeptes war sicherlich auch sein zentraler Stellenwert im Christentum. Strikte moralische Forderungen können leichter durchgesetzt werden, wenn davon ausgegangen wird, dass die Menschen frei sind. Außerdem kann damit erklärt werden, warum es das Böse gibt: Weil die Menschen frei sind, können sie sich auch für das Böse entscheiden.

Warum verteidigen die Menschen so heftig das Prinzip der Wahlfreiheit, obwohl die Freiheit beim alltäglichen Handeln überhaupt keine Rolle spielt? Ein Grund könnte darin liegen, dass man die dunkle Ahnung abwehren will, dass man ein für alle Mal auf seine Verhaltensmuster festgelegt ist, vor allem auf diejenigen, die man negativ bewertet, aber bisher nicht die Kraft hatte, sie zu verändern. Insbesondere wird man von inneren Zwängen beunruhigt, die man ablehnt, aber nicht abschütteln kann. Das Prinzip der Freiheit stärkt die Hoffnung, dass man sich jederzeit zum Positiven hin ändern kann, ohne dass man sich auf die mühevolle Arbeit einzulassen braucht, seine Ängste vor der Wiederholung von emotionalen Verletzungen zu überwinden. Es lässt hoffen, dass man sich aus der unbewussten emotionalen Abhängigkeit von anderen Menschen befreien kann. Ein anderer Grund könnte in der Erfahrung liegen, dass man in hohem Maße von den kulturellen Lebensbedingungen abhängig ist, aber die Hoffnung, dass sie humaner gestaltet werden können, nicht resignativ aufgeben will.

Aus diesen Überlegungen folgt, dass der Begriff der Freiheit untauglich ist, um damit den Prozess des Handelns zu analysieren. Zu Recht wird im Buddhismus behauptet, dass freie Handlungen nicht aus Willensentscheidungen, sondern aus spontanen Entscheidungen erwachsen. Offensichtlich wird hier frei im Sinne von authentisch verstanden. Entgegen der traditionellen Überzeugung, dass die Freiheit das höchste Gut des Menschen ist und seine Würde ausmacht (vgl. Höffe 2015), ist in diesem Sinne daran festzuhalten, dass das höchste anzustrebende Ziel emotionale Unabhängigkeit ist.

2.7. Theorie der Selbstorganisation

»Wir glauben, die Erfahrungen zu machen, aber die Erfahrungen machen uns.« (Eugene Ionesco)

Wie ist es zu erklären, dass die Evolution die erstaunliche Fähigkeit des flexiblen Handelns hervorgebracht hat, obwohl alles dafür spricht, dass sie ein ungerichteter, planloser Prozess ist? Es wird in dieser Arbeit vorgeschlagen, für diese Frage das Konzept der Selbstorganisation heranzuziehen, das im Rahmen der Naturwissenschaften entwickelt worden ist und zunehmend auch von der Gehirnforschung und den Geisteswissenschaften akzeptiert wird. Der Begriff der Selbstorganisation wird sehr unterschiedlich verwendet. Im Rahmen dieser Arbeit wird die folgende Definition verwendet: Selbstorganisation bezieht sich auf Prozesse, bei denen lebendige, aus mehreren Komponenten zusammengesetzte Systeme spontan zu neuen Ordnungen finden, wenn sie aus dem Gleichgewicht geraten sind (vgl. Schlemm S. 23). Selbstorganisation ist die Fähigkeit von lebendigen Systemen, sich kreativ an veränderte Lebensbedingungen anpassen zu können.

Aus der Sicht der modernen Biologie existierten ca. 3 Mrd. Jahre lang nur einzellige Lebewesen. Als schließlich mehrzellige Organismen entstanden, handelte es sich um einem Zusammenschluss von mehreren Einzellern, die ursprünglich selbstständig waren, aber in der Kooperation miteinander einen Vorteil erkannten. »Der heute weithin akzeptierten Endosymbiontentheorie (vgl. Margulis) zufolge sind alle Eukaryoten, also alle Lebewesen mit Zellen mit Zellkern, das Produkt einer Symbiose: Alle Zellen mit Zellkern sind nämlich ein Zusammenschluss verschiedener Einzeller, die sich in einer großen Wirtszelle zum allgemeinen gegenseitigen Vorteil eingerichtet haben und mit der Zeit voneinander abhängig wurden. Irgendwann gaben sie Teile ihrer DNA an den Zellkern ab. Dadurch wurde die Gemeinschaft zu einer neuen Zelle, dem Grundbaustein unserer Körper. Dennoch kann man sie noch als Symbiose erkennen. Mitochondrien beispielsweise, die »Kraftwerke«, die jede unserer Zellen bewohnen, besitzen immer noch eine eigene Erbsubstanz, sind also gewissermaßen eigenständige Lebewesen, mit denen unsere Körper eine nunmehr 1,5 Milliarden Jahre währende Symbiose fuhren. Schon auf zellulärer Ebene ist der Hauptantrieb der Entwicklung nicht Wettbewerb, sondern Kooperation.« (Mekiffer S. 163) Da in der Evolution die Zellen als die elementaren Bauteile von Lebewesen gleich geblieben sind, liegt es nahe anzunehmen, dass alle Neuentwicklungen allein auf eine Neukombination von Zellen nach einfachen Mustern zurückgeführt werden können.26 Wie dieser Sprung zu komplexeren Ordnungen erfolgte, ist unbekannt. Es wird angenommen, dass der Zusammenschluss durch Veränderungen in der Umwelt (z. B. Klimaveränderungen oder Energiemangel) angestoßen wurde.

Nach diesem Denkmodell fasst Bruce Lipton den Menschen als eine kooperative Gemeinschaft aus ungefähr 50 Billionen einzelligen Mitgliedern auf (Lipton S. 26). Er schlägt vor, jede Zelle als einen kleinen Menschen zu betrachten. In der menschlichen Zellenkolonie übernehmen die einzelnen Zellen spezielle Funktionen, ohne aber ihre ursprüngliche Selbstständigkeit ganz aufzugeben (Margulis S. 67). Die eigentlichen Akteure sind und bleiben die einzelnen Zellen. Wenn der Organismus als Ganzes handelt, tut er das im Auftrag, so wie ein Agent bloß Befehle seines Auftraggebers ausführt.

Nach dem bisherigen Wissen kommunizieren die Zelle über Biophotonen, elektromagnetische Felder, Neurotransmitter u. Ä. miteinander. Dabei werden Regeln gebildet, wie Probleme gelöst werden können und mit denen der Organismus im Gleichgewichtszustand gehalten werden kann. Wenn »Beschlüsse« gefasst werden, erfolgt dies vermutlich eher basisdemokratisch als autokratisch. Bei der internen Kommunikation werden aber nicht Informationen ausgetauscht, sondern Handlungsaufträge, die von den empfangenden Zellen in Aktivitäten (herstellen, löschen, verbinden u. a.) umgesetzt werden. Das Ziel ist, durch geeignete Aktionen den Organismus im Gleichgewicht zu halten. Der Begriff der Information ist dafür nicht geeignet, weil er aus der Umgangssprache kommt und mit Bedeutung, also einem mentalen Gehalt assoziiert wird (vgl. Kap. 2.4.). Es ist auch fraglich, ob der Begriff der Kommunikation sinnvoll für das Zusammenwirken der Zellen verwendet werden kann. Er soll hier metaphorisch verstanden werden, da für das Zusammenwirken der einzelnen Zellen kein passenderer Begriff verfügbar ist.

In komplexen Organismen werden zentrale Organe wie das Herz-Kreislauf-, Hormon-, Atem- oder Nervensystem (Gehirn) geschaffen, die nach Regeln koordiniert werden, die vom Organismus als Ganzes gesetzt werden. Demnach ist das Gehirn lediglich eine Art Vermittlungsstelle, in der die vielen Einzelimpulse, die von den Körperzellen kommen, nach Regeln koordiniert werden. Es ist bloß eine Plattform für den Abgleich der Bedürfnisse der einzelnen Zellen, so wie im Parlament ein gemeinsamer Nenner für divergierende Interessengruppen angestrebt wird. Seine hohe Plastizität zeigt, dass es ein formbares Trägermedium ist, das vielfältige Aufgaben übernehmen kann. Zu Recht bezeichnet es Thomas Fuchs als ein Organ der Möglichkeiten (Fuchs 2009 S. 94).

Es spricht vieles dafür, dass das Gehirn phylogenetisch aus der Aufgabe entstanden ist, Bewegungen des Organismus flexibel und damit effizient zu gestalten. So geht z. B. der Psychologie Wolfgang Prinz davon aus, dass das Gehirn für die Handlungssteuerung entwickelt worden ist (Prinz 2013 S. 173). Für diesen Zweck produziert es Muster. Da dies ohne bewusste Beteiligung des Bewusstseins abläuft, ist gewährleistet, dass die Muster ihre Funktion als Organisatoren des Handelns erfüllen können. Zu Recht wird das Gehirn häufig als ein sich selbst organisierendes System bezeichnet, das dem Organismus ermöglicht, sich an die jeweils vorgefundenen äußeren Umweltbedingungen anzupassen (Hüther S. 82).

So wie es im körperlichen Bereich Regeln gibt (z. B. Aufrechterhaltung des ph-Wertes des Blutes oder der Körpertemperatur), so gibt es auch Regeln für das Handeln. An oberster Stelle steht dabei sicherlich die Auflösung von inneren Inkonsistenzen zwischen verschiedenen Handlungsmustern und die Vermeidung von sozialen Konflikten. Solche Regeln sorgen dafür, dass der Organismus handlungsfähig bleibt. Sie sind keineswegs fix, sondern können jederzeit in Reaktion auf Erfahrungen modifiziert werden.

Die Selbstorganisation des Gehirns drückt sich darin aus, dass beim Menschen nur 10 Prozent des Hirnvolumens für die Kommunikation mit der Umwelt, aber 90 Prozent mit der Verarbeitung der Sinneswahrnehmungen für die Steuerung von motorischen Abläufen beschäftigt ist. Das hängt damit zusammen, dass Bewegungen, die mit Erfahrungen organisiert werden, ein hohes Maß an Selbstreflexivität verlangen. Da das Gehirn hauptsächlich mit der inneren Verarbeitung beschäftigt ist, bezeichnet es Welsch als ein Organ der Selbstbezüglichkeit (Welsch 2012 S. 90). Dem entspricht die Theorie von John Ratey, dass es Gehirne nur bei Lebewesen gibt, die sich bewegen (Ratey S. 188). Durch den Einsatz von Mustern ist eigentlich erst die erstaunliche Vielfalt und Kreativität des Lebendigen zustande gekommen.

Das Besondere am Konzept der Selbstorganisation besteht darin, dass es auf die Vorstellung verzichtet, dass das Leben von Gesetzen beherrscht wird. An die Stelle von fixen Gesetzen treten offene Regeln, die im Austausch mit der Umwelt gebildet und bei Bedarf verändert werden. Der Begriff der Selbstorganisation darf deshalb nicht in dem Sinne verstanden werden, dass die Organisation von einer inneren Substanz mit dem Namen Selbst vorgenommen wird.

Das Konzept der Selbstorganisation verwirft das alte Dogma, dass die inneren Prozesse von einem zentralen Dirigenten gesteuert werden. Es lehnt die Annahme ab, dass das Denken und Handeln vom Geist, Ich oder Selbst gesteuert werden. Auch das Gehirn kommt als kausale Schaltzentrale des Körpers nicht infrage. Das Handeln entsteht nicht aus der Interaktion von Gehirn und Körper, sondern wird als eine Leistung des ganzen Organismus begriffen. Der Organismus entwickelt die Verhaltensmuster, die von den Lebensbedingungen verlangt werden. Wenn z. B. alle Gruppenmitglieder miteinander sprechen, wird der Neuankömmling solange die Sprache der anderen nachahmen, bis er sie beherrscht. Man könnte den Einfluss der Umwelt auch so ausdrücken, dass die Hardware des Gehirn von einer Software gesteuert wird, die außerhalb vom Organismus in der Umwelt situiert ist.

Im Bereich des menschlichen Handelns drückt sich die Selbstorganisation darin aus, dass das menschliche Handeln weitgehend wie von selbst abläuft. Zu Recht wird im Taoismus vom Nicht-Handeln gesprochen, um damit auszudrücken, dass sich das Handeln spontan einstellt. Der Taoismus erklärt das Phänomen, dass im Nicht-Handeln spontan das Richtige entsteht, damit, dass sich das Handeln im Einklang mit dem Tao befindet, dem universalen Prinzip, das die Ordnung und Wandlung der Dinge bewirkt. Aus der hier entwickelten Sicht des Handelns bietet sich die Erklärung an, dass sich das Richtige von selbst aus der Gesamtheit der Handlungsmuster ergibt, die im Kontakt mit der Wirklichkeit gelernt wurden. Demnach ergibt sich das Richtige aus der inneren Selbstorganisation, vorausgesetzt, dass sie nicht durch Eingriffe in Form von Theorien, Pflichten oder Plänen in eine von Angst geprägte Richtung gedrängt wird. Nicht-Handeln heißt, dass man seinen spontanen Handlungsimpulsen folgt. Man klammert sich nicht an seine Gewohnheiten, sondern lässt es zu, dass sie sich spontan verändern. Als Sokrates davon sprach, dass er seinem inneren Daimonion folgen würde, drückte er im Grunde das Prinzip der Selbstorganisation aus, dass sich die Handlungsimpulse von selbst einstellen.

Allen Begriffen, die das Präfix selbst enthalten, wie z. B. Selbstvertrauen, Selbstbestimmung oder Selbstberuhigung, liegt im Grunde die Idee der Selbstorganisation zugrunde. Mit dem Demonstrativpronomen selbst soll nicht zum Ausdruck gebracht werden, dass hier eine Instanz mit dem Namen Selbst am Werk ist, sondern dass es um Prozesse geht, die aus eigener Kraft von sich aus geschehen, also nicht von einer zentralen Instanz gesteuert werden.

So basiert z. B. Selbstvertrauen auf einem ausreichenden Besitz an Fähigkeiten, sich durchzusetzen und für sich selbst sorgen zu können. Es drückt sich automatisch im Verhalten aus und kann nicht absichtlich verstärkt werden. Auch im Begriff der Selbstregulierung kommt zum Ausdruck, dass die Verarbeitung von negativen Erfahrungen aus emotionalen Verletzungen und Überbelastungen spontan auf der Basis von gelernten Reaktionsmustern erfolgt (Rafaeli). Der Organismus entscheidet sich für Reaktionsmuster, von denen erwartet wird, dass damit die Wiederholung von Verletzungen vermieden werden kann. Die Reaktionsmuster werden also nur scheinbar bewusst ausgewählt, sondern stellen sich gleichsam naturwüchsig ein. Auch wenn von Selbstverleugnung, Selbstbestrafung, Selbstmitleid oder Selbstunterdrückung die Rede ist, wird unbewusst die Kraft der Selbstorganisation angenommen. Diese negativen Formen der Selbstbeeinflussung zeigen, dass die Selbstorganisation nicht als eine positive Kraft missverstanden werden darf. Die Selbstorganisation bewirkt eine Anpassung an günstige und ungünstige Lebensbedingungen.

Die Selbstorganisation drückt sich besonders deutlich in den Mechanismen der körperlichen Selbstheilung aus, mit denen körperliche Verletzungen spontan repariert werden. Auch bei den emotionalen Verletzungen kommen psychische Selbstheilungsmechanismen zum Zuge. So können im Klima von Liebe und Zuwendung emotionale Verletzungen ausheilen.

Da in die mentale und psychische Selbstorganisation ausschließlich eigene Erfahrungen einfließen, die nach persönlich entwickelten Kriterien ausgewertet wurden, ist sie kein persönlichkeitsfremder Mechanismus. Unbewusst entstandene Gedanken und Gefühle werden nicht als etwas Fremdes erlebt, sondern als eigene angenommen. Man fühlt sich für sie in dem Sinne verantwortlich, dass man ihre eventuellen Folgen auf sich nimmt. Das Konzept der Selbstorganisation bedeutet deshalb keineswegs, dass man nicht für sein Handeln verantwortlich ist. Es wäre deshalb nicht zulässig, egoistisches Verhalten mit der Selbstorganisation zu rechtfertigen. (Weiter unten wird argumentiert, dass egoistisches und anderes sozial unverträgliches Verhalten Symptome dafür sind, dass das Handeln unter dem Einfluss von unbewältigten Ängsten steht.)

Da das Denken wie von selbst abläuft, kann es auch als Manifestation der organismischen Selbstorganisation verstanden werden. In den Religionen wird das menschliche Denken meist als eine von Gott verliehene Fähigkeit angesehen. Bis ins Zeitalter von Homer wurde geglaubt, dass die Gedanken von den Göttern geschickt werden. Erst in der Neuzeit setzte sich immer mehr durch, dass das Denken mit dem Denkvermögen der Seele, des Geistes, der Vernunft, des Ich u. Ä. zu erklären ist. Vermutlich sind die Begriffe Seele, Ich, Geist und Vernunft historisch ein Ersatz für die denkenden Götter. Nicht zufällig wird oft vom Glauben an die Vernunft geredet. Die Vielzahl der teilweise widersprüchlichen Theorien über innere Denksubstanzen lässt vermuten, dass sie nur Pseudoerklärungen für die menschliche Denkfähigkeit sind. Wenn dagegen das Denken als Produkt der Selbstorganisation verstanden wird, erübrigt es sich, das Denken mysteriösen Substanzen wie dem Geist oder dem Ich zuzuschreiben.

Ein zentrales Prinzip des Konzeptes der Selbstorganisation besteht darin, dass alle Handlungen und mentalen Aktivitäten durch die Umwelt mitbestimmt werden. Alle Fähigkeiten haben sich spontan in der Auseinandersetzung mit der Umwelt entwickelt, um das Überleben zu sichern. Vermutlich beruht die evolutionäre Entwicklung auf dem Prinzip, dass Muster, die für frühere Probleme gebildet wurden, auf neue Entwicklungsprobleme übertragen oder abgewandelt werden. Die Muster sind damit Ausdruck der Kreativität lebendiger Organismen, sich an Veränderungen in der Umwelt so anzupassen, dass ein Überleben gesichert ist.

Im Konzept der Selbstorganisation erhält der psychoanalytische Begriff des Unbewussten eine neue Bedeutung. Er drückt die Erfahrung aus, dass das Denken und Handeln außerhalb des Bewusstseins durch die Gesamtheit der in der Lebensgeschichte aufgebauten Muster gesteuert wird. Die mysteriöse Instanz des Es von Sigmund Freud erweist sich als eine metaphorische Hilfskonstruktion.

Aus der Perspektive der Selbstorganisation sind alle mentalen Prozesse das Ergebnis des kooperativen Zusammenwirkens der zahlreichen Einzelzellen des ganzen Organismus. Der oben benutzte Begriff der Zellenkolonie darf natürlich nur als eine Metapher benutzt werden. Ob die Menschen wirklich ein Zusammenschluss von ehemals selbstständigen Zellen sind, kann letztlich nicht bewiesen werden. Da sich dies letztlich dem menschlichen Verständnis entzieht, muss der etwas schwammige Begriff der Selbstorganisation in Kauf genommen werden.

Im Grunde ist das Konzept der Selbstorganisation nur ein heuristisches Denkmodell. Es hat keinen Erklärungswert, da nicht erklärt werden kann, wie die Sprünge zu höherer Ordnung verlaufen und wie das Verhalten organisiert wird (vgl. Schlemm S. 26). Es beschreibt lediglich deren Verlauf und macht die Muster deutlich, wie Veränderungen ablaufen. Aber es schärft das Bewusstsein für die Grenzen der menschlichen Erkenntnis. Vor allem lenkt es den Blick auf die ganzheitlichen Zusammenhänge. »Was wir hier sehen, ist eine neue Weltsicht, bei der das Ziel, die Natur durch Zerlegung in immer kleinere Teile verstehen zu wollen, durch das Ziel ersetzt wird, verstehen zu wollen, wie die Natur sich selbst organisiert.« (Zitat von dem Nobelpreisträger Robert Laughlin, vgl. Gazzaniga S. 156)

Das Konzept der Selbstorganisation ist sehr schwierig nachzuvollziehen, da die europäischen Sprachen die Zustandsform des Mediums nicht mehr kennen, die in älteren Sprachen für selbstbezügliche Prozesse entwickelt wurde (vgl. Kap. 2.4.). Das absolute Übergewicht der aktiven Aktionsform zwingt regelrecht dazu, ein Subjekt zu benutzen. Dadurch wird das Verständnis selbstbezüglicher, selbstorganisiert ablaufender Prozesse erheblich erschwert.

2.8. Die Selbstorganisation der Gefühle

»Das Gefühl ist es, das den Menschen zum Denken anregt, und nicht das Denken, das ihn zum Fühlen anregt.« (George Bernard Shaw)

Die Gefühle stellen sich genauso spontan wie die Gedanken ein. Während viele Menschen überzeugt sind, dass sie ihre Gedanken selbst produzieren, müssen sie eingestehen, dass sie gegenüber ihren Gefühlen machtlos sind. Deshalb lässt sich das Prinzip der Selbstorganisation sehr gut an den Gefühlen demonstrieren. Die Gefühle kommen zwar von selbst, aber dennoch werden sie durch die persönlichen Erfahrungen gestaltet. Obwohl die Gefühle in ihrer Grundstruktur angeboren sind, können sie von der Umwelt gestaltet werden. Aber in welche Richtung die Gefühle gestaltet werden, vollzieht sich völlig außerhalb des persönlichen Kontrolle.

Zum Grundverständnis der Gefühle gehört, dass sie signalisieren, dass bestimmte Bedürfnisse nicht befriedigt wurden. So macht z. B. das Gefühl der Wut darauf aufmerksam, dass persönliche Bedürfnisse und Interessen verletzt wurden. Es löst den Handlungsimpuls aus, sich dagegen zu wehren. Das Gefühl der Angst warnt vor Gefahren und fordert auf, sich von der Gefahrenquelle hinweg zu bewegen, im Extremfall zu fliehen. Trauer fordert auf, Bindungen, die durch einen Verlust zerstört wurden, aufzulösen, damit man wieder frei für neue Bindungen wird. Die Verlusterfahrung verunsichert, weil viele Gewohnheiten nicht mehr greifen. Dysfunktional gewordene emotionale Muster müssen aufgelöst und umgebaut werden. Daraus folgt, dass die Gefühle keine fremden Kräfte sind, sondern dem Einzelnen helfen, sich im seelischen Gleichgewicht zu halten. Sie stellen eine Beziehung zu etwas her, das emotional als bedeutsam erscheint. Ohne die subjektive Betroffenheit bleiben Wahrnehmungen fremd und gleichgültig.

Die These, dass Handlungsimpulse das zentrale Merkmal der Emotionen sind, ist umstritten. Sie gilt ohne Zweifel für die Basisemotionen wie Wut, Angst, Trauer, Neugierde und Freude, die durchgängig als animalisches Erbe betrachtet werden, da sie bereits bei höher entwickelten Tieren zu beobachten sind. Sicherlich sind die Emotionen entstanden, um das Handeln zu unterstützten. Sie zeigen, wie elementare Anpassungsprobleme gelöst werden können. Aber bei der Fülle der anderen Gefühle wie Neid, Feindseligkeit, Schuld, Ärger u. Ä. kann der Handlungsimpuls in den Hintergrund treten und gar nicht auftreten. Das hängt damit zusammen, dass diese Gefühle nicht angeboren sind, sondern erst dadurch entstehen, dass Handlungsimpulse mit Rücksicht auf die Erwartungen anderer Menschen blockiert werden. So entsteht z. B. Ärger aus blockierter Wut. Deshalb sind die Gefühle in jedem Fall nur richtig zu verstehen, wenn sie im Zusammenhang mit dem Handeln betrachtet werden. Die Gefühle, die scheinbar ohne Handlungsimpuls sind, steuern hinterrücks das Handeln, da sie bestimmte Handlungsweisen vermeiden lassen.

Die Diskussion um die Gefühle ist verwirrend, weil meist nicht klar zwischen Emotionen und Gefühlen unterschieden wird. Es ist davon auszugehen, dass sich die Verletzung von Bedürfnissen zunächst in einem ganzkörperlichen Ausdruck manifestiert. Die verschiedenen körperlichen Ausdrucksformen, die Angst, Wut oder Trauer begleiten, werden als Emotionen bezeichnet. Wie ich in meinem Buch »Atem und Glück« dargestellt habe, entspricht jeder Emotion neben den hormonellen und muskulären Veränderungen auch ein charakteristischer Atemrhythmus (vgl. Neubeck 2003 S. 49ff). Während sich also der Begriff der Emotionen auf die körperlichen Aspekte bezieht, wie auf Erfahrungen reagiert wird, handelt es sich um Gefühle, wenn die körperlichen Veränderungen bewusst erlebt werden. Demnach basieren die Gefühle primär auf den kinästhetischen Empfindungen, die durch die vom Atem und den Hormonen verursachten inneren Körperbewegungen ausgelöst werden. Da es sich um Bewegungen handelt, können sie bewusst werden. Gefühle sind demnach subjektive Erlebnisse von körperlich-emotionalen Bewegungsmustern, die in Reaktion auf Erfahrungen ausgelöst werden. Bei den Gefühlen darf demnach nicht übersehen werden, dass sie körperlich verankert sind.

Jedes Kind steht von der Aufgabe, Reaktionsmuster zu entwickeln, wie die eigenen Bedürfnisse anderen Menschen emotional so gezeigt werden können, dass sie beachtet werden. Experimentierend findet es heraus, welche Wege zielführend sind. Das ist relativ einfach, wenn die persönlichen Bedürfnisse von der Umwelt respektiert werden. Erfahrungen, die im Einklang mit den persönlichen Bedürfnissen stehen, werden positiv bewertet. Alles was die Bedürfnisse verletzt oder einschränkt, wird negativ bewertet. Die persönlichen Reaktionsmuster erhalten dadurch eine immer stärkere individuelle Prägung. Sie werden deshalb nicht als etwas Fremdes, sondern als Ausdruck der eigenen Person empfunden. Da das kulturelle Milieu in alle Erfahrungen mit eingeht, sind die Reaktionsmuster innerhalb eines Kulturkreises relativ ähnlich. Deshalb besitzen die Reaktionsmuster trotz ihrer persönlichen Qualität immer auch einen allgemeinen Charakter.

Es spricht vieles dafür, dass alle negativ bewerteten emotionalen Reaktionsmuster aus dem Versuch entstanden sind, damit seelische Verletzungen zu verarbeiten. So basieren Gefühle wie Neid, Hass, Eifersucht, Feindseligkeit, Scham u. Ä. auf Ängsten, die nicht verarbeitet werden konnten27. Meistens haben sich die Verletzungen in der Kindheit ereignet, in der sich die psychischen Abwehrkräfte noch nicht vollständig entfaltet haben. Deshalb mussten die beängstigenden Gefühle abgespalten werden. Weil man nicht die Kraft hatte, sich gegenüber den Anforderungen der Umwelt abzugrenzen, wurde versucht, sich mit muskulären Verspannungen vor Überforderungen zu schützen. Alle negativ bewerteten emotionalen Reaktionsmuster sind letztlich Selbstheilungsversuche. Der Organismus klammert sich an diese Reaktionsmuster, weil anders mit ängstigenden Situationen nicht umgegangen werden kann.

Das bedeutet, dass man sich für negative Gefühle in der Hoffnung entscheidet, damit Probleme bewältigen zu können. Man nimmt das Leiden, dass sie auslösen, in Kauf. Vermutlich steckt dahinter immer noch die Erfahrung des kleinen Kindes, dass es Hilfe erzwingen kann, wenn es sein Unbehagen schreiend in ein für die Mutter hörbares Leiden ausdrückt. Offensichtlich wird an dieser Methode, die Umwelt nonverbal zu beeinflussen, auch im Erwachsenenalter festgehalten, wenn nicht gelernt werden konnte, sich selber zu helfen.

Emotionale Verletzungen führen also dazu, dass die inneren Handlungsimpulse nicht frei ausgelebt werden können. Aus Angst vor Konflikten und Verletzungen werden sie unterdrückt oder verfälscht. Es entstehen innere Konflikte, weil die eigenen Bedürfnisse den äußeren Anforderungen untergeordnet werden, aber nach wie vor Geltung verlangen, mit der Folge, dass die interne Kommunikation gestört wird. Fremdbestimmung bedeutet deshalb immer auch eine innere Kommunikationsstörung.

Innere Konflikte können für Organismen selbstzerstörerisch sein. Vermutlich gehen viele psychosomatische Erkrankungen darauf zurück. Auch Krebs kann die Folge von inneren Kommunikationsstörungen sein (Popp). Offensichtlich hat der handelnde Bezug von komplexen Organismen zur Umwelt nicht nur den Vorteil von höherer Intelligenz, sondern auch den Nachteil von Störungen der inneren Kommunikation und den damit verbundenen Krankheitsrisiken.

Geschwächte Handlungsfähigkeit wird als mangelndes Vertrauen erfahren, mit seinen Problemen fertig zu werden und für seine Bedürfnisse sorgen zu können. Die Störung des Selbstwertgefühls – meistens ausgelöst durch die Trennung vom Partner und/oder durch Arbeitsplatzverlust – kann soweit gehen, dass man aus tiefer Unsicherheit heraus Gewalt gegenüber anderen Menschen und/oder gegen sich selbst ausübt. Aggressives Verhalten wird häufig als Handlungsfähigkeit missverstanden. In Wirklichkeit wird die Unfähigkeit, konstruktiv zu handeln, mit aggressiven Angriffen überkompensiert. Familiendramen, die mit dem Tod von Partnern und Kindern enden, können stets mit einem total zerstörten Selbstwertgefühl der Täter erklärt werden. Auch bei psychosomatischen Erkrankungen muss immer zuerst daran gedacht werden.

Der Angelpunkt der emotionalen Probleme besteht also darin, dass Gefühle nicht zum Handeln führen, dass also das Handeln blockiert wird. Die Behauptung mancher Psychotherapeuten, dass es oft schon für die psychische Heilung ausreicht, wenn nur die Gefühle benannt werden, ist in Zweifel zu ziehen. Die Gefühle sind nur die Oberfläche. Die emotionalen Probleme sind auch nicht Ausdruck von Konflikten. Ihre eigentliche Ursache liegt in dysfunktionalen Handlungsmustern, die zur Bewältigung von emotionalen Verletzungen gebildet wurden. Für das Verständnis psychischer Erkrankungen folgt daraus, dass sie nicht als Störungen des Selbst u. Ä., sondern als Störungen der Handlungsfähigkeit begriffen werden müssen. So ist z. B. die Depression der Extremfall blockierter Handlungsfähigkeit. Wenn der ursprüngliche Konflikt erkannt wird, ist noch keineswegs das dysfunktionale Reaktionsmuster aufgehoben.

Aus diesen Überlegungen geht hervor, dass die Gefühle von den Lebensbedingungen geprägt werden. Sie basieren auf Entscheidungen, auf eine bestimmte Weise zu reagieren, aber dabei handelt es sich nicht um bewusst getroffene Entscheidungen (vgl. Kap. 2.6.), sondern solche, die aus der Selbstorganisation heraus entstanden sind. Da in die Gefühle persönliche Erfahrungen eingehen, ergibt sich daraus der doppelte Charakter der Gefühle, dass sie auf der einen Seite von den Umweltbedingungen gestaltet werden, aber auf der anderen Seite auch naturwüchsig sind.

Wenn Leibphilosophen davon sprechen, dass man von Gefühlen ergriffen wird, darf das nicht so verstanden werden, dass man von ihnen auf die gleiche Weise beeinflusst wird, wie Blätter vom Wind verweht werden. Gefühle sind nützliche Warnsignale, in denen alle persönlichen Erfahrungen, die im Laufe der Jahre gesammelt wurden, zu Reaktionsmustern verarbeitet wurden. Ohne sie könnte die ständige Aufgabe, sich im psychischen Gleichgewicht zu halten, nicht geleistet werden.

Für das Verständnis der Gefühle ist wichtig, dass sie stets als lustvoll oder leidvoll, nützlich oder schädlich, positiv oder negativ bewertet werden. Die Bewertungen lösen den Impuls aus, das Objekt der Wahrnehmung zu bejahen oder sich dagegen zu wehren. Die duale Bewertung ist bereits bei primitiven Organismen zu beobachten, die an den Signalen der Lust und Unlust spüren, ob es sich bei einem Reiz auf ihrer Körperoberfläche um einen für sie zuträglichen oder unzuträglichen Stoff handelt. Die lustvolle Reaktion bewirkt, dass der Stoff assimiliert wird. Bei der Unlustreaktion entfernt sich der Organismus vom Reiz. Die Körperempfindungen der Lust sind somit mit den Handlungen des Hin-zu und die der Unlust mit einem Weg-von gekoppelt. Die Koppelung von Lust- bzw. Unlustempfindungen mit Handlungsimpulsen steht so am Anfang der Entwicklung des Nervensystems.

Als im Laufe der Evolution das Handlungsvermögen der Organismen gesteigert wurde, wurden die Reaktionen, mit denen auf die äußeren Reize reagiert wird, immer differenzierter. Vor allem wurde jetzt beim Handeln auch die Umwelt mit ins Kalkül gezogen. Dies drückt sich in den Grundemotionen der Angst, Wut, Trauer und Freude aus, die mit differenzierten Handlungsimpulsen verbunden sind. Die mit den Gefühlen verbundenen Bewertungen dürfen deshalb nicht als kognitive Werturteile missverstanden werden, wie dies häufig in den kognitiven Gefühlstheorien geschieht. Die Bewertungen sind lediglich differenzierte Handlungsformen des Hin-zu oder Weg-von.

Aus evolutionärer Sicht gehen die Emotionen und Gefühle vermutlich aus der primitiven Unterscheidung von Unlust und Unlust bei einzelligen Organismen hervor. Die ursprüngliche Kopplung von Bewertung und Handlungsimpuls bleibt bestehen. Es wird angenommen, dass die Bewertungen die Funktion eines Verstärkers haben, damit die Handlungsimpulse ernst genommen und im Handeln umgesetzt werden. Es wäre deshalb falsch zu sagen, dass die Bewertungen von den Gefühlen vorgenommen werden. Die Gefühle sind bloß die subjektive Erlebnisseite der körperlich sich ausdrückenden Emotionen.

Wenn neue Handlungsmuster gebildet werden, gehen die aktuellen Bewertungen mit in sie ein. Bei jeder Anwendung eines Musters wird deshalb auch die mit ihm verbundene Bewertung aktiviert und der Organismus in die entsprechende Handlungsbereitschaft versetzt. Dadurch wird nicht nur das Handeln angestoßen, sondern ihm auch eine Richtung vorgegeben. Ohne Bewertungen wäre das Handeln orientierungslos. Das zeigt sich besonders drastisch daran, dass Menschen, die aufgrund von Gehirnverletzungen keine Emotionen mehr haben und keine Gefühle mehr empfinden können, unfähig werden zu handeln.

Die emotional entstandenen Bewertungen bestimmen das Denken auf vielfältige Weise. Sie bestimmen nicht nur, welchen Problemen man sich zuwendet, sondern auch in welcher Richtung eine Lösung gesucht und welche Priorität einzelnen Aspekten des Problems gegeben wird. Schließlich werden auch die Schlussfolgerungen von den Bewertungen bestimmt.28 An der Dominanz der emotionalen Bewertungen lässt die neurobiologische Forschung keinen Zweifel. »Denn emotionale, oft unbewusste Zustände bedingen weitestgehend die kognitiven Zustände im Gehirn und nicht umgekehrt.« (Roth 2014 S. 367) Das emotionale Zentrum kann über neuronale Verbindungen Einfluss auf das Denkzentrum im Cortex nehmen. Aber umgekehrt kann das Denken schon deshalb nicht die Gefühle steuern, weil es keine Verbindungen zum emotionalen Zentrum hat.

Der Einfluss der emotional bedingten Bewertungen auf das Denken wird in der Regel übersehen. Aber in Extremsituationen kann sehr deutlich gespürt werden, wie das Denken von einer Erfahrung positiv oder negativ geprägt wird. Je nach Ergebnis kann es zu einer Unterbrechung von Handlungsabläufen, zu einer Neufokussierung der Aufmerksamkeit oder zu spezifischen emotionalen Reaktionen kommen.

Die Bewertungen sind die Quelle der persönlichen Ziele. Anders ausgedrückt sind persönliche Ziele nichts anderes als sprachlich ausformulierte Bewertungen. Aus der spontanen Entstehung der Ziele ergibt sich, dass sie nicht willkürlich gesetzt und korrigiert werden können. Der Eindruck, dass ein Ziel bewusst gesetzt wurde, beruht im Grunde auf einer Selbsttäuschung. Entweder wurde bloß ein spontan entstandenes Ziel ins Bewusstsein gehoben und verbal ausformuliert oder man identifiziert sich mit einem angelesenen Ziel, das aber nicht in den persönlichen Bewertungen verwurzelt ist.29

Oben wurde dargestellt, dass das Denken auf Bewertungen angewiesen ist, da es selbst nur eine formaler Mechanismus ist, der Muster miteinander verknüpft. Die Bewertungen geben dem Denken die Richtung vor. David Hume ist einer der wenigen Philosophen, die erkannt haben, dass die Vernunft kühl und distanziert ist und niemals das Handeln motivieren kann. Sie »zeigt dem Impuls, den wir von der Lust oder der Neigung empfangen, nur die Mittel, durch die wir Glück erreichen oder Unglück vermeiden können.« (Hume S. 134). Bei Werturteilen darf deshalb nicht der Fehler gemacht werden anzunehmen, dass sie vom Denken gesetzt werden können. Deshalb sind auch Appelle, sich an sogenannten objektiven Werte zu orientieren oder persönliche Werte zu korrigieren, vergeblich.

Die Bewertungen sind mit dem großen Problem verbunden, dass sie häufig von anderen Menschen übernommen werden, ohne dass geprüft wird, ob sie mit den eigenen Überzeugungen und Bedürfnissen kompatibel sind. Wenn Bewertungen nicht in den eigenen Erfahrungen gründen, können sie nicht mit Selbstgewissheit verteidigt werden. Jeder Angriff auf sie stellt die eigene Identität infrage. Dies gilt insbesondere für Werte, die blind von Autoritäten übernommen werden. Äußerlich übernommene Werte blockieren das selbstbestimmte Denken. Nur Werte, die in persönlichen Erfahrungen gründen, können sicher verteidigt und evtl. auch mühelos modifiziert werden. Solche Werte haben persönliche Verbindlichkeit.

Da in philosophischen Theorien stets versteckte Bewertungen enthalten sind und ihre Vertreter in der Regel keine kritische Distanz zu ihren eigenen Gedanken zeigen, werden sie meistens blind übernommen, ohne dass kritisch geprüft wird, ob sie mit den eigenen Zielen und Bedürfnissen übereinstimmen. Es entsteht die Neigung, sie dogmatisch zu verteidigen. Der Dogmatismus in der Philosophie hat die gleiche Wurzel wie der religiöse Dogmatismus. In beiden Bereichen ist aufgrund der Dominanz von abstrakten Allgemeinbegriffen der Bezug zur unmittelbaren Erfahrung hochgradig gestört. Religion und Philosophie fördern deshalb ungewollt die Ausbildung einer autoritären Grundeinstellung gegenüber den Gedanken anderer Menschen.

Aus diesen Überlegungen geht hervor, dass die strikte Trennung zwischen Denken und Fühlen, wie sie von der traditionellen Philosophie vorgenommen wurde, unhaltbar ist. Beide Fähigkeiten sind ineinander verwoben. Im konkreten Verhalten lassen sie sich nicht voneinander trennen. So vertreten manche Autoren die These, dass das Fühlen bereits ein Urteilen ist (z. B. Solomon). Vielleicht sollte man zweckmäßigerweise vom Denkfühlen oder Fühldenken sprechen, um immer wieder an die Untrennbarkeit von Denken und Fühlen erinnert zu werden. Auf jeden Fall hat das Fühlen Priorität, da das Denken erst in Gang kommt, wenn es von emotionalen Bewertungen angestoßen wird. Es können nur Lösungen für Probleme gesucht werden, für die sich ein affektives Interesse gebildet hat.

Als Fazit ist festzuhalten, dass die Selbstorganisation der Gefühle zur Selbstorganisation des Denkens führt, da die emotional bedingten Bewertungen tief in das Denken eingreifen. Wie alles Handeln ist auch das Denken, das letztlich ein virtuelles Handeln ist, davon abhängig, dass ihm eine Richtung vorgegeben wird. Zu Recht werden die Gefühle immer wieder als Kompass für die Gestaltung des Lebens umschrieben. Die traditionelle Verteufelung der Gefühle als irrationale Kräfte muss überwunden werden.

2.9. Zur Entstehung sozialer Normen und Werte

»Es gibt nichts Gutes, außer: man tut es! (Erich Kästner)

Im Folgenden soll die Entstehung sozialer Werte als ein weiteres Beispiel behandelt werden, wie sich der Gedanke der Selbstorganisation auf die Analyse sozialer Phänomene auswirkt. Es ist nach wie vor strittig, woher die moralischen Normen stammen, die das Zusammenleben einer Gruppe bestimmen. Die philosophische Diskussion über die moralischen Werte schwankt von Anbeginn des philosophischen Denkens zwischen der Position, dass es absolut gültige Werte gibt, und der Position, dass alle Werte nur relative historische und soziale Gültigkeit besitzen. Entweder sind die Werte in der vernünftigen Ordnung der Welt, der Vernunft oder der menschlichen Natur verankert oder sie gehen aus Vereinbarungen der Menschen untereinander hervor, sind also menschliche Erfindungen.

Ebenso ungelöst ist die Streitfrage, wie die Verbindlichkeit von moralischen Werten begründet werden kann. Alle philosophischen Versuche, die Gültigkeit und Verbindlichkeit aus der Vernunft, der Natur u. Ä. abzuleiten, sind gescheitert. Mit dem Begriff der Natur konnte der Moral kein gesichertes Fundament gegeben werden, da dieser abstrakte Begriff ein mentales Konstrukt ist. Was in den Begriff der Natur eingeht, ist vom kulturellen Entwicklungsstand abhängig. Das gilt auch für einen rein physikalisch gefassten Naturbegriff. Auch der Begriff der Vernunft versagt, da er als abstrakter Allgemeinbegriff nur den Inhalt hat, der von den Menschen in ihn hineingelegt wurde.

Zur Klärung dieser Fragen bietet sich die Hypothese an, dass sich die moralischen Normen genauso spontan entwickeln, wie es oben für die Muster des Handelns dargestellt wurde. Ohne Zweifel hatten die Frühmenschen ihr Zusammenleben mit Regeln geordnet. Sicherlich existierten auch in präverbalen Kulturen moralische Regeln, an denen sich die Menschen implizit orientierten. Denn das Problem, dass das Zusammenleben durch das Machtstreben oder den Egoismus Einzelner gefährdet ist, besteht seit Beginn der Menschheit. Da in präverbalen Kulturen keine Möglichkeit bestand, sich sprachlich über die moralischen Werte zu verständigen, kommen hier die traditionellen Entstehungsursachen der Moral nicht in Betracht.

In präverbalen Kulturen lebten die Eltern ihren Kindern die Verhaltensmuster vor, die sich in der sozialen Praxis der Gemeinschaft bewährt haben. Die moralischen Regeln wurden ausschließlich durch vorbildhaftes Verhalten weitergegeben und durch direkte körperliche Sanktionen kontrolliert. Wer mit Respekt behandelt wird, bildet das Reaktionsmuster der Rücksicht und wird rücksichtsloses Verhalten anderer negativ bewerten. Wem Fehlhandlungen vergeben werden, der wird auch bereit sein, Verletzungen anderer zu verzeihen. Wer dagegen immer wieder betrogen wurde, wird dazu neigen, andere zu betrügen und betrügerisches Verhalten anderer zu tolerieren. Moralische Reaktionsmuster unterscheiden sich im Grunde nicht wesentlich von Mustern, die für normale Bewegungen gelernt werden.

Mit Hilfe der erworbenen moralischen Reaktionsmuster werden spontan alle moralisch relevanten Aktionen bewertet. Die Handlungen anderer Menschen werden spontan mit den eigenen Handlungsmustern verglichen. Denn die eigenen moralischen Reaktionsmuster werden als verbindliche Normen aufgefasst. Die Reaktionen auf Abweichungen reichen von Lachen und korrigierenden Hinweisen, über körperliche Strafen bis hin zum Ausschluss aus der sozialen Gruppe.

Die Basis für das Lernen von moralischen Reaktionsmustern ist die natürliche Fähigkeit, andere Menschen zu beobachten und sich in sie einzufühlen. Wenn allerdings aufgrund von starken emotionalen Verletzungen das Einfühlungsvermögen beeinträchtigt wird, geht auch die Fähigkeit verloren, sich in andere Menschen einzufühlen und mit ihnen zu kooperieren. Es bilden sich dann Verhaltensmuster des Egoismus, der Rücksichtlosigkeit, der Feindseligkeit, des Machtstrebens u. Ä. heraus, die sich durch einen Mangel an Empathie auszeichnen.

In verbalen Kulturen verändert sich die Haltung zu den moralischen Normen fundamental. Da die moralischen Normen jetzt auch verbal weitergegeben werden können, entsteht die Überzeugung, dass dies die zentrale Form ihrer Vermittlung ist. Außerdem entsteht die Illusion, dass die Einhaltung der Normen durch die Ankündigung von Strafen gesichert werden könne. Die Sprache führt dazu, dass allzu leicht vergessen wird, wie moralische Normen wirksam werden. Die Erfahrung zeigt, dass das vorbildhafte Vorleben nach wie vor von zentraler Bedeutung ist, weil dadurch die moralischen Regeln zu festen Bestandteilen der Verhaltensmuster werden. Außerdem zeigt sie, dass die Einhaltung der Normen durch Androhung von Strafe nur in begrenztem Umfang funktioniert.

Seitdem sich die Menschen sprachlich über die moralischen Normen verständigen können, besteht eine starke Neigung, Menschen, die von den Gruppennormen abweichen, zusätzlich zur Bestrafung auch verbal abzuwerten. Da in verbalen Kulturen das Netz der sozialen Kontrolle viel enger als früher gezogen und praktisch das ganze Leben bis ins kleinste Detail normiert werden kann, wird die Sprache zur Quelle von Entwertungen von Menschen, denen es aufgrund von Erziehungsmängeln, Zufällen oder körperlichen Gebrechen nicht gelingt, sich an die Normen anzupassen. »Eigentlich wollte ich lieber einen Jungen!«. »Du bist zu dumm!« Durch solche und ähnliche Abwertungen wird das Selbstwertgefühl nachhaltig verletzt. Abgewertete Menschen leiden an Schwächen, für die sie im Grunde nicht verantwortlich sind. Solch überflüssiges Leiden gab es in präverbalen Kulturen nicht.

Sehr folgenreich war, dass die Sprache die Möglichkeit eröffnet hat, die praktizierten Verhaltensmuster zu Werten zu verallgemeinern. Wenn also von Werten gesprochen wird, handelt es sich lediglich um Abstraktionen, die aus dem konkreten Verhalten abgeleitet und verallgemeinert wurden. Während sich die Moral in kleinen, relativ egalitär verfassten Gemeinschaften ohne Sprache naturwüchsig weiterentwickelt, wenn sich die Lebensbedingungen verändern, wird in größeren Gesellschaftsverbänden die Sprache regelmäßig dazu benutzt, die Moral als allgemeingültig zu fixieren, jede Kritik daran abzuwehren und damit jegliche lebendige Weiterentwicklung zu verhindern. Wenn Moral zu einem objektiven Wertesystem verabsolutiert wird, erstarrt sie zur autoritären Moral. Autoritäre Moral ist daran erkennbar, dass sie z. B. absoluten Gehorsam (Pflichterfüllung) und Kontrolle der eigenen Wünsche oder sogar Verzicht auf sinnliche Genüsse (z. B. Sexualität) fordert.

Die Sprache hat allerdings auch die Reflexion der praktizierten Verhaltensnormen möglich gemacht. Die moralischen Regeln können jetzt als Hypothesen betrachtet werden, die ähnlich wie Gedanken die Funktion haben, das Handeln anzuleiten. Sie können auf ihre Zweckmäßigkeit hin befragt werden und u. U. im öffentlichen Diskurs modifiziert werden.

Aus diesen Überlegungen ergibt sich die Hypothese, dass die moralischen Regeln spontan aus dem Zusammenspiel der Menschen mit ihrer sozialen und natürlichen Umwelt entstehen. Es bilden sich spontan Muster heraus, die geeignet sind, soziale Spannungen zu vermeiden und für ein harmonisches Zusammenleben zu sorgen. Die moralischen Regeln sind ein Produkt der organismischen Musterbildungsfähigkeit. Sie sind zwar von den kulturellen Lebensbedingungen abhängig, aber letztlich ein rein subjektives Phänomen. Sie haben nur Bedeutung in Bezug auf die Personen, die sie benutzen. Nichts ist an sich gut oder schlecht, wie bereits Hobbes festgestellt hat. Jeder Versuch, anderen die eigenen Werte aufzudrängen, ist Gewalt. Da jeder in eine bestimmte Kultur hineinwächst, übernimmt er spontan deren Regeln. Dadurch sind die persönlichen Regeln von vornherein auf die der anderen abgestimmt.

Dass diese Erklärung der moralischen Regeln nicht ganz abwegig ist, zeigt die Theorie des moral sense, die im 18. Jh. von den englischen Philosophen Shaftesbury, Hutcheson und Hume vertreten wurde. Sie waren überzeugt, dass die Menschen in ihren Gefühlen einen Kompass für das richtige Verhalten besitzen und hatten deshalb ausdrücklich die Vernunft als Quelle der Werte abgelehnt. Indirekt wurde angenommen, dass sich die Normen genauso spontan wie die Gefühle herausbilden. Diese Theorie stellt aus der Sicht der Mustertheorie eine Mystifizierung der Gefühle dar. Aber der Verdacht, dass es keine allgemeingültigen, objektiven Werte gibt, die sich aus der Vernunft ableiten lassen, scheint richtig zu sein.

Mit diesen Überlegungen wird das Konzept des Gewissens infrage gestellt. Normalerweise wird das Gewissen als Behälter der moralischen Regeln und als eine Instanz aufgefasst, die auf die Einhaltung der Regeln achtet. Wenn aber moralisches Verhalten darin besteht, sich von den eigenen emotionalen Reaktionsmustern leiten zu lassen, kann das Gewissen nicht länger als Bewusstsein des sittlichen Wollens betrachtet werden (Röd S. 169). Das Gewissen ist aus dieser Sicht nichts anderes als die Gesamtheit der in der Lebensgeschichte aus Erfahrungen gebildeten moralischen Reaktionsmuster, denen persönliche Verbindlichkeit gegeben wird. Demnach gibt es für die eigenen moralischen Entscheidungen keine objektive Instanz, die ihre Verbindlichkeit und Glaubwürdigkeit garantiert.

Das bedeutet, dass man nicht von der Gewissensinstanz zu einem bestimmten Handeln aufgerufen wird, sondern dass man sich aufgrund von gelernten Reaktionsmustern zu einer bestimmten Reaktionsweise verpflichtet fühlt (Bennett S. 456). Entscheidend ist, ob die moralischen Entscheidungen als Ausdruck der eigenen moralischen Überzeugungen (Gerechtigkeit, Solidarität, Respekt, Liebe u. Ä.) akzeptiert werden und die Illusion aufgegeben wird, dass moralische Entscheidungen aus allgemeinen Grundsätzen abgeleitet werden könnten.

Damit verändert sich das Verständnis der Verantwortung. Normalerweise wird unter Verantwortung verstanden, dass die moralische Schuld für Regelverletzungen übernommen wird. Weil man sich für sein Handeln frei entschieden hat, sei man dafür moralisch verantwortlich. Man wird dafür entweder belobigt oder getadelt. Wenn sich aber die moralischen Regeln selbstorganisiert herausbilden, scheidet die moralische Betrachtungsweise aus. Man muss zu der ursprünglichen Bedeutung von Verantwortung zurückkehren. Demnach bedeutet Verantwortung, dass eine Antwort darauf gegeben wird, warum eine bestimmte Handlung ausgewählt wurde. Es wird erwartet, dass jeder Einzelne sein Verhalten an den Regeln der Gemeinschaft orientiert und die Folgen für seine Handlungen übernimmt. Wenn derjenige, der geltende Normen und Regeln verletzt, kritisiert oder bestraft wird, so hat dies den Sinn, Druck auf ihn auszuüben, damit er sich künftig an die Regeln hält. Das Prinzip der Verantwortung hat allein die soziale Funktion, die Einhaltung der sozialen Regeln sicherzustellen. Auch die Strafe für Regelverletzungen ergibt sich nicht aus der moralischen Unterscheidung von gut und böse, sondern hat die Funktion, die Beachtung der Regeln zu stärken.

Verantwortung ergibt sich demnach daraus, dass der Einzelne an einer normativ geregelten sozialen Praxis teilnimmt, an deren Erhaltung er ein vitales Interesse hat und deshalb die von der Gemeinschaft festgelegten Folgen für die Nichteinhaltung der Regeln akzeptiert. Jeder legt Wert darauf, dass die Regeln, die er als sinnvoll erkennt, eingehalten werden, da ansonsten die Gemeinschaft auseinanderbrechen würde. Deshalb ist der Begriff der Verantwortung nicht an die Überzeugung der Willensfreiheit gebunden.

Die entscheidende Frage ist, mit welchen Methoden am besten erreicht werden kann, dass die Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens eingehalten werden. Mit Sicherheit ist die Bestrafung die schlechteste Methode. Sie ist zu einer Zeit entstanden, als noch angenommen wurde, dass Regelverletzungen die Folge von individuellem Versagen, bösem Willen oder von Einwirkungen äußerer Mächte (Gott, Teufel, Geister u. Ä.) sind und dass man noch nicht über die psychologischen Einsichten verfügte, dass sie die Folge von Erziehungsdefiziten und emotionalen Verletzungen sind. Seitdem die Psychologie erkannt hat, dass moralisches Fehlverhalten immer die Folge von unbewältigter Angst anlässlich starker emotionaler Verletzungen ist, ist es sinnlos geworden, mit Appellen an die Vernunft (»moralische Einsicht«) oder mit Androhung von Strafe zu normgerechtem Verhalten zu motivieren. Es bleibt nur der Weg, dem Regelverletzer dabei zu helfen, sich darüber klar zu werden, welche persönlichen Erfahrungen dazu geführt haben, dass er die Regeln nicht beachten konnte und ihm Wege zu weisen, wie er lernen kann, künftig die Regeln einzuhalten und den bei anderen Menschen entstandenen Schaden auszugleichen. An die Stelle von Strafe muss Umerziehung und Therapie treten.

Bei der Bildung der eigenen Verhaltensmuster geht es also nicht darum, sozial unerwünschte Handlungen und unmoralische Triebe zu unterdrücken, sondern dass solche Verhaltensmuster gelernt werden, die automatisch dafür sorgen, dass es nicht zu sozial unerwünschtem Fehlverhalten kommt. Kontrolle und Verzicht sind dann nicht mehr erforderlich. Die Einhaltung der Verhaltensmuster kann konfliktfrei, mühelos und frei von Anstrengung sein. Wer seine moralischen Verhaltensmuster relativ angstfrei lernen konnte, hat überhaupt kein Problem, für seine Aktivitäten einzustehen. Er kann selbst in emotional geladenen Situationen gelassen bleiben. Es wäre deshalb falsch, hier von Selbstkontrolle zu sprechen. Kontrolle und Verzicht sind Prinzipien einer autoritären Moral, die keinen Spielraum für die Entwicklung von sozial verträglichen Verhaltensmustern lässt.

Gegen die These, dass die normativen Werte relativ und kulturabhängig sind, wird häufig das Argument vorgebracht, dass dadurch die absolute Verbindlichkeit und Normativität der Werte untergraben werden würde. Werte könnten ihre Aufgabe nur erfüllen, wenn sie absolute Geltung besitzen. Diese Position entspricht der autoritären Moral, die absolute Verbindlichkeit und Wahrheit beanspruchen muss, da ihre Werte der menschlichen Natur widersprechen. Aus der hier entwickelten Sichtweise, dass die Werte in moralischen Reaktionsmustern verankert sind, wird deutlich, dass Werte, deren Zweckmäßigkeit im Handeln erlebt werden, sich keineswegs in relative Unverbindlichkeit auflösen. Ihre Verbindlichkeit ergibt sich aus den als richtig anerkannten Reaktionsgewohnheiten. Das schließt aber keineswegs aus, dass sie evtl. aufgrund von Erfahrungen revidiert werden.

Aus dem Verzicht auf die moralische Betrachtungsweise folgt keineswegs Willkür. Wer um die negativen Konsequenzen bestimmter Handlungen weiß, ist bemüht, sich solche Reaktionsmuster anzueignen, die eine Verletzung von mit negativen Sanktionen bewehrten Regeln vermeiden. Das äußert sich darin, dass bei versehentlichen Regelverletzungen selbstreflexiv an den persönlichen Reaktionsmustern gearbeitet oder eine öffentliche Diskussion zur Revision der entsprechenden Regeln angestoßen wird.

Die hier entwickelte Theorie der moralischen Werte kann mit dem Begriff der moralischen Selbstorganisation gekennzeichnet werden. Moralische Regeln entstehen genauso spontan, wie es für die Muster des normalen Verhaltens und des Denkens anzunehmen ist. Ebenso werden sie spontan angewandt. Der Gedanke der Selbstorganisation ist den traditionellen Ethiktheorien (Strebensethik, Folgenethik, Willensethik) völlig fremd (vgl. z. B. Höffe 2007). Die daraus folgende These, dass die Menschen keine autonomen moralischen Subjekte sind, versetzt jeder traditionellen Moraltheorie den Todesstoß. Offensichtlich ist in autoritären Gesellschaften, in denen an der Existenz von objektiven moralischen Verbindlichkeiten festgehalten wird, der Gedanke der spontanen Herausbildung von Werten undenkbar. Dementsprechend wird auch die psychologische Einsicht, ausgeklammert dass Angst die Einhaltung von sozialen Regeln untergräbt.



3. Kritik des Ich

»Der wahre Wert eines Menschen ist in erster Linie dadurch bestimmt, in welchem Grad und in welchem Sinn er zur Befreiung vom Ich gelangt ist.« (Albert Einstein)
»Ich habe nur ein echtes Bewußtsein meines Ichs, wenn ich unerträglich unglücklich bin.« (Franz Kafka)

Das Fazit der bisherigen Überlegungen zur Theorie der Muster besteht darin, dass das naturwissenschaftliche Konzept der Selbstorganisation auch auf die Sphäre des menschlichen Denkens und Handelns übertragen werden kann. Es eröffnet sich eine neue Sichtweise auf das Problem, wie das Selbstverständnis der Menschen, aktive, bewusste Akteure zu sein, mit dem Eindruck, von einem Autopiloten gesteuert zu werden, vereinbart werden kann. Demnach stellen alle Probleme, mit denen man konfrontiert wird, eine Herausforderung dar, angemessen darauf zu reagieren. Die Art der Antwort hängt von den Mustern ab, die aus den bisherigen Erfahrungen abgeleitet wurden. Die Frage, ob man sich dafür bewusst entscheidet oder ob die Entscheidung vorgegeben wird, stellt sich nicht mehr, weil alle Entscheidungen Ausdruck der persönlichen Handlungsmuster sind.

Die Frage nach dem Ich ist die Frage nach den sozialen Bedingungen, unter denen ein Interesse daran besteht, eine innere Entscheidungsinstanz anzunehmen. Es wird von der These ausgegangen, dass das Ich in einer historischen Entwicklungsphase entstanden ist, in der die sozialen Lebensverhältnisse jeden Einzelnen dazu gezwungen haben, die Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen und sich darauf einzustellen, dass er nicht mit der Solidarität der Gemeinschaft rechnen kann.

3.1. Intuition Ich

»Es ist falsch, zu sagen: Ich denke. Es müßte heißen: Man denkt mich.« (Arthur Rimbaud)

Seit Descartes gehört es zum Grundschatz kultureller Überzeugungen, dass die Menschen in sich ein Ich vorfinden, wenn sie sich auf sich selbst besinnen. Die Menschen sehen sich als freie Wesen, die eigenständige Entscheidungen treffen können. Von den Kausalgesetzen befreit, sind sie davon überzeugt, die Verursacher ihrer Gedanken und Handlungen zu sein. Descartes berief sich dabei auf seine Intuition, dass das Ich das Steuer des Denkens und Handelns in der Hand hält.

Warum drängt sich der Eindruck so unwiderstehlich auf, ein Ich zu besitzen? In erster Linie scheint sich die Intuition des Ich auf die folgenden Selbsterfahrungen zu stützen:

a) Wenn Gedanken und Gefühle plötzlich auftauchen, wird geglaubt, dass es jemanden geben müsse, der sie erzeugt hat. In der abendländischen Kultur kommt dafür das Ich infrage. Oben wurde gezeigt, dass dies ein Denkmuster ist, dass tief in der Struktur des Menschen als handelndem Wesen verankert ist. Dass etwas aus dem Nichts ohne Grund auftaucht, widerspricht allen gelernten Denkmustern.

b) Unter dem Einfluss von starken Wutgefühlen entsteht der Wunsch, sie zu kontrollieren. Auch negative Gedanken wecken den Impuls, sie zu verdrängen. Der Kontrollwunsch lässt automatisch die Vorstellung entstehen, dass es eine innere Instanz geben müsse, von der die Kontrolle ausgeht.

c) Gefühle wie z. B. Unzufriedenheit lassen das Gefühl entstehen, dass etwas anderes gemacht werden müsste. Wenn Gedanken kritisch überprüft werden, entsteht der Eindruck, dass man dem Gedanken gegenübersteht und in Distanz zu ihm steht. Es bildet sich der Eindruck, dass man sich selbst beobachten könne.

d) Viele Menschen erleben sich so, als würden sich in ihnen mehrere Ich befinden. Sie haben den Eindruck, dass die verschiedenen Teile miteinander kämpfen und dass es ihre Aufgabe sei, die widersprüchlichen Teile miteinander zu versöhnen.

e) Wenn man sich nicht entscheiden kann, entsteht der Eindruck, dass es das Ich ist, das sich schließlich zu einer Entscheidung durchringt.

Kann man sich wirklich auf seine Intuitionen verlassen, dass bestimmten Gedanken und Erfahrungen ein Ich zugrunde liegt? Ist es wirklich ausgeschlossen, dass man dabei nicht von kulturellen Dogmen oder vorgefassten Urteilen beeinflusst wird? Wenn Intuitionen genauer überprüft werden, fällt auf, dass sie nie etwas völlig Natürliches sind, sondern stets auf Interpretationen angewiesen sind. Wie oben dargestellt, stößt der Blick auf die inneren mentalen und psychischen Phänomene an die Grenzen des Denkens. Der introspektive Blick muss Muster anwenden, die aus anderen Erfahrungsfeldern bekannt sind. Damit verlieren Intuitionen, die sich auf die psychisch-mentale Innenwelt beziehen, an Glaubwürdigkeit. Ohnehin sind Intuitionen problematisch, da sie nur auf die Weise begründet werden können, dass man sich auf die subjektive, irrtumsanfällige Gewissheit beruft.

Die These, dass das Ich einen privilegierten Zugang zu sich selbst hat, ist wiederholt bezweifelt worden, am Nachhaltigsten von Ludwig Wittgenstein. An der Existenz des Ich wird seit langem gezweifelt (z. B. Ernst Mach 1838 – 1916, Georg Groddeck, Jacques Lacan), doch erst die Behauptung von Neurowissenschaftlern, dass das Ich eine Illusion sei und dass sich dies unzweifelhaft aus naturwissenschaftlichen Forschungsergebnissen ergeben würde, hat eine tiefe Verunsicherung ausgelöst. Da das Ich zu den kulturellen Selbstverständlichkeiten gehört, wird es als ein großes Ärgernis empfunden, wenn es infrage gestellt wird.

Zweifel an der Existenz des Ich sind bereits im frühen Buddhismus formuliert werden. Das Nicht-Ich wird häufig als das Charakteristikum des Buddhismus bezeichnet. Allerdings scheint es eine Fehlinterpretation der Lehre von Buddha zu sein, dass Buddha die Nicht-Existenz des Ich bzw. Selbst vertreten hat. Thanissaro Bhikkhu weist nach, dass Buddha niemals eindeutig Stellung dazu genommen hat, ob ein Ich bzw. Selbst existiert oder nicht (Bhikku). Vielmehr habe Buddha davon abgeraten, sich mit solchen Fragen zu beschäftigen, da sie die Aufgabe behindern, die Ursachen des Leidens zu erkennen und das Leiden zu beseitigen.

Die Erwartung, dass die Neurowissenschaften das Problem des Ich endgültig klären können, hat sich bisher nicht erfüllt. Die Kontroversen, in die sich die Philosophie verstrickt haben, wiederholen sich auf der naturwissenschaftlichen Ebene. Auf der einen Seite stehen die Gehirnforscher, die die These von der Illusion des Ich vertreten. Sie begründen sie damit, dass das Gehirn in dem Chaos von Empfindungen und Erfahrungen ständig nach Mustern sucht. »Wir erzählen uns ständig Märchen, um uns die fremden Prozesse zu erklären, die unter der Haube ablaufen. « (Eagleman S. 157) Nach Auffassung von Gazzaniga ist das Ich so ein Märchen, eine vom Gehirn aus Zweckpragmatismus erfundene Fiktion, eine Fiktion, die vom Interpretiermodul des Gehirns fabriziert wird (Gazzaniga S. 127). Solche Theorien vernachlässigen die historische Tatsache, dass das Ich keine Erfindung des Gehirns, sondern eine relativ späte historische Erfindung ist, die sich nach der Erfindung des Privateigentums aufgedrängt hatte (vgl. Kap. 3.5.). Deshalb ist auch die These von Francisco Varela, dass sich das Ich als ein emergierendes Muster spontan herausgebildet hat, infrage zu stellen. »Da sind die verschiedenen Funktionen und Komponenten, die sich verbinden und gemeinsam ein vergängliches, nicht lokalisierbares, relational geformtes Ich ergeben, das gleichwohl deutlich wahrnehmbar existiert. Man kann dieses Ich begrüßen, ihm einen Namen geben, mit ihm auf eine berechenbare Weise interagieren, aber man wird kein Neuron, keine Seele, keinen Wesenskern entdecken.« (Varela, in: Pörksen S. 129)

In der Auffassung der Gehirnforscher, dass das Ich eine nützliche Erfindung des Gehirns sei, steckt die philosophische Überzeugung, dass das Ich für das praktische Handeln unverzichtbar ist. Unten wird dargestellt, dass dabei das Pronomen ich mit dem Ich als eine innere Substanz vermengt wird und dass alle Fähigkeiten, für die das Ich angeblich benötigt wird, mit der Mustertheorie plausibler erklärt werden können.

Auf der anderen Seite stehen die Gehirnforscher, die dem Ich eine reale Funktion in den Gehirnabläufen zusprechen. Obwohl zugestanden wird, dass das Ich nicht der große Steuermann ist, für den es sich meist hält, da unübersehbar ist, dass viele Gedanken und Gefühle ungeplant und nicht wunschgemäß auftauchen, dürfe nach Auffassung von Gerhard Roth das Ich nicht als ein bloßes Epiphänomen aufgefasst werden. Das Ich sei eine Konstruktion, welche das Gehirn in die Lage versetzt, komplexe Informationen zu verarbeiten, neue, unbekannte Situationen zu meistern und langfristige Handlungsplanung zu betreiben (Roth 2003 S. 397). Das Ich habe zwar keinen direkten Zugriff auf die verhaltenssteuernden Zentren des Gehirns, aber es werde benötigt, um die eigenen mentalen Zustände von denen anderer zu unterscheiden und das eigene Handeln zu verteidigen (a. a. O. S. 396). Diese Argumentation ist nicht überzeugend. Alle Funktionen, die dem Ich zugeschrieben werden, können besser damit erklärt werden, dass alle Handlungen von Mustern gesteuert werden und mit dem Sich-selbst-Erleben zusammenhängen. Aus dieser Sicht entbehren alle Behauptungen, dass das Ich für das Handeln zwingend erforderlich ist, der Grundlage. Deshalb ist die These von Sigmund Freud, dass das Ich als Kontrollfunktion fungiert, genauso infrage zu stellen wie die These von Thomas Metzinger, dass das Ich (Ego) notwendig sei, um sich kontrollieren zu können (Metzinger S. 289).

Georg Nordhoff behauptet, dass überall Spuren des Ich wahrnehmbar seien. Bisher seien aber alle Versuche gescheitert, das dahinter stehende Ich zu bestimmen. Es müsse anerkannt werden, dass das Ich die Grenzen der eigenen Erkenntnisfähigkeit aufzeigt (Nordhoff S. 234). Die eigentliche Illusion des Ich besteht in dem Versuch, es im Gehirn oder im Geist zu lokalisieren (S. 235).

Die bisherige Analyse der Sprache und des Denkens stützt den Verdacht, dass das Ich ein Produkt der Sprache ist und nur innerhalb der Sprache existiert. Es scheint die Folge der Neigung zu sein, allzu schnell zu vergessen, dass das Pronomen ich nur ein Hilfsmittel für die Kommunikation ist. Da die meisten Begriffe für etwas Reales stehen, wird geglaubt, dass das auch für das Ich gelten müsse. Im Folgenden soll deshalb zunächst ein Blick auf die Verwendung des Pronomen ich in der Umgangssprache geworfen werden.

3.2. Das kleine und das große Ich

»Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen, wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück.« (Ludwig Wittgenstein)

Das Personalpronomen ich hat in der zwischenmenschlichen Kommunikation eine einfache Funktion: Wer »ich« sagt, will eigentlich nicht mehr sagen, als dass er Gedanken äußert, die zu ihm gehören. Es soll anderen deutlich machen, dass von den eigenen Gedanken, Gefühle und Wünschen und nicht von denen anderer Menschen gesprochen wird. Das Personalpronomen ich stellt weder eine Beziehung zu etwas anderem her noch hat es eine bestimmte Bedeutung. Das Wort ich ist also nicht mehr als eine Bezeichnung der Quelle, von der die Gedanken stammen. Es ist nicht mehr als ein Äquivalent für den eigenen Namen. Es hat lediglich die Funktion mitzuteilen, dass die sprechende Person die Verantwortung für die eigenen Gedanken und Handlungen übernimmt und dass niemand sonst dafür verantwortlich ist. Das Pronomen ich, das kleine ich, ist somit eine praktische verbale Gewohnheit, die sich im sozialen Dialog herausbildet hat und die ihn wesentlich erleichtert.

Wenn ich z. B. sage »ich lebe«, heißt dies lediglich, dass ich noch nicht tot bin. Wenn Günther Bittner behauptet, dass die Formulierung »ich bin da« für die Existenz des Ich spricht, wird der Fehler gemacht, dass das Hilfswort sein, das für das »bin« verwendet wird, als eine Existenzaussage verstanden wird, obwohl es ursprünglich bloß die Funktion hatte, von den eigenen Gefühlen, Eigenschaften oder Handlungen zu berichten. Durch die Versubstantivierung des Verbs sein zum Sein konnte rückwirkend das Missverständnis entstehen, dass das Wort sein auch existieren bedeutet.

Für alle Formulierungen, die mit »ich« anfangen, gilt, dass sie bloß Verbalisierungen von vorsprachlichen Empfindungen oder Eindrücken sind. So bedeutet die Formulierung »ich bin traurig«, dass man von dem Gefühl der Trauer beherrscht wird. Wenn Gedanken geäußert werden, heißt das, dass versucht wird, vorsprachliche Impulse, die man in sich erlebt, sich selbst oder anderen mitzuteilen. Mit dem Spruch »ich bin ich« wehrt man sich gegen die Zumutung, sich an die Konventionen anpassen zu müssen. »Ich muss nicht wie die anderen sein! Ich darf sein, wie ich bin!«

Dem Pronomen ich liegt die Erfahrung zugrunde, dass man sich als eine handelnde Einheit erlebt. Das kommt im Du zum Ausdruck, mit dem man angeredet wird. Im Du erlebt man sich als eine denkende, fühlende und handelnde Einheit. Da man erfährt, dass die anderen das Wort ich verwenden, wenn sie von ihren Gedanken, Zielen und Handlungen sprechen, begreift man schnell das damit verbundene Muster und kann es in der Kommunikation anwenden, ohne dass dies einem direkt gelehrt wird. Da man von anderen mit Du angeredet wird, kann gelernt werden, das ich auch im inneren Dialog zu verwenden.

Bereits beim Wahrnehmen erlebt man sich als eine Einheit. Wenn ein Ton gehört wird, hört man ihn als einen von außen kommenden Ton. Wer sagt, dass er von einem Ton berührt wird, meint damit, dass er den Ton in sich vorfindet bzw. dass der eigene Organismus in Schwingung geraten ist. Hören ist immer mit Bewusstsein verbunden. Bei jedem Akt der Wahrnehmung, des Denkens, Fühlens und Handelns läuft immer das Gefühl mit, dass man selbst es ist, der wahrnimmt, denkt, fühlt oder handelt. Es muss aber nicht ein Subjekt oder ein Ich angenommen werden, das hört, denkt oder fühlt. Der Vorgang kann auch so verstanden wird, dass der eigene Organismus in Schwingung geraten ist. Das »ich höre« bedeutet dann nicht mehr, als dass ich der Behälter bin, in dem es tönt. Alles, was im Bewusstsein ist (Gedanken, Überzeugungen, Handlungspläne u. a.), wird als etwas Persönliches erfahren. Alle Erfahrungen werden als zu sich selbst gehörig erlebt.

Wenn gesagt wird: »ich habe Gedanken«, wird der falsche Eindruck suggeriert, dass man Gedanken genauso besitzt, wie man Gegenstände besitzt. Im Grunde besitzt man keine Gedanken, sondern erlebt sie in sich. Das Pronomen ich ist nur im Dialog mit anderen Menschen sinnvoll, weil es die Funktion hat, den anderen die Herkunft von Gedanken zu signalisieren. Wenn man zu sich selbst sagt: »ich habe gerade einen guten Gedanken gefunden«, liegt bereits eine Verwendung vor, die Verwirrung schafft, weil ein inneres Subjekt unterstellt wird.

Deshalb sind auch Formulierungen: »ich bin mein Körper«, »ich habe eine Seele«, »ich habe einen Geist« irreführend. Solche Redewendungen können nur als sinnvoll empfunden werden, wenn dem »ich« eine Substanz zugewiesen wird, die bestimmte Eigenschaften hat. Die Formulierung: »ich habe einen Körper« darf deshalb nicht wortwörtlich in dem Sinne genommen werden, dass ich einen Körper habe, so wie ich eine Brille habe. Auch die Frage »Wer bin ich?« darf nicht so verstanden werden, als würde es um ein Subjekt gehen. Die Frage hat lediglich den Sinn, dass nach den Eigenschaften gefragt wird, die man bei sich selbst als Akteur beobachtet.

Es ist zu bezweifeln, ob die ich-Formulierungen überhaupt tauglich sind, das Verhältnis zu den eigenen Gedanken angemessen zu erfassen. Formulierungen wie z. B. »ich empfange meine Gedanken« oder »meine Gedanken sind mir gegeben« würden dem Charakter der Gedanken eher gerecht werden, wirken aber sehr gekünstelt. Auch die Formulierung »es denkt« ist problematisch, da sie suggeriert, dass die Gedanken von einer mysteriösen Instanz mit dem Namen Es produziert werden.

Die Schwierigkeit, das Pronomen ich fehlerfrei zu benutzen, liegt daran, dass die deutsche Grammatik dazu zwingt, einem Verb (Tätigkeit) ein Subjekt (Urheber) zuzuweisen. So wird z. B. der Ausdruck »sich Zähne putzen« als ein unvollständiger Satz empfunden. Wenn der Satz vervollständigt wird: »Ich putze mir die Zähne« entsteht aufgrund der Grammatik sofort der falsche Eindruck, dass das Pronomen ich ein Subjekt vertritt. Die Grammatik von Subjekt-Prädikat-Objekt, die auf Aristoteles zurückgeht, verführt dazu, an die Stelle von wirklichen Handlungsträgern Ersatzsubjekte wie das Ich, die Seele, den Geist, das Bewusstsein oder das Gehirn zu setzen (vgl. Elberfeld S. 206).

Zahlreiche Formulierungen wie z. B. sich um sich kümmern, für sich sorgen, sich beeinflussen, sich selbst bestimmen, Freundschaft mit sich schließen u. Ä. lassen den Eindruck entstehen, als würden die Menschen ein Verhältnis zu sich selbst einnehmen können, ähnlich wie sie sich zu anderen Menschen verhalten. So wird angenommen, dass das Ich aus mehreren Teilen besteht, die zueinander in Beziehung treten können.

Es ist davon auszugehen, dass das Pronomen ich in der Interaktion mit Bezugspersonen gelernt wird. Das Kind erfährt, dass die Bezugspersonen das »ich« verwenden, wenn sie von ihren Wünschen und Bedürfnissen sprechen. Es lernt deshalb bald das Muster, dass es seine Wünsche und Bedürfnisse gegenüber anderen artikulieren kann, wenn es sie mit dem »ich« ausdrückt. Wenn das Pronomen ich verwendet wird, setzt man sich also automatisch in Beziehung zu anderen Menschen, auch wenn diese nicht leibhaftig präsent sind.

Eigentlich ist es selbstverständlich, dass sich jeder Mensch zu sich selbst verhält, weil er für sich selbst sorgen muss. Das drückt sich darin aus, dass er sich für die Erfüllung seiner Bedürfnisse einsetzt, indem er die dafür entwickelten Muster anwendet. Wenn gespürt wird, dass das Muster ungeeignet ist, wird es korrigiert. Die Selbstsorge ist aber keine spezielle Beziehung zu sich selbst, sondern Ausdruck des unmittelbaren Lebensvollzuges. Zu einer Art von Beziehung kann es evtl. kommen, wenn unter dem Druck sozialer Erwartungen die eigenen Bedürfnisse vernachlässigt werden. Erst dann ist die Empfehlung von Dritten sinnvoll, man solle für sich selbst sorgen. Sie enthält die Kritik, die symbiotische Orientierung an den Bedürfnissen der anderen aufzugeben. Wenn solche Empfehlungen verinnerlicht werden, kann der Eindruck entstehen, als gäbe es eine innere Stimme, die rät, für sich selbst zu sorgen.

Auf ähnliche Weise führt die Formulierung »sich mit sich selbst anfreunden« in die Irre, wenn sie wörtlich genommen wird. Die Empfehlung, sich selbst wie einen Freund zu behandeln, ist eigentlich überflüssig, weil niemand von selbst auf die Idee kommt, sich feindlich gegenüber sich selbst zu verhalten. Dazu kommt es erst, wenn man unter dem Einfluss der sozialen Umwelt dazu gezwungen wird, seine Bedürfnisse geringer als die anderer Menschen zu bewerten. Wie unten ausführlicher dargestellt wird, geht die Neigung, sich zu kritisieren, sich zu verurteilen oder sich schuldig zu fühlen, stets auf sozialen Druck zurück. Aus der Identifikation mit gewalttätiger Einflussnahme entsteht freiwillige Gewalt gegen sich selbst. Sich mit sich selbst anfreunden verlangt, sich aus der emotionalen Abhängigkeit von anderen Menschen zu befreien.

Ebenso drückt die Formulierung, dass man an sich selbst zweifelt, keine besondere Art der Beziehung zu sich selbst aus, sondern hebt nur hervor, dass man nicht nur an einem bestimmten Gedanken, sondern an seiner Person als ganzer zweifelt. Zu der Verallgemeinerung des Zweifels kann es kommen, wenn der Eindruck entsteht, dass man einen grundsätzlichen Mangel an Fähigkeiten hat. Das ist in der Regel die Folge davon, dass man sich starke Abwertungen durch andere Personen zu eigen gemacht hat.

Oben wurde auf die Formulierung »sich von sich selbst distanzieren« eingegangen und argumentiert, dass hier eine räumliche Metapher benutzt wird, um die Aufgabe zu umschreiben, eigene Überzeugungen zu reflektieren. Beim Reflektieren geht man in Wirklichkeit nicht in Distanz zu sich selbst, sondern geht in der Vorstellung in eine frühere Situation hinein, um nach einer besseren Lösung zu suchen.

In Wirklichkeit gibt es nur konkrete Formen der Selbstbezüglichkeit, die stets darauf beruhen, dass gezielte Handlungen mit bewusstem Selbsterleben verbunden sind. Wer z. B. sagt: »ich beeinflusse mich«, will damit nur ausdrücken, dass er an sich eine Veränderung beobachtet, die auf eigene Handlungen zurückgeht. Oder wenn man über sich nachdenkt, ist dies nichts anderes, als dass eine Handlung vergegenwärtigt und geprüft wird, was anders hätte gemacht werden können oder was daraus zu lernen ist. Letztlich sind alle Formen, in denen man sich auf sich selbst bezieht, verschiedene Arten der Selbstreflexion. Die natürliche Selbstreflexivität kann im Alltag beim selbstvergessenen Handeln leicht in den Hintergrund treten, aber sobald man auf Widerstand stößt, tritt sie wieder ins Bewusstsein. Daraus ergibt sich die Hypothese, dass alle Formen der Beziehung zu sich selbst in Wirklichkeit Formen der Selbstreflexion des Handelns sind.

Die Fähigkeit, sich selbst zu erleben, basiert auf dem propriozeptiven Nervensystem, das alle Veränderungen in den Muskeln und Gelenken an das Gehirn zurückmeldet. Aufgrund dieser Tiefenwahrnehmung hat man in jedem Moment ein inneres Bild von der Position und dem Spannungszustand des ganzen Körpers. Es handelt sich um ein Sinnesorgan, das für das Handeln genauso wichtig ist wie die auf die Erkundung der Außenwelt ausgerichteten Sinnesorgane des Tastens, Schmeckens, Sehen, Hörens und Riechens. Nur wenn man in jedem Moment den aktuellen Zustand des ganzen Körpers kennt, kann man sein Handeln gezielt steuern und zielgerichtet korrigieren. Das Sich-selbst-erleben ist aber nichts Einheitliches. Der Fokus der Aufmerksamkeit verschiebt sich ständig, bevorzugt werden die Körperzonen, die aktuell für das Handeln benötigt werden.

Aus diesen Überlegungen folgt, dass der Begriff der Beziehung zu irreführenden Vorstellungen führt, wenn er auf die seelische Innenwelt übertragen wird. Die Vorstellung, dass die Menschen eine Beziehung zu sich selbst einnehmen können, wird den inneren Prozessen nicht gerecht. Beim Begriff der Beziehung handelt es sich um eine eine Metapher, die aus dem Bereich der sozialen Interaktion übernommen wurde. Im Bereich der seelischen Innenwelt sind Metaphern unvermeidlich, sobald sie aber wörtlich genommen werden, entstehen Pseudoprobleme.

Das Substantiv Ich erlaubt zahlreiche grammatikalisch korrekte Formulierungen, die aber nur scheinbar sinnvoll sind. Seitdem die Existenz des Ich angenommen wird, kann die Aussage: »ich denke« leicht so verstanden werden, dass das Ich das Subjekt der Gedanken ist. Da das Verb denken die aktive Form hat, wird intuitiv angenommen, dass hinter dem Denken ein identifizierbarer Akteur steht. Diesem Fehler verdankt sich das berühmte »Cogito ergo sum« von Descartes. Wenn ich an meinen Gedanken zweifele, folgt daraus keineswegs, dass es mein Ich ist, das zweifelt, sondern bloß, dass sich bei mir gerade zweifelnde Gedanken eingestellt haben. Das Über-sich-Nachdenken ist bloß ein Sprachspiel, das davon berichtet, dass man Gedanken empfangen hat. Zu Recht hat Rudolf Carnap argumentiert, dass aus dem »ich denke« nicht abgeleitet werden kann, dass ich existiere.

Problematisch wird es, wenn das Personalpronomen ich als Substantiv verwendet wird. Vermutlich wird dies dadurch nahegelegt, dass das ich meist am Anfang des Satzes steht und groß geschrieben wird. Es entstehen schwierige Probleme. Ist das Ich für seine Gedanken verantwortlich? Kann sich das Ich über die Gefühle hinwegsetzen und sie kontrollieren? Woraus bezieht das Ich die Gewissheit, dass seine Überzeugungen richtig sind? Solche Fragen scheinen konnten bisher nicht schlüssig beantwortet werden. Wird das ich als Substantiv benutzt, entsteht der Anschein, dass es sich um eine innere Instanz mit bestimmten kognitiven Fähigkeiten handelt. Zu Recht hat bereits im 19. Jahrhundert der Physiker und Philosoph Ernst Mach die Existenz des Ich geleugnet und die Auffassung vertreten, dass die Rede vom Ich nur Sinn macht, wenn man es als eine denkökonomische Einheit betrachtet (vgl. Neubeck 2012 S. 184).

Deshalb macht es auch keinen Sinn, wie die Anthroposophen von einem Ich-Sinn zu sprechen (Soesman). Die Erfahrung, dass andere Menschen als Individuen wahrgenommen werden und dass gespürt wird, ob sie authentisch sind, also persönliche Überzeugungen vertreten und nicht bloß Meinungen anderer nachplappern, kann besser damit erklärt werden, dass die Muster der anderen innerlich nachvollzogen werden (vgl. Kap. 4.6.). Andere Personen werden als mit sich selbst identisch erkannt, weil man sich selbst als einen einheitlichen Akteur versteht, der sich mit selbst gebildeten Mustern organisiert.

Das Erleben, dass man selbst es ist, der wahrnimmt, denkt, fühlt oder handelt, wird häufig damit erklärt, dass sich darin das eigene Selbst ausdrückt. Es wird dann z. B. davon geredet, dass das Selbst Entscheidungen trifft, sich selbst gestaltet und kennen lernt, ein Verhältnis zu seinen Illusionen hat, seinen eigenen Erfahrungen traut u. Ä. Oben wurde bereits argumentiert, dass das Selbst nur ein Kunstbegriff ist, um damit das Phänomen der Selbstorganisation zu umschreiben. Es ist aus dem Pronomen selbst hervorgegangen, das für die Bezeichnung von sich selbst organisierenden Prozessen entwickelt wurde. Es gibt der Sprache, die normalerweise auf die Darstellung von Aktivitäten fixiert ist, einen Raum für die Erfahrung, dass viele Prozesse von selbst ablaufen. Wenn jedoch der Begriff des Selbst dazu benutzt wird, an der Fiktion festzuhalten, dass alle Prozesse von einem Urheber ausgehen, ist die sprachliche Verwirrung perfekt.

Als Fazit ist festzuhalten, dass beim Gebrauch des Wortes ich deutlich zwischen dem Pronomen ich und dem Substantiv Ich unterschieden werden muss. Wenn das große Ich als Fiktion abgelehnt wird, heißt das keineswegs, dass auch das kleine ich, das sich als unverzichtbar herausgestellt hat, aufgegeben werden muss. Auf keinen Fall dürfen beide Wörter miteinander verwechselt werden bzw. vom kleinen Ich auf das große Ich geschlossen werden.

3.3. Sich als Akteur erleben

»Der Mensch wird im Du zum Ich.« ( Martin Buber)

Wer handelt, wird von den anderen als ein Akteur mit einer bestimmten Identität wahrgenommen. Da man von den anderen als eine handelnde, ungeteilte Einheit, als ein Individuum wahrgenommen wird, nimmt man sich selbst so wahr. Man erlebt sich auch deshalb als einen Akteur, weil man in der Lage ist, die Wirklichkeit zu beeinflussen und mit geeigneten Handlungen seine Wünsche zu erfüllen. Beim Handeln wird so erfahren, was kontrolliert werden kann und was sich der Kontrolle entzieht. Jeder ist bestrebt, den Bereich des Kontrollierbaren durch den Erwerb von geeigneten Mustern zu vergrößern. Sich als Akteur zu erleben heißt, sich als Urheber seiner Handlungen bewusst zu erleben.

Kinder erleben, dass sie ständig von anderen beobachtet werden, so wie sie auch ihre Bezugspersonen beobachten. Allmählich verinnerlichen sie die Perspektive des Beobachters. So erklärt sich, dass zum Sich-selbst-Erleben die Fähigkeit gehört, sich selbst beobachten zu können. Wenn man von sich redet, ist es so, als würde man von jemand anderem reden.

Das Erleben, dass alle Gedanken, Gefühle, Empfindungen und Handlungen zu einem selbst gehören und dass man ihr Urheber ist, wird dadurch unterstützt, dass alle Aktionen mit positiven oder negativen Gefühlen verbunden werden. Dieses Sich-selbst-Erleben kann im selbstvergessenen Wahrnehmen, Denken und Handeln in den Hintergrund treten, aber es geht niemals völlig verloren. Ohne Gefühlsfähigkeit könnte man sich nicht als einen Akteur erleben, der der Umwelt gegenübersteht. Ohne sie gäbe es keine Grenze zwischen Organismus und Umwelt. Das Sich-selbst-Erleben basiert somit auf einer spontanen gefühlsmäßigen Reaktion.

Die paradoxe Situation, dass zwar alle mentalen und psychischen Prozesse selbstorganisiert ablaufen, dass man aber gleichwohl den Eindruck hat, aktiv auf sich selbst Einfluss nehmen zu können, ist damit zu erklären, dass man sich Akteur erlebt. Akteur heißt nichts anderes, als die inneren, spontan auftretenden Handlungsaufträge aktiv auszuführen.

Sicherlich hat sich das Bewusstsein der Urheberschaft bereits in der vorsprachlichen Phase der Menschheitsgeschichte herausgebildet. Man kann davon ausgehen, das jeder Neuankömmling bestrebt ist, alle Fertigkeiten zu lernen, die er bei den anderen beobachtet. Er spürt eine große Differenz zwischen dem eigenen Können und dem der Erwachsenen. Wenn das eigene Verhalten von anderen mit Gesten missbilligt wird, richtet es sich nur gegen das Verhalten, nicht gegen die ganze Person. Zusammen mit der Erfahrung, dass man von den anderen als ein Mitglied der Gemeinschaft behandelt wird, bildet sich die unbewusste Überzeugung heraus, dass man der Urheber seiner eigenen Handlungen und Gedanken ist. In dem Maße, wie Kinder bei anderen Menschen beobachten, dass sie die Folgen ihres Verhaltens übernehmen, lernen sie auch, die Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen.

Dass man sich als Akteur erlebt, verlangt nicht zwingend, dass die Frage gestellt wird, wer der Akteur ist. Sich seiner selbst bewusst sein, bedeutet lediglich, dass man sich als Urheber seiner Handlungen, Gedanken und Gefühle erlebt. Wenn man von seinen Gedanken spricht, will man im Grunde nur sagen, dass man aufgrund der eigenen Lebensgeschichte nicht anders kann, als so zu denken, wie man denkt. Bei den Gefühlen will man sagen, dass man für sie die Verantwortung übernimmt. Sich als Akteur erleben verlangt also nicht, dass die eigenen Fähigkeiten einer inneren Instanz zugewiesen werden.

Dennoch besteht eine starke Tendenz, den Eindruck, dass man sich beim Handeln selbst erlebt, so zu interpretieren, dass es eine innere Steuerungsinstanz gibt. Mit Hilfe des personalen Denkmusters, das dazu anhält, hinter allen Phänomenen ein handelndes Subjekt anzunehmen, wird sie als Ich verstanden. Diese Interpretation wird auch von dem anderen Denkmuster unterstützt, das alle Ereignisse in das Schema von aktiv/passiv presst. Wenn beide Denkmuster durchschaut werden, wird deutlich, dass die Frage nach einem Urheber von Handlungen irreführend ist und dass das Ich ein mentales Konstrukt ist, das aus der Interpretation des Sich-selbst-Erlebens hervorgeht30.

Das Ich ist eindeutig ein Produkt der Sprache. Dadurch, dass die sprachlichen Begriffe scheinbar eindeutige Unterscheidungen zwischen den Dingen vornehmen, scheint die Welt aus unabhängigen Einheiten zu bestehen. Da sich die Sprache aus der Benennung von Gegenständen heraus entwickelt hat, ist in ihr die Neigung angelegt, alles nach dem Modell von Gegenständen zu verstehen. Das lässt die Neigung entstehen, das Ich als einen unabhängigen und unwandelbaren Wesenskern zu verstehen.

Alle Fähigkeiten wie z. B. die Realitätskontrolle, der Besitz von Wissen, die Selbstreflexion, die Gefühlskontrolle31 u. a., die häufig als Fähigkeiten des eigenen Ich betrachtet werden, können – wie oben gezeigt wurde – besser als Fähigkeiten der ganzen Person verstanden werden. Die seit Descartes vertretene These, dass das Ich die eigentliche Quelle für das Gefühl zu existieren sei, erweist sich als eine rationalistische Behauptung. Erst wenn man in sinnlichen Kontakt mit der Welt tritt, wird man sich seiner selbst gewahr. Richtigerweise müsste es heißen: »Sentio ergo sum.«32

Es darf nicht übersehen werden, dass die Begriffe Ich und Nicht-Ich, Selbst und Nicht-Selbst nur die Funktion haben, die Grenzlinie zwischen den eigenen Impulsen, Gefühlen und Gedanken und denen von anderen Menschen zu markieren. Diese Grenze verschiebt sich ständig je nach Situation und Bedürfnissen und muss immer wieder neu festgelegt werden. Da die Grenze in der Interaktion mit anderen Menschen gezogen wird, wäre es falsch, die Begriffe Ich oder Selbst als Aussagen über Tatsachen zu betrachten.

Im Grunde weiß jeder Mensch, dass die Absolutsetzung des Ich als eine innere eigenständige Substanz falsch ist. In eine Gruppe hineinwachsen bedeutet, zunächst nicht für sich selbst sorgen zu können, sondern von anderen abhängig und auf ihre Hilfe und Fürsorge angewiesen zu sein. Dieses Gefühl der frühen Abhängigkeit wird nie mehr vergessen, auch wenn man allmählich lernt, für seine Bedürfnisse selbst zu sorgen. Die Angewiesenheit auf die Unterstützung durch anderer kann zwar verringert, aber nie überwunden werden. Auch wenn man selbstständig für seine Bedürfnisse sorgen kann, ist man bestrebt, für die anderen zu sorgen. Die Hilfe, die man als Kleinkind erfahren hat, möchte man unbewusst der Gemeinschaft zurückgeben.

Häufig wird der Begriff der Person synonym mit dem Begriff des Ich verwendet. Menschen gelten als Personen, wenn sie über die Fähigkeiten der Selbstreflexivität, der Freiheit und der moralischen Verantwortung verfügen. Zum Teil wird sogar behauptet, dass die Person (ebenso wie das Ich) ein biologisches Produkt darstellen würde (McGinn S. 100). Der Begriff der Person ist offensichtlich ein Produkt des menschlichen Denkmusters, hinter allen Aktivitäten handelnde Subjekte anzunehmen. Er erweist sich genauso wie das Ich als ein Produkt der Sprachentwicklung. Er hatte die historische Funktion, die Willensfreiheit zu begründen. Er ist noch bedenklicher als der Begriff des Ich, da damit autoritäre Moralauffassungen legitimiert wurden.

Als Fazit ist festzuhalten, dass sich hinter der Versubstantivierung des Pronomens ich die Frage verbirgt, wie die Gedanken und Gefühle der Menschen zustandekommen und wer das Handeln steuert. Aber diese Frage kann damit nicht beantwortet werden. Für die Abgrenzung der eigenen von fremden Gedanken ist das Ich nicht erforderlich. Dabei kann man sich auf seine Gefühle verlassen. Im Alltag reicht das Personalpronomen ich völlig aus. Alle Fähigkeiten, die üblicherweise dem Ich – wie z. B. die Realitätskontrolle oder die Gefühlsunterdrückung – zugesprochen werden, können plausibler mit dem Konzept der Handlungsmuster erklärt werden. Auch für die Klärung theoretischer Probleme hat das Ich keinen erkennbaren Nutzen (Beckermann). Es spricht viel dafür, dass das Ich ein Scheinproblem ist.

3.4. Identität mit sich selbst

»Jeder, der von seinem Leben erzählt, erzählt von der Gewalt, die ihm angetan worden ist.« (Kerstin Specht, Schriftstellerin)

Warum erleben sich die Menschen als mit sich selbst identische Subjekte? Wie ist der Eindruck zu erklären, dass man eine zeitliche Kontinuität zu besitzen scheint? Sicherlich ist die Intuition, dass man im Zeitverlauf die gleiche Person bleibt und eine persönliche Identität und einen gleichbleibenden Wesenskern besitzt, eine unzureichende Erklärung.

Der Begriff der Ich-Identität hat viele Facetten. Er lässt nicht nur an die Identität im Zeitverlauf, sondern auch an die Identität mit sich selbst und die Identität mit den sozialen Normen denken. Im Folgenden wird deshalb nur von der Identität als einem menschlichen Merkmal gesprochen. Zunächst soll die Identität im Zeitverlauf diskutiert werden

Aus der Sicht der Theorie der Musterbildung kann das Gefühl der persönlichen Identität plausibler damit erklärt werden, dass im Laufe des individuellen Lebens Bewegungsmuster akkumuliert werden, in denen sich alle Erfahrungen niederschlagen. Jeder existiert im Knotenpunkt einer Vielzahl von Einflussfaktoren, die ihn in seinem Denken und Handeln formen. »Typischerweise haben äußere Umstände zusammengewirkt, um ohne unser Zutun ein bestimmtes Muster zu bilden. Könnten Sie Ihre unpassenden Gedanken, Emotionen und Verhaltensweisen beeinflussen, dann gäbe es sie nicht mehr. Sie hätten längst Ihre dunklen, ängstlichen, neurotischen Persönlichkeitszüge über Bord geworfen und wären ein ruhiger, zuversichtlicher Sonnenstrahl geworden. Ohne jeden Zweifel haben Sie nicht die vollständige Kontrolle über Ihr Handeln, denn sonst würden Sie nur das tun, was Sie selbst billigen.« (Neff S. 100) Zu den gesammelten Mustern zählen natürlich auch die moralischen Reaktionsmuster und die Denkmuster, die bestimmen, wie man auf neue Erfahrungen reagiert und wie sie verarbeitet werden.

Aus der Sicht des Handelns ist eigentlich das Problem der Identität trivial. Solange man wach ist, ist der Organismus ständig in Aktion, selbst im Zustand der Muße wandern die Gedanken hin und her. Jede Handlung hat in der angestrebten Absicht einen zeitlichen Beginn und im erreichten Ziel ein zeitliches Ende. Dabei bewegt sich immer der ganze Organismus. Da stets alle Sinnesorgane und der ganze Körper auf die aktuelle Bewegung ausgerichtet werden, kann der Eindruck der Einheitlichkeit und Kontinuität entstehen. Die Identität ergibt sich demnach aus dem ununterbrochenen Erleben der zeitlichen Kontinuität zielorientierten Handelns. Offensichtlich ist das Problem der Identität dadurch entstanden, dass man sich nicht am Handeln orientiert. Nur dann stellt sich das Problem, wie die disparaten Sinnesempfindungen zu einer Einheitserfahrung zusammenfinden.

Durch die ununterbrochene Kette des Handelns mit relativ gleichbleibenden Mustern entsteht eine biographische Kontinuität, die auch über Brüche und Neuanfänge bewahrt bleibt. Trotz vieler Veränderungen hält sich ein stabiler Kern an persönlichen Grundmustern durch, so dass eine Lebensgeschichte entsteht. Der Begriff der Lebensgeschichte darf aber nicht als Biographie im Sinne des Berichts über die Lebensereignisse missverstanden werden, die das persönliche Leben charakterisieren. Vielmehr soll er darauf hinweisen, dass alle Aktivitäten die Folge früherer Erfahrungen sind. Der Eindruck einer zusammenhängenden Lebensgeschichte kann entstehen, weil man sich im Rückblick unbewusst mehr an den persönlichen Grundmustern als an den konkreten Ereignissen ausrichtet. Außerdem setzt sich die Neigung durch, das eigene Leben als eine sinnvolle kohärente Geschichte zu konstruieren. Obwohl das eigene Leben sehr stark von Zufällen geprägt wird, sehen viele darin das Muster einer gradlinigen Entwicklung. Das Bedürfnis nach Ordnung führt dazu, dass Muster auch dort angenommen werden, wo gar keine vorhanden sind.

Die persönliche Identität darf deshalb nicht als eine personale Substanz, sondern nur in dem Sinne verstanden werden, dass man in seinen Handlungsmustern das Fundament des eigenen Handelns und Denkens besitzt. Das Bleibende besteht also nicht in der Summe fester Eigenschaften, sondern in der Summe der persönlich erworbenen Muster. Wenn von persönlicher Identität gesprochen wird, kommt darin nicht mehr zum Ausdruck, als dass jeder Schritt von den eigenen Mustern bestimmt wird. Die Frage »Wer bin ich?« bezieht sich nicht auf die Besonderheiten des eigenen Ich, sondern auf die Besonderheiten der persönlichen Handlungsmuster. Da das Ich lediglich ein mentales Konstrukt ist, gibt es keine Ich-Identität.

Jede Festlegung auf eine bestimmte Identität ist zugleich eine Selbstbeschränkung. Das drückt sich in der Identifikation mit bestimmten Vorstellungen und Überzeugungen aus. Identität bedeutet, dass man nur in einem bestimmten Bereich der Realität Kontrolle ausüben kann. Man verliert die Fähigkeit, sich an neue Situationen flexibel anzupassen. Deshalb ist die Festlegung auf eine Identität mit dem Problem verbunden, dass die Offenheit für neue Erfahrungen verloren gehen kann.

Es stellt sich die Frage, inwieweit der Einzelne völlig in seinen Mustern aufgeht oder ob er darüber hinaus noch einen Kern besitzt, der nicht restlos von den gesellschaftlichen Identifikationszwängen bestimmt wird. Hinter dieser Frage steht das Problem, ob der Einzelne einen Gestaltungsspielraum besitzt. Wenn angenommen wird, dass die Identität aus den akkumulierten Mustern besteht, muss diese Frage als sinnlos zurückgewiesen werden. Was den inneren Kern anbelangt, muss dessen Existenz infrage gestellt werden. Da er nicht durch die sinnliche Wahrnehmung verifiziert werden kann, muss er als ein metaphysisches Konstrukt abgelehnt werden. Nicht zufällig ist der Begriff des inneren Wesenskerns primär in den Religionen und esoterischen Weltanschauungen beheimatet.

Wenn es keine innere Entscheidungsinstanz gibt, ist die Frage nach dem Gestaltungsspielraum falsch gestellt. Es geht eigentlich um die Frage, ob man mit sich selbst identisch ist, also im Einklang mit sich selbst lebt oder ob man sich symbiotisch an den Erwartungen anderer orientiert. Wenn man in sich widersprüchliche Gefühle und innere Konflikte erlebt, ist das ein Zeichen dafür, dass man nicht mit sich selbst identisch ist. Identitätsstörungen drücken sich als innere Unruhe, Unsicherheit und Selbstablehnung aus. Sie werden als negativ empfunden, weil dadurch die Handlungsfähigkeit eingeschränkt wird. Denn der Organismus kann nur effizient handeln, wenn alle Muster zusammenpassen.

Identitätsstörungen entstehen, wenn die persönlichen Muster unter dem Druck gebildet werden, den Erwartungen und Bedürfnissen anderer zu entsprechen. Wer z. B. Eltern hat, die hohe Leistungsanforderungen stellen und diese mit harter Kritik durchsetzen, erlebt, dass seine Bedürfnisse nicht voll akzeptiert werden. Er wird die starke Neigung entwickeln, seine Bedürfnisse zu unterdrücken und sich selbst zu kritisieren, wenn sie ihr Recht verlangen (Neff S. 41). Wer wegen Regelverletzungen bestraft worden ist, wird sich selbst gegenüber Schuldvorwürfe machen, weil es ihm nicht gelungen ist, den Bedürfnissen der anderen zu entsprechen. Immer wenn eigene Bedürfnisse unerfüllt bleiben, besteht die Gefahr, dass Muster entwickelt werden, die sich gegen die eigenen Bedürfnisse richten.

In dem Bündel der akkumulierten Handlungsgewohnheiten sind die Handlungsmuster hervorzuheben, die sich in Reaktion auf traumatische Erfahrungen durch Gewalt, sexuellen Missbrauch, Isolation und den langwährenden Mangel an Zuwendung, Anerkennung und Unterstützung gebildet haben. Aufgrund von Grenzerfahrungen, bei denen die persönlichen Bedürfnisse radikal missachtet wurden, bilden sich Reaktionsmuster, die vor der Wiederholung von starken Schmerzen und überwältigender Angst schützen sollen. Solche Reaktionsmuster sind Notmaßnahmen, denn sie sind mit dem Nachteil verbunden, dass Situationen vermieden werden, die zur Wiederholung der emotionalen Verletzungen führen könnten. Handlungsmuster, die sich normalerweise in solchen Situationen entwickeln würden, bleiben unentwickelt. So kann z. B. ein Kind, dass einem autoritären Vater ausgesetzt ist, das Verhaltensmuster der gefügigen Unterwerfung entwickeln. Es vergibt damit die Chance, bessere Verhaltensmuster für den gekonnten Umgang mit Autoritätspersonen zu entwickeln, mit der Folge, dass eine Lücke in den Handlungsmustern entsteht.

Lücken in den Verhaltensmustern schwächen das Selbstvertrauen. In Situationen, für die keine ausreichenden Handlungsmuster entwickelt wurden, wird man vom Gefühl der Unsicherheit und Hilflosigkeit überwältigt und empfindet Stress. Man fällt in kindliche Reaktionsmuster zurück. Um im obigen Beispiel zu bleiben: Statt sich auf eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Autoritätspersonen einzulassen, wird die Unterwürfigkeit vorgezogen. Weit folgenreicher sind die Lücken in den Verhaltensmustern, wenn sie Angst vor sich selbst entstehen lassen. Denn die Bedürfnisse, die bei den seelischen Verletzungen nicht zum Ausdruck gelangen konnten und für die keine angemessenen Verhaltensmuster entwickelt wurden, bleiben nach wie vor lebendig und treiben untergründig das Verhalten an. Insbesondere stellen nicht-integrierte aggressive Impulse eine ständige innere Bedrohung dar, da sie zu selbstschädigendem Verhalten führen können.

Das Defizit an geeigneten Verhaltensmustern führt dazu, dass man sich auf Bereiche konzentriert, in denen scheinbar Kontrolle über sich selbst zurückgewonnen werden kann (Esssucht, Sammeln, Spielsucht u. a.) oder wo man sich der Aufgabe, neue Verhaltensmuster zu entwickeln, völlig entziehen kann (Alkoholsucht, Drogensucht u. Ä.). Das Verhalten wird süchtig, weil diese Wege zum Scheitern verurteilt sind. Unsicherheit und Angst vor sich selbst disponieren so zu Suchtverhalten.

Der Eindruck, nicht im Einklang mit sich selbst zu sein, kann auch dadurch entstehen, dass ein Selbstbild aufbaut, das durch Ideale geprägt wird, die man verwirklichen möchte. Dazu können die Ideale wie Nächstenliebe, Empathie, Authentizität, Gelassenheit, Hingabe, Toleranz u. A. gehören. Ideale sind in der Regel mit dem Problem behaftet, dass sie nicht aus Erfahrung und Einsicht heraus entstanden sind, sondern von Autoritätspersonen aufgezwungen wurden. Da sie nicht in entsprechenden Verhaltensmustern verwurzelt sind, kommt es zu Diskrepanzen zwischen den Idealvorstellungen und dem realen Handeln. Da man immer wieder auf seine begrenzte Fähigkeit stößt, das Leben nach den Idealen zu steuern, entstehen Selbstunzufriedenheit und Minderwertigkeitsgefühle.

Die Idealvorstellungen machen sich häufig in Form von inneren Stimmen bemerkbar. In der Literatur wird vom inneren Richter (Rosenberg) und vom inneren Kritiker (Goulding) gesprochen. Meist merkt man aber nicht, dass hinter den inneren Stimmen introjizierte Anforderungen von Autoritätspersonen stehen. Man macht sich deren Erwartungen so sehr zu Eigen, dass man ihre Herkunft verleugnet. Der Selbstunzufriedenheit und dem Gefühl, dass mit einem etwas nicht stimmt, merkt man nicht mehr an, dass sie aus der Unterwerfung unter die Anforderungen von anderen stammen. Man verhält sich eigentlich nicht zu sich selbst, sondern vernimmt in sich internalisierte Stimmen. Häufig scheint man mit sich selbst zu sprechen. In Wirklichkeit hat man bloß einen Gedanken verbalisiert, der alten Gewohnheit entsprechend, Gedanken sofort anderen mitzuteilen. Wenn man sich scheinbar widerspricht, liegt das daran, dass ein Gedanke die Erinnerung an einer andere Situation auslöst, die Anlass gib, den ersten Gedanken zu verwerfen.

Häufig wird argumentiert, dass sich das Ich aus mehreren Teilen zusammengesetzt (z. B. Herrmann Hesse Steppenwolf). Offensichtlich ist dieser Eindruck trügerisch. Er ist das Resultat von unterschiedlichen Introjekten, deren Herkunft vergessen wurde. Daraus können inkonsistente Verhaltensmuster entstehen. Es wäre ein Fehler, sie als Ichzustände zu bezeichnen. Zu Recht hebt Günther Bittner hervor, dass die Namen für die verschiedenen Ichzustände nur Versuche sind, eine gewisse Ordnung in das innere Chaos zu bringen. Durch Bezeichnungen – wie z. B. das multiple Ich, die multiple Persönlichkeit – werden Probleme erst geschaffen, die es in der Realität in dieser Form gar nicht gibt. Sie entstehen, wenn die Metaphern wörtlich genommen werden (Bittner S. 121).

Bei dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft geht es letztlich gar nicht darum, inwieweit man an die Normen der Gesellschaft angepasst ist. Jeder muss sich während der Kindheit und Jugendzeit die Normen aneignen, die zum kulturellen Standard gehören. Dadurch stellt sich quasi automatisch eine Identität zwischen Individuum und Gesellschaft her. Da alle Handlungsmuster Ausdruck einer bestimmten Kultur sind, ist jeder Einzelne ein Geschöpf seiner Kultur. Wenn von Individualität gesprochen wird, darf nicht vergessen werden, dass die Schnittmenge des Gemeinsamen mit anderen Menschen wesentlich größer als die individuellen Abweichungen von ihnen. Ob es allerdings zu einer Identität im Sinne der Identität mit sich selbst kommt, hängt davon ab, ob alle Bedürfnisse ausreichend erfüllt werden und man die Kraft erwerben konnte, sich für seine Bedürfnisse einzusetzen. Da dies in der Regel nicht der Fall ist, sind die meisten Menschen nicht identisch mit sich selbst.

Die Chance zur kritischen Reflexion der Normen stellt sich erst zu einem Zeitpunkt, nachdem sie längst verinnerlicht und in Verhaltensmuster eingebaut wurden. Deshalb ist in der Regel die Möglichkeit relativ gering, gelernte Identitätsbrüche wieder völlig zu beseitigen und zwischen den eigenen Bedürfnissen und den sozialen Normen eine Übereinstimmung herzustellen. Das Ziel jeder Erziehung sollte trotzdem darin bestehen, dass die Normen relativ angstfrei gelernt werden, so dass Gefühle der Angst und Enttäuschung nicht abgespalten werden müssen. Dann kann es auch in einer repressiven Gesellschaft zu einer sozialen Identität kommen, die mit relativ wenig Leiden verbunden ist.

Als Fazit ist festzuhalten, dass derjenige, der davon ausgeht, dass das Ich auf einem vergleichsweise stabilen Kern basiert, sich der Verdinglichung eines Erlebnisses schuldig macht. Er übersieht, dass der Eindruck eines inneren stabilen Kerns dadurch entsteht, dass alle Handlungen auf erworbenen Handlungsmustern basieren, die im Verlauf der Lebensgeschichte akkumuliert wurden. Die persönlichen Prägungen führen zur Kontinuität der persönlichen Lebensgeschichte.

3.5. Die historische Entstehung des Ich

»Hätten wir das Wort, hätten wir die Sprache, wir bräuchten die Waffen nicht.“ (Ingeborg Bachmann)

Bis zur Zeit Homers lebten fast alle Menschen in Stammesgesellschaften, die das Leben des Einzelnen in hohem Maße regelten, es dafür aber in Notfällen mit der absoluten Solidarität der Gruppe absicherten. Die Homerischen Helden kannten noch kein Ich. Ihre Gedanken und Gefühle schrieben sie den Göttern zu. Der Einzelne verstand sich als Gruppenmitglied. Er leitete seine Identität aus der Zugehörigkeit zum Stamm ab. Die alltäglichen Erfahrungen bei der Nahrungssuche und beim Kampf gegen Feinde bestätigten immer wieder, dass man ohne die Unterstützung des Stammes nicht überleben könnte. Es gab deshalb keinen Anlass, sich als ein Ich zu verstehen. Es ist deshalb nicht zufällig, dass es in vielen Sprachen das Pronomen ich nicht gibt und der Personenbezug der Verben durch deren Flexion gebildet wurde. Wenn dennoch das kleine ich eingeführt wurde, wurde erstaunlicherweise in vielen ostasiatischen Sprachen dafür das Wort für Diener bzw. Sklave (z. B. saya im Indonesischen) verwendet. Offensichtlich sollte jeder, der beansprucht, eine eigene Meinung zu haben, zugleich versichern, dass er nach wie vor ein Diener der Gruppe ist.

Als in den antiken Stadtgesellschaften das Privateigentum eingeführt wurde und damit die bürgerliche Gesellschaft entstand, lösten sich die Stammesgemeinschaften allmählich auf (vgl. Heinsohn 1984). Der Einzelne konnte in Krisenzeiten nicht mehr mit der Unterstützung durch die Stammesgemeinschaft rechnen und musste jetzt mit Hilfe seines Eigentums und seiner Arbeitskraft für sich selbst sorgen. Es entstand das auf sich selbst gestellte Individuum, das schlau und gerissen sein muss, um sich im Konkurrenzkampf behaupten zu können. Die objektiv vorgegebene Pflicht, die Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, drückt sich darin aus, dass die Gedanken und Gefühle nicht mehr den Göttern zugeschrieben werden konnten, sondern als Werk der eigenen Seele oder des eigenen Geistes erlebt wurden. Das psychische Kennzeichen der neuen Gesellschaftsform ist deshalb tiefe Existenzunsicherheit.

Am Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft wurde das Verhalten der Händler, die ihre Waren möglichst billig einkaufen und zu höchstmöglichen Preisen verkaufen und den erzielten Gewinn als privaten Verdienst ansehen, als egoistisch und unmoralisch empfunden. Das verletzte zutiefst das Grundprinzip der Stammesgesellschaften, dass alle vom Einzelnen produzierten Güter der Gemeinschaft gehören und von dieser nach den jeweiligen Bedürfnissen verteilt werden. Die Händler setzten mit ihrem politischen Einfluss durch, dass ihre Gewinne als ihr privater Verdienst, bedingt durch ihren Fleiß, ihre Initiative und Leistung, anerkannt wurden. Sie setzten damit das Prinzip der sozialen Solidarität außer Kraft. Es entstand eine individualistische Moral, die die traditionelle Orientierung am Gemeinwohl und die traditionelle Verantwortung der Gemeinschaft für das Wohl des Einzelnen auflöste. An ihre Stelle traten die individualistischen Prinzipien des persönlichen Verdienstes und der persönlichen Schuld.

Das Privateigentum hat soziale Ungleichheit und soziale Herrschaft nicht hervorgebracht, aber erheblich verstärkt. Unter seinem Einfluss verbreitete sich die Kultur des Gehorsams, der Bestrafung und der Vergeltung. Das veränderte das Verhältnis des Einzelnen zu sich selbst radikal. Während früher die sozialen Normen in die Verhaltensmuster eingingen und ganz selbstverständlich befolgt wurden, werden sie jetzt als äußere Regeln gelernt, denen tendenziell nur gefolgt wird, wenn bei Nichtbefolgung mit einer Sanktion gerechnet werden muss. Da die Regeln häufig im Widerspruch zu den persönlichen Bedürfnissen standen (z. B. Sexualnormen, Abgabepflichten, Militärdienst u. Ä.), bildete sich ein innerer Widerstand, der sich gelegentlich auch im äußeren Widerstand manifestierte, aber historisch immer mehr zu einer inneren Selbstherrschaft wurde. Sie manifestiert sich darin, die eigenen Gefühle kontrollieren zu müssen. Der innere Kontrollwunsch, das Leben in den Griff zu kriegen, hat die Vorstellung, für sich selbst verantwortlich zu sein, bestärkt. Jetzt erst konnten die Phänomene entstehen, dass man sich selbst beobachten kann oder dass es zu einem innerer Widerstreit zwischen verschiedenen Gedanken und Stimmen kommen kann.

Das neue Selbstverständnis, ein von der Gemeinschaft getrenntes Individuum zu sein, hat den Blick auf die Welt grundlegend verändert. Vermutlich hatten die Mitglieder von Stammesgesellschaften eine eher ganzheitliche Sicht auf die Welt. Sie waren von der alltäglichen Erfahrung geprägt, vollständig von der Natur und von der Gruppe abhängig zu sein und dass alles mit allem zusammenhängt. Das isolierte Individuum, das ganz auf sich selbst gestellt ist, hat dagegen die starke Neigung, den Blick auf Einzelheiten zu richten. Es muss die Bedingungen kontrollieren, um überleben zu können. Das macht es verständlich, dass Individuen ein reduktionistisches Denken bevorzugen, das die Dinge in seine Teile zerlegt (Gazzaniga S. 212).

In der historischen Phase, in der sich das individualistische Selbstverständnis entwickelt hatte, entstand auch der Monotheismus. Er stellt im Grunde eine Reaktion auf die Schwierigkeit dar, wie mit dem Problem umzugehen ist, dass die geforderte Selbstkontrolle häufig nicht gelingt. Während früher alle Gefühle und Gedanken verschiedenen Göttern zugeschrieben wurden, musste jetzt dafür eine einzige transzendente Instanz angenommen werden. Der Zwang, sich als eine in sich zentrierte, selbstverantwortliche Person wahrzunehmen, lässt eine Vielzahl von Göttern nicht mehr zu. Das Konzept des einen allmächtigen und allwissenden Gottes ist mit der neuen psychischen Verfassung besser vereinbar. Der strafende Gott eignet sich auch besser dafür, die Einhaltung der moralischen Regeln, die ein Werk Gottes sind, zu überwachen.

In der antiken und mittelalterlichen Philosophie33 kommt das Ich kaum vor (Beckermann). Der Begriff des Ich war historisch solange überflüssig, wie an die Existenz der Seele geglaubt wurde. Die Aufgabe der Selbstverantwortung konnte aus dem Wesen des Seele abgeleitet werden. Da geglaubt wurde, dass die Seele unsterblich ist, bedurfte es keiner weiteren Erklärungen, wer der Urheber der Gedanken und Gefühle ist und warum man bei allen Veränderungen im Kern gleich bleibt. Da der Begriff der Seele durch das Christentum zu einem religiösen Begriff umgeprägt wurde, musste im Zeitalter der Aufklärung dafür ein neuer Begriff gefunden werden. Mit der rapiden wirtschaftlichen Entwicklung seit dem 16. Jh. setzte sich das Ich – ausgehend von der Philosophie – sehr schnell durch. Das hängt damit zusammen, dass die individualistische Verfassung des Einzelnen, die sich in der Antike vorbereitet hatte, zunehmend in alle Poren des sozialen Lebens eindrang. Weil das Ich zutiefst der Struktur der individualistischen Wirtschaftsordnung, die auf die Initiative des eigenverantwortlichen Unternehmers setzt, entsprach, konnte es bald als etwas Selbstverständliches erscheinen.

Fritz Breithaupt zeigt, dass das Ich ein kulturell determiniertes Konstrukt ist, dessen Erfindung auf die Epoche des späten achtzehnten Jahrhunderts datiert. »Aufbauend auf Texten von Rousseau und Hemsterhuis sind es vor allem die deutschen Autoren des Sturm und Drang, die »das Ich« zur Notwendigkeit des Einzelnen erklären. Die aktive Individualisierung wird dem Einzelnen als Bildungsprogramm vorgeschrieben. Das Ich ist nicht da, sondern existiert als Forderung, als »Ich-Zwang«.« (Breithaupt S. 55) »Rousseaus Emile ist nicht nur einer der ersten Texte, die von einem (substantivierten) Ich, le moi, sprechen.« (S. 166)

Die Überzeugung, ein Ich zu haben, ist somit ein Produkt der kulturellen Entwicklung. Vor allem wurde sie durch die soziale Herrschaft bestärkt, die vom Einzelnen ein hohes Maß an Gehorsam und Triebunterdrückung verlangt. Die soziale Unterdrückung bewirkte eine innere Spaltung. Angesichts der alltäglichen Erfahrung von Fremdbestimmung durch politische und religiöse Herrscher wurde angenommen, dass auch im eigenen Organismus eine Herrschaftsinstanz existiert, die zunächst als Seele, später als Geist und Ich bezeichnet wurde.34 Die Erfahrung sozialer Herrschaft war so übermächtig, dass sich das Muster einer inneren Herrschaftsinstanz bilden konnte und überhaupt nicht bemerkt wurde, dass die psychische Innenwelt mit einer Metapher strukturiert wird. Die Händler und Könige waren somit die eigentlichen sozialen Vorbilder für das Modell des selbstständigen Individuums, das nicht mehr in der Abhängigkeit von einer Stammesgemeinschaft steht.

Die historische Eigentümlichkeit, dass sich das Wort Ich erst nach dem 17. Jh. durchgesetzt hat, obwohl die objektiven sozialen Strukturen, die die Selbstverantwortung verlangen, sich bereits in der Antike herausgebildet hatten, zeigt, dass der Begriff des Ich nicht kulturell notwendig ist. Ausschlaggebend ist die Vorstellung, dass eine vom Körper unabhängige innere Entscheidungsinstanz angenommen wird. Welchen Namen diese Instanz erhält, ist mehr oder minder kulturell zufällig.

Sicherlich hat die Entstehung der Schriftkultur wesentlich zur Durchsetzung der Vorstellung einer inneren Entscheidungsinstanz beigetragen. Die Schrift hat die soziale Abhängigkeit der jungen von den älteren Menschen gelockert und damit die Tradition allmählich so stark geschwächt, dass sich der Einzelne als getrenntes Individuum wahrnehmen konnte. Seitdem die Regeln der Lebensführung schriftlich niedergeschrieben werden können, hat sich die Selbstkontrolle des Einzelnen erheblich intensiviert. Für jede Lebenssituation kann jetzt eine Regel vorgeschrieben werden. Die Juden waren die Ersten, die von ihren Mitgliedern verlangt haben, dass sie die heiligen Schriften Tag und Nacht studieren und sich die Regeln »ins Herz schreiben«. Diesen schriftlich niedergelegten Regeln wurde absolute Verbindlichkeit zugeschrieben. Wer sie nicht einhält, versündigt sich (Assmann 2006 S. 46ff). Die Sprache machte es möglich, dass sich eine autoritäre Moral entwickeln konnte, die absoluten Gehorsam, unbedingte Pflichterfüllung und Verzicht auf sinnliche Freuden verlangt. Eine lustfeindliche Moral mit starker Kontrolle der Sexualität war vor der Entstehung der Sprache undenkbar.

Diese Überlegungen machen deutlich, dass das Ich keine bloße Vorstellung ist, sondern Bestandteil einer kulturellen Lebensform ist, die sich durch die totale Abkehr von kollektiver Solidarität und die Fixierung auf individualistische Werte auszeichnet. Deswegen löst sich das Ich nicht sofort in Luft auf, wenn es als Fiktion erkannt wird.

Als Fazit ist festzuhalten, dass das Ich die historische Funktion hatte, die Auflösung des Selbstverständnisses von Stammesgesellschaften, dass sich die Menschen primär durch die Zugehörigkeit zu einem Stamm definieren, zu legitimieren. In der gegenwärtigen historischen Phase ist das Bedürfnis nach der Legitimation des Ich weitgehend entfallen, da die Menschen in die totale Abhängigkeit von kollektiven Sicherungssystemen geraten sind. Es eröffnet sich die Chance, die Lebensform des Ich zu transzendieren. Aber es fällt schwer, das Ich aufzugeben, da das Problem der Identität (»Wer bin ich?«) bisher ungelöst geblieben ist. Denn das Ich kann nur erfolgreich transzendiert werden, wenn das Menschenbild, das bisher die Lebensform des Ich legitimiert hat, durch ein Menschenbild ersetzt wird, das der Selbststeuerung aller mentalen Prozesse gerecht wird.

3.6. Negative Folgewirkungen des Ich

»Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie ich sagen.« (Th. W. Adorno)

Mit dem Konzept des Ich konnte die Aufgabe akzeptiert werden, autonom für sich selbst sorgen zu müssen, ohne sich auf die Solidarität anderer verlassen zu können. Dafür mussten allerdings mehrere Nachteile in Kauf genommen werden. Die Nachteile wurden lange Zeit durch das Versprechen des Sozialstaates des 20. Jh. überdeckt, die individuellen Risiken durch Krankheit, Invalidität und Arbeitslosigkeit mit kollektiven Sicherungssystemen aufzufangen. Nachdem sich dieses Versprechen immer mehr als unhaltbar erweist, werden die Nachteile der Lebensform des Ich schmerzhaft bewusst.

1. Die Prägung durch die Umwelt wird übersehen

Der Einzelne wird in seinen Fähigkeiten zutiefst von seiner Kultur geprägt. Was er ist und was er kann, verdankt er den Bezugspersonen, die ihn groß gezogen haben. Sein Charakter entsteht in der Auseinandersetzung mit den Anforderungen, die an ihn gestellt werden. Insofern verschränken sich im Einzelnen das Allgemeine der Kultur mit dem Besonderen des Einzelnen. Ein stabiles Selbstwertgefühl kann sich nur entwickeln, wenn man sich der Abhängigkeit all seiner Fähigkeiten von den Lebensbedingungen bewusst bleibt. Dafür den Begriff Ich-Stärke zu verwenden, ist irreführend. Es liegt nicht in der Macht des Einzelnen, für das Maß seines Selbstvertrauens und seiner Kompetenz selbst zu sorgen. Die Ich-Vorstellung führt dazu, dass das Bewusstsein der Abhängigkeiten und Bedingtheiten, unter denen man steht, ausgeblendet wird und man sich als autonom zu betrachtet. Sie überbetont die Trennung vom anderen und unterbelichtet die wechselseitige Verbundenheit. Im Kontrast zur abendländischen Ich-Kultur steht die japanische Philosophie, die auf einem Verständnis des Menschen basiert, »dass den einzelnen Menschen nicht als in sich zentriert, sondern vielmehr auf den anderen Menschen bezogen begreift« (Elberfeld S. 225).

Indem sich die Menschen als getrenntes Ich der Welt gegenüberstehend erleben, fühlen sie sich als Fremde in der Welt. Es wird eine Trennung zwischen Ich und Welt suggeriert. Die soziale Verbundenheit mit anderen Menschen wird kaum noch gespürt. In Wirklichkeit sind die Menschen mit ihren körperlichen und affektiven Bedürfnissen untrennbar mit der Welt verbunden. »Niemand steht der Welt gegenüber. Niemand greift ins Geschehen ein, weil es nichts außerhalb des Geschehens gibt - alles geschieht von selbst.« (Kruse 2010 S. 82) Das in der Esoterik artikulierte Bedürfnis nach Einheit drückt die Aufgabe aus, das störende Gefühl der Fremdheit aufzulösen.

2. Entfremdung

Wer an die Existenz des Ich glaubt, hält die inneren Stimmen, die häufig als innerer Richter oder Kritiker u. Ä. personifiziert werden, als Ausdruck des Ich. Wenn man sich kritisiert, beschimpft oder abwertet, glaubt man, dass sich das Ich gegen sich selbst richtet. Das ist nicht wirkungslos: Man ist genauso verletzt, wie wenn man von Dritten so behandelt wird. Allerdings hat man sich so sehr an die Selbstkritik und Selbstverurteilung gewöhnt, dass die Verletzungen nicht mehr wahrgenommen werden. Ebenso wird nicht mehr gespürt, dass die verinnerlichten Stimmen Abbilder von Autoritätspersonen sind, vor denen man früher Angst hatte. Indem man sich mit den introjizierten Stimmen identifiziert, entfremdet man sich von ihnen. Es wird sehr schwer, sich von den inneren Stimmen zu befreien, weil man damit völlig verschmolzen ist. Die Selbstverurteilung bewirkt, dass die Suche nach besseren Lösungen unterbleibt.

Auch das Selbstbild, in dem sich die Erwartungen der Autoritätspersonen niedergeschlagen haben, wird zu etwas Eigenem gemacht. Da es die Erfahrungen filtert, sieht man die Welt mit den Augen der Autoritätspersonen. Die kritische Auseinandersetzung mit den abgespaltenen Introjekten ist nicht mehr möglich.

Wer sein Selbstbild am Ich festmacht, neigt dazu, alle Handlungen als Ausdruck seiner Gedanken und Gefühle zu verstehen. Er schreibt sich feste Eigenschaften wie ehrgeizig oder willensstark zu. Dass er häufig auch leistungsschwach und nachgiebig ist, entzieht sich seinem Blick. Außerdem übersieht er, dass das Handeln primär von physiologischen und seelischen Bedürfnissen angetrieben wird. Die Bedürfnisse manifestieren sich in unverfügbaren Handlungsimpulsen, mit denen man sich spontan identifiziert. Die Ichfixierung führt so zur Entfremdung von den eigenen Bedürfnissen. Es kann das Missverständnis entstehen, dass seelische Krankheiten entstehen, wenn sich das Ich nicht in seinen Gefühlen zum Ausdruck bringen kann (Bittner S. 138). Wie oben dargestellt wurde, sind die Gefühle und damit auch die seelischen Krankheiten letztlich Ausdruck von unerfüllten Bedürfnissen.

3. Das Ich blockiert die Empathie

Wer sich als ein auf sich selbst gestelltes Ich begreift, tut sich schwer, anderen gegenüber Empathie zu empfinden. Er ist so sehr mit den eigenen Gedanken und Gefühlen beschäftigt, dass er die der anderen kaum wahrnehmen kann. Die Sensibilität für das Leiden der anderen wird beeinträchtigt. Die Ichfixierung führt zusätzlich zu Vorurteilen gegenüber anderen sozialen Gruppen. Die Vorurteile werden als fester Bestandteil der eigenen Identität, des eigenen Ich gehalten.

Je mehr sich der Einzelne von anderen abgrenzt und ein Bewusstsein seiner Differenzen kultiviert, umso unwahrscheinlicher wird Empathie. Zu Recht stellt Fritz Breithaupt dar, dass das Ich und die Empathie Antipoden sind (Breithaupt S. 62). Je mehr man sich auf das Ich fixiert, umso weniger ist man bereit, anderen offen zuzuhören und sich für andere zu interessieren. Umgekehrt setzt moralisches Denken voraus, dass das Ich aufgegeben wird.

Der Mangel an Empathie gegenüber anderen Menschen wirkt sich rückwirkend auch negativ auf das Verhältnis zu sich selbst aus. Wer nicht zur Empathie gegenüber anderen fähig ist, kann nicht spüren, wie er selbst unter dem Wunsch auf Rache und Vergeltung für erlittene Verletzungen leidet. Der Mangel an Empathie, der durch die Fixierung an den Gedanken der Schuld der anderen entsteht, verstärkt so die Fixierung auf das eigene Ich. In diesem emotionalen Klima kann die Überzeugung entstehen, dass Egoismus eine natürliche Anlage ist und dass eigennütziges Verhalten für die Gesellschaft sehr nützlich ist, wie z. B. Adam Smith behauptet hat. Die Einsicht wird verdrängt, dass Egoismus im Grunde ein Symptom tiefgreifender Entfremdung ist.

4. Schuld

Vor allem führt die Ichfixierung dazu, sich für die eigenen Fehler und das eigene Versagen schuldig zu fühlen. Das Schuldgefühl richtet sich auf die eigenen Mängel und Schwächen statt auf die Verletzung, die man anderen zugefügt hat. Es lässt denken, dass man nicht in Ordnung sei. Schuld ist immer mit Selbstkritik, Selbstbestrafung und Selbstabwertung verbunden. Sie kann deshalb als eine nach innen gerichtete Gewalt verstanden werden (Rosenberg S. 24).

Die Schuldreaktion ist keineswegs selbstverständlich. Das Schuldgefühl ist kein angeborenes Gefühl, sondern entsteht durch übermäßige Strafandrohung bei moralischen Regelverletzungen. Die Angst vor Bestrafung wandelt sich in Schuldgefühl um. Schuldgefühle sind nichts anderes als reaktivierte Angst.

Wer sich schuldig fühlt, denkt, dass er auch anders hätte handeln können. Schuldgefühle basieren deshalb auf der Idee der Freiheit. Die Überzeugung, dass man für die Nichteinhaltung von Normen moralisch verantwortlich ist, lässt überhaupt erst die Schuld entstehen. Ohne die Idee der Freiheit, die zwangsläufig beim Ich mitgedacht wird, gäbe es keine Schuld. Insofern ist das Ich mitverantwortlich für die innere Selbstkritik und Selbstabwertung, die mit den Schuldgefühlen einhergeht.

Moralisches Verhalten funktioniert durchaus auch ohne Schuld. Um die Verantwortung für die Konsequenzen des eigenen Verhaltens zu übernommen, braucht man kein Schuldgefühl. Die Empathie zeigt, dass man andere verletzt hat. Sie stößt eine Aktion der Wiedergutmachung und des Ausgleichs beim Geschädigten an. Es besteht kein Grund, sich schuldig zu fühlen und sich selbst zu kritisieren oder abzuwerten. Allerdings wird man sich fragen, warum die Verletzung passiert ist und wie sie künftig vermieden werden kann.

Viele glauben, dass Schuldgefühle nützlich für die Einhaltung der Normen seien, weil sie praktisch eine innere Selbstbestrafung auslösen. Das trifft nicht zu. Oben wurde bereits gezeigt, dass Angst die schlechteste Motivation für die Einhaltung von moralischen Regeln ist. Schuldgefühle sind immer neurotisch.

5. Schuldzuweisungen

Die Überzeugung von der Existenz des Ich unterstützt die Neigung, anderen die Schuld für die eigenen Gefühle zu geben. Es kann nicht wahrgenommen werden, dass man sich selbst für seine Gefühle entschieden hat. Schuldzuweisungen stören die Beziehungen zu anderen Menschen ganz erheblich. Als Mittel der sozialen Kontrolle führen sie zu Isolation und Entfremdung.

6. Übermäßige Identifikation mit seinen Gedanken

Die Überzeugung vom Ich verstärkt die Neigung, die eigenen Gedanken als wahr und real zu halten, anstatt sie bloß als Handlungsimpulse aufzufassen, die gerade durch das Bewusstsein strömen. Wenn man mit seinen Gedanken verschmilzt, kann allzu leicht die notwendige kritische Distanz ihnen gegenüber verloren gehen. Das Ich führt so dazu, dass die Grenzen des Denkens ignoriert werden. Es unterstützt damit die autoritäre Unterwürfigkeit. Es wird nicht mehr gespürt, dass man sich mit Anforderungen von Autoritätspersonen identifiziert. Man glaubt, eigene Ziele zu befolgen, obwohl man sich fremden Zielen unterworfen hat.

Man darf allerdings nicht in das andere Extrem fallen, die eigenen Gedanken als zufällige, beliebige Erscheinungen aufzufassen, die nicht weiter ernst zu nehmen sind, nach dem Motto: »Die Gedanken haben nichts mit dir zu tun.« (Kruse 2010 S. 117) Schließlich reagieren die Gedanken auf die gegenwärtige Situation mit ihren Problemen und Aufgaben. Statt sie wie Wolken am Himmel zu betrachten, die vorüber ziehen, wie im esoterischen Denken häufig gefordert wird, müssen sie ernst genommen werden, da sie mögliche Lösungsideen und Handlungsaufforderungen darstellen. Gedanken kommen nicht aus dem Nichts, wie Kruse behauptet (S. 60), sondern verarbeiten aktuelle Erfahrungen. Wenn sie als Vorschläge behandelt werden, die kritisch zu prüfen sind, kann es nicht zu einer übermäßigen Identifikation kommen.

7. Kontrollverlust

Viele befürchten, ohne Ich die Kontrolle über ihr Handeln und Denken zu verlieren und sich machtlos zu fühlen. »Aber die Illusion, dass wir die Kontrolle haben, ist eben genau das - eine Illusion. Und sie ist eine schädliche Illusion, denn sie fordert Selbstverurteilung und Selbstbeschuldigung. Sich die Schuld zu geben ist in Wirklichkeit genauso sinnlos, wie einem Wirbelsturm die Schuld zu geben.« (Neff S. 101)

Als Fazit ist festzuhalten, dass das Ich mit der Tendenz zum Verlust an sozialem Einfühlungsvermögen und Sensibilität für die eigenen Bedürfnisse verbunden ist. Das bedeutet, dass die menschlichen Eigenschaften, die für das gelingende Zusammenleben von basaler Bedeutung sind, reduziert werden. Wie stark die Tendenz ausgeprägt ist, hängt von der Ichfixierung ab.

3.7. Sich vom Ich befreien?

»Wenn ich mich so, wie ich bin, akzeptiere, dann ändere ich mich. « (Carl Rogers)

Im esoterischen Denken wird es häufig als eine spirituelle Aufgabe angesehen, sich vom Ich zu befreien. Damit sei ein Durchbruch in der persönlichen Entwicklung zu höherer Bewusstheit verbunden. Aus den bisherigen Überlegungen geht hervor, dass die Annahme naiv ist, dass das Ich mit einer bewussten Entscheidung abgelegt werden kann. Wenn sich im theoretischen Denken die Überzeugung von der Existenz des Ich verflüchtigt, fällt die Ich-Vorstellung nicht einfach weg. Es trifft nicht zu, dass das Ich eine Vorstellung ist, die nur solange da ist, wie sie gedacht wird (vgl. Kruse 2010 S. 59). Das Ich ist so sehr in eine bestimmte kulturelle Lebensform eingebettet, dass die Transzendierung des Ich eine Transzendierung des damit verbundenen Menschenbildes voraussetzt.

Der Rückblick auf die historische Entstehung des Ich hat gezeigt, dass das Problem des Ich primär darin besteht, dass einerseits dem Einzelne mehr Verantwortung zugemutet wurde, als in seinen psychischen Kräften liegt und dass andererseits die Mitverantwortung der Gemeinschaft für die Entwicklung des Einzelnen eingeschränkt wurde. Es wurde verleugnet, dass die Menschen Gruppenwesen sind und Unterstützung für den Fall brauchen, dass es ihnen nicht gelingt, zum Wohlergehen der Gemeinschaft einen angemessenen Beitrag zu leisten. Es hat sich als eine Illusion herausgestellt, dass dies durch eine Stärkung des Ich erreicht werden kann. Die seelische und geistige Entwicklung wird gestört, wenn die Abhängigkeit von der Gemeinschaft verleugnet wird.

Die Mitverantwortung der Gemeinschaft für die Entwicklung des Einzelnen ist unaufhebbar. Welchen Beitrag der Einzelne zum Wohlergehen der Gemeinschaft leisten kann, hängt davon ab, welche Chancen ihm gegeben werden, sozial nützliche Fähigkeiten zu entwickeln. Wer Erfolg hat, verdankt das in erster Linie denjenigen, die ihn gefördert haben. Wer versagt, hat zu starke emotionale Verletzungen verarbeiten müssen oder es wurden ihm zu wenig Qualifikationen vermittelt. Den Einzelnen allein für seinen Verdienst oder sein Versagen verantwortlich zu machen, verkennt, dass jeder nur das leisten kann, wozu er unter dem Einfluss äußerer Kräfte ausgebildet worden ist. Jeder ist bestrebt, das ihm Bestmögliche zu leisten. Deshalb ist es ebenso problematisch, Verdienste als persönliche Leistungen wie Misserfolge als persönliches Versagen zu betrachten. Auch für die negativen Gefühle des Einzelnen trägt die Gemeinschaft die Mitverantwortung, da sie anzeigen, dass seine Bedürfnisse nicht befriedigt wurden.

Durch den Aufbau sozialer Sicherungssysteme ist das individualistische Selbstverständnis nur marginal aufgebrochen worden. Es ist eher die Tendenz zu beobachten, dass die Absicherung immer mehr durchlöchert wird, so dass kaum jemand vor dem Armutsrisiko geschützt ist. Vor allem ist die soziale Identität, die von einer nützlichen Funktion im Arbeitsleben – verbunden mit sozialer Anerkennung – abhängig ist, äußerst gefährdet. Wenn man ständig unter dem Zwang steht, sein Leben kontrollieren zu müssen, fällt es schwer, die Idee der Selbststeuerung praktisch zu leben.

Die Suche nach Einheit und Verbundenheit ist keineswegs in der menschlichen Natur begründet, sondern wurzelt in der sozialen Zumutung, mit den Unsicherheiten und Risiken des Lebens allein zurechtzukommen. Man darf deshalb nicht den Fehler machen, sich allein mit individuellen Mitteln (spirituelle Suche, Meditation, Psychotherapie u. A.) auf die Suche zu begeben. Im Inneren kann nichts gefunden werden, was nur von den äußeren Lebensbedingungen gegeben werden kann. Dass die Gemeinschaft die Mitverantwortung für das Schicksal des Einzelnen weitgehend aufgekündigt hat, kann vom Einzelnen nicht rückgängig gemacht werden kann. Dieser Verlust löst tiefe Trauer aus.

Durch den Verzicht auf das Ich treten keineswegs automatisch großartige Veränderungen ein. Selbstkritik und Selbstunzufriedenheit verschwinden nicht von selbst. Erst in dem Maße, wie es gelingt, die Verhaltensmuster der Selbstkritik, der Abwertung anderer, des Vergleichs mit anderen, der Bestrafung anderer u. a., die auf dem Boden der Ich-Vorstellung entstanden sind, durch produktivere Verhaltensmuster der Empathie und Vergebung abzulösen, werden die Nachteile der Ich-Vorstellung verschwinden.

Auch wenn es schwierig ist, unter den gegenwärtigen Lebensbedingungen die Lebensform des Ich aufzugeben, muss beim theoretischen Denken über die Verfassung des Menschen von der Idee der Selbstorganisation ausgegangen werden, um nicht in idealistische oder mechanistische Denkmuster zurückzufallen.

Da sich alle psychischen und mentalen Prozesse aus der dynamischen Selbstorganisation ergeben, kann man nicht mehr so tun, als wäre man der Herr seiner Gedanken, Gefühle und Handlungen. Man muss den Anspruch aufgeben, Herr im eigenen Hause zu sein. Man ist im Grunde nur sein eigener Zuschauer oder Zuhörer. Allerdings löst sich diese Perspektive im konkreten Handeln auf. Wer z. B. den Wunsch hat, einen Freund zu treffen, nimmt den spontan auftauchenden Wunsch zur Kenntnis und veranlasst alles Erforderliche. Da er sich aber sofort mit diesem Wunsch identifiziert, verschmilzt er mit ihm und vergisst seinen Zuschauerstatus. Ebenso kann er sich gegenüber seinen Gedanken als sein eigener Zuhörer erleben. Da sich alle Gedanken in sprachlicher Form präsentieren, hört er ihnen im Grunde zu, so wie man anderen Menschen zuhört. Da man sich gewohnheitsmäßig mit seinen Gedanken identifiziert, kann man nicht längere Zeit in der Zuhörerrolle bleiben. Man ist in jedem Moment affektiv von seinen Erfahrungen und Erlebnissen betroffen.

Die Begriffe Zuschauer und Zuhörer dürfen nur als Metaphern verstanden werden, um das eigenartige Verhältnis des Menschen zu sich selbst zu umschreiben. Diese Metaphern drängen sich in dem Moment auf, in dem erkannt wird, dass man keinen Einfluss auf die inneren Prozesse hat und merkt, dass sie sich selbsttätig organisieren.

Wie oben bereits erwähnt, dürfen die persönlich erworbenen Fähigkeiten nicht als das eigene Verdienst missverstanden werden. Sie verdanken sich den Umständen, unter denen man aufgewachsen ist. Man muss sich als das Resultat der zufälligen historischen Konstellation begreifen, in der man steht. Dabei ist der Begriff Zufall nicht im Sinne von beliebig zu verstehen. Was man geworden ist, hängt notwendig von den Bedingungen ab, unter denen man aufgewachsen ist. Umgekehrt darf auch persönliches Versagen und Scheitern nicht als etwas wahrgenommen werden, für das man schuldig ist. Versagen ist die Folge von Mustern, die man sich aneignen musste, um unter widrigen Lebensverhältnissen überleben zu können.

Wer sich bewusst macht, wie zufällig es ist, was und wie man denkt und wie man sich verhält, wird fähig, sich selbst zu relativieren und sich nicht allzu ernst zu nehmen. Das schließt nicht aus, dass man die Verantwortung für seine Gedanken übernimmt und sich für sie einsetzt. Denn trotz der Abhängigkeiten ist man sich sicher, dass die eigenen Gedanken gut begründet sind. Es stellt sich eine Balance zwischen Sich-selbst-ernst-nehmen und Gelassenheit ein.

Das neue Selbstverständnis besteht darin, dass man darauf vertraut, dass alle Impulse und Gedanken, die sich spontan einstellen, richtig sind und dass man aufhört, sie an Idealen zu messen. Es sind viele Metaphern für dieses Selbstverständnis im Umlauf: sich von der inneren Stimme leiten lassen, den Gefühlen vertrauen, auf sich selbst hören, sich leben lassen, sich den inneren Rhythmen überlassen, in der inneren Wahrheit leben, aus der Mitte leben, der Weisheit des Körpers folgen, im Einklang mit sich selbst leben, loslassen, sich selbst akzeptieren u. a. Es wird auch davon gesprochen, dass man sich durch die leibliche Selbsttätigkeit getragen weiß (Bennent-Vahle S. 97). Auffallend ist der häufige Gebrauch des Verbs lassen. Es drückt aus, dass man alle Impulse uneingeschränkt zulassen soll, ohne sich deshalb als fremdgesteuert zu begreifen oder schuldig zu fühlen. Das Lassen markiert die Abwesenheit von angestrengtem Wollen und Angst vor ablehnenden Reaktionen anderer Menschen. Es stellt einen Verzicht darauf dar, sich selbst zu kontrollieren und zu beherrschen.

Der Begriff loslassen impliziert eigentlich, dass etwas losgelassen wird, was vorher festgehalten wurde. Aber bei den Verhaltensmustern gibt es kein Festhalten, sondern allenfalls die Anwendung dysfunktionaler Verhaltensmuster, die den Ausdruck von bestimmten Gefühlen festlegen. Man kann sich nicht vornehmen, sich loszulassen und seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Man kann allenfalls spüren, ob die eigenen Verhaltensmuster mit Angst besetzt sind und man sich damit vor etwas schützen will. Man stellt dann fest, dass man sich an dysfunktionale Verhaltensmuster bindet. Das Verb loslassen darf nicht wörtlich genommen werden. Er ist bloß eine Metapher für die schwierige Aufgabe, ein Selbstverständnis zu umschreiben, dass nicht mehr von der Existenz eines inneren Subjekts (Geist, Ich u. Ä.) ausgeht.

Es ist paradox, dass man sich bestimmt nicht verändern wird, wenn man sich bewusst vornimmt, sich zu verändern. Bewusste Vornahmen scheitern, weil sie nicht intrinsisch motiviert sind. Jedem Wunsch sich zu verändern, muss deshalb misstraut werden.Veränderungen treten genauso von selbst ein, wie dies für das Handeln gezeigt wurde. Wirksame Veränderungswünsche geben sich dadurch zu erkennen, dass sie sich spontan einstellen und mit der Absicht für konkrete Handlungsschritte einhergehen. Sie lassen sich problemlos umsetzen, weil sie eine innere Antriebskraft enthalten.

Aus der Perspektive des oben entwickelten Konzeptes des Menschen als einer Zellenkolonie bedeutet loslassen, dass alle Handlungsimpulse akzeptiert werden. Alle Handlungsimpulse sind letztlich innere Aufträge. Dieser Gedanke ist in seiner Grundstruktur dem religiösen Denken vertraut. Allerdings kommen die Aufträge nicht von den Göttern. Der Ort ihrer Herkunft liegt im eigenen Inneren. Offensichtlich ist die religiöse Überzeugung, dass die Götter die Geschicke der Menschen lenken, eine Interpretation der Erfahrung, dass das menschliche Handeln selbstorganisiert abläuft.

Auf-sich-selbst-hören bedeutet nichts anderes, als sich mit den inneren Aufträgen zu identifizieren. Die philosophische Empfehlung der Stoa, im Einklang mit der Natur zu leben, darf nicht so verstanden werden, dass man in jedem Moment zweifelsfrei weiß, welchen Impulsen man folgen soll. Die Stoa hat nicht erkannt, dass die Impulse durch emotionale Verletzungen unter Druck geraten und in eine den eigenen Zielvorstellungen widersprechende Richtung gedrängt werden können. Die eigenen Impulse werden erst dann die wahren persönlichen Ziele ausdrücken, wenn die persönlichen Ängste bewältigt werden.

Wenn der Glaube an die Existenz eines Ich wegfällt, kann leichter akzeptiert werden, dass man alle inneren Zustände wie Gedanken, Probleme, Sorgen, Ängste u. Ä. letztlich selbst erzeugt hat, und gespürt werden, dass man sich nicht dafür schuldig zu fühlen braucht. Es besteht kein Anlass, psychische Störungen und Leiden als persönliches Versagen anzusehen und sich dafür die Schuld zu geben. Man hat sich für die psychische Störung entschieden, weil man keine andere Möglichkeit sah, sich vor einer emotionalen Überbelastung oder Verletzung zu schützen und kann deshalb die psychische Störung als einen Selbstheilungsversuch ansehen. Für den Mangel an Strategien zur Bewältigung von übermäßigem Stress braucht man sich keine Schuld zu geben.

Im Grunde ist der innere Störenfried nicht das Ich, sondern die Neigung, sich von anderen Menschen abhängig zu machen. Diese Erfahrung wird den Wunsch, sich selbst zu verbessern, von alleine verschwinden lassen und damit auch die Unzufriedenheit mit sich selbst. Man wird dann nicht mehr versuchen, das Denken mit Meditation auszuschalten, um damit negative Gedanken zu unterdrücken. Alle Erfahrungen zeigen, dass dies ohnehin zum Scheitern verurteilt ist. Wenn das selbst-destruktive Verhaltensmuster aufgegeben wird, sich an den Erwartungen anderer zu orientieren, verschwinden die negativen Gedanken von selbst.

Vermutlich klammern sich die Menschen an das Ich, weil damit das peinliche Gefühl verdrängt werden soll, nicht der Herr im eigenen Hause zu sein. Da es kein Ich gibt, ist dies keineswegs mit dem Gefühl der Kränkung verbunden, wie seit Sigmund Freud immer wieder behauptet wird. Nur wer glaubt, fremdbestimmt zu sein, wenn es kein Ich geben würde, muss sich gekränkt fühlen.

Befreit vom Ich, kann im Alltag problemlos das Pronomen ich verwendet werden. Das kleine Ich wird als eine praktische Gewohnheit verstanden, sprachlich den Akteur zu kennzeichnen. Dagegen wird im Konzept der Selbstorganisation das große Ich nicht mehr zur Legitimation von Selbstkontrolle benötigt, da die für das Überleben erforderliche Selbstkontrolle direkt von den Lebensverhältnissen erzwungen wird. Aus dieser Sicht kann die häufig zu beobachtende Vermengung des grammatischen ich mit dem Ich als Instanz vermieden werden (vgl. Kruse 2010 S. 104).

Befreit vom Ich, fällt es leichter, offen für die Gefühle und Bedürfnisse anderer Menschen zu sein und angemessen darauf zu reagieren. An die Stelle des Kontrollierens und Beherrschens tritt eine Beziehung des Zuhörens und der Bereitschaft, sich von den Dingen »ansprechen« zu lassen und von ihnen »berührt« zu werden.

3.8. Selbstkontrolle

»Was dir Sorgen macht, beherrscht Dich.« (John Locke)

Wenn das Konzept des Ich wegfällt, verliert auch das Konzept der Selbstkontrolle seine Basis. Es ist auf dem Boden des traditionellen Verständnisses entstanden ist, dass die Menschen von Natur aus böse, gewalttätig und egoistisch sind. Sie könnten sich erst zu sozialen Wesen mit Mitgefühl für andere entwickeln, wenn sie ihre natürlichen Triebe kontrollieren. Ein menschliches Wesen zu sein heißt, sich mit Hilfe des Verstandes, des Geistes und des Ich zu kontrollieren. Dabei werden die Kriterien der Kontrolle vom Geist bzw. Ich festgelegt.

Obwohl die traditionell strikte Entgegensetzung von Verstand und Gefühl kaum noch geteilt wird, ist nach wie vor davon die Rede, dass man seinen Gefühlen nicht blind folgen, sondern sie durch vernünftige Einsicht kontrollieren soll. Es sei das Ziel menschlicher Selbstformung, Gefühl und Verstand konstruktiv aufeinander zu beziehen (Bennent-Vahle S. 94). Aus den bisherigen Überlegungen geht hervor, dass solche Vorstellungen von einer wünschenswerten Balance zwischen Verstand und Gefühl auf einem falschen Verständnis sowohl von der Funktion des Denkens als auch von der Funktion der Gefühle basieren.

Die Kraft der Vernunft wird daran festgemacht, dass man vor dem Handeln innehalten und darüber nachdenken könne, ob eine sich aufdrängende Reaktion angemessen ist. Das mag in manchen Fällen möglich sein, insbesondere wenn man nicht direkt betroffen ist. Direkt mit einer Kränkung, Demütigung oder Beleidigung konfrontiert, ist man normalerweise unfähig, zunächst innezuhalten, sondern reagiert heftig gemäß seinen gelernten emotionalen Reaktionsmustern. Wer sich übermäßig zurückhält, gerät zu Recht in den Verdacht, emotional gehemmt zu sein oder Angst vor den emotionalen Reaktionen anderer zu haben. In beiden Fällen kann man nicht anderes, als mit den gelernten emotionalen Mustern zu reagieren.

Die Menschen besitzen ohne Zweifel die Fähigkeit, über ihre Gefühle nachzudenken. Die übliche Formulierung suggeriert, dass man sich im Nachdenken von seinen Gefühlen distanziert und sie wie Objekte betrachtet. Aber in Wirklichkeit erfolgt das Nachdenken über die Gefühle erst nach vollzogener Handlung. Es wird durch die Erfahrung angestoßen, dass man mit dem Ergebnis der Handlung unzufrieden ist, weil es nicht den eigenen Bedürfnissen entspricht. Der emotionale Konflikt, in den man durch die Bewertung des eigenen Verhaltens gerät, stößt die Suche nach einer sinnvollen Lösung an. Dieser emotionale Anstoß des Nachdenkens über die Gefühle wird in der ethischen Literatur meistens unterschlagen. Ebenso wird verschwiegen, dass das Nachdenken regelmäßig erst nach einer Handlung stattfindet, so dass das Nachdenken nur das Ziel haben kann, in Zukunft besser zu handeln.

Ob ein innerer emotionaler Konflikt zum Anlass genommen wird, die Suche nach einer sinnvollen Lösung aufzunehmen, hängt davon ab, ob gelernt wurde, seine emotionalen Reaktionsmuster infrage zu stellen und sich eigene Fehler einzugestehen. Das setzt relativ viel Selbstvertrauen voraus, da die Relativierung der eigenen Reaktionsmuster immer auch mit einer vorübergehenden Verunsicherung verbunden ist. Wie beim instrumentellen Handeln geht es auch bei der Suche nach der Lösung von inneren Konflikten darum, alternative emotionale Reaktionsmuster im virtuellen Handeln zu testen. Bei einem gewissen zeitlichen Abstand zur Konfliktsituation besteht eher die Chance, dass andere Gefühle zur Geltung kommen können. Während man kurz nach der Situation vielleicht von den Gefühlen der Rache und des Ressentiments beherrscht wurde, können sich jetzt eher die Gefühle von Zuneigung und Liebe durchsetzen und den Blick auf die Situation verändern. Man besinnt sich auf das, was einem wichtig ist und bemüht sich z. B., die Verbundenheit mit dem Partner wiederherzustellen. Auf dieser Basis können neue emotionale Reaktionsmuster entstehen, die die soziale Harmonie sichern.

Im Grunde ist das Denken keine Gegenkraft zu den überschäumenden Gefühlen. Starke Gefühle können nur dadurch kontrolliert werden, dass nach abgeschlossener Handlung andere Gefühle wie z. B. Zuneigung, Respekt, Mitgefühls und Liebe zum Zuge kommen, sodass die Verletzungen, die durch die starken Gefühle ausgelöst wurden, ausgeglichen werden können. Es handelt sich dabei um Gefühle, die die Funktion haben, den Kontakt mit anderen Menschen wiederherzustellen und zu bewahren. Sie werden deshalb im Folgenden als Kontaktgefühle bezeichnet. Zu Recht sprach Spinoza davon, dass Gefühle nur durch andere Gefühle kontrolliert werden können. Dass die Kontaktgefühle wirksam werden, setzt natürlich voraus, dass sie nicht aufgrund von traumatischen Erfahrungen unterdrückt wurden, sondern die Chance hatten, sich zu entwickeln. Wenn die Kontaktgefühle geschwächt sind, können sie niemals durch die Vernunft ausgeglichen werden.

Da der Anstoß zur Reflexion der Gefühle nie vom Verstand, sondern ausschließlich von den Gefühlen ausgeht, beruht die Vorstellung, dass der Verstand die Gefühle kontrollieren könne, auf einer Fehleinschätzung der Emotionen. In vielen emotionalen Reaktionsmustern ist bereits die Kontrolle eingebaut. Wenn man sich aus Angst entscheidet, bestimmte Situationen oder Personen zu meiden, ist die Vermeidungsangst bereits Bestandteil des entsprechenden Reaktionsmusters. Die Kontrolle erfolgt genauso spontan und mühelos wie andere Verhaltensmuster. Die Sieger brauchen sich im Grunde nicht anzustrengen, um ihre Ziele zu erreichen, weil das für sie selbstverständlich ist. Nur solange die Verhaltensmuster noch nicht vollständig beherrscht werden, wird die Kontrolle als anstrengend empfunden. Es ist deshalb sinnlos, zwischen einem Leben im Modus der Kontrolle und im Modus des Zulassens zu unterscheiden.

Es zeigt sich, dass der traditionelle Begriff der Kontrolle für die Analyse des Verhaltens ungeeignet ist. Er unterstellt, dass das Verhalten mit Hilfe von selbst gesetzten Kriterien gesteuert werden kann. Das hat sich als eine Fiktion erwiesen. In Wirklichkeit unterliegt alles Handeln der Selbstkontrolle durch selbst entwickelte Muster. Da die Muster aber keine extern vorgegebenen Kriterien sind, sondern aus den Anforderungen der Bewegungen selbst heraus entwickelt werden, ist jede Kontrolle nichts anderes als eine spontane Selbstkontrolle.

Wie wenig das abwägende Denken ausrichten kann, kann am Ideal der Besonnenheit demonstriert werden. Besonnenheit ist die Fähigkeit, etwas mit voller Sinneswahrnehmng zu tun (wörtlich: »bei Sinnen sein«). Es bedeutet nicht, dass man überlegt handelt, weil man seine Gefühle kontrolliert, wie Besonnenheit häufig verstanden wird. Darauf zu achten, dass man alle relevanten Gesichtspunkte abwägt, sich nicht überfordert und sich nach seinen Möglichkeiten richtet, ist nur möglich, wenn sozial verträgliche Reaktionsmuster gelernt wurden, die vom Respekt vor den Bedürfnissen der anderen geprägt sind, so dass es gar nicht erst zu ungestümen Reaktionen der Wut, Aggression oder Angst kommt. Die entscheidende Voraussetzung dafür ist, dass erfahren wurde, dass die eigenen Bedürfnisse von anderen Menschen ernst genommen und respektiert werden. Dann kann gelernt werden, auf eine Weise für die eigenen Bedürfnisse zu sorgen, die andere Menschen nicht verletzt. Die Erfahrung, respektiert zu werden, ist die zentrale moralische Ressource, die niemals durch Denken ersetzt werden kann. Es geht also darum, dass man sich seiner Gefühle vollständig gewahr ist und es deshalb ausgeschlossen ist, dass man sich über die Bedürfnisse der anderen hinwegsetzt. »Denn im Gewahrsein weiß jeder Mensch intuitiv, daß er im anderen auch sich selbst verletzt.« (Dreitzel S. 199). Besonnenes Handeln ergibt sich aus emotionaler Ausgeglichenheit. Deshalb ist es eine Überforderung, einen besonnenen Umgang mit den eigenen Emotionen zu verlangen (Bennent-Vahle S. 158).

Auch die Tugend der Vergebung hat wenig mit Denken zu tun. Das philosophische Denken kann wohl die praktische Nützlichkeit der Vergebung begründen (Bennent-Vahle S. 257), aber wenn die Beziehung zu anderen Menschen nicht von Liebe getragen ist und in der Kindheit nicht immer wieder Vergebung erfahren wurde, bleibt sie ein leeres Wort. Sie wird nicht dadurch zu einer wirksamen Kraft, dass wir sie »immer wieder aufs Neue unseren gegenläufigen spontanen Bestrebungen abringen« (a. a. O. S. 247).

Eines der bemerkenswertesten Gefühle beim Menschen ist das Lachen! Seit Aristoteles wird der Mensch gern als das lachende Tier bezeichnet. In meinem Buch »Die Intelligenz der Regeln« habe ich die These erläutert, dass das Lachen auf der Wahrnehmung von Differenzen zwischen den eigenen Regeln und den Regeln basiert, die im Verhalten der anderen wahrgenommen werden. Das Lachen macht sowohl dem Beobachter und als auch dem anderen bewusst, dass Regeln verletzt wurden. Normalerweise reagiert das Lachen auf Situationskomik. Seit Erfindung der Sprache kann der Mechanismus des Lachens auch dazu benutzt werden, dass mit Hilfe der Sprache regelwidrige fiktive Situationen konstruiert werden, um damit die zwischenmenschliche emotionale Stimmung zu verbessern oder aggressive und sexuelle Impulse virtuell abzureagieren. Das Lachen ist deshalb zu einem sozialen Regulator geworden. Es ist ein spontaner selbstregulativer Versuch, unangepasste Muster bei sich und anderen zu korrigieren. Das Lachen kann aber nicht gewollt werden. Es steht nur denen zur Verfügung, denen das Lachen nicht durch ein Zuviel an Gewalterfahrung vergangen ist. Unübersehbar verdankt sich das Lachen der menschlichen Fähigkeit der Musterbildung. Erst wenn Muster wahrgenommen werden, können die den Mustern zugrundeliegenden Regeln bewusst werden.

Der Wunsch nach Selbstkontrolle entsteht eigentlich erst dann, wenn gespürt wird, dass die emotionalen Reaktionsmuster nicht den eigenen Idealvorstellungen entsprechen. Man fühlt sich fremdbestimmt und hat den Wunsch, die spontanen emotionalen Impulse in eine andere Richtung zu drängen. Da sie aber nicht gesteuert werden können, ist es eine Illusion, sie an den Idealvorstellungen ausrichten zu können. Das könnte nur gelingen, wenn die Ängste bewältigt werden, die den emotionalen Reaktionsmustern zugrunde liegen, so dass sich spontan neue Reaktionsmuster bilden können.

An den angstbedingten Reaktionsmustern wird besonders deutlich, wie tief alle Reaktionsmuster in körperlichen Prozessen verankert sind. Angst bewirkt die Ausschüttung von sogenannten Stresshormonen (Adrenalin, Cortisol u. a.), die zu vielfältigen körperlichen Reaktionen führen, insbesondere wird das Blut in Armen und Beinen konzentriert, das Verdauungssystem still gestellt und die Effizienz des Immunsystems reduziert. Die Stresshormone wurden von der Natur für den Notfall von Flucht und Kampf geschaffen. Wenn sie aber nicht nur vorübergehend, sondern aufgrund von als unkontrollierbar empfundenen Bedrohungen dauerhaft ausgeschüttet werden, gerät der gesamte Organismus aus dem Gleichgewicht. Viele chronische Krankheiten wie z. B. Bluthochdruck, Asthma, Krebs, Diabetes oder Depression werden auf einen chronisch erhöhten Stresshormonspiegel zurückgeführt (Lipton S. 150). Wenn aufgrund von tiefgreifenden emotionalen Erfahrungen plötzlich kein Grund mehr besteht, weiterhin massiv Stresshormone auszuschütten, kann es zu plötzlichen Heilungsprozessen kommen, die äußerlich betrachtet als unverständlich erscheinen. Auch die Wirkung von Placebo-Medikamenten kann damit erklärt werden. Durch die Verabreichung von Medikamenten werden positive emotionale Reaktionen der Hoffnung und Erleichterung ausgelöst. Die Selbstbeschränkungen im emotionalen Ausdruck, die viele Stresshormone produzieren, werden beseitigt, so dass sich spontan Wohlbefinden einstellen kann. Zu Recht wird gesagt, dass man glücklich ist, wenn man in Einklang mit seinen Gefühlen handelt. Wie oben bereits erwähnt, gilt das natürlich nur für die Gefühle, die helfen, den Kontakt zu anderen aufzubauen und wiederherzustellen.

Aus dem Placebophänomen wird häufig der Schluss gezogen, dass positive Überzeugungen eine große Kraft haben. Da Überzeugungen als geistige Größen betrachtet werden, wird daraus die Macht des Geistes abgeleitet. Dabei wird aber übersehen, dass Überzeugungen nur der verbale Ausdruck von emotional bewerteten Reaktionsmustern sind. Die Wirkung geht allein von den Emotionen aus. Die Fehleinschätzung der Überzeugungen basiert darauf, dass bislang noch relativ unbekannt ist, wie die Emotionen chemische und elektromagnetische Prozesse im Körper beeinflussen.

Als Fazit ist festzuhalten, dass der Rat, seine Emotionen durch vernünftige Einsicht zu steuern, auf einer falschen Analyse des Denkens und der Gefühle basiert. Gefühle und Gedanken dürfen nicht als unterschiedliche Funktionen betrachtet werden. Sie sind nur unterschiedliche Aspekte einer einheitlichen Reaktion des Organismus auf Erfahrungen. Die Kontrolle der Gefühle geht ausschließlich von den Gefühlen selbst aus. Es bestätigt sich die oben aufgestellte These, dass es ein Irrtum ist anzunehmen, dass das Handeln von den Gedanken gelenkt werden kann. Die Menschen sind keine Gefühlswesen mit Vernunftbegabung, wie immer wieder behauptet wird (Bennent-Vahle S. 20). Wenn das Ich wegfällt, entfällt auch die Vorstellung, dass die Gefühle kontrolliert werden müssen.

3.9. Selbstveränderungspotential

»Dort, wo der Geist nicht mit der Hand zusammenarbeitet, gibt es keine Kunst.« (Leonardo da Vinci)
»Wenn man mit etwas aufhören will, muss man mit etwas anderem anfangen.« (Klaus Mücke)

Nach traditioneller Überzeugung hat jeder Mensch das Potential, sich jederzeit neu erfinden zu können. Diese Überzeugung drückt sich in dem verbreiteten Glauben an die Möglichkeit der Selbstoptimierung aus. Aber in der hier entwickelten Theorie des Handelns sind die Grenzen der Selbstveränderung eher sehr eng gesteckt. Letztlich ist diese Frage aber nicht endgültig zu beantworten, da es äußerst schwierig ist festzustellen, ob sich eine Veränderung unter dem Druck der Verhältnisse spontan eingestellt hat oder ob sie auf eine bewusste Planung zurückgeht. Deshalb sollen im Folgenden einige Argumente zusammengestellt werden, die für den Standpunkt des eingeschränkten Spielraums sprechen.

Die Kindheit ist davon geprägt, dass die Handlungsmuster der Bezugspersonen in der Überzeugung übernommen werden, dass sie richtig sind. Wenn die Verhaltensvorschriften einen relativ großen Handlungsspielraum zulassen und mit wenig Angst vor Strafe verbunden sind, wächst die Bereitschaft, mit seinem Verhalten zu experimentieren und die besten Alternativen für die eigenen Bedürfnisse zu suchen. Dementsprechend ist man auch bereit, Verhaltensempfehlungen von anderen zu übernehmen.

Die Erfahrung zeigt, dass auch im Erwachsenenalter in der Regel Verhaltensänderungen auf einen Anstoß von außen zurückgehen. Wenn Verhaltensempfehlungen von vertrauten oder befreundeten Personen vorgeschlagen werden, haben sie nicht nur mehr Glaubwürdigkeit, sondern sind auch deshalb wirksam, weil praktisch eine soziale Verpflichtung übernommen wird, sich zu verändern. Wenn man sich nicht verändert, könnte dies vom anderen als eine Negation empfunden werden und deren Wohlwollen einschränken. Das Verhalten wird an die Anforderungen der anderen angepasst, weil man sie liebt und ihre Liebe nicht verlieren möchte. Man weiß, dass man von den anderen abhängig ist und dass eine weitgehende Übereinstimmung mit den anderen nützlich, häufig sogar überlebensnotwendig ist. Das bedeutet, dass das in der Kindheit gebildete Grundmuster, neue Verhaltensweisen primär von Vertrauenspersonen zu übernehmen, auch im Erwachsenenalter wirksam ist. Dagegen haben Verhaltensänderungen, die bei der Lektüre angeregt werden, eine geringe Wahrscheinlichkeit, umgesetzt zu werden. Das liegt daran, dass die sozialen und emotionalen Faktoren fehlen, die normalerweise für eine Verhaltensänderung erforderlich sind.

Es darf nicht übersehen werden, dass sich ständig von selbst Verhaltensveränderungen einstellen, ohne dass dies weiter registriert wird. Denn die natürliche Selbstreflexivität des Handelns sorgt automatisch dafür, dass dysfunktionale Verhaltensmuster modifiziert werden. Dies wird an einem Impuls gespürt, an die Stelle des bisherigen Verhaltens ein neues Muster zu setzen. Wahrscheinlich wird der innere Impuls genauso wie ein Appell von anderen Personen erlebt. Denn man identifiziert sich mit einem inneren Handlungsimpuls genauso wie mit einem als sinnvoll erlebten Appell von außen. Deshalb laufen die meisten Verhaltensveränderungen völlig geräuschlos ab.

Ob Impulse zu Verhaltensänderungen aufgegriffen werden, hängt von der grundsätzlichen Fähigkeit ab, sein Verhalten zu verändern, wenn es sich als dysfunktional erweist. Diese Fähigkeit wird in der Kindheit gelernt, wenn die persönlichen Bedürfnisse nach Liebe, Anerkennung und freier Entfaltung aller Fähigkeiten ausreichend befriedigt werden. Je mehr sie durch übermäßigen Leistungs- oder Disziplindruck verletzt werden, umso geringer ist die Bereitschaft, sein Verhalten zu verändern. Der fehlende Respekt der anderen gegenüber den eigenen Bedürfnissen führt dazu, dass deren Wünsche nach Verhaltensänderung nicht respektiert werden können. Der Widerstand gegen alle als negativ empfundene Verhaltensanforderungen wird im Laufe der Zeit verallgemeinert, so dass die Bereitschaft verloren geht, jegliche Aufforderungen zu Verhaltensänderungen zu akzeptieren. Da nicht die Fähigkeit entwickelt wurde, mit seinem eigenen Verhalten zu experimentieren, ist man äußerst misstrauisch gegenüber allen Verhaltensänderungen. Starker sozialer Druck führt dazu, dass man sich abschottet und unfähig wird, sich selbst zu verändern. Deshalb ist für die meisten Menschen die Metapher vom Gefängnis der Gewohnheiten bittere Realität. Diese Haltung wird von den anderen als Egoismus erlebt, ist aber im Grunde ein sinnvoller Abwehrmechanismus. Wenn Verhaltensänderungen mit Druck erzwungen werden, werden sie äußerlich zwar übernommen, aber in Situationen, in denen die soziale Überwachung nicht funktioniert, nicht eingehalten.

Es stellt sich die Frage, warum die Menschen überhaupt ihr Verhalten verändern wollen. Vermutlich kennen Eingeborenenstämme diesen Wunsch nicht. Jedes neues Gruppenmitglied wächst in die Verhaltensmuster der Gruppe hinein, die als natürlich erscheinen, weil damit die Gruppe ihr Leben in sozialer Harmonie reproduzieren kann. Solange man im relativen Idealzustand lebt, stellt sich nicht der Wunsch nach einer Verhaltensänderung. Neue Verhaltensmuster drängen sich erst auf, wenn die Gruppe mit neuen Herausforderungen konfrontiert wird. Wenn ein Einzelner kreative Lösungen findet, sind sie sofort ein Gegenstand der öffentlichen Diskussion. Aus dieser Perspektive scheint der Wunsch nach Selbstveränderung nicht in der Natur der Menschen angelegt zu sein.

Der gegenwärtig verbreitete Wunsch nach Selbstveränderung ist sicherlich ein Symptom repressiver sozialer Strukturen. Wenn die elementaren Bedürfnisse nach Liebe, Anerkennung und freier Entfaltung aller Fähigkeiten immer wieder verletzt werden, entsteht der latente Wunsch, Verhältnisse herbeizuführen, in denen sie anerkannt werden. Der Wunsch, seine Handlungsmuster zu verändern, stellt sich besonders massiv in der Pubertät, wenn deutlich gespürt wird, dass die gelernten Handlungsmuster nicht mit den eigenen Bedürfnissen übereinstimmen. Jetzt beginnt die Suche nach Handlungsmustern, die mehr Entfaltungsspielraum, mehr sexuelle Lust und harmonischere soziale Beziehungen versprechen. Das Ziel ist letztlich die Rückkehr in den Idealzustand, der vielleicht in der Kindheit erlebt wurde. Zugleich stellt sich das Problem, dass es sehr schwierig ist, aus seinen konditionierten Verhaltensgewohnheiten auszubrechen. Es ist paradox, dass man sich umso weniger verändern kann, je stärker der Wunsch dazu ist.

Am ehesten sind Veränderungen beim Verhältnis zum eigenen Körper, beim Nahrungsverhalten und beim Gebrauch von Werkzeugen und Gegenständen möglich, wenn ein starkes Motiv vorhanden ist, die bisherigen Verhaltensmuster aufzugeben, da solche Veränderungen für das Zusammenleben relativ belanglos sind. Aber Veränderungen, die in das Verhältnis zu anderen Menschen eingreifen, scheitern in der Regel. Das wird besonders deutlich, wenn man nach mehreren gescheiterten Beziehungen merkt, dass die Absicht, bei der nächsten Beziehung alles besser zu machen, vergeblich ist und dass man in seinem sozialen Verhalten völlig fest gefahren ist.

So wie in der Kindheit alle Verhaltensgewohnheiten unter dem Druck der Umwelt entstanden sind, können sie nur verändert werden, wenn ein entsprechender Druck von der Umwelt ausgeht. Erst heftige persönliche Krisen (Verlust des Partners, des Berufs, der Gesundheit u. Ä.) lassen bei vielen Menschen die Bereitschaft entstehen, die Sicherheit der gelernten Gewohnheiten aufzugeben und sich auf das Risiko neuer Verhaltensmuster einzulassen. Was als Krise empfunden wird, hängt natürlich von der persönlichen Sensibilität ab. Entscheidend ist, dass erlebt wird, dass die bisherigen Verhaltensmuster nicht mehr funktionieren und absolut schädlich sind, und dass eine Verhaltensänderung unausweichlich ist. Die Angst vor den Folgen des Festhaltens an dysfunktionalen Verhaltensmustern muss größer sein als die Angst, die entstehen würde, wenn man sie aufgibt. Dann stellen sich von selbst Impulse ein, das Verhalten zu verändern.

Das bedeutet, dass der Anstoß zu Veränderungen entweder von innen oder von außen kommt und dass die Veränderungen wie von selbst geschehen, wenn die Bedingungen dafür gegeben sind. Natürlich ist für neue Denk- und Verhaltensmuster eine wachsame Umwelt, die über ihre Einhaltung wacht und sie immer wieder in Erinnerung ruft, sehr förderlich. Es darf nicht vergessen werden, dass humane Verhaltensweisen ein soziales Milieu voraussetzen, das experimentierfreudiges Verhalten, ethische Diskussionen und geduldiges Üben ermuntert. Wenn die förderliche Umwelt fehlt, muss man beim Lernen von neuen Mustern sehr nachsichtig mit sich selbst sein und sich immer wieder mit externen Gedächtnisstützen (To-do-Listen, Notizzettel u. Ä.) daran erinnern.

Es spricht viel dafür, dass die Idee der freien Selbstveränderbarkeit eine Fiktion ist. Sie basiert nicht nur auf einer Fehleinschätzung des menschlichen Handelns, sondern auch auf einer Blindheit sowohl gegenüber den Grenzen der Veränderbarkeit als auch gegenüber den sozialen Prozessen, die die Veränderungsbedürftigkeit erst erzeugen. Es lebt sich leichter, wenn die Überzeugung aufgegeben wird, sich jederzeit aus Einsicht verändern zu können.

3.10. Fazit

»Ich weiß, dass ich das Gelingen anziehe, wenn ich mein Ego reduziere.« (André Heller)

Rückblickend zeigt sich, dass die Analyse des Ich ein Modellfall für die oben entwickelte These ist, dass der Versuch, das seelisch-mentale Innenleben mit mentalistischen Begriffen zu erfassen, misslingen muss. Wie alle abstrakten Allgemeinbegriffe, die aus der Substantivierung von Verben hervorgegangen sind, ist auch der Begriff des Ich bloß eine Substantivierung des Pronomens ich. Das Ich ist bloß ein Erklärungsmodell dafür, wie das Denken, Fühlen und Handeln organisiert sein könnte. Es scheint kein Problem zu geben, das mit dem Begriff des Ich besser als mit anderen Konzepten gelöst werden kann. Der Begriff erzeugt nur neue, unlösbare Probleme. Deshalb ist das Ich als Erklärungsmodell überflüssig.

Die Analyse hat gezeigt, dass sich das Substantiv Ich der Neigung verdankt, hinter allen Prozessen ein Subjekt anzunehmen. Nachdem sich das Denkmuster durchgesetzt hatte, alle Prozesse entweder als aktiv oder passiv zu klassifizieren, hatten die Menschen kein Denkmuster mehr für die Erfahrung, dass viele innere mentale und psychische Prozesse spontan ablaufen. Die Organisation des sozialen Lebens mit sozialer Herrschaft und Privateigentum macht es schwer, dem Denkmuster der Selbstorganisation, das immer wieder angedacht wurde, Geltung zu verschaffen. Hinter der Beobachtung von Andre Heller, dass alles besser gelingt, wenn das Ich reduziert wird, steht die Überzeugung, dass es nicht um das Ich geht, sondern darum, sich der Selbstorganisation zu überlassen.

Die Ich-Vorstellung greift tief in das Leben ein. Um das Ich ranken sich viele Erzählungen, die in der Regel wörtlich genommen werden. So wird dem Ich die Fähigkeit angedichtet, die Realitätsgerechtigkeit von Gedanken zu kontrollieren, die persönliche Kontinuität herzustellen oder Konflikte zu lösen. Insbesondere führt das Ich dazu, dass man sich unbemerkt mit Anforderungen von Autoritätspersonen identifiziert, aber glaubt, eigene Wünschen und Ziele zu verfolgen. Es wird nicht bemerkt, dass sie in Wirklichkeit nicht den eigenen Bedürfnissen entsprechen. Das Ich beeinträchtigt so das Gespür für soziale Fremdbestimmung. Man interessiert sich nicht mehr dafür, wie man eigentlich mit sich umgeht.

Wenn das kulturelle Selbstverständnis von der Existenz des Ich geprägt wird, gibt es Gewinner und Verlierer, Erfolgreiche und Versager. Selbstverantwortung wird so interpretiert, dass die Verdienste einem selbst gehören und dass sich die Versager die Schuld dafür selbst zuschreiben müssen. Das Ich legitimiert damit den Egoismus. Es vertreibt das schlechte Gewissen, das sich beim Ergaunern von Vorteilen zulasten anderer einstellt. Es wird so getan, als ob das Versagen des Einzelnen nichts mit Mängeln der gesellschaftlichen Organisation zu tun hat. Man könnte deshalb auch davon sprechen, dass das Ich eine Ideologie ist.

Im nächsten Kapitel soll gezeigt werden, welche individuellen Schritte möglich sind, um den Gedanken der Selbstorganisation in der eigenen Selbstwahrnehmung zu verankern und damit die soziale Fremdbestimmung zu reduzieren.





4. Das Verhältnis zu sich selbst

»Um sich selbst zu erkennen, muss man handeln.« (Albert Camus)

Die Analyse des Ich hat gezeigt, dass die Ich-Vorstellung mit einem völlig verzerrten Verhältnis zu sich selbst verbunden ist. Es kann weder akzeptiert werden, dass sich die persönlichen Ziele hinterrücks von selbst bilden, noch kann wahrgenommen werden, dass sich die Gefühle, Gedanken und Handlungsimpulse von selbst einstellen. Ebenso wenig kann zur Kenntnis genommen werden, dass man keine Kompetenz hat, sich selbst zu verändern.

Statt das Ich zu überwinden kommt es darauf an, den Freiraum wiederherzustellen, in dem sich Gedanken, Gefühle und Ziele bilden können, die mit den eigenen Bedürfnissen konform sind. Von zentraler Bedeutung ist, dass die Sensibilität für dysfunktionale Verhaltensmuster verbessert wird, so dass sie sich spontan an veränderte Lebensbedingungen und Präferenzen anpassen können. Es kommt darauf an, dass gespürt wird, wie man mit sich selbst umgeht, wie man sich also blockiert, kritisiert oder antreibt. Das ist der Grund, warum der Achtsamkeit in der buddhistischen Lehre ein hoher Stellenwert gegeben wird.

4.1. Selbsterkenntnis – Gewohnheiten ändern

»Um sich selbst zu erkennen, muss man handeln.« (Albert Camus)
»Tue nichts, was du nicht aus spielerischer Freude heraus tust!« (Marschall B. Rosenberg)

Der Begriff der Selbsterkenntnis ist irreführend, weil er vortäuscht, dass man sich selbst genauso erkennen könne, wie man z. B. das Funktionieren einer Maschine erkennen kann. Der Anspruch auf vollständige Transparenz seiner selbst ist völlig überzogen. Es ist unmöglich, alle Faktoren zu identifizieren, die in die Entwicklung der eigenen Verhaltensmuster eingeflossen sind. Deshalb ist die Auffassung, dass die Menschen einen privilegierten Zugang zu ihrer eigenen psychisch-mentalen Innenwelt haben, falsch. Was wahrgenommen wird, ist abhängig von der persönlichen Sensibilität, von kulturellen Vorurteilen und von subjektiven Erwartungen, also immer zufällig, subjektiv und unvollständig (Prinz 2013 S. 56).

Selbsterkenntnis bedeutet auch nicht, dass ein »innerer Kern«, die »wahre Natur«, das »Selbst«, das »Wesen« u. Ä. erkannt wird. Solche Formulierungen implizieren die falsche Vorstellung, dass es eine innere Natur und damit eine objektive Wahrheit über sich selbst gibt, die es zu erkennen gilt. Dies ist obsolete Metaphysik. Es kann allenfalls davon ausgegangen werden, dass es bei den Menschen eine natürliche Grundausstattung gibt. Sie ist aber nicht erkennbar, da die jeweilige Kultur darüber entscheidet, welche Aspekte des natürlichen Potentials genutzt werden.

Selbsterkenntnis bedeutet, sich selbst kennen zu lernen. Die Erfahrung zeigt, dass dies nicht gelingt, wenn man bloß in sich hineinschaut. Man kann sich nur selbst erkennen, wenn man sich gleichsam von außen mit dem Blick der anderen anschaut. So wie der Blick der anderen nur Handlungen sieht und daraus auf die zugrundeliegenden Überzeugungen, Absichten und Gewohnheiten schließt, so müssen die eigenen Handlungen anschaut werden, um seine Handlungsmuster zu erkennen. Eigentlich hat Selbsterkenntnis nichts mit Erkenntnis zu tun, sondern vielmehr mit der Kenntnis, von welchen Handlungsmustern man sich leiten lässt. Selbsterkenntnis besteht im Kennenlernen der eigenen Verhaltensmuster. Der häufig verwendete Begriff der Introspektion ist deshalb irreführend.

Dieser Blick von außen muss mühsam gelernt werden. Die Voraussetzung dafür ist, dass man immer wieder von anderen kommentiert wird. Zunächst versteht man sich nur so, wie einen die anderen sehen. Die Kenntnis von sich selbst basiert somit zunächst auf Fremdzuschreibungen. Allmählich lernt man, sich mit der Perspektive der anderen zu identifizieren. Jetzt kann beim Blick auf sich selbst wahrgenommen werden, mit welchen Bewegungsmustern man in bestimmten Situationen reagiert.

Der Selbsterkenntnis wird ein hoher Wert zugeschrieben, weil es sehr nachteilig ist, wenn die eigenen Verhaltensmuster nicht ständig an die veränderten Lebensbedingungen angepasst werden. Man würde sonst immer wieder in die gleichen Konflikte und Probleme geraten. Veränderungen sind nur möglich, wenn man weiß, welche Handlungsmuster zu persönlichen Konflikten und Problemen führen. Dysfunktionale Muster müssen so modifiziert werden, dass sie ein kohärentes Verhalten ermöglichen. Das Ziel ist nicht bewusste Verhaltenssteuerung, sondern eine Organisation des Handelns, die richtiges Handeln auch dann gewährleistet, wenn es weitgehend unbewusst abläuft.

Es gibt eigentlich nur zwei Wege richtig verstandener Selbsterkenntnis. Bei der ersten Methode richtet sich das Bewusstsein auf die Verhaltensmuster, die in einer früheren, problematisch empfundenen Situation eingesetzt wurden (mentale Selbsterkenntnis). Das andere Vorgehen besteht darin, dass das Bewusstsein auf einen Körperteil konzentriert wird, der schmerzhaft ist und der die körperliche Funktionsfähigkeit beeinträchtigt (somatische Selbsterkenntnis).

Zunächst soll die somatische Selbsterkenntnis behandelt werden, die meistens übersehen wird. Wie oben dargestellt wurde, werden Muskeln, die infolge von übermäßigen Stress chronisch verspannt werden, regelrecht vergessen. Die Erfahrung von Feldenkraistherapeuten lehrt, dass die unbewusst gewordene Muskulatur wieder bewusst gemacht werden kann, wenn sich das Bewusstsein darauf konzentriert. Die bewusst gelenkte Aufmerksamkeit erweist sich als eine mobilisierende Kraft. Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass in dem Moment, in dem bewusst wird, dass man sich selbst mit einer Muskelanspannung blockiert, das dahinter stehende Verhaltensmuster als dysfunktional erlebt wird. So wie mentale Probleme ein spontanes Suchverhalten auslösen, so mobilisieren auch motorische Störungen Problemlösungsprozesse. Allerdings ist die restlose Auflösung muskulärer Verspannungen ein mühsamer Prozess, da sie in Gewohnheitsmustern verankert sind.

Bei der mentalen Selbsterkenntnis spürt man sehr schnell, dass der Blick nach innen nicht der richtige Weg ist. Wie oben bereits erwähnt wurde, besteht der einzig sinnvolle Weg darin, von konkreten Situationen des Scheiterns und Versagens auszugehen und zu prüfen, an welchen Verhaltensmustern man sich dabei orientiert hat. Sobald man auf eine Gewohnheit stößt, die sich nicht gut anfühlt, kann die Frage gestellt werden, welches Ziel damit erreicht werden sollte und was die Zielerreichung behindert hat. Es können natürlich auch folgende Fragen gestellt werden: Welche Erfahrungen hat ihre Entstehung veranlasst? Hat sie heute noch einen persönlichen Nutzen und welche Alternativen bestehen dazu? Aber solche Fragen erübrigen sich meistens.

Normalerweise wird empfohlen, sich möglichst viele Einzelheiten der Situation zu vergegenwärtigen, einschließlich der Gefühle, die man erlebt hatte und wie man es hätte besser machen können. Dieses Vorgehen ist nach der Theorie des mentalen Kontrastierens, die von der Psychologin Gabriele Oettingen entwickelt wurde, wenig zielführend, da das Schwelgen in Wunschträumen nicht motiviert, etwas zu verändern. Das positive Denken hemmt die Motivation, seine eigenen Wünsche zu entdecken und neue Lösungen zu finden. Empirische Forschungsergebnisse zeigen, dass man wesentlich stärker motiviert wird, wenn die persönlichen Zielvorstellungen, die in der Situation verfolgt wurden, mit den Hindernissen kontrastiert werden, die als Ursache für das Scheitern erkannt werden.

Die simple Frage, was die Erreichung eines Zieles behindert, lässt schlagartig erkennen, welche Vorstellungen und Verhaltensweisen im Weg stehen. Es wird meistens sofort klar, welche konkreten Schritte erforderlich sind. Wichtig ist, dass diese Handlungsideen so aufbereitet werden, dass sie in die Form: »Wenn x, dann Verhalten y« gebracht werden. Denn dann können sie in einer ähnlichen Situation leichter wirksam werden. Wenn bemerkt wird, dass nichts geändert werden kann, stellt sich die Frage, ob die Ziele realistisch sind. Es fällt dann relativ leicht, auf überzogene Ziele zu verzichten. Oft werden die Hindernisse leichter bewusst, wenn man sich fragt, welche Bedürfnisse eigentlich mit dem störenden Verhalten befriedigt werden sollen. Dann wird sofort klar, dass die Bedürfnisse nur unzureichend erfüllt werden und besseres Verhalten angezeigt ist.

Das Kontrastieren kann auch bei momentanen Entscheidungsunsicherheiten, bei Zweifeln, bei aktuellem Unwohlsein u. Ä. angewandt werden. Die einfache Frage, was mich hindert, sicher zu sein oder mich wohl zu fühlen, motiviert direkt zum Handeln. Gabriele Oettingen hat die Erfahrung gemacht, dass diese einfache Methode wie eine kognitive Selbstprogrammierung wirkt, »die Sie wie eine unsichtbare Hand durch den Tag geleitet. Ihr Nicht-Bewusstes war am Werk und hat für mühelose Veränderungen gesorgt. Sie werden bemerken, dass Sie ganz leicht neue Gewohnheiten entwickeln können, obwohl Gewohnheiten sonst viel Übung brauchen, um Wurzeln zu schlagen.« (Oettingen S. 215). Oettingen bietet keine Erklärung für die scheinbar magische Wirkung der Methode an. Stattdessen wird immer wieder der Begriff der Selbstregulation benutzt.

Aus der Sicht der Mustertheorie ist die erstaunliche Wirkungsweise dieser Methode damit zu erklären, dass durch die Frage nach den Hindernissen ein virtuelles Handeln ausgelöst wird. Der Kontrast zwischen den persönlichen Zielen und den wahrgenommenen Hindernissen löst eine automatische Suche nach besseren Handlungsmustern aus. Die spontan gefundenen Lösungen sind mit Gefühlen verbunden, so dass man motiviert wird, sie auch anzuwenden. Ohne dass man es sich bewusst vornehmen muss, fließt die Lösung in das Handeln ein. Die Methode macht sich den Mechanismus zunutze, dass man sich praktisch selbst programmiert, wenn etwas als sehr bedeutsam erlebt wird. Wer sich also vornimmt, eine Gewohnheit zu verändern, verfolgt im Grunde genauso spontan diesen Plan, wie sich seine Gedanken einstellen.

Die Frage nach den Hindernissen ist im Grunde die Frage nach den Bedürfnissen, die eigentlich erfüllt werden sollten und die Frage nach der Bereitschaft, sich den Erwartungen und Anforderungen der anderen zu unterwerfen. Wenn erkannt wird, dass sich das Verhalten gegen die eigenen Bedürfnisse gestellt hat, wird das Gefühl der Trauer ausgelöst. »Wenn wir unser Bewußtsein auf das richten, was wir brauchen, dann werden wir auf ganz natürliche Weise angeregt, all die kreativen Möglichkeiten ausfindig zu machen, die unser Bedürfnis erfüllen können.« (Rosenberg 2011 S. 152)

Die Erfahrung zeigt, dass offene Fragen der Schlüssel für unerledigte Probleme, Kontaktschwierigkeiten mit anderen Menschen oder unerfüllte Träume sind. Ernst gemeinte Fragen an sich selbst stoßen das innere Denken genauso an, so wie dies Fragen von Eltern oder Freunden tun. Das liegt daran, dass sie im Grunde Handlungsaufforderungen darstellen, die entweder befolgt oder zurückgewiesen werden. Die unerledigten Probleme haben bereits in sich die Dynamik, immer wieder durch innere Unruhe, Vermeidungsängste u. a. daran zu erinnern. Da sie aus unabgeschlossenen Handlungen stammen, drängen sie – wie die Gestalttherapie erkannt hat – auf Vollendung. Durch offene Fragen wird diese Dynamik unterstützt.

Eine ähnliche Wirkung kann mit dem Tagebuchschreiben erreicht werden. Die Erfahrung zeigt, dass Sprechen und Schreiben hervorragende therapeutische Mittel sind, um Ängste und Verletzungen zu überwinden (Schramm S. 245). Allerdings ist unklar, worauf die Kraft der Wörter basiert. Vermutlich hängt sie primär damit zusammen, dass beim Erzählen und Schreiben frühere Handlungen noch einmal nachvollzogen werden. Es kann dabei bewusst werden, an welchen Punkten man falsche Entscheidungen getroffen hatte und was man künftig besser machen könnte. Es stellen sich Fragen, die die Bedeutung einzelner Aspekte der Handlungssituation bewusst machen und so das Denken anstoßen. Die Handlung wird spontan mit anderen Erfahrungen in Zusammenhang gebracht. Die Gefühle, die damals abgespalten wurden, können jetzt wieder mit der Geschichte verbunden werden, in der sie entstanden sind. Die Handlung, die vorher in einzelne Fragmente auseinander gefallen war, wird in einen stimmigen Zusammenhang gebracht. So kann das Gefühl entstehen, dass man die Handlung, die ursprünglich blind abgelaufen ist, jetzt kontrollieren kann. Das Ergebnis kann sein, dass Handlungsmuster korrigiert werden. Daraus ergibt sich die Hypothese, dass Erzählen und Schreiben eine therapeutische Potenz haben, weil sie die Selbstkorrektur des Handelns anstoßen.

Neben der Frage nach den Hindernissen muss auch geprüft werden, ob die Gewohnheiten aus spielerischer Freude heraus erfolgen, also gern getan werden. Die Erfahrung zeigt, dass allen Handlungen die Leichtigkeit fehlt, die aus Pflicht, für Belohnungen von außen, zur Vermeidung von Schuld, Scham und Strafe oder wegen Erwartungen anderer getan werden. Denn sie werden letztlich nicht um der eigenen Bedürfnisse willen getan. Die Gewohnheiten müssen so verändert werden, dass sie mit den Bedürfnissen verbunden sind. Marshall Rosenberg vertritt die These, dass alle Handlungen, die unseren Bedürfnissen dienen, als erfreulich erlebt werden, auch wenn sie harte Arbeit, Herausforderung oder Frustration mit sich bringen (Rosenberg 2011 S. 157). »Ich lege Ihnen wärmstens ans Herz, Ihren inneren Entscheider davon zu überzeugen, niemals irgendetwas aus einem der folgenden Gründe zu tun: für Geld, für Liebe, für Anerkennung, um Strafen zu vermeiden, aus Schuldgefühlen, aus Pflichtgefühl. Das meine ich, wenn ich sage: Tu nichts, das nicht leicht ist.« (Rosenberg 2012 S. 40)

Es ist nicht unbedingt erforderlich, dass der Blick in die eigene Vergangenheit gerichtet wird, in denen sich die Verhaltensmuster gebildet haben und dass bewusst wird, welche emotionalen Verletzungen sie verursacht haben. Die Veränderung gelingt nicht leichter, wenn man zu den Wurzeln in der Kindheit zurückgeht. Bereits beim Blick auf das gegenwärtige Verhalten kann deutlich werden, welche Verhaltensmuster verändert werden müssen. Es ist auch nicht erforderlich, dass man alle seine Handlungsmuster vollständig kennt. Wenn man in Situationen gerät, in denen man sich überfordert fühlt, wird man bei ausreichendem Selbstvertrauen genau wissen, wo die eigenen Grenzen liegen.

Neue Verhaltensmuster werden am besten zu neuen Gewohnheiten automatisiert, wenn sie an feste Auslösereize gebunden werden (Duhigg S. 328). Das kann ein bestimmter Zeitpunkt im Tagesablauf, eine bestimmte Aktivität oder ein sich wiederholendes Ereignis sein. Damit sich schnell ein Erfolgserlebnis einstellt, sollte man sich konkrete Handlungen vornehmen und zunächst nur mit kleinen Schritten experimentieren. Wie William James betont hat, sollte man in der Lernphase unter keinen Umständen Ausnahmen zulassen (James Kapitel X). Später sind Ausnahme gerade gut, um die Flexibilität der Gewohnheiten zu erhöhen.

Daraus ergeben sich drei Metagewohnheiten, auf die man sich vor allem konzentrieren muss, damit sich neue Gewohnheiten bilden können und bestehende immer wieder verflüssigt werden.

1. Die Achtsamkeit für Impulse stärken, die darauf hinweisen, dass bestehende Gewohnheiten verändert werden müssen. Dann können bereits geringfügige Störungen Veränderungen anstoßen.

2. Sich fragen, was die Änderung einer Gewohnheit behindert.

3. Neue Gewohnheiten bewusst an feste Auslösereize binden und so lange üben, bis sie selbstverständlich geworden sind. In der Anfangsphase dürfen keine Ausnahmen zugelassen werden.

Aus diesen Metagewohnheiten entsteht eine Selbstorganisation der Gewohnheiten, die automatisch einsetzt, sobald Indizien dafür sprechen, dass Gewohnheiten verändert werden müssen. Denn Gewohnheiten verändern sich entweder von innen heraus, weil man mit ihren Ergebnissen nicht mehr zufrieden und in eine Krise geraten ist, oder weil man in Kontakt mit anderen Handlungsweisen gekommen ist, die versprechen, dass damit das mit der ursprünglichen Gewohnheit angestrebte Ziel effizienter erreicht werden kann. So wie in der Evolution der Lebewesen vor jeder neuen Entwicklungsstufe eine Krise stand, so muss auch individuellen Veränderungen eine Krise vorausgehen. Das bedeutet, dass Gewohnheiten niemals vorsätzlich, d. h. bewusst verändert werden können, sondern dass jede Veränderung einen äußeren oder inneren Anstoß voraussetzt.

Deshalb ist der Ratschlag, sich von all seinen alltäglichen Routinen zu verabschieden, eine törichte Lebensweisheit. So wenig wie man sich vornehmen kann, spontan zu sein, so wenig kann man seine Gewohnheiten vorsätzlich ändern. Man kann sich natürlich bewusst vornehmen, etwas Neues zu tun, um damit zu demonstrieren, dass man fähig ist, von seinen Gewohnheiten abzuweichen. Man wird aber sofort wieder in die alte Routine zurückfallen, wenn der bewusste Vorsatz verblasst ist.

Wer erfahren hat, dass Gewohnheiten sich von selbst verändern, wenn sie aufmerksam beobachtet und befragt werden, wird das Vorurteil, dass Gewohnheiten ein Gefängnis sind, aufgeben. Wenn die Gewohnheiten als das Rückgrat der persönlichen Identität bejaht werden, müssen sie nicht länger ängstlich aus dem Bewusstsein ausgeblendet werden. Sie können als Schutzmaßnahme gegenüber den eigenen Ängsten akzeptiert werden. Da die Gewohnheiten die Funktion haben, das Handeln unbewusst zu steuern, ist es nicht möglich, sich einen vollen Überblick darüber zu verschaffen und sie alle vollständig ins Bewusstsein zu heben. Es kommt vielmehr darauf an, die Achtsamkeit für dysfunktionale Gewohnheiten zu stärken und zu lernen, wie viel Bereitschaft darin enthalten ist, sich den Erwartungen und Bedürfnissen der anderen anzupassen.

Die Selbsterkenntnis wird häufig darauf gerichtet, welche allgemeinen Ziele im eigenen Leben verfolgt werden. Dazu zählt die Reflexion auf die allgemeinen Ziele wie Glück, Zufriedenheit, Erfolg, Gelassenheit, Achtsamkeit u. Ä. Letztlich ist aber dieses Wissen nicht bedeutsam, da man sein Handeln sowieso nicht daran orientiert. Allgemeine Ziele sind nur Abstraktionen, die aus dem konkreten Handeln abgeleitet wurden, oder sie wurden unreflektiert von anderen Menschen übernommen. Der einzige Weg, seine echten Ziele zu erkennen, besteht darin, sein konkretes Handeln unter dem Gesichtswinkel zu analysieren, welche Ziele sich darin ausdrücken. Denn die Ziele, die sich spontan einstellen, sind immer sehr konkret. Insofern ist die Vorstellung irreführend, dass man sein Handeln an allgemeinen Handlungsgrundsätzen orientieren kann. Wenn es gelingt, seine alltäglichen Gewohnheiten so zu modifizieren, dass man mit relativ wenig Angst leben kann, werden sich die persönlichen Handlungsziele von selbst verwirklichen.

Selbsterkenntnis wäre nicht nötig, wenn man immer schon beim Handeln die spontane Selbstreflexion zulassen könnte. Man würde sich dann im Idealzustand befinden und im Denken und Handeln voll vom Schatz der eigenen Erfahrungen gelenkt werden. Dies ist leider niemals der Fall, weil viele Erfahrungen aus traumatischen Erlebnissen stammen und häufig von unbewussten Gefühlen angetrieben werden.

Das Ergebnis dieser Überlegungen besteht darin, dass das Ziel der Selbsterkenntnis nicht Selbstbestimmung (Autonomie) ist. Die Idee der Selbstbestimmung hält an der irrigen Ansicht fest, dass die Entscheidungen vom Subjekt bzw. Selbst getroffen werden. Sie kann nicht gelingen, da alle Kriterien, an denen konkrete Entscheidungen gemessen werden könnten (z. B. Vernunft, Selbstbild, wahres Selbst, innerer Kern, Lebensplan u. Ä.), diffus und unbestimmt sind. Richtiges Handeln besteht darin, dass man sich von seinen Verhaltensmustern bestimmen lässt. Man handelt spontan so, dass das eigene Verhalten nachträglich uneingeschränkt akzeptiert werden kann. Es wäre irreführend, solches Verhalten als selbstbestimmt aufzufassen, da es gerade nicht von einer inneren Instanz bestimmt wird.

Das Ziel der richtig verstandenen Selbsterkenntnis besteht darin, dass die Fähigkeit der flexiblen Anpassung entwickelt wird. Das bedeutet, dass alle Blockaden beseitigt werden müssen, die die automatische Selbstreflexion des eigenen Handelns behindern. Das Ziel ist eine Organisation des eigenen Lebens, die das Lernen und die Verarbeitung von Erfahrungen zur Steigerung der Effizienz des eigenen Handelns unterstützt. Die fortlaufende Selbstreflexion ist nichts Anstrengendes, sondern Teil des Interesses und der Freude am eigenen Verhalten.

Daraus folgt ein Verständnis des Handelns, das mit dem Begriff der Gelassenheit umschrieben werden könnte und das dem taoistischen Nicht-Handeln entspricht. Gelassenheit liegt vor, wenn darauf verzichtet wird, in spontan ablaufende Prozesse einzugreifen. Da das Eingreifen in der Regel von Angst gesteuert wird, stellt sich Gelassenheit ein, wenn man frei von Angst handelt. Gelassenes Handeln ist von Selbstvertrauen getragen. Selbstvertrauen gibt ein Gefühl der Ruhe und Sicherheit. »Ich muß sagen, daß es mir ein Gefühl der Ruhe gibt. Es gibt jede Menge Dinge, um deren Kontrolle ich mir keine Sorgen zu machen brauche, weil ich weiß, daß ich in Wirklichkeit nur ein kleines Fenster in einem wunderbaren Apparat bin, der alles mögliche erledigt. Es gibt mir auch, ich will nicht sagen ein Gefühl der Unausweichlichkeit, aber vielleicht ein Gefühl der Richtigkeit in bezug auf meine Verhaltensweisen - in dem Sinne, daß ich nicht jede davon wählen muß; ich muß mir nicht um jede Kleinigkeit Sorgen machen; es wird schon laufen, und es ist mein ganzes Leben lang gut gelaufen, wenn man dem Apparat nur die Möglichkeit gibt, seine Arbeit zu machen.« (Wegner, in Blackmore S. 356).

4.2. Denken – Fragen stellen

»Durch bloßes logisches Denken vermögen wir keinerlei Wissen über die Erfahrungswelt zu erlangen; alles Wissen über die Wirklichkeit geht von der Erfahrung aus und mündet in ihr.« (Albert Einstein)

Es scheint ein Widerspruch zu sein, dass einerseits die Gedanken spontan auftauchen, dass sie aber andererseits auch bestimmt werden können. Dieser Eindruck basiert auf einer Täuschung. Der Widerspruch entsteht durch, dass man sich von der grammatikalischen Sprachform verwirren lässt. Wenn gesagt wird, dass Gedanken auftauchen, darf damit nicht der Gedanke assoziiert werden, dass die Gedanken von fremden Kräften determiniert werden. Wie gezeigt wurde, ergeben sich die Gedanken auf dem Boden aller bisherigen Erfahrungen und Präferenzen, so dass sie ohne weiteres begründet werden könnten. Deshalb gilt, dass die Menschen ihre Gedanken selbst bestimmen, auch wenn sie sich spontan einstellen. Die Menschen sind deshalb auch bereit, die Verantwortung für ihre Gedanken zu übernehmen. Sie wissen, dass ihre Gedanken davon abhängen, wie auf frühere Erfahrungen reagiert wurde. Erfahrungen werden zum Anlass genommen, sie zu reflektieren und damit die dahinter stehenden Muster zu korrigieren. Wenn die Verantwortung abgelehnt werden würde, würde dies bedeuten, dass die eigenen Gedanken verleugnet werden.

Wenn man vor einem Problem steht, besteht der beste Weg, zu einer kreativen Lösung zu kommen, darin, dass zunächst alle Lösungswege durchgegangen werden, die als Erstes einfallen. Bei neuen Problemen ist Misstrauen gegenüber allen schnellen Lösungen erforderlich. Denn im Grunde kann man noch nicht über die richtige Lösung verfügen, weil für das neue Problem noch kein passendes Muster entwickelt wurde. Deshalb wäre es auch falsch, sich in Stress zu versetzen: Warum fällt mir nichts Gescheites ein? Am Besten ist es, das Problem erst einmal ruhen zu lassen und sich durch etwas anderes ablenken lassen. In Pausen stellt sich meistens von selbst eine bessere Lösung ein.

Die Qualität des Denkens hängt von der Qualität der Muster ab, die aus den eigenen Erfahrungen abgeleitet wurden. Das Denken wird am besten dadurch gefördert, dass in vielfältigen Aktivitätsfeldern (berufliche, soziale, musikalische, handwerkliche Probleme u. a.) eigenständig Probleme gelöst werden. Durch die intensive Beschäftigung mit konkreten Problemen bilden sich Muster, die bei neuen Problemen zu Rate gezogen werden können.

Das Geheimnis produktiven Denkens liegt im richtigen Fragen. Die Fragen müssen offen gestellt sein. Sie müssen sich aus einem praktischen Problem heraus ergeben. Die Antworten stellen sich intuitiv ein, vorausgesetzt natürlich, dass man sich ausreichend mit einem entsprechenden Thema beschäftigt hat. Die häufig zu hörende Empfehlung, sich von den Dingen anrühren zu lassen (z. B. Renn S. 110), setzt natürlich optimale Kenntnisse und Fähigkeiten voraus. Antworten, die nicht mit einem Aha-Erlebnis verbunden sind, können übergangen werden. Es ist ratsam, sich immer wieder dem diffusen Gesamteindruck zuzuwenden, bis eine überzeugende Antwort auftaucht (vgl. Kap. 2.5.).

Es muss ein Gespür für den Unterschied zwischen problemorientierten und praxisrelevanten Fragen einerseits und Pseudofragen andererseits geschaffen werden. Praxisrelevante Fragen erzeugen Antworten, die zeigen, was getan werden muss bzw. zu lassen ist, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Diese Antworten werden von Verben geprägt! So verlangt die Frage, wie die Kreativität des Denkens verbessert werden kann, nach praktisch umsetzbaren Methoden. Wenn hingegen eine Definition (z. B. »Was ist Glück?«) verlangt wird, oder wenn der Zusammenhang zwischen zwei Allgemeinbegriffen (z. B. »Was ist der Unterschied zwischen Freiheit und Determinismus«) bestimmt werden soll oder wenn nach dem Wesen einer Sache gefragt wird (z. B. »Was ist Gerechtigkeit?«), liegen mit Sicherheit Pseudofragen vor, die letztlich nicht beantwortet werden können. Solche sinnlosen Fragen, die durch die missbräuchliche Verwendung der Sprache entstehen, müssen in praxisrelevante Fragen umformuliert werden. So muss es z. B. statt der Frage »Was ist Glück?« heißen: »Was behindert mich, glücklich zu sein?« Zur Beantwortung dieser Frage braucht man keine Definition des Glücks. Jeder versteht auch ohne Kenntnis der philosophischen Definition des Glücks die Frage, während die abstrakte Frage ratlos macht. Bei einer praxisbezogenen Frage weiß man gleich, in welcher Richtung gesucht werden muss. Pseudofragen hantieren mit Begriffen, die keinen direkten Bezug zum konkreten Handeln haben.

Alle Gedanken werden als Einfälle oder Intuitionen erlebt. Es ist nicht erfahrbar, auf welchem Wege sie zustande gekommen sind. Sie werden wie unerwartete Geschenke empfangen. Es besteht deshalb kein Anlass, sich für seine Gedanken selbst zu loben oder sogar stolz darauf zu sein. Was einem geschenkt wird, kann man sich nicht als Verdienst anrechnen. Da man sich selbst beschenkt hat, erscheint auch das Gefühl der Dankbarkeit nicht passend zu sein.

Auf jeden Fall wird der Beschenkte die Gedanken nicht mit einem Wahrheitsanspruch verbinden. Woher soll er die Gewissheit nehmen, dass die Gedanken wahr sind? Gedanken sollen helfen; wenn sie es nicht mehr tun, können sie ohne weiteres fallen gelassen werden. Wer Gedanken als Geschenke erfährt, entwickelt eine skeptische Haltung gegenüber allen Gedanken von anderen Menschen, vor allem gegenüber sogenannten Lebensweisheiten. Er wird ihnen erst vertrauen, wenn er ihre Kraft im eigenen Handeln erfahren hat. Geschenkte Gedanken werden nicht mit aller Energie verteidigt. Der eingangs zitierte Spruch von Goethe bringt das Verhältnis von Denken und Handeln auf den Punkt: Handeln und Denken bedingen sich wechselseitig. Aber das Handeln hat Priorität, da der Wert von Gedanken nur durch das Handeln geklärt werden kann. Der häufig zu hörende Appell »Denke nicht, handle!« ist nicht in dem Sinne zu verstehen, dass man blind, d. h. ohne sorgfältige Vorbereitung handeln soll. Er richtet sich gegen das grübelnde, nicht zu Ende kommende, zögerliche Abwägen, das nie zum Handeln findet.

Lebensweisheiten und Gedanken anderer können nur ins eigene Handeln übernommen werden, wenn die ihnen zugrundeliegende Erfahrung bereits selbst gemacht wurde. Nur dann kann sich ein Muster bilden, mit dem das eigene Handeln angeleitet werden kann. Das bloße Lesen von Lebensweisheiten kann die lebendige Erfahrung nicht ersetzen. Auch durch Nachdenken darüber gelangt man nicht dazu. Und wenn sie auswendig gelernt werden, bleiben sie fremde Worthülsen. Sie führen dazu, dass man sich nicht mehr ehrlich beobachtet, sondern sich etwas vormacht. Man täuscht sich darüber hinweg, dass das eigene Verhalten nach wie vor von Angst geprägt wird. So glaubt man authentisch zu sein, weil man immer wieder gelesen hat, dass mit authentischem Verhalten mehr erreicht werden kann. Mit angelernten Lebensweisheiten macht man sich bloß ein schlechtes Gewissen, da man immer wieder feststellen muss, dass man sie immer noch nicht verwirklicht hat.

So kann z. B. die Lebensweisheit, dass das Leben so betrachtet werden sollte, als ob alles vorherbestimmt sei, nur dann in eine neue Denkgewohnheit umgewandelt werden, wenn man bereits die Erfahrung gemacht hat, dass es zwecklos ist, etwas ändern zu wollen, was man nicht in der Macht hat und gegen das aufzubegehren, was man nicht ändern kann. Man muss erfahren haben, dass dabei viel Energie verbraucht wird und es letztlich zu Unzufriedenheit und Resignation führt. Es ist nutzlos sich vorzunehmen, sich dem Willen Gottes, dem Schicksal zu fügen und alles zu akzeptieren. Aus der Einsicht in den Sinn dieser Lebensweisheit folgt noch lange nicht, dass sie in kritischen Situationen angewandt wird.

Es ist ebenso zwecklos, sich vorzunehmen, die neue Denkgewohnheit aufzubauen, mit seinem Leben zufrieden zu sein, so wie es immer wieder als zentrale Lebensweisheit verkündet wird. Zufriedenheit mit dem Leben ist ein Gefühl, das auf spontanen Bewertungen basiert. Sie kann nicht vorsätzlich und aus Einsicht »eingeschaltet« werden. Deshalb ist es illusorisch, daraus ein persönliches Handlungsprinzip zu machen.

Die Lektüre philosophischer Lebensweisheiten ist nicht nur überflüssig, sondern sogar schädlich, weil allzu leicht das Reflektieren der eigenen Erfahrungen versäumt wird. Lebensweisheiten lassen vergessen, dass niemand mit Hilfe von Einsichten anderer sein Leben verändern kann. Außerdem wird unterschlagen, dass die entsprechenden Lebensweisheiten von einzelnen Menschen unter bestimmten persönlichen und historischen Bedingungen aus Erfahrungen abgeleitet und verallgemeinert wurden.

Bei den Lebensweisheiten geht es also nicht darum, ob sie richtig oder falsch sind, sondern ob sie den eigenen Lebenserfahrungen entsprechen. Die Lektüre von philosophischen Lebensweisheiten bringt bestenfalls eine Bestätigung von vorgefassten Überzeugungen. In der Praxis werden philosophische Texte meistens nicht dafür benutzt, seinem Verhalten eine neue Orientierung zu geben, sondern um die Einstellungen, die sich spontan herausgebildet haben, die aber als suboptimal bewertet werden, zu rechtfertigen und ihnen einen Sinn zu geben. So lesen viele Menschen die Werke von Arthur Schopenhauer primär deshalb, weil sie in seinen Werken eine scheinbar rationale Begründung ihrer pessimistischen Grundeinstellung finden. Es wird praktisch die Theorie gewählt, die am besten zu den persönlichen Handlungsmustern und Einstellungen passt. Damit wird der innere Impuls unterdrückt, der eigentlich zur eigenständigen Lösung dysfunktionaler Verhaltensmuster auffordert. Lebensweisheiten scheinen hilfreich zu sein, sie sind aber höchst kontraproduktiv, da alle Anstrengungen unterbleiben, die bei emotionalen Verletzungen entstandenen Ängste zu bewältigen. Das Leiden wird chronifiziert. Man entmündigt sich selbst. Die Philosophie wird so zur Legitimation dysfunktionaler Lebensmuster missbraucht. In Abwandlung einer Formulierung von Karl Marx sind philosophische Texte Opium für emotional verletzte Intellektuelle. Handlungsfähige Menschen brauchen keine Philosophie.

Man darf nicht vergessen, dass alle Theorien, Weltbilder und Lebensanschauungen bereits bei denjenigen, die sie erstmalig ausformuliert haben, eine legitimatorische Funktion haben. Dabei gibt es keinen Unterschied zwischen den Auffassungen von Priestern und Philosophen. Die Produzenten von Lebensanschauungen glauben in der Regel daran, Wahrheiten auszudrücken, aber letztlich wird nur behauptet, dass bestimmte Einstellungen und Verhaltensweisen legitim sind und gefordert, dass andere ihr Leben damit organisieren. Ihr Angebot ist eine Antwort auf das Bedürfnis nach Orientierung, das massenweise entstand, als in Herrschaftsverbänden, die historisch durch die Entwicklung der Sprache, des Handels und des Geldes begünstigt wurden, Menschen zu Gehorsam und Unterwürfigkeit erzogen wurden. Kann der dadurch entstandene Mangel an autonomer Handlungsfähigkeit durch Weisheitskonzepte kompensiert werden? Das kann natürlich nicht gelingen, da die anerzogene Hilfsbedürftigkeit dadurch eher noch verstärkt wird. Insofern gilt auch für die philosophische Lebenshilfe das Prinzip, dass Hilfe abhängig macht.

Aus dieser Sicht können philosophische Texte nie mehr als persönliche Empfehlungen sein, bestimmte Einstellungen und Verhaltensweisen auszuprobieren. Wenn sie so tun, als ob sie ewige Wahrheiten darstellen würden, täuschen sie darüber hinweg, dass sie von ganz bestimmten Prämissen und Werten ausgehen. Da diese Werte bestimmte Lebensverhältnisse widerspiegeln, sind philosophische Texte nicht mehr als deren Symptome. Zu Recht weist Rudolf Carnap darauf hin, dass metaphysische Texte nichts mit Wahrheit zu tun haben, sondern bloß ein bestimmtes Lebensgefühl ausdrücken (Carnap S. 104).

Der eigentliche Grund, warum philosophische Texten keine Lebenshilfe leisten können, besteht darin, dass das Verhalten nicht aus Einsicht verändert werden kann. Wie oben dargestellt, setzt jede relevante Verhaltensänderung einen emotionalen Anstoß von außen voraus und verlangt, dass eine gewisse Bereitschaft zur Veränderung vorhanden ist. Philosophische Texte haben zusätzlich den Nachteil, dass sie keine personale Autorität besitzen, die das Fehlen persönlicher Anstöße von außen ausgleichen könnte, wie dies bei religiösen Texten eher der Fall ist.

Das Prinzip des Lernens durch Selbsthilfe gilt im Grunde auch für allgemeine Lebensprobleme. So wie Kinder, denen alle schwierigen Aufgaben abgenommen werden, kein Selbstvertrauen entwickeln, solche Aufgaben aus eigener Kraft bewältigen zu können, so kann auch nicht die Fähigkeit entwickelt werden, psychisches Leiden zu bewältigen, körperliche Schmerzen zu ertragen oder mit der Angst vor dem Tod fertig zu werden, wenn man sich an angelesene Schulweisheiten klammert. Ratschläge von außen können hilfreich sein; sie müssen aber zunächst ausprobiert werden. Besser ist es, wenn man spontan versucht, eigenständig passende Strategien zu entwickeln.

Aus diesen Überlegungen folgt die Empfehlung, seinen eigenen Erfahrungen zu trauen und alle Gedanken anderer daraufhin zu überprüfen, ob sie den eigenen Erfahrungen und Bedürfnissen entsprechen. Der traditionelle Rat, selber zu denken, ist irreführend, da er eher dazu anhält, sich geistigen Autoritäten zu unterwerfen. Wer begriffen hat, dass das Denken jenseits der Sprache stattfindet, ist dagegen gefeit. Der Verzicht auf das Ich führt zu einem entspannten Verhältnis zu den eigenen Gedanken, da die narzisstischen Vorstellungen von Wahrheit und Verdienst fallen gelassen werden können.

4.3. Gefühle spüren – freundlich mit sich umgehen

»Wer handelt, den braucht man nicht länger behandeln.« (Klaus Mücke)

Aus der Analyse der Gefühle im Kap. 2.8. folgt, dass sich die Gefühle zwar spontan einstellen, dass ihnen aber die persönliche Entscheidung zugrunde liegt, in bestimmten Situation auf eine bestimmte Weise zu reagieren. Gefühle werden so artikuliert, wie man es in seinen emotionalen Reaktionsmustern festgelegt hat.

Aus dieser Analyse folgt, dass es falsch wäre, die eigenen Gefühle zu verurteilen oder abzuwerten. Genauso wenig darf anderen Menschen dafür die Schuld zugewiesen oder von ihnen Vergebung erwartet werden. Das bedeutet auch, dass die Verantwortung für die eigenen Gefühle nicht auf andere Mächte verschoben werden darf, wie z. B. auf die Eltern, das Schicksal oder den Teufel. Vielmehr ist es zweckmäßig, davon auszugehen, dass man sich dafür auf einer tieferen, unbewussten Ebene entschieden hat. Im Grunde hat man sich selbst dafür entschieden, verärgert, gelangweilt oder deprimiert, fröhlich, neugierig oder mutig zu sein.

Es ist ein Vorurteil, dass man gegenüber seinen Gefühlen ohnmächtig ist. Die Erfahrung der Traumatherapie zeigt, dass es ohne weiteres möglich ist, sich mit den eigenen Gefühlen zu konfrontieren und störende Verhaltens- und Reaktionsweisen zu verändern. Es kommt nicht darauf an, sich von seinen Gefühlen zu distanzieren, sondern ein angemessenes Verhältnis zu ihnen einzunehmen, das darin besteht, für sie Verantwortung zu übernehmen. Die sogenannten negativen Gefühle sind als Signale für ungelöste Probleme zu betrachten. Sie weisen auf unbewältigte Ängste hin. Es ist die Frage zu stellen, warum man sich für sie entschieden hat. Mit welchen traumatischen Erfahrungen hängt die negative Einstellung zu zusammen? Sind die damit verbundenen Ängste noch berechtigt? Warum macht man sich zum Opfer? Warum kann man die negativ bewerteten Gefühle nicht akzeptieren? Ihre Auflösung setzt voraus, dass deutlich wird, dass man sich mit den gewählten Handlungsmustern vor verletzenden Situationen schützt, dass sie aber das zugrundeliegende Problem (mangelnde Zuwendung, Ablehnung, Missbrauch, Demütigung u. a.) letztlich nicht lösen können. Das emotionale Gleichgewicht kann nur wiederhergestellt werden, wenn alle Ängste integriert werden und vor allem erkannt wird, dass die Ängste mit der Unterwerfung unter die Anforderungen und Erwartungen anderer Menschen zu tun haben.

Psychologen haben entdeckt, dass der Kontakt zu den eigenen Gefühlen verbessert werden kann, wenn man sich ihnen so zuwendet, wie man sich guten Freunden zuwendet, die unglücklich sind und leiden: aufmerksam zuhören, sein Leid mitfühlend zur Kenntnis nehmen, fürsorglich handeln. Das bedeutet, dass die Gefühle zur Kenntnis genommen werden, auch wenn sie Angst und Unbehagen auslösen. Sie wirken nur bedrohlich, weil versucht wird, sie abzuwehren, zu dämonisieren oder zu ignorieren. So wie Trost das Leiden von anderen vermindern kann, so kann Trost, den man sich selbst zuspricht, zur Linderung psychischen Leidens beitragen. Wenn sich nach einem Missgeschick Stimmen der Selbstkritik und Selbstabwertung melden, kann man sich selbst Empathie geben. Der psychische Schmerz, der sich in der Selbstkritik ausdrückt, wird zugelassen und achtsam wahrgenommen. Mitgefühl mit sich selbst heißt, das eigene Leiden und den Schmerz über die eigene Schwäche zu erleben, anstatt sie zu ignorieren. Es geht überhaupt nicht darum, darauf zu achten, wie man künftig den Fehler vermeiden kann. Es genügt, wenn man sich mit seinem Leiden verbindet, ohne sich zu kritisieren oder abzuwerten. Das Mitgefühl mit sich selbst verhilft von selbst zu klaren Vorstellungen, was verändert werden könnte. Es fördert die Motivation zu Veränderungen, ohne dass man sich das vorzunehmen braucht.

Für den Fall, dass man andere Menschen verletzt hat, kann man sich zusätzlich zum Selbstmitgefühl das eigene Fehlverhalten vergeben. Vergeben heißt, sich als schwaches, fehleranfälliges Wesen zu akzeptieren, auf jegliche Selbstbestrafung zu verzichten und sich von jeder Schuld freizusprechen. Es ist sehr wichtig, dass alle Gefühle der Schuld, der Wut, des Ärgers und des Selbstmitleids losgelassen werden, da sie das Denken und Fühlen an die Vergangenheit binden und verhindern, dass man sich für die aktuellen Probleme öffnet und nicht weiter von unerledigter Schuld blockiert wird. Das ist kein Selbstbetrug, sondern die einzige Möglichkeit, nach der Verletzung wieder neu anfangen zu können. Wer zur direkten Selbstvergebung nicht fähig ist, kann natürlich auch eine anerkennungswürdige Person imaginieren, die die Vergebung wie ein Priester in der katholischen Kirche ausspricht.

Emotionale Probleme können niemals durch reines Nachdenken gelöst werden. Über Gefühle nachdenken heißt, Alternativen zu den Reaktionsmustern zu finden, die die emotionalen Probleme hervorgerufen haben. Wenn sie in vorgestellten Situationen ausprobiert werden, können die Kontaktgefühle der Liebe, der Zuneigung, des Respekts u. Ä. leichter wirksam werden, da man dabei nicht unter Stress steht, wie dies bei dem ursprünglichen Problem der Fall war. Man kann sich dabei leichter beobachten, wie man seine Beziehungen zu anderen Menschen gestaltet: ob man anderen die Schuld zuweist, ob man sich abhängig macht oder sich an andere klammert, ob man sich vor Liebe und Kontakten fürchtet, ob man andere überfordert, andere erziehen will oder zu hohe Ansprüche stellt u. Ä. Solche dysfunktionalen Muster aufzugeben und durch bessere zu ersetzen, ist im Grunde ein Handeln. Da die Gefühle mit bestimmten Reaktionsmustern identisch sind, können sie nur durch verändertes Handeln transformiert werden. Sie setzen die Entscheidung voraus, nicht länger an den dysfunktionalen Reaktionsmustern festzuhalten.

Wer z. B. dazu neigt, bei Konflikten ins Schweigen zu gehen, braucht nicht unbedingt zu wissen, in welchem Zusammenhang er sich für dieses Muster entschieden hat, wichtiger ist es, künftig in konflikthaften Auseinandersetzungen einfach im Kontakt zu bleiben. Dazu gehört natürlich der Mut, sich der Angst zu stellen, die man früher durch Schweigen unterdrückt hatte. Die Lösung von emotionalen Problemen verlangt demnach ein aktives Umlernen von Handlungsmustern. Das wird erleichtert, wenn die früheren Verletzungen akzeptiert werden und denjenigen, von denen die Verletzungen ausgegangen sind, vergeben wird.

Gefühle kultivieren heißt, solche emotionalen Reaktionsmuster zu entwickeln, die ein harmonisches Zusammenleben mit anderen Menschen ermöglichen. Das drückt sich darin aus, dass man Nähe herstellen kann, ohne Distanz aufzugeben. Respekt und Achtung gegenüber anderen sind ganz selbstverständlich. Weil man die anderen liebt, hat man die Kraft, auftretende Konflikte im Keim zu überwinden. »Und ein solcher Mensch sollte konziliant und tolerant sein. Da er sich seine Wirklichkeit selbst erschafft und konstruiert, muss er mit Fug und Recht auch den anderen zubilligen, dass sie sich die ihre gestalten.« (Watzlawick, in: Pörksen S. 229) So kann eine hohe Sensibilität dafür gelernt werden, dass alle Empfindungen aufgegriffen werden, die auf eine Unverträglichkeit hinweisen.

Die Fähigkeit, sozial verträgliche Reaktionsmuster zu lernen, ist im Grunde auf eine Kultur angewiesen, in der jeder Einzelne einen großen Spielraum besitzt, sein Bedürfnis nach harmonischen Beziehungen zu entfalten. Eine Kultur des Respekts und der Toleranz weiß um die Schwierigkeit, sozial verträgliche emotionale Reaktionsmuster zu entwickeln und zu bewahren. Da die dysfunktionalen Reaktionsmuster eine starke Beharrungstendenz aufweisen, ist geduldiges Üben mit hoher Frustrationstoleranz unerlässlich. Wenn auf diese Weise Ängste bewältigt werden, können sich die Kontaktgefühle wieder im Handeln ausdrücken.

Viele Psychotherapeuten haben die große Bedeutung der Verhaltensaktivierung erkannt. Sie wissen aus Erfahrung, dass neues Handeln neue Gefühle (z. B. Selbstvertrauen) und Überzeugungen (z. B. »ich kann es«) weckt und dass dadurch der Prozess der Selbstveränderung verstärkt wird. Dem liegt die Erfahrung von William James zugrunde, dass Gefühle nicht nur dem Verhalten vorausgehen, sondern auch durch das Verhalten erzeugt werden können (Wiseman S. 79). Wer bewusst lächelt, fühlt sich gleich viel besser. Wer sich beruhigen will, tut so, als ob er ruhig wäre. Wer wütend sein will, handelt so, als wäre er wütend. Dieses Handlungsmuster wird in der Psychologie als das Als-ob-Prinzip bezeichnet. Es beruht darauf, dass die Menschen fähig sind, wie Schauspieler alle Gefühle durch Handeln selbst zu erzeugen. Das Als-ob-Handeln kann deshalb als Start in neue Gewohnheiten genutzt werden. Es liegt allen Verhaltensänderungen zugrunde.

Aus dieser Sicht sind Heilungsversuche mit Psychopharmaka ein Irrweg. Oben wurde argumentiert, dass psychische Symptome Ausdruck eines gestörten Umweltkontakts darstellen. Eine belastende, feindliche Umwelt muss mit emotionalen Erkrankungen erträglich gemacht werden. Der vorbehaltlose Kontakt zu anderen Menschen kann durch Angst eingeschränkt werden. So manifestiert sich z. B. Depression im Gehirn als Mangel an Serotonin und anderen Botenstoffen, aber der Mangel ist nicht die Ursache der Depression, sondern eine Folgeerscheinung davon, dass aufgrund von traumatischen Erfahrungen der Kontakt mit den eigenen Gefühlen und der Realität vermieden wird (Noe S. 12). Da alle Emotionen mit einer Veränderung der chemischen Zusammensetzung der Neurotransmitter im Gehirn einhergehen, ist es nicht weiter verwunderlich, dass psychische Störungen zu chemischen Veränderungen im Gehirn führen. Der Grundirrtum der Psychiatrie besteht in der Annahme, dass die chemische Zusammensetzung des Gehirnstoffwechsels als die Ursache für psychische Störungen betrachtet wird. Zu Recht wird dies als Biologisierung der Psychiatrie kritisiert (Ehrenberg).

Wenn Ängste integriert werden, können sich die Gefühle neu strukturieren. So wie die negativ bewerteten Gefühle sich spontan eingestellt haben, können sie auch wieder von selbst verschwinden. Wenn man fähig ist, in seinen emotionalen Reaktionsweisen kreative Lösungen für frühere Probleme zu sehen, für die man sich entschlossen hat und erkennt, dass die Aufgabe ansteht, für die heutigen Probleme bessere Lösungen zu finden, kann sich Gelassenheit einstellen. Die selbständige Handlungsfähigkeit wird zurückgewonnen. Es ist nicht sinnvoll, für diese Flexibilität die Begriffe Autonomie oder Freiheit zu verwenden, da sie die Abhängigkeiten, die bei jedem Handeln zu beachten sind, ausblenden.

4.4. Sich spüren – meditieren

»Wir sollen nicht aus der Vita activa in die Vita contemplativa fliehen, noch umgekehrt, sondern zwischen beiden wechselnd unterwegs sein, in beiden zu Hause sein, an beiden teilhaben.« (Hermann Hesse)

Die Meditation gilt als der Prototyp des alternativen Bewusstseinszustandes. Sie wird als ein erstrebenswerter Zustand angesehen, der mit Heilwirkungen und mit positiven spirituellen Erfahrungen verbunden wird. Das gemeinsame Merkmal aller meditativen Bewusstseinszustände besteht darin, dass der Blick radikal von der Außenwelt abgewandt wird. Der Blick wendet sich von allen Inhalten ab, die auf die äußere Realität bezogen sind. Das Bewusstsein wird nicht mehr vom Aufforderungscharakter der Gegenstände stimuliert. In der Meditation wird scheinbar eine Welt betreten, in der Erfahrungen gemacht werden können, die nicht von Mustern beeinflusst werden.

Wenn das Bewusstsein von allen auf die äußere Realität bezogenen Inhalten geleert wird, bleiben immer noch die Empfindungen übrig, die mit dem Prozess der Atmung, der Aktivität des Herzens und den Pulsationen in den Körperzellen, also den minimalen Eigenschwingungen des Körpers im Ruhezustand, verbunden sind und die in der kinästhetischen Wahrnehmung bewusst wahrgenommen werden können. Es besteht die Wahlmöglichkeit, die Wahrnehmung des Konzertes der inneren Schwingungen zuzulassen und darin aufzugehen oder weiterhin zu versuchen, auch diese Inhalte aus dem Bewusstsein zu löschen.

In der traditionellen Meditation wird sowohl das Abschalten des Denkens als auch das Ignorieren der inneren körperlichen Schwingungen gefordert. Der buddhistischen Meditation geht es nicht um die Erfahrung der eigenen inneren Schwingungsnatur, sondern um die Beruhigung des Geistes und um esoterische Erfahrungen. Da dieser Bewusstseinszustand im praktischen Alltag eigentlich nicht benötigt wird, braucht es viel Übung, bis es gelingt, die Fixierung auf die außenweltbezogenen Inhalte völlig aufzuheben.

Die in der Meditation erlangten Erfahrungen weichen völlig von normalen Erfahrungen ab. Für ihre Mitteilung gibt es keine geeigneten sprachlichen Begriffe. Deshalb besteht ein großer Spielraum, wie die meditativen Erfahrungen interpretiert werden. Es müssen Begriffe bzw. Muster aus anderen Bereichen herangezogen werden. Normalerweise werden dafür spirituelle Denkmuster verwendet, die sich in der langen Tradition der Meditation herausgebildet haben – der Kontakt mit dem Göttlichen, die Erfahrung des Einsseins mit der Welt, die Auflösung der Getrenntheit des Einzelnen vom All, die Erfahrung des nicht-dualistischem Charakters der Welt u. a. Genauso gut ist es möglich, darin eine Rückkehr in den biologischen Zustand zu sehen, wie es Sartre vorgeschlagen hat (domaine biologique). Deshalb ist die häufig zu hörende Behauptung anzuzweifeln, dass man in der Meditation etwas über die Natur des menschlichen Bewusstseins erfahren könne.

Bei der spirituellen Interpretation wird meistens von Bewusstseinserweiterung gesprochen. Es wird die Vorstellung geweckt, dass das Bewusstsein wachsen und damit das Wohlbefinden gesteigert werden könne. Dabei wird aber nicht an eine gesteigerte Sensibilität für die eigenen inneren Signale und für die Botschaften anderer Menschen gedacht, sondern an das Einssein mit dem Göttlichen, die Aufhebung von Trennungen, die Befreiung von Grenzen, die Transzendierung des Ich, also genau das Gegenteil von differenzierter Wahrnehmung der eigenen Gefühle. Teilweise wird die Vorstellung vertreten, dass das Bewusstsein so ausgeweitet werden kann, dass es das ganze Universum umfasst. Nach den bisherigen Überlegungen ist der Begriff der Bewusstseinserweiterung irreführend, da sich dabei das Bewusstsein gerade von der realen Welt zurückzieht und verengt.

Es stellt sich die Frage, ob überhaupt der Begriff des veränderten Bewusstseinszustandes sinnvoll ist. Er impliziert, dass es ein einheitliches Bewusstsein gibt, das unterschiedliche Formen und Intensitätsgrade annehmen kann. Nach der oben entwickelten Theorie, dass das bewusste Selbsterleben ein Aspekt der Sinnesorgane ist, muss davon ausgegangen werden, dass das innere Erleben davon abhängig ist, welche Sinnesorgane wie intensiv beteiligt sind. Bei der meditativen Selbstversenkung verändert sich demnach nicht das Bewusstsein, sondern rückt bloß die kinästhetische Wahrnehmung, die normalerweise im Hintergrund arbeitet, in das Zentrum des bewussten Erlebens.

Der meditative Bewusstseinszustand zeichnet sich dadurch aus, dass er mit einer tiefen Entspannung der körperlichen Muskulatur einhergeht. Ein weiteres Merkmal ist die innere Ruhe, wobei sie nicht in der Abwesenheit von inneren Erfahrungen besteht, da die inneren Schwingungen und Pulsationen umso mehr das bewusste Erleben bestimmen, je mehr der Blick dauerhaft nach innen gerichtet werden kann. Ruhe bedeutet, dass man nicht mehr durch Ängste beunruhigt wird. Es fällt leichter, im Hier und Jetzt zu leben, weil das Denken, das häufig ängstlich an die Vergangenheit und die Zukunft fixiert ist, unterbunden wird.

Es ist zweifelhaft, ob die im meditativen Bewusstseinszustand erreichte Entspannung auf den Alltag ausstrahlt und dadurch die Ängste bewältigt werden können, die im Alltag das Leben im Augenblick stören oder behindern. Denn innere Unruhe und Ablenkbarkeit können nicht durch den Rückzug in das leere Bewusstsein der Meditation überwunden werden, sondern nur dadurch, dass die Ängste, die sich hinter der Unruhe und den Sorgen verbergen, durch Handeln bewältigt werden. Allein der Abbau von nicht-integrierten Ängsten kann Einschränkungen des Bewusstseins aufheben.

Oben wurde dargestellt, dass es einen alternativen Zugang zur Meditation gibt, bei dem der Fokus auf die inneren Schwingungen des Atems, des Blutkreislaufs und der Zellen gelenkt wird. Bei der Konzentration auf die inneren Schwingungen wird die Selbsttätigkeit der inneren Prozesse wahrgenommen. Der Gedankenfluss versiegt vollständig, wenn man sich von den Schwingungen bewegen lässt. Man befindet sich in einem Zustand, in dem weder Bedürfnisse zum Handeln drängen, noch dass Probleme eine Lösung verlangen. Es handelt sich um Hintergrundsempfindungen, die in jedem Moment des Handelns gespürt werden könnten. Es eröffnet sich die Chance, sich selbst mit bewusster Sensibilität wahrzunehmen. Es wird gespürt, ein natürliches Wesen zu sein.

Es ist ein sehr nützliches Ritual, sich bewusst alle 15 Minuten für kurze Zeit in diesen Bewusstseinszustand zu begeben. Dadurch wird der normale Bewusstseinsstrom unterbrochen. Bei der Rückkehr in den Alltag kann die Gedankenaktivität wieder neu einsetzen und dadurch leichter neue Wege finden. Da die Sensibilität für den eigenen Körper verbessert wird, kann man auch bei den alltäglichen Aktivitäten besser im Kontakt mit sich selbst bleiben. So kann verhindert werden, dass die eigenen Gedanken die Bodenhaftung verlieren. Es wird überflüssig, die Meditation als einen zeitlich längeren Rückzug vom Alltag zu betreiben.

Kann es überhaupt gelingen, die Welt wieder wie am ersten Tag zu erleben? Wahrscheinlich nicht, da die aus Erfahrungen gebildeten Muster nicht einfach ausgelöscht werden können. Der erste Eindruck, den z. B. der Kölner Dom hinterlassen hat, kann nie wieder hergestellt werden. Aber man kann solange bei einem Gegenstand, Begriff oder Satz verweilen, bis er seine scheinbare Vertrautheit verliert und plötzlich das Neue, noch Unbekannte und Besondere wahrgenommen wird. Nur so kann man der Sehnsucht etwas näher kommen, wieder in den Zustand uneingeschränkter Bewusstheit zu gelangen, der allem natürlichen Erleben und Handeln zu eigen ist.

Mit Sicherheit kann der Bewusstseinszustand, die eigentlich mit der Meditation angestrebt wird, nicht mit Drogen oder Psychopharmaka herbeigeführt werden. Solche künstlich erzeugten Bewusstseinszustände sind mit dem Problem verbunden, dass die mit ihnen verbundenen Erfahrungen letztlich fremdbestimmt sind und deshalb nichts über die innere Natur enthüllen. Glückszustände, die durch Psychopharmaka ausgelöst werden, stellen eine Flucht aus dem Alltag her, so wie es auch bei Drogen wie Alkohol oder Rauschmitteln der Fall ist. Es werden keine neuen Fähigkeiten (Handlungsmuster) gelernt, mit denen der Alltag besser bewältigt werden kann. Eher ist das Gegenteil der Fall. Man neigt immer mehr dazu, bei Problemen in künstlich erzeugte Bewusstseinszustände zu fliehen. Es ist problematisch, die künstlich herbeigeführten Zustände mit der Gewinnung von spirituellen Erfahrungen und der Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit zu verteidigen (vgl. z. B. Metzinger Kap. 8). Wie oben argumentiert wurde, vermitteln Erfahrungen in außergewöhnlichen Situationen nicht automatisch spirituelle Erfahrungen, da dies von subjektiven Erwartungen und individuellen Interpretationen abhängt.

Aus der Perspektive der Zellen kommt es letztlich darauf an, dass dem Organismus Raum gegeben wird, sich ungestört zu entfalten. Der Organismus braucht die Chance, sich optimal an die aktuellen Lebensbedingungen anpassen zu können, so dass alle Bedürfnisse zum Zuge kommen. Dies kann nicht durch den Rückzug aus dem Alltag erreicht werden. Vielmehr müssen alle Selbstblockaden, die in Reaktion auf Angst machende restriktive Einflüsse der Umwelt entwickelt wurden, abgebaut werden. Wenn man sich nicht mehr ängstlich auf vertraute Muster fixiert, können immer wieder neue Aspekte der Welt wahrgenommen werden. Der Alltag selbst wird zur Meditation. Die Meditation als ein künstlich herbeigeführter Zustand der Abkehr vom Alltag ist nicht mehr erforderlich.

4.5. Mit sich selber sprechen – achtsam sein

»Es ist eines meiner größten Vergnügen oft und lange mit mir Gespräche zu führen.« (Oscar Wilde)
»Denken ist ein Selbstgespräch der Seele.« (Platon)

Die meisten Menschen führen im Wachzustand fortwährend innere Selbstgespräche, ohne sich dessen meistens bewusst zu sein. Sie kritisieren sich, geben sich Anweisungen, führen Gespräche mit imaginären Personen, motivieren sich, beschimpfen sich, loben sich u. Ä. Das ist keineswegs harmlos. Denn ob man mit sich freundlich oder feindlich umgeht, wirkt sich auf die eigenen Gefühle aus. Wer sich z. B. ständig abwertet, weil er seine hoch gesteckten Ziele noch nicht erreicht hat, verstärkt seine Minderwertigkeitsgefühle und damit die Wahrscheinlichkeit weiteren Scheiterns. Das Problem des inneren Selbstgesprächs besteht darin, dass man sich in der Regel nicht bewusst ist, wie man sich selbst beeinflusst. Da aber das Selbstgespräch aktiv gestaltet werden kann, sollte eine höhere Sensibilität für die Muster, wie man mit sich selbst spricht, ein Ziel der persönlichen Entwicklung sein.

Oben wurde dargestellt, dass man normalerweise so mit sich umgeht, wie man es als Kind erfahren hat. Wer beschimpft worden ist, wenn er Regeln verletzt hat, beschimpft sich selbst in ähnlichen Situationen. Wer von seinem Vater abgewertet wurde, wird ebenso dazu neigen sich abzuwerten, wenn etwas schief gelaufen ist. Das Problem ist, dass in der Regel vergessen wird, dass die Art, wie man sich kritisiert und abwertet, aus der Identifikation mit realen Bezugspersonen stammt und zur unbewussten Gewohnheit geworden ist. Man ist fest davon überzeugt, dass der kritisierende Umgang mit sich selbst nützlich ist, weil er angeblich dazu motiviert, sich zu bessern. Bereits Kinder bilden die Überzeugung, dass Selbstkritik sie davor bewahrt, in Zukunft Fehler zu machen. Schließlich waren auch ihre Eltern davon überzeugt, dass ihre Kritik und Ermahnungen zum Besten für das Kind sind.

Oben wurde dargestellt, dass die Selbstverurteilung das Gegenteil von dem bewirkt, was von ihr erwartet wird. So wenig wie die elterliche Kritik zu besseren Verhaltensmustern führt, so wenig motiviert die Selbstkritik zu Selbstveränderungen. Die Kritik erzeugt lediglich Gefühle der Unzulänglichkeit und Minderwertigkeit. Dadurch wird das Selbstvertrauen, die Probleme im Umgang mit anderen Menschen aus eigener Kraft zu lösen, untergraben. Die inneren Stimmen machen unglücklich, weil man sich für wertlos, unfähig und schlecht hält. Sich selbst zu bestrafen, hat die Wirkung, dass man sich selbst blockiert und erforderliche Veränderungen gerade nicht stattfinden. Es wird nicht gelernt, seine eigenen Schwächen und Unzulänglichkeiten anzunehmen.

Wer das Glück hatte, unter dem Einfluss von fürsorglichen und liebevollen Eltern aufzuwachsen, musste keine inneren Mahner oder Richter verinnerlichen, da er ganz selbstverständlich bestrebt ist, sich die Verhaltensmuster der Vorbilder anzueignen und die persönlichen Muster ständig zu reflektieren, wenn sie sich als untauglich erweisen. Nur wenn Angst im Spiel ist, kommt es zur Ausbildung von kritisierenden und mahnenden inneren Stimmen, die für die Umsetzung der Gebote sorgen.

Wenn kritisierende, demütigende und strafende Introjekte eine blockierende Wirkung haben, sollte es genau so gut möglich, sich mit fürsorglichen und liebevollen Introjekten zu motivieren. Tatsächlich wird dieses Vorgehen von verschiedenen Psychotherapeuten unter dem Stichwort Selbstmitgefühl und Selbstvergebung vorgeschlagen und mit Erfolg praktiziert (vgl. Neff). Die Erfahrung zeigt, dass mit geeigneten Übungen ein konstruktiver innerer Dialog aufgebaut werden kann.

Die Psychologen gehen bei der Analyse des Selbstgesprächs meist von dem Modell aus, dass in jedem Menschen mehrere Teilpersonen wohnen. Sie empfehlen, die inneren Teilpersonen zu personifizieren (der Kritiker, der Richter, der Antreiber, das innere Kind, der Aufpasser, der Buchhalter u. a.) und mit ihnen in eine direkte Auseinandersetzung zu gehen. Dabei soll geprüft werden, ob die Stimmen sinnvolle Forderungen stellen und mit welchen Argumenten man ihnen gegenüber die eigenen Bedürfnisse zur Geltung bringen kann.

Das Modell der inneren Teilpersonen ist kritisch zu betrachten, da es an der problematischen Vorstellung festhält, dass ein Gespräch zwischen Ich und Teilpersonen stattfindet. In Wirklichkeit findet der Dialog nicht mit sich selbst statt, sondern wird er mit imaginierten Personen simuliert. Die inneren Teilpersonen sind introjizierte Stimmen von realen Bezugspersonen. Da man sich mit ihnen identifiziert, geht meistens das Wissen, wer hinter den Stimmen steht, verloren.

Wenn die These zutrifft, dass die Art und Weise, wie man im Selbstgespräch mit sich selbst umgeht, davon abhängt, welche Kommunikationserfahrungen gemacht wurden, kann die Qualität des Selbstgesprächs dadurch verbessert werden, dass darauf geachtet wird, dass man respektvoll und empathisch mit anderen spricht. Die Muster des Dialogs mit anderen sind leichter zu kontrollieren als der diffuse, oft blitzschnell ablaufende innere Dialog. So wie man mit anderen kommuniziert, wird man auch mit sich selbst sprechen. Das Außen bestimmt das Innen.

Das Grundprinzip einer freundlichen Kommunikation besteht darin, mit anderen wertschätzend und respektierend umzugehen, auch wenn der andere nicht den Erwartungen entspricht und verletzend wirkt. Wenn der Gesprächspartner sich feindlich verhält, ist dies kein Grund, mit der gleichen Münze zurückzuzahlen. Es geht darum, sich dafür zu sensibilisieren, dass man sich in einer feindlich geprägten Kommunikation Verhaltens- und Sprachmuster angeeignet hat, die die radikale Kehrtwende zur freundlichen Kommunikation erschweren können.

1. Keine negative Aussagen verwenden! Statt andere zu kritisieren, zu verurteilen, zu beschuldigen, ihnen Schuld zuzuweisen u. Ä. sollten Formulierungen wie z. B. »ich wünsche mir«, »ich hoffe«, »ich bevorzuge« u. Ä. verwendet werden. Statt Du-Botschaften sollten also ausschließlich Ich-Botschaften verwendet werden. Formulierungen mit »sollte« oder »müsste« sind zu vermeiden, da sie meistens Bestandteile von moralischen Urteilen sind.

2. Keine Verallgemeinerungen verwenden! Wenn Formulierungen wie »nie«, »immer«, »unter keinen Umständen« benutzt werden, werden Situationen pauschalisiert und damit verzerrt betrachtet.

3. Keine Forderungen stellen! Wünsche sollen in die Form von Bitten gebracht werden, die vom anderen evtl. auch abgelehnt werden können.

4. Fragen stellen! Aussagen des anderen wiederholen, um sicher zu stellen, dass man ihn verstanden hat.

5. Keine Ratschläge erteilen, um die man nicht gebeten wurde!

6. Ehrlich sein und Fehler zugeben!

Im Grunde geht es weniger um die richtige Sprachwahl, als um die innere Haltung, dass der Gesprächspartner respektiert wird und man die Verantwortung für die eigenen Gefühle übernimmt. Statt sich auf das Fehlverhalten des anderen zu konzentrieren, soll der Akzent auf die eigenen Bedürfnisse gelegt werden. Wer sich freundlich gegenüber anderen verhält, wird den richtigen Ton finden und auch mitfühlend mit sich selbst umgehen.

Die Frage an sich selbst, welche Hindernisse der Erfüllung der eigenen Wünsche entgegenstehen, die oben im Zusammenhang mit den eigenen Gewohnheiten erläutert wurde, ist auch der Kern von konstruktiven Selbstgesprächen. Die Frage aktiviert das spontane Denken, nach Wegen zu suchen, wie die eigenen Bedürfnisse besser erfüllt werden können. Oben wurde bereits erwähnt, dass die Frage, ob und wie gut die eigenen Bedürfnisse erfüllt werden, die Bereitschaft fördert, umgehend neue, vom Denken gefundene Wege in der Realität auszuprobieren. »Durch das Verständnis dessen, was Sie wirklich zurückhält, werden sich klare Verhaltensmuster zur Überwindung des Hindernisses wie von selbst ergeben. WOOP35 fordert uns heraus, alle Ausreden, die wir uns immer wieder einreden, abzuschütteln: Wir können damit aufhören, andere Menschen oder äußere Umstände für unser Stagnieren verantwortlich zu machen, und können stattdessen unsere ganze Aufmerksamkeit darauf lenken, was es in uns selbst ist, das uns davon abhält, uns in Richtung Wunscherfüllung zu bewegen. Wenn die Ausreden erst einmal ad acta gelegt sind, wird der Weg zur Erfüllung unserer Träume offen vor uns liegen.« (Oettingen S. 224)

Selbstgespräche haben die Funktion, Unsicherheiten und Ängste zu bewältigen. Ihre Themen lassen die Probleme erkennen, die momentan ungelöst sind. So wie die Chance erheblich größer ist, eine Lösung für Probleme mit anderen Menschen zu finden, wenn man Schuldzuweisungen vermeidet, können auch produktive Lösungen im inneren Dialog gefunden werden, wenn man freundlich und mitfühlend mit sich selbst redet. Wenn man sich neugierig fragt, wie eine bestimmte Handlung, die immer wieder zu unerwünschten Ergebnissen führt, verbessert werden könnte, werden sich gute Lösungsvorschläge einstellen.

Wer sich dabei ertappt, dass er sich nach wie vor kritisiert oder Vorwürfe macht, muss sich fragen, welche unerfüllten Bedürfnisse sich darin ausdrücken und inwieweit man sich den Bedürfnissen und Erwartungen anderer angepasst hat. Wenn es gelingt, mit den Bedürfnissen empathisch in Kontakt zu kommen, können Gefühle der Trauer, Enttäuschung, Frustration oder Angst auftreten (Rosenberg 2011 S. 152). Es kann gespürt werden, dass eine Handlung, die eigentlich das eigene Leben und das der anderen bereichern sollte, leider misslungen ist. Es wird erkannt, dass man sich selbst behindert. Es fällt dann leichter, sich selbst zu vergeben. Man vergib sich, dass es noch nicht gelungen ist, spontan das eigene als falsch erkannte Verhalten zu korrigieren. Diese Gefühle motivieren, das kritisierte Verhalten zu bedauern und daraus Konsequenzen für künftiges Verhalten zu ziehen, d. h. bessere Verhaltensmuster zu bilden.

Wenn man vor schwierigen Aufgaben oder vor einer Fülle von Aufgaben steht, die in kurzer Zeit zu erledigen sind, können innere Selbstgespräche auch bewusst inszeniert werden. Was hält mich davon ab, die Aufgabe anzupacken? Experimente zeigen, dass komplizierte Aufgaben effizienter gelöst werden, wenn das Denken vom inneren Selbstgespräch begleitet wird. Auch anstehende Entscheidungen können damit wirksam vorbereitet werden.

Als Fazit ist festzuhalten, dass die in der Kommunikation mit anderen Personen erfahrene Gewalt dazu führt, dass man auch im inneren Selbstgespräch mit sich selbst gewalttätig umgeht. Dies hat die fatale Wirkung, dass dadurch die Ressourcen für die konstruktive Nutzung des inneren Selbstgesprächs zerstört werden. Sobald man einfühlsam mit sich umgeht, können die Selbstgespräche zu einer Kraft der Veränderung werden. Es ist deshalb dringend erforderlich, sich für die Qualität des inneren Selbstgesprächs zu sensibilisieren und die Muster zu verändern, wie man mit sich selbst spricht.

4.6. Andere verstehen – Erzählungen anhören

»Wer Worte macht, tut wenig: seid versichert, Die Hände brauchen wir und nicht die Zungen! « (William Shakespeare)

Wie das Verstehen von anderen Menschen zustande kommt, ist nach wie vor völlig ungeklärt. Solange man davon ausging, dass die Begriffe angeboren sind und das Denken ein Werk der Seele oder des Geistes ist, war das Verstehen kein Problem. Wenn aber die Begriffe Seele und Geist verworfen werden, wird es schwierig. Man behalf sich bisher immer wieder mit Metaphern. Dominant war dabei die Metapher des Spiegels.36 Es wurde angenommen, dass Menschen andere verstehen können, weil sie innere Spiegel besitzen würden (vgl. Prinz 2013 S. 88ff). Allerdings ist die Spiegelmetapher ein untauglicher Versuch, dem Verstehen auf die Spur zu kommen, weil sie unterstellt, dass die Inhalte des Bewusstseins eine korrekte Abbildung der Realität seien. Ebenso wenig ist der neurowissenschaftliche Begriff der Spiegelneuronen weiterführend. Er wurde eingeführt, als bei Experimenten mit Affen entdeckt wurde, dass bei der Wahrnehmung von Bewegungen anderer Affen die gleichen Areale aktiviert werden, mit denen die Bewegungen selbst ausgeführt werden.37 Ebenso wenig taugt das physikalische Phänomen der Resonanz. Es ist allenfalls bei den Gefühlen eine nützliche Hypothese, da sie als körperliche Schwingungen verstanden werden können. Aber bei den Gedanken versagt die Theorie der Resonanz. Wenn Gedanken als Schwingungen verstanden werden, werden sie auf einen physikalischen Vorgang reduziert, der selbst nicht verstanden werden kann (vgl. Kap. 5.2.).

Aus der Theorie der Muster ergibt sich die Hypothese, dass das Verstehen auf dem Erkennen von Mustern basiert. Im Verhalten der anderen werden spontan die Muster erkannt, auf die sich das Verhalten stützt, vorausgesetzt, dass die entsprechenden Verhaltensweisen bereits gelernt wurden. Da man aus Erfahrung weiß, welche Bedürfnisse und Überzeugungen mit den Mustern verbunden sind, wird das Verhalten der anderen spontan verstanden. Das Verstehen anderer basiert somit auf einem Wissen-wie. »Es ist an die Ausführung relevanter motorischer Handlungen gebunden und geht jeglichem theoretischen Wissen sowohl systematisch als auch ontogenetisch voraus.« (Schlicht S. 25) Besitzt man das nötige motorische Wissen zur Ausführung einer Handlung, so kann man die Ausführung solcher Handlungen auch bei anderen beurteilen (a.a.0., S. 27).

Das Verständnis anderer stützt sich häufig auf verbale Äußerungen, die meistens den Charakter von Erzählungen haben. Erzählungen können leicht verstanden werden, weil die Bewegungsmuster nachvollzogen werden können, die in den Begriffen angesprochen werden, insofern man die Bewegungsmuster von sich selber kennt. Über die Verben erschließt sich die Handlung. Selbst wenn man die anderen Satzteile nicht kennt, kann der Sinn der Erzählung aus den Verben erschlossen werden. Deshalb dominieren in Erzählungen Verben. Überhaupt zeichnet sich die Alltagssprache durch ein Übergewicht an Verben aus.

Das Verstehen kann sehr schnell sein, weil die Muster der anderen auf Anhieb erkannt werden. Bereits am Anfang einer wahrgenommenen Bewegung kann intuitiv abgeschätzt werden, um welche Bewegung es sich dabei handelt und welche Konsequenzen mit ihr verbunden sind. Da man zum Verstehen nicht erst die ganze Geschichte anhören oder das ganze Problem kennen muss, sondern sofort aufgrund weniger Indizien eine Ahnung hat, können das Verhalten anderer und mögliche Problemlösungen vorausgesehen werden. Es ist immer wieder beobachtet worden, dass Experten scheinbar gar nicht zu denken brauchen, weil sie sofort eine Lösung für ein Problem zur Hand haben. Das ist damit zu erklären, dass sie mit ihrem Schatz an Mustern sofort erkennen, wo das Problem liegt (vgl. Gigerenzer). Deshalb behaupten Hirnforscher, dass intelligente Menschen beim Denken weniger Energie verbrauchen.

Von zentraler Bedeutung für die eigene persönliche Entwicklung ist die Erkenntnis, dass die Verhaltensmuster, unter denen man leidet, in der Kindheit unter Androhung von Strafe von den Eltern übernommen werden mussten. Dabei haben die Bezugspersonen bloß Verhaltensmuster weiter gegeben, denen sie sich selbst unterwerfen mussten. Wenn das eigene Verhalten als Folge von gelernten Verhaltensmustern verstanden wird, fällt es leichter, es einerseits als korrekturfähig zu erkennen und andererseits den Eltern zu vergeben, dass sie die Verhaltensmuster evtl. sogar mit Gewalt durchgesetzt haben. Deshalb ist es falsch, sich als Opfer zu betrachten und den Eltern die Verantwortung für das eigene Leiden zuzuschieben.

Tatsächlich basiert das Verstehen auf einem Wiedererkennen38, wie es Platon behauptet hatte. Nur erkennt man nicht überirdische Ideen, sondern gelernte Bewegungsmuster. Auch die These der Hermeneutiker Friedrich Schleiermacher und Wilhelm Dilthey, dass Verstehen auf einem Sich-Einleben und Wiedererleben basiert, kann aus der Sicht der Mustertheorie besser verstanden werden. Auch Ansätze, die das Verstehen mit Einfühlung in Verbindung bringen, werden nachvollziehbar.

Es muss beachtet werden, dass mit Hilfe der Muster das Verhalten anderer nur verstanden, aber nicht erklärt werden kann. Der Anspruch, etwas zu erklären, verlangt, den Grund einer Handlung zu kennen. Dieser geht nicht direkt aus dem erkannten Muster hervor. Für das Verstehen ist aber die genaue Kenntnis der Gründe entbehrlich. Da man aus eigener Kenntnis weiß, dass in der Regel bestimmte Muster auf bestimmte Ziele gerichtet sind, kann man aus dem Verhalten der anderen auf die von ihnen angestrebten Ziele schließen. Das Verstehen ist somit eine fundamentale Fähigkeit, die mit der Musterbildung entstanden ist. Es wäre falsch, das Verstehen als einen geistigen, an die Sprache gebundenen Vorgang zu betrachten. Es hat seine Basis im eigenen Handelnkönnen.

Im Prinzip unterscheidet sich das Verstehen von geschriebenen Texten nicht vom Verstehen von persönlichen Erzählungen. Auch beim Verständnis theoretischer Texte ist man auf die Kenntnis zutreffender Muster angewiesen. Die im Text angesprochenen Muster müssen mit den eigenen Mustern in Beziehung gesetzt werden. Wenn die entsprechenden Muster fehlen, bleibt der Text unverständlich. Insbesondere bei Texten aus anderen Kulturen ist immer unklar, ob das Verständnis mit Hilfe der eigenen Muster zutrifft. Es gibt keine Möglichkeit, die Vergleichbarkeit der eigenen mit den Mustern des Textes zu überprüfen. Beim Verstehen muss deshalb stets die Differenz zwischen der Ebene der Muster und der Ebene der sprachlichen Begriffe im Auge behalten werden. Sobald man anfängt, Probleme bloß Begriffen oder Theorien zuzuordnen, sie also sozusagen in begriffliche Schubladen zu stecken, hört man auf zu denken.

Die Problematik philosophischer Texte ergibt sich daraus, dass hier abstrakte Allgemeinbegriffe verwendet werden, die nicht mit aus der Erfahrung gewonnenen Mustern verknüpft sind. Philosophische Texte haben den eigentümlichen Charakter, dass im Zentrum nicht Personen, sondern Substantive stehen, die oben als abstrakte Allgemeinbegriffe gekennzeichnet wurden.39 Wie oben bereits erwähnt wurde, kann mit abstrakten Allgemeinbegriffen nur auf die Weise operiert werden, dass sie mit Mustern aus einem anderen Erfahrungsbereich, also mit Metaphern bestimmt werden. So wird z. B. der Geist als eine innere Person verstanden, die bestimmte Eigenschaften hat und auf bestimmte Weise handelt. Oder das Bewusstsein wird als eine innere Substanz betrachtet, die die Sinneswahrnehmungen bearbeitet oder sogar die Wirklichkeit konstituiert. Dass bedeutet, dass die Allgemeinbegriffe, die für die psychisch-mentale Innenwelt entwickelt wurden, so behandelt werden, als ob sie Personen wären. Sie erhalten ihre Bestimmung weitgehend aus den Aktivitäten, die ihnen zugeordnet werden. Das Denken greift zu dem Trick, dass aus abstrakten Zusammenhängen Als-ob-Handlungen rekonstruiert werden. Es entsteht eine Scheinwelt, in der Quasi-Personen aufeinander einwirken, Eigenschaften haben, Entscheidungen treffen und sich verändern. Ihr Handeln ist ein Pseudohandeln, das nur mit Hilfe von willkürlich gesetzten Grundsätzen zustande kommt. Wenn davon berichtet wird, entstehen zwangsläufig Erzählungen. Allzu schnell wird verdrängt, dass die Quasi-Subjekte nur Fiktionen sind. Ebenso wird übersehen, dass sie wenig mit der Welt der handelnden Menschen zu tun haben. Der philosophischen Scheinwelt merkt man ihre Konstruiertheit kaum an.

Philosophische Texte sind deshalb nur auf der Oberfläche abstrakte Analysen. In Wirklichkeit sind sie Erzählungen. Die motorische Natur des Denkens zwingt den Autor dazu, die Allgemeinbegriffe wie Personen zu behandeln und Verben für deren Aktivitäten zu verwenden. Deshalb wird auf der Ebene des Denkens eine Abfolge von Bewegungen, also eine Erzählung produziert. Da es aber ein Tabu ist, philosophische Überlegungen als Erzählungen darzustellen, werden die Gedanken in die schriftliche Form von wissenschaftlichen Berichten gebracht. Meistens gehen die Autoren philosophischer Texte von relativ einfachen Geschichten aus, die im Verlauf ihrer Bearbeitung immer mehr in den Hintergrund treten, weil die verwendeten Begriffe nach allen Seiten hin abgesichert werden müssen. Philosophische Analysen sind im Grunde Erzählungen, die dazu neigen, sich selbst zu verleugnen.

Wenn der Leser philosophische Analysen verstehen will, muss er sie in eine Erzählung von Quasi-Personen zurückübersetzen. Denn sie können nur verstanden werden, wenn in ihnen bekannte Bewegungsmuster erkannt werden. Wo nicht gehandelt wird, kann nichts verstanden werden. Meistens merkt man nicht, dass philosophische Texte beim Lesen insgeheim in Erzählungen umgewandelt werden. Wenn man sich nicht die Mühe machen will, eine sinnvolle Geschichte zu rekonstruieren, bleibt nur der Ausweg, die Hauptaussagen des Textes auswendig zu lernen.

Das Verstehen von Texten hat nichts mit Interpretation zu tun, wie es seit Donald Davidson behauptet wird. Begriffe müssen nicht in den Kontext von anderen Begriffen gestellt werden. Ihre Bedeutung ergibt sich direkt aus den Mustern, die von ihnen angesprochen werden.

Der Begriff der Erzählung wurde bewusst gewählt, da auch bei philosophischen Texten ähnlich wie bei Romanen fiktive Personen auftreten. Dies soll im Folgenden am Beispiel von Arthur Schopenhauers »Die Welt als Wille und Vorstellung« veranschaulicht werden. Die Hauptfigur in Schopenhauers Erzählung ist der Wille. Er wird als der Schöpfer von allen Objekten, Erscheinungen und Handlungen charakterisiert. Obwohl er sich in allem objektiviert, wird er als grundlos, blind und vernunftlos gekennzeichnet. Auch in den Naturgesetzen wirkt der Wille. Sogar die menschliche Vernunft muss dem Willen dienen. Letztlich sind die Menschen nur Marionetten in den Händen des Willens. Die Erzählung kommt dadurch in Gang, dass der Wille aufgrund seiner Bedürftigkeit und Unersättlichkeit Leiden und Schmerz schafft. Die Menschen nehmen in der Kette der Objektivationen des Willens eine privilegierte Stellung ein, weil sich in ihrer Erkenntnis der Wille auf sich selbst beziehen und er erkennen kann, zu welchem Jammertal sein Wirken führt. Im menschlichen Denken kann er sich von seiner eigenen Unruhe befreien. Die Selbstverneinung des Willens drückt sich in der Lebensform der Heiligen, Asketen, Enthaltsamen, Kontemplativen u. Ä. aus. Sie kann auch zu einem ausgeprägten Mitleiden am Leiden anderer Menschen führen, da der Egoismus, in dem sich der ungezügelte Wille ausdrückt, überwunden wird. Das Ziel des Willens ist nicht seine völlige Vernichtung, sondern dass alle Willensäußerungen nur so weit beruhigt werden, dass das Leben noch erhalten bleibt.

Bei dieser Geschichte bleibt unklar, ob die Menschen eine eigene Kraft besitzen, mit der sie sich gegen den Willen richten und ihn verneinen können. Bei einer konsequenten Lesart findet die Dynamik allein im Inneren des Willens ab und sind die Mensch nur die Schauspieler, in denen sich der Wille darstellt. Die Geschichte handelt eigentlich nicht von den Menschen und ihren Problemen, sondern von einem kosmischen Ereignis, das sich in ihrem Bewusstsein abspielt. Es wäre deshalb ein falscher Schluss, aus der Geschichte die Handlungsempfehlung abzuleiten, seine Bedürfnisse zu reduzieren, um seelische Ruhe zu finden. Woher soll man die Gewissheit nehmen, dass solch ein Beschluss im Sinne des Willens ist?

Das philosophische Grundproblem, um das der Text kreist, scheint in der Ambivalenz zu bestehen, dass sich die Menschen als frei handelnd erleben, aber gleichwohl spüren, dass vieles hinter ihrem Rücken wie von selbst abläuft. Dieses praktische Problem wird im Text damit beantwortet, dass das Gefühl, frei zu handeln, eine subjektive Täuschung sei.

Es muss nicht betont werden, dass ich die Geschichte des Willens so nacherzählt habe, wie ich den Texte interpretiere. Andere werden sich vielleicht auf andere Elemente konzentrieren und damit der Geschichte eine andere Wendung geben. Es geht um die These, dass man gezwungen ist, aus den Sätzen eines Textes eine sinnvolle Geschichte zu konstruieren, d. h. im Text ein Muster zu erkennen. Das gelingt am leichtesten, wenn man eine Handlung aufspürt, die sich durch den Text hindurch zieht. Dadurch können die einzelnen Textteile in einen sinnvollen Gesamtzusammenhang gebracht werden. Das ist zweifellos anstrengend, aber es lohnt sich, weil man dabei oft auf Fragen stößt, auf die man sonst nicht gekommen wäre, und weil man dadurch die Grundgedanken viel besser behält. Gerade wegen der Mühe, eine sinnvolle Geschichte zu bilden, prägt sich der Grundgedanke besser ein. Außerdem kann man sich beim wiederholten Lesen leichter auf die Feinheiten der Argumentation konzentrieren.

Demgegenüber hilft der Versuch wenig, den Text mit Bildern, Diagrammen, Mind Maps u. Ä. zu strukturieren, da dadurch die Begriffe nicht erhellt werden. Wenn Leser die Hauptaussagen bloß auswendig lernen, bleibt ihnen der Sinn des Textes verschlossen. Wenn sie glauben, etwas verstanden zu haben, ist das eine Selbsttäuschung. So wird Philosophie zur Halbbildung.

Noch schwieriger ist das Verständnis von Begriffserläuterungen, wie sie z. B. in philosophischen Lehrbüchern vorgenommen werden, da es hier schwer fällt, eine Geschichte aufzuspüren. Üblicherweise werden Begriffe dadurch erläutert, dass einschlägige Theorien von maßgeblichen Philosophen in knapper Form dargestellt werden.40 Jede einzelne Theorie ist im Grunde eine Geschichte innerhalb einer umfassenden Theoriegeschichte. Wenn z. B. geklärt werden soll, wie sich im Laufe der Geschichte der Begriff der Freiheit verändert hat, kann man nicht anders, als dass dieser abstrakte Allgemeinbegriff mit anderen Allgemeinbegriffen wie z. B. Person oder Vernunft in Beziehung gesetzt wird. Da die Art des Verhältnisses nicht direkt beobachtet werden kann, kann das Ergebnis nur den Charakter einer Erzählung haben.

Wenn es um die Analyse von Fähigkeiten geht, sind Verallgemeinerungen unumgänglich. So kann z. B. über die Folgen rationalen ökonomischen Verhaltens nur auf die Weise nachgedacht werden, dass alle anderen Aspekte, die im konkreten Handeln immer mit im Spiel sind, ausgeklammert werden und so getan wird, als wäre ein rein rationales ökonomischen Handeln möglich. In den Worten von Max Weber ist eine idealtypische Betrachtungsweise erforderlich: Das konkrete Handeln mit seinen vielfältigen Einflussfaktoren wird auf das Muster des rein zweckrationalen Handelns reduziert. Das Ergebnis ist eine mentale Konstruktion, also eine Erzählung, die wenig mit der Realität zu tun hat. Ein anderes Beispiel: Wer über die Bedingungen selbstbestimmten Handelns nachdenkt, unterstellt, dass die Menschen prinzipiell die Fähigkeit haben, sich selbst Befehle zu geben. Auch hier wird das Verhalten idealisiert.

Die Philosophie war von Anfang an davon überzeugt, dass sich ihre Darstellungen radikal von den überlieferten mythologischen Erzählungen unterscheiden. Schließlich stellen sie nicht Handlungen von Personen dar, sondern analysieren objektive Zusammenhänge. Die vorliegende Analyse zeigt, dass der Unterschied nur auf der sprachlichen Oberfläche besteht. In philosophischen Texten werden lediglich die Götter durch Begriffsfetische wie Natur, Vernunft oder Kosmos ersetzt. Die narrative Struktur der Texte unterscheidet sich aber nicht von mythologischen Erzählungen. So wie die mythologischen Erzählungen immer mit dem impliziten Anspruch auftraten, wahr zu sein, so beanspruchen auch philosophische Texte ganz selbstverständlich, Ausdruck der Wirklichkeit zu sein.

Es ist auffällig, dass die oben dargestellte Erzählung des Willens eine Erlösungsgeschichte ist. Es geht darum, sich von dunklen Mächten zu befreien, die das Leben bedrohen. Offensichtlich neigt die Philosophie dazu, die narrative Struktur der mythologischen und religiösen Erzählungen beizubehalten, aus deren Kritik sie hervorgegangen ist. Statt von Gott und Teufel ist vom Geist oder Willen u. Ä. die Rede. Bei dem Versuch, für religiöse Fragen nicht-religiöse Antworten zu finden, verwendet die Philosophie Begriffe, die in ihrer Struktur den religiösen Begriffen ähnlich sind. Zu Recht wurde sie immer wieder als Religionsersatz kritisiert.

Von philosophischen Texten wird erwartet, dass daraus eine Orientierung für das eigene Leben gewonnen werden kann. So wie von guter Literatur nicht bloß Unterhaltung erwartet wird, sondern dass der Autor seine Lebenserfahrungen so geschickt in die Handlungsabläufe seiner Figuren einwebt, dass – wie in realen Situationen – aus dem inneren Nachvollzug der Handlungen Muster für das eigene Verhalten abgeleitet werden können. Solche Erzählungen können sehr wirkmächtig sein. Lebensnahe Geschichten fordern zur Identifikation mit ihren Protagonisten auf und regen an, spontan deren Muster zur Lösung von Problemen zu übernehmen. Diese Fähigkeit geht philosophischen Erzählungen grundsätzlich ab, da sich ihre Geschichten in einer Scheinwelt abspielen. Es ist oft fraglich, ob den abstrakten Überlegungen überhaupt persönliche Lebenserfahrungen zugrunde liegen. Selbst wenn dies der Fall ist, gelingt es den Philosophen meistens nicht, ihre Erfahrungen so lebensnah darzustellen, dass aus ihnen spontan Muster für nützliche Verhaltensweisen abgeleitet werden können. Da die Handlungsanleitungen nur in sehr abstrakter Form übermittelt werden, scheidet eine direkte Nachahmung aus. So kann niemand die Empfehlung »Sei Du selbst« direkt ins Handeln umsetzen, ganz abgesehen davon, dass unbestimmt bleibt, was unter »selbst« zu verstehen ist. Wahrscheinlich hängt damit der Eindruck des Tiefschürfenden zusammen, den viele beim Lesen philosophischer Texte haben.

Es ist nützlich, die Philosophie im Lichte ihrer historischen Entstehung zu betrachten. Vor der Entstehung der Philosophie im 6. Jh. v. Chr. hatten alle schriftlichen Texte – in der Regel heilige Texte – die Funktion, einen bestimmten religiösen Ritus und eine bestimmte Lebensweise vorzuschreiben und zu begründen (vgl. Assmann 2013). Sie hatten stets die Struktur von Erzählungen über Götter und Helden. Seit Erfindung der Philosophie ist die Erwartung lebenspraktischer Hilfe, die mit den traditionellen Erzählungen verbunden war, zum Teil an die Philosophie übergegangen. Das Interesse der Philosophen, mit den Texten Einfluss auf das Leben der Menschen zu nehmen, bedient sich lediglich anderer Begriffe: Seele, Natur, Vernunft oder Kosmos.

Im Grunde besteht die ganze Philosophiegeschichte darin, dass alte Geschichten immer wieder neu erzählt werden, damit ihre lebenspraktische Bedeutung erhalten bleibt. Jede neue Philosophengeneration muss die Geschichten ihrer Vorgänger im Horizont ihrer eigenen Erfahrungen interpretieren und neu erzählen, weil sich die Denkmuster im Laufe der Geschichte unmerklich verändern. So hat z. B. die Geschichte, wie Leib und Seele miteinander kommunizieren, unzählige Variationen erfahren. So wie keine religiöse oder poetische Geschichte wahrer ist als die andere, können auch philosophische Geschichten keine Wahrheit beanspruchen. Religiöse Texte wollen Einfluss auf das Denken und Handeln nehmen. Philosophische Texte haben letztlich keine andere Funktion. So ist z. B. die Theorie der Willensfreiheit nur eine Erzählung, die die Menschen dazu anhalten will, sich als freie Wesen zu begreifen.41

Die These, dass philosophische Texte als Erzählungen aufzufassen sind, klingt wie eine Provokation. Man muss aber bedenken, dass die übliche Unterscheidung zwischen einer wissenschaftlichen und einer erzählenden Denkweise problematisch wird (vgl. Jerome Bruner, in: White S. 83ff), wenn beachtet wird, dass sich letztlich alle Erkenntnisse auf das Handeln beziehen. Oben wurde dargestellt, dass Theorien nichts anderes als Beschreibungen sind, wie Ausgangsbedingungen mit Wirkungen zusammenhängen. Die traditionelle Vorstellung, dass zwischen den Wissenschaften mit ihren objektiven Gegebenheiten und den Erzählungen vom menschlichen Wirken eine tiefe Kluft besteht, ist nicht länger aufrecht zu erhalten. Letztlich geht es immer um die Beschreibung von Handlungen. Auch Naturgesetze müssen als Handlungsanweisungen und damit als Beschreibungen verstanden werden, wie Peter Janich herausgearbeitet hat (Janich 2000 S. 124). Ob von dem Handeln eines Gegenstandes, eines Menschen oder des Geistes berichtet wird, macht keinen wesentlichen Unterschied aus. Aus der unterschiedlichen Darstellungsform darf nicht geschlossen werden, dass die zugrundeliegenden nonverbalen Denkweisen unterschiedlich sind. In Wirklichkeit werden nur unterschiedliche sprachliche Darstellungsformen für die identische Denkweise angewandt. Die Struktur des Denkens ist immer die Gleiche, nur die Darstellungsweisen sind unterschiedlich.

Das Fazit dieser Überlegungen ist, dass philosophische Texte fiktive Geschichten sind. Da sich die philosophischen Grundprobleme nicht direkt auf reale Probleme des Handelns beziehen, kann über sie nur auf die Weise nachgedacht werden, dass Geschichten erfunden werden, in denen Begriffe wie Quasi-Subjekte handeln.

Wie oben bereits erwähnt wurde, ist selbstverständlich die hier entwickelte Theorie der Muster auch nur eine Erzählung über das Funktionieren der psychisch-mentalen Innenwelt. Sie löst die Erzählungen ab, die vom Geist handeln. Das Thema der neuen Erzählung ist, dass sich die Natur mit Hilfe der Muster selbst ordnet und dass alle psychischen und mentalen Fähigkeiten auf inneren Bewegungsprozessen basieren, die mit Hilfe von Mustern strukturiert werden. Es wird allerdings beansprucht, dass die Theorie der Muster plausibler als die ältere Erzählung des Geistes ist.

4.7. Lernen – Fertigkeiten erwerben

»Du kannst niemandem etwas lehren - Du kannst ihm nur beibringen, es selbst zu entdecken.« (Galilei)
»Denn früh belehrt ihn die Erfahrung, sobald er schrie, bekam er Nahrung.« (Wilhelm Busch)

Die zentrale Bedeutung der Muster für kreatives Denken und effizientes Handeln rückt das Lernen in den Mittelpunkt menschlichen Interesses. Es kommt darauf an, dass man das Lernen nicht dem Zufall überlässt, sondern sich möglichst wirksame Lernmethoden aneignet. Voraussetzung dafür ist, dass Klarheit darüber besteht, worin eigentlich das Futter des Lernens, das Wissen, besteht. Deshalb soll im Folgenden zunächst der Begriff des Wissens geklärt werden.

Der Begriff Wissen leitet sich in den indogermanischen Sprachen von den Verben sehen und erkennen ab. Das weist darauf hin, dass man ursprünglich davon überzeugt war, dass alles Wissen auf bewusste Wahrnehmung und Erfahrung zurückgeht. Auch im Alltag ist Wissen die Kenntnis von Zusammenhängen, also das Wissen, wie etwas hergestellt oder erreicht werden kann. Wissen ist gespeicherte Erfahrung. Beim Wissen über Objekte geht es letztlich darum, dass gewusst wird, wie bestimmte Effekte erreicht werden können und wie die Objekte reagieren, wenn man auf bestimmte Weise auf sie einwirkt oder sie verwendet. Das Wissen, dass Holz brennbar ist, ist das Wissen um seine Verwendung beim Feuermachen. Wenn im Alltag auch die Kenntnis der Namen von Objekten, Orten oder Menschen als Wissen bezeichnet wird, handelt es sich im strengen Sinne nicht um Wissen, weil die Namen nur willkürliche Bezeichnungen darstellen. Aber es wird selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Namen helfen, zu den Objekten, Orten oder Menschen zu gelangen und mit ihnen Kontakt aufzunehmen.

Aus dieser pragmatischen Definition des Wissens ergibt sich die These, dass Wissen auf der Kenntnis der Muster basiert, die beim Umgang mit Objekten oder Menschen gebildet werden. Wissen ist ein Wissen-wie. Wissen besteht aus Handlungsdispositionen. Wissen ist letztlich die Fähigkeit zu handeln. Von Wissen kann eigentlich nur gesprochen werden, wenn es praktisch angewendet werden kann. Dieses Verständnis des Wissens wurde erstmals im Pragmatismus ausformuliert (z. B. Hans Vaihinger und Charles Sanders Peirce) und in dem berühmten Spruch von Francis Bacon »Wissen ist Macht« vorbereitet.

Diese These steht im Widerspruch zu der philosophischen Lehrmeinung, dass die Grundform des Wissens ein »Wissen-dass« ist. Wissen sei ein Wissen über Tatbestände. Der Prototyp des Wissen-dass sei das sogenannte Faktenwissen (z. B. »Moskau ist die Hauptstadt von Russland.«). Wissen sei immer propositionales Wissen, also sprachlich ausdrückbar. Die Philosophen sehen im propositionalen Wissen die Grundform des Wissens, weil bei ihm die Wahrheitsfrage gestellt werden kann. Wissen sei durch seinen Bezug zur Wahrheit definiert. Demgegenüber sei praktisches Wissen kein wirkliches Wissen, sondern bloß ein Können.

Zur Beurteilung dieser Streitfrage ist davon auszugehen, dass alles Wissen aus dem praktischen Handeln hervorgeht. Beim Handeln wird erfahren, wozu die Dinge gebraucht werden können. Selbst das theoretische Wissen der Physiker geht aus praktischen Experimenten hervor. Man interessiert sich für Wissen, weil es verspricht, dass damit besser gehandelt werden kann. Echtes Wissen weckt Interesse, ist vielleicht sogar mit einem Aha-Erlebnis verbunden. An der emotionalen Beteiligung spürt man, dass das Wissen eine praktische Bedeutung hat. Dagegen weckt alles Wissen, das nicht für das praktische Handeln taugt, Langeweile und Desinteresse.

Bevor die Sprache entstand, besaßen die Menschen ohne Zweifel Wissen, mit dem sie ihren Alltag organisiert und praktische Probleme gelöst haben. Das praktische Wissen wurde über die Nachahmung von Fähigkeiten weitergegeben. Bei der Analyse des Wissens muss deshalb beachtet werden, dass bereits in der vorsprachlichen Epoche Wissen existiert hat und dass es ein Fehler wäre, Wissen auf sprachliche Sätze zu reduzieren und es von der Sprache abhängig zu machen. Es trifft nicht zu, dass das Wissen eine unhintergehbar sprachliche Gestalt hat, wie manche Philosophen behaupten (z. B. Schnädelbach S. 51). Das Wissen kann genauso gut, meistens sogar besser über Nachahmung weitergeben werden. Die Sprache hat nur den Nutzen, dass damit Wissen auch ohne direkte Nachahmung weitergegeben werden kann.

Das Faktenwissen ist eigentlich erst mit der Verbreitung des Schulwesens und der Entwicklung von Lehrbüchern entstanden. Seitdem besteht die Tendenz, das Wissen aus den praktischen Zusammenhängen herauszureißen und in Aussagesätzen auszuformulieren. Wenn z. B. aus der Erfahrung, dass die Wassertemperatur auf Nullgrad gesenkt werden muss, damit es gefriert, der Satz gebildet wird, dass Wasser bei Null-Grad gefriert, verliert das Wissen den Charakter der Handlungsanleitung. Die Sprache formt damit aus der Erkenntnis eines Herstellungsprozesses Faktenwissen. Weil das Muster, das ursprünglich in das Faktenwissen eingegangen ist, nicht mehr sichtbar ist, wird es schwierig, es sich zu merken. Um Faktenwissen behalten zu können, muss es in praktisches Regelwissen zurück übersetzt werden. Daraus ergibt sich, dass auch Faktenwissen eine Anweisung zu einem bestimmten Handeln ist.42

Diese Analyse zeigt, dass die Unterscheidung zwischen Wissen-dass und Wissen-wie unbegründet ist. Da sich alles Wissen auf Muster bezieht, ist es grundsätzlich ein Wissen-wie.43 Es hat seine Gemeinsamkeit darin, dass es aus Regeln besteht, wie etwas erreicht werden kann. »Für das Wissen, das in den naturwissenschaftlichen Fächern Physik, Chemie und Biologie vermittelt wird, läßt sich der Rückgang auf das Können ebenfalls sehr gut und für alle modernen Forschungsergebnisse umfassend nachweisen.« (Janich 2000 S. 133)

Die philosophische These, dass zwischen praktischem und propositionalem Wissen ein wesentlicher Unterschied besteht, könnte nur dann begründet werden, wenn mit der Entstehung der Sprache neue Formen der Erfahrung entstanden wären. Nur dann wäre der Begriff des propositionalen Wissens gerechtfertigt. Wie oben bereits erwähnt, muss angenommen werden, dass es bereits vor der Entstehung der Sprache Wissen gegeben hat. An der Tatsache, dass alles Wissen aus der unmittelbaren Erfahrung hervorgeht, hat sich mit der Sprache nichts geändert. Es ist lediglich die neue Fähigkeit dazugekommen, dass Erfahrungen verbalisiert werden können. Aber trotz der Formulierbarkeit in Aussagesätze bleibt das Wissen nach wie vor praktisch. Mit der Sprache entstand mithin kein neues Wissen, das als propositional bezeichnet werden kann. Die Unterscheidung in propositionales Wissen über Tatbestände und praktisches Wissen über Handlungen existiert nur auf der Ebene der Sprache. Alles Wissen ist Können. Philosophisch gesprochen hat Wissen einen dispositionalen Charakter, weil es sich auf Muster bzw. Handlungsfähigkeiten bezieht. Die Frage nach dem propositionalen Wissen ist somit eine Scheinfrage. Das Phänomen des Faktenwissens ist eine Folge irreführender Sprachverwendung.

Da das Wissen aus Handlungsvorschlägen bzw. -anweisungen besteht, kann es nicht als Abbild der Wirklichkeit betrachtet werden. Deshalb kann es auch nicht durch einen Vergleich mit der Realität überprüft werden. Die einzige Möglichkeit der Überprüfung besteht darin, die implizite Handlungsanweisung im praktischen Handeln auszuführen und zu beobachten, ob die angestrebte Wirkung eintritt. Wissen muss sich im praktischen Handeln bewähren.

Vom Wissen muss also verlangt werden, dass es handlungsrelevant ist. Im Alltag wird der Begriff häufig auch verwendet, wenn es um Beschreibungen oder Spekulationen geht. Der Satz »München ist die Hauptstadt von Bayern« ist eine reine Beschreibung. In diesem Sinne sind auch theoretische Aussagen über das Wesen des Menschen nur Beschreibungen. Das gilt auch für Überlegungen darüber, wie die Welt entstanden ist. Auch hier handelt es sich um kein Wissen, sondern nur um spekulative Beschreibungen, auch wenn die Mehrheit der Physiker noch so sehr von ihrer Richtigkeit überzeugt ist. Die Anforderungen an Wissen müssen scharf definiert werden, damit es von Pseudowissen unterschieden werden kann. Der Begriff des Wissens muss enger als im Alltag gefasst werden.

Nach diesem Maßstab können die meisten philosophischen Aussagen nicht als Wissen bezeichnet werden. Wenn z. B. Platon behauptet, dass die Seele unsterblich sei, erfüllt dies nicht das Kriterium der Handlungsanleitung, das an Wissen angelegt werden muss. Es wird nur die formale Struktur von Sätzen übernommen, die Handlungsanleitungen ausdrücken. Die Suggestion, dass es sich dabei um einen empirisch überprüfbaren Sachverhalt handelt, ist trügerisch. Das Gleiche gilt für den berühmten Satz von Johann Gottlieb Fichte: »Das Ich setzt sich selbst.« Auch die Aussage, dass das Bewusstsein die Wirklichkeit konstituiert, ist Pseudowissen, da hier unkritisch zwei abstrakte Allgemeinbegriffe in Beziehung gesetzt werden. Solche philosophischen Sätze konstruieren Sachverhalte, ohne dass deren rein mentaler Ursprung direkt aus den Sätzen hervorgeht. Man neigt dazu, Sätze als Aussagen über etwas real Existierendes zu lesen. Wenn sie als Wissen betrachtet werden, wird suggeriert, dass sie überprüfbar seien. Das ist bei philosophischen Aussagen, die auf abstrakten Allgemeinbegriffen wie Geist, Ich, Bewusstsein, Wissen u. a. aufbauen, grundsätzlich nicht der Fall. Richtiger wäre es, philosophische Aussagen, die mit abstrakten Allgemeinbegriffen operieren, von vornherein als Beschreibungen oder Erzählungen von fiktiven Subjekten zu betrachten.

Die These, dass Wissen auf Mustern basiert, macht verständlich, warum Wissen flexibel und kreativ an unterschiedliche Situationen angepasst und auf völlig andersartige Weise eingesetzt werden kann. Identische Muster können aufgrund ihrer Abstraktheit auf unterschiedliche Situationen angewandt werden.

Die Weitergabe von Können erfolgt am besten durch Vormachen und Nachahmen. Der Lernende kann dann spontan die Muster bilden, die den Bewegungen, Prozessen oder Zusammenhängen zugrunde liegen. Die neuen Muster können dann so aufgenommen werden, dass sie für die weitere unbewusste Verarbeitung zur Verfügung stehen.

Wird Wissen mit Hilfe der Sprache weitergegeben, muss man sich vergewissern, ob der andere die Muster kennt, auf die man sich bezieht. Die Muster können nie sprachlich so vollkommen umschrieben werden, dass Missverständnisse vermieden werden. Dies ist bei der Lektüre von Texten zu berücksichtigen. Jedes Mal, wenn Wissen sprachlich ausformuliert wird, kommt es möglicherweise unmerklich zu Veränderungen, zumal wenn sich inzwischen das Verständnis des zugrundeliegenden Sachverhaltes verändert hat. Deshalb erhält eine Geschichte jedes Mal, wenn sie neu erzählt wird, eine etwas andere Gestalt. Die Weitergabe von Wissen mit Hilfe der Sprache ist immer nur ein Notbehelf.

Wer Wissen bloß auswendig lernt, kann den Inhalt noch lange nicht sinnvoll anwenden. Sätze können nur verstanden werden, wenn die in ihnen angesprochenen Muster innerlich aktiviert und die damit verbundenen Handlungsanweisungen nachvollzogen werden. Den Begriffen müssen ähnliche Muster zugeordnet werden, wie sie der Autor des Satzes ihnen zugrunde gelegt hat. Es ist letztlich die Aufgabe der Interpretation von Sätzen, hinter der sprachlichen Gestalt die Muster aufzuspüren. Es muss immer damit gerechnet werden, dass die eigenen Muster von den Mustern des Autors abweichen und dass evtl. im Rückgriff auf ähnliche Handlungszusammenhänge versucht wird, den möglichen Sinn des Satzes zu erfassen. Es muss beachtet werden, dass die Sprache ungeeignet ist, komplexe Bewegungen korrekt auszudrücken.

Aus diesen Überlegungen folgt, dass der Begriff der Theorie sehr kritisch betrachtet werden muss. Die traditionelle Auffassung, dass Theorien eine Serie von Aussagen über die Wirklichkeit sind, die einen Wahrheitsanspruch erheben, kann nicht aufrechterhalten werden. Theorien sind systematisiertes, sprachlich artikuliertes Wissen. Sie sind deshalb kein Abbild der Realität; sie bilden lediglich die Regeln ab, die den Schluss von Ausgangshandlungen auf die zu erwartenden Folgen erlauben. Theorien enthalten immer eine bestimmte Sichtweise, wie Probleme handelnd gelöst werden können. Sie wollen überzeugen und umgesetzt werden. Mit ihrer Hilfe soll das Handeln und das gemeinsame Zusammenleben verbessert werden. Theorien bilden deshalb nicht die Wirklichkeit ab, sondern erzeugen vielmehr neue Wirklichkeiten für jeden, der sie in sein Handeln integriert. Theorien sind dementsprechend nur als ein intellektuelles Werkzeug anzusehen, um Erfahrungen im Hinblick auf die Verbesserung der Handlungsmöglichkeiten zu systematisieren. Theoretische Sätze sind daher weder richtig noch falsch. Sie sind lediglich Beschreibungen von Regeln, die die Aufgabe haben, das Handeln anzuleiten. Diese Auffassung wird in der Wissenschaftstheorie als Instrumentalismus bezeichnet. Sie wurde z. B. von den Pragmatisten John Dewey und Richard Rorty vertreten.

Theorien haben vielfach nur einen legitimatorischen Charakter. So ist z. B. die Theorie, dass die Menschen im Bereich der Ökonomie zweckrational handeln, ein Versuch, egoistisches Verhalten zu begründen. Die Theorien vom Verhältnis von Leib und Seele sollen die Sichtweise durchsetzen, dass die Menschen sich selbst kontrollieren können. Insofern gilt auch für legitimatorische Theorien, dass sie in die Wirklichkeit eingreifen und sie verändern. Mit diesem Verständnis des Wissens kann das mentalistische Dogma überwunden werden, dass Wissen eine geistige Angelegenheit ist. Wissen basiert vielmehr auf körperlichen Dispositionen, wie mit Gegenständen oder Menschen umgegangen werden kann.

Wenn Wissen Können ist, dann geht es beim Lernen nicht darum, sich Wissen anzueignen, sondern Fertigkeiten zu lernen. Es ist ein großer Irrtum, dass das Wissen als ein eigenständiger Bestand an Lernbarem verstanden wird. Das führt zu einem radikalen Missverständnis des Lernen, mit der Folge, dass falsche Lernmethoden empfohlen werden. Gerade wegen der scheinbaren Diskrepanz, wie das zu Lernende gegenwärtig meistens als »Stoff« präsentiert wird, aber das Lernen eigentlich in der Aneignung von Fertigkeiten besteht, kommt es darauf an, die richtigen Lernmethoden einzusetzen. Glücklicherweise ist »die Art und Weise, wie wir lernen, ... mehr oder minder das Einzige, was wir aktiv beeinflussen können.« (Carey S. 316) Im Folgenden kann es nicht darum gehen, die Lernmethoden darzustellen, die sich als wirksam erwiesen haben. Die Ausführungen müssen sich darauf beschränken, aus dem Blickwinkel der Muster die Wichtigkeit der Lernmethodik zu unterstreichen.

Kinder lernen, was ihre Neugierde weckt. Ihre Neugierde wird von dem angesprochen, was sie als Teil ihrer Lebenswelt erkennen und was sie anregt, die entsprechenden Fertigkeiten zu beherrschen. Kinder wollen vollwertige und gleichberechtigte Partner in ihrer Lebenswelt sein. Ihre Aufmerksamkeit wird deshalb nur voll von dem geweckt, was ihnen auf diesem Weg hilft. Kinder haben ein gutes Gespür dafür, was dafür bedeutsam und was unwichtig ist. Die Erfahrung zeigt, dass am leichtesten gelernt wird, wenn ein persönliches Ziel verfolgt wird. Wer Arzt werden möchte, lernt gieriger und intensiver, als wenn er nur gute Noten haben und später ein hohes Einkommen erzielen will. Entdeckungen von Zusammenhängen, die mit einem Aha-Erlebnis einhergehen und als nützlich erscheinen, brauchen nicht gelernt werden! Geschichten und Episoden, die emotional ansprechen, prägen sich von selbst ein. Es ist vergeblich, sinnlos erscheinendes Wissen (höhere Mathematik, Grammatikregeln, Latein) mit dem hohen Wert des abstrakten Denkens zu begründen.

Das Lernen erfolgt schrittweise. Erst müssen die Muster für grobe Zusammenhänge gelernt werden, bevor man in der Lage ist, die Muster von differenzierten Zusammenhängen zu erfassen (vgl. Spitzer 2012 S. 64). Da jedes Muster den Blick auf die Wirklichkeit verändert, beeinflusst es immer auch die späteren Erfahrungen. Muster sind das Ergebnis von Erfahrungen und wirken auf diese zurück. Deshalb hängt die Qualität der Erfahrung von der Qualität der bereits erworbenen Fertigkeiten ab (Störig, in: Blackmore S. 202). Erfahrungen und Muster bauen aufeinander auf.

So fängt z. B. das Lesenlernen damit an, dass man die Muster der einzelnen Buchstaben erfasst. Im nächsten Schritt wird das Muster von Wörtern gelernt. Wenn man die Fertigkeit erworben hat, blitzschnell das Muster einer Vielzahl von Wörtern zu erfassen, kann der Blick auf das grammatikalische Muster von ganzen Sätzen gerichtet werden. Expertenschaft besteht darin, verschiedene Informationen zu einem Muster zusammenzufassen. So kann man z. B. mit einem Sportflugzeug erst sicher fliegen, wenn aus den verschiedenen Anzeigegeräten mit einem Blick abgelesen werden kann, was als nächstes zu tun ist.

Komplexe Bewegungsabläufe können erst effizient und ohne bewusste Steuerung ablaufen, wenn die Teilbewegungen relativ sicher beherrscht werden. Für ihre Koordination ist eine fortlaufende bewusste Rückkoppelung mit den Sollwerten erforderlich. So üben Pianisten erst die beiden Hände getrennt, bevor sie die rechte mit der linken Hand koordinieren. Wenn die Koordination der Teilbewegungen gelingt, wird praktisch aus mehreren Teilbewegungen ein einheitliches Bewegungsmuster gebildet. Es entspricht der Ökonomie des Gehirns, dass für komplexe Zusammenhänge, die sich aus vielen Bestandteilen zusammensetzen, ein einziges Muster gebildet wird. Lernen bedeutet somit, dass aus einer Vielzahl von Mustern neue komplexe Muster gebildet werden. Wenn Wissen als Fähigkeit beherrscht wird, kann es als implizites Wissen absinken und in unbewussten Denkprozessen verwendet werden. Letztlich hat das Lernen das Ziel, Wissen unbewusst zu machen.

Neue Bewegungen lernen, setzt voraus, dass die körperlichen Signale beachtet werden, die rückgemeldet werden, wenn Bewegungen noch nicht richtig beherrscht werden. Sie machen bewusst, dass an der Bewegung noch gearbeitet werden muss. Sie sagen aber nicht direkt, was zu tun ist. Offensichtlich ist Bewusstsein erforderlich, damit Bewegungen so gelernt werden können, dass sie der natürlichen Organisation des Körpers entsprechen und gleichsam mühelos ablaufen.

So wird es möglich, komplexe Bewegungen effizient und mit einem Minimum an bewusster Kontrolle auszuführen. Auf der Ebene des Gehirns wirkt sich das so aus, dass das Lernen auf den höheren Ebenen des Gehirns (präfrontaler Cortex) stattfindet, aber die Ausführung von tieferen Bereichen (Kleinhirn, Basalganglien) gesteuert wird. Es ist eine triviale Erfahrung, dass alle motorischen Fertigkeiten eine lange Übungszeit brauchen, bis sie absolut zuverlässig funktionieren, wobei die Länge der Übungszeit natürlich von der verwendeten Lernmethode und dem Grad des persönlichen Interesses abhängt.

Wenn neue Fertigkeiten gelernt werden, strahlen sie auf andere Bereiche aus. Im Zusammenhang mit dem Lernen des Schreibens wurde oben ausgeführt, dass gleichzeitig das Denken gefördert wird (vgl. Kap. 2.4.). Wer gelernt hat, handwerkliche Probleme eigenständig zu lösen, wird auch das Vertrauen entwickeln, mit geistigen Problemen fertig zu werden. Das hängt damit zusammen, dass bei allen kulturellen Aktivitäten die Mustererkennungskapazität gefördert wird. Das wird besonders deutlich an der chinesischen Schriftsprache, die aus ca. 50.000 Schriftzeichen besteht. Die Vielzahl von komplexen Schriftzeichen kann nur gelernt werden, weil die Zeichen aus mehreren von insgesamt 200 Modulen zusammengesetzt sind. Das Lernen der Schriftzeichen besteht in dem Erfassen von komplexen Mustern, die aus den verschiedenen Modulen, die den Charakter von Mustern haben, gebildet werden. Lothar Ledderose führt die kulturelle Überlegenheit Chinas darauf zurück, dass das Lernen der Schriftzeichen nicht nur eine hohe Disziplin, die Fähigkeit zum Kopieren und einen ästhetischen Sinn verlangt, sondern dass dadurch auch ein modulares Lernen, also das Kombinieren von Mustern, gefördert wird (Ledderose). Das erkläre die überragende Fähigkeit der Chinesen zum Kopieren von westlichen Produkten. Die Fähigkeit der schnellen Mustererkennung wirkt sich auch positiv auf anderen kulturellen Gebieten aus.

Wenn Muster beherrscht werden, gelingt es leichter, Probleme zu lösen. Schachmeister können mit einem Blick komplexe Spielsituationen erfassen und den richtigen Zug auswählen. Das gelingt, weil sie aus Erfahrung sehr viele Spielkonstellationen kennen. Deshalb können sie eine Spielkonstellation mit vielen Figuren relativ genau wiedergeben, wenn sie sie nur ca. 5 Sekunden angeschaut haben, während ein Anfänger dabei scheitert (Gazzaniga S. 109). Da sie auf Muster zurückgreifen können, ist es nicht überraschend, dass Schachmeister wesentlich weniger Energie beim Spielen verbrauchen als Anfänger.

Auch beim Lernen von Erkenntnissen geht es um das Erfassen der Muster, die den Erkenntnissen zugrunde liegen. Da sich die Muster nicht direkt aus den Sätzen erschließen lassen, kommt es darauf an, dass der Entstehungsprozess der Erkenntnisse nachvollzogen werden kann. Das gelingt am ehesten, wenn man sich die Problemsituation vergegenwärtigt, die zu der Erfahrung bzw. Erkenntnis geführt hat und die Bewegungsmuster nachvollzieht, mit denen das Problem gelöst worden ist. Noch besser wäre es, dass versucht wird, das Problem mit eigenem Denken zu lösen. So wird z. B. das Prinzip der Dampfmaschine am besten verstanden, wenn man sich überlegt, wie mit dem Druck des Dampfes eine drehende Bewegung erzeugt werden kann. Wenn das Problem selbstständig gelöst wurde, braucht man die entdeckte Regel nicht mehr auswendig zu lernen. Bei Erkenntnissen mit einem Aha-Effekt reichen beim Lernen meist wenige Wiederholungen. Entscheidend ist, dass das zugrundeliegende Muster erkannt wird. Auch noch so häufiges Wiederholen der Sätze, die die Erkenntnisse umschreiben, kann die Aufgabe, das Muster zu erfassen, nicht ersetzen.

Wenn man gezwungen ist, Erkenntnisse ohne Kenntnis ihres Entstehungszusammenhanges zu lernen, muss man sie wie bei motorischen Bewegungsvorgängen häufig wiederholen, um sie sich anzueignen. Das ist erfahrungsgemäß beim Lernen von Vokabeln einer Fremdsprache der Fall. Wenn keine Muster erkannt werden können, kostet das den Preis anstrengenden Wiederholens.

Die schlechteste Lernmethode ist das Auswendiglernen. Es wird dabei die Grundregel des Lernens verletzt, dass nur das für weitere Lernschritte genutzt werden kann, dessen Muster erfasst wurde. Insofern blockiert das Auswendiglernen die kognitive Entwicklung. Das Missverständnis, dass Lernen in der Wissensaneignung besteht, war folgenreich, da es zu einer falschen Organisation des Lernens geführt hat. Es wurde das Gedächtnistraining favorisiert, anstatt Situationen herzustellen, in denen praktisch relevante Erfahrungen gemacht werden können und der Anreiz besteht, daraus Konsequenzen für das eigene Handeln abzuleiten. Auswendiglernen kann niemals ein Ersatz für das Verständnis sein, das aus dem eigenen Tun gewonnen wird. Reines Auswendiglernen ist im Grunde ein Missbrauch der mentalen Fähigkeiten. Lernstoff wird schnell wieder vergessen, wenn er bloß auswendig gelernt wird.

Die verbreitete Ablehnung von mechanischen Wiederholungen ergibt sich aus dem Fehlverständnis, dass Wissen als Information, als ein Wissen-dass verstanden wird. Da Wissen nichts anderes als eine Fertigkeit ist, muss es so lange wiederholt werden, bis es sich als Gewohnheit eingeschliffen hat. Es kommt auf die Einsicht an, dass das Wissen als Fertigkeit in Gewohnheiten umgewandelt werden muss und dass der Lernprozess wesentlich schneller geht, wenn er von einem starken Interesse angetrieben wird und dass das Muster der zu lernenden Fertigkeit erfasst wurde. Beim Lernen ist die gefühlsmäßige Bewertung des Lernstoffes ausschlaggebend.

4.8. Sich erinnern – Muster aktivieren

»Wer als Werkzeug nur einen Hammer besitzt, wird alles wie einen Nagel behandeln.« (Paul Watzlawick)

Das Abrufen von Wissen aus dem Gedächtnis gilt als die Paradeleistung des Bewusstseins. In der klassischen Definition der Kognitionspsychologie beschäftigt sich das Gedächtnis mit Informationen. Gemeinhin wird das Gedächtnis in Analogie zum Computer als ein System betrachtet, in dem Informationen gespeichert, bearbeitet und abgerufen werden. So wie beim Computer soll im Gehirn neben der zentralen Recheneinheit ein Speicher existieren.

Rupert Sheldrake hat den Eindruck, dass die Suche nach den Spuren des Gedächtnisses im Gehirn bisher erfolglos war (Sheldrake S. 278). Die bisherigen Forschungsergebnisse ließen erkennen, dass das Gedächtnis nicht anhand lokaler Veränderungen an Synapsen zu erklären ist (Sheldrake S. 256). Die Gehirnforschung zeigt, dass es kein spezielles Areal im Gehirn gibt, das für das Gedächtnis zuständig ist, sondern dass verschiedene Bereiche daran beteiligt sind. Denn bei Hirnschädigungen fallen meistens nur bestimmte Gedächtnisleistungen selektiv aus (Werth S. 74).

Bennett und Hacker halten es für eine falsche These, dass im Gedächtnis Repräsentationen von vergangenen Ereignissen abgelegt werden. Auch die Vorstellung, dass Wahrnehmungen codiert werden, sei fragwürdig (Bennett S. 222). Dies wird mit dem Argument bezweifelt, dass dabei ein Muster verwendet wird, dass aus der Verschlüsselung von sprachlichen Texten stammt. »In der normalen Bedeutung von Wissen, kann das Gehirn kein Wissen aufzeichnen, enthalten oder besitzen.« (Bennett S. 197) Es gäbe auch keine Gedächtnisspuren im Gehirn.

Der stärkste Impuls, das traditionelle Speichermodell des Gedächtnisses infrage zu stellen, kam von den Wissenschaftlern, die sich mit der künstlichen Intelligenz in Robotern beschäftigen. Es war unübersehbar, dass mit diesem Modell das Lernen von Robotern nicht angemessen nachgebildet werden kann. Es drängte sich das alternative Modell auf, das Gedächtnis als eine Fähigkeit aufzufassen, die auf sensomotorischen Koordinationsprozessen beruht (Leuzinger-Bohleber S. 52).

Die Mustertheorie unterstützt die Auffassung, dass das Gedächtnis mit den Bewegungsmustern zusammenhängt. Da Wissen primär ein Können ist, wird es nicht als separate mentale Entität abgespeichert, sondern besteht es aus Bewegungs- und Handlungsmustern. Neue Fähigkeiten werden in Mustern aufbewahrt und weitergegeben. Wird man mit Objekten konfrontiert, wird automatisch das entsprechende Muster aktiviert, das anzeigt, was mit ihnen getan werden kann. Die Muster prägen die Bewegungen und damit auch die Mikrostuktur des Gehirns. Man könnte metaphorisch sagen, dass die Muster die Programme der Bewegungen festlegen, bzw. dass die Muster Bewegungsprogramme sind. Die These, dass sich das Gedächtnis in den Bewegungsmustern befindet, wird auch durch die Beobachtung unterstützt, dass sich in kortikalen Arealen, in denen Bewegungen organisiert werden, Gedächtnisinhalte befinden (vgl. Fuser, in: Pauwels).

Als in der Evolution die Aufgabe gelöst werden musste, wie Erfahrungen für künftiges Verhalten genutzt werden können, bot sich an, Erfahrungen direkt mit Bewegungsmustern zu verbinden. Dann stehen sie jederzeit zur Verfügung, wenn die entsprechende Bewegung gebraucht wird. So hat sich im Verlauf der Evolution die Einheit von Bewegung und Gedächtnis herausgebildet. Damit ist Gedächtnis als eine Fähigkeit zu verstehen, Bewegungsmuster aktiv oder virtuell anzuwenden, wenn in einer Situation deren Auslösebedingungen gegeben sind. Wie oben erläutert wurde, kann das bloße Sehen eines Objektes Bewegungsmuster aktivieren, so dass die daran gekoppelten Erinnerungen ins Bewusstsein treten.

In diesem Sinne ist für Bennett und Hacker das Sich-Erinnern die Ausübung einer Fähigkeit. »Sich daran zu erinnern, wie man Auto fährt, erfordert lediglich die Ausübung der Fähigkeit, Auto zu fahren. Sich daran zu erinnern, was jemand sagte, macht es lediglich erforderlich, aufgrund der von der Äußerung bereitgestellten Information zu handeln oder entsprechend zu reagieren.« (Bennett S. 225). Auch Edelman vertritt die Auffassung, dass Gedächtnis kein repräsentationales Phänomen, sondern die Fähigkeit ist, eine Handlung unter ähnlichen Bedingungen wiederholen zu können (Edelman S. 128).

Wie die Erfahrung zeigt, kann Faktenwissen nur behalten werden, wenn es an Bewegungsmuster gekoppelt wird oder neue Bewegungsmuster dafür gebildet werden. Es kann schon ausreichend sein, wenn das Faktenwissen als Antwort auf eine Frage aufbewahrt wird. Damit hängt auch zusammen, dass Wissen leichter abgerufen werden kann, wenn es mit dem aktuellen Handeln in Beziehung steht. Deshalb fällt einem etwas Bestimmtes leichter ein, wenn man handelt oder zumindest Handlungszusammenhänge imaginiert. Die Erfahrung bestätigt immer wieder, dass Erinnerungen leichter im Kontext von Handlungen abgerufen werden können.

Somit muss die traditionelle Vorstellung, dass das Gedächtnis ein eigenes System der Informationsspeicherung ist, aufgegeben werden. Es ist fraglich, ob der abstrakte Allgemeinbegriff Gedächtnis überhaupt noch sinnvoll ist, da er mit der problematischen Vorstellung verbunden ist, dass es einen speziellen Ort im Gehirn gibt, in dem Erfahrungen und Wissen abgespeichert werden. Von Gedächtnis sollte nur gesprochen werden, wenn daran gedacht wird, dass Erfahrungen aus der Vergangenheit das aktuelle Verhalten beeinflussen (Pauwels S. 22).

In den Embodied Cognitive Sciences wird behauptet, dass es ein externes Gedächtnis geben würde. Die Welt selbst sei ein Speicher, der durch die Interaktion mit ihr aktiviert wird. Es wird von der Erfahrung ausgegangen, dass die Dinge einen Aufforderungscharakter haben und sozusagen ein bestimmtes Verhalten anbieten. Dabei wird aber übersehen, dass den Dingen der Aufforderungscharakter nicht von Haus aus zukommt, sondern dass er ihnen erst in der Interaktion mit ihnen verliehen wird. Deshalb kann der Anblick eines Baumes bei jedem Einzelnen völlig verschiedene Reaktionen auslösen. Die Idee eines objektiven Gedächtnisses darf deshalb nicht wörtlich genommen werden.

Auch die Vorstellung von Rupert Sheldrake, dass Informationen in sogenannten transpersonalen morphogenetischen Felder aufbewahrt werden und jedem Individuum in der ganzen Welt zur Verfügung stehen, muss sehr kritisch betrachtet werden. Bislang konnte die Existenz solcher Felder nicht nachgewiesen werden.

In der Praxis wird die Realität tatsächlich ständig als eine Art Gedächtnis benutzt. Dies ist z. B. der Fall, wenn man einen Gegenstand auf den Tisch legt, um daran erinnert zu werden, dass er neu gekauft oder repariert werden muss. Ein Wort auf einem Notizzettel kann dieselbe Funktion übernehmen. Wenn Gegenstände oder Wörter mit der Bedeutung einer zu erledigenden Handlung verknüpft werden, können sie als eine Art objektives Gedächtnis funktionieren.

Das Vergessen ist nicht weniger wichtig als das Erinnern. Erstaunlicherweise kann man sich nicht bewusst vornehmen, etwas zu vergessen. Das Gehirn besitzt einen eingebauten Mechanismus, sich von veraltetem, unnütz gewordenem Wissen zu entlasten, der Wissen automatisch löscht, wenn es für das Handeln lange Zeit nicht mehr benötigt und vom unbewussten Bewertungsprozess als unwichtig eingestuft wurde. Das spricht für die These, dass das Gedächtnis ein Teil der Handlungsmuster ist.

4.9. Sich bewegen – Widerstände überwinden

»Luft und Bewegung sind die eigentlichen geheimen Sanitätsräte.« (Theodor Fontane)

Im Laufe der Evolution des Menschen hat sich unter dem Einfluss der Anforderungen der Umwelt ein kräftiger Organismus herausgebildet, der immer wieder mit Kraft und Ausdauer große Widerstände überwinden kann, insbesondere bei der Nahrungsbeschaffung, bei der Jagd, beim Transport, beim Kampf u. a. 44 Die körperliche Funktionsfähigkeit kann nur aufrechterhalten werden, wenn sie regelmäßig herausgefordert wird. Unzureichender Gebrauch führt bereits nach kurzer Zeit zum Abbau der Muskulatur und zu körperlichen Funktionsstörungen. Die zahlreichen sogenannten Zivilisationskrankheiten wie Herz-Kreislauferkrankungen, Rückenschmerzen, Diabetes, Osteoporose, Krebs u. a. Resultieren zum Teil auch daraus, dass die gegenwärtigen Umweltbedingungen, die sich durch stärkereiche Nahrung, Bewegungsarmut und einen Mangel an körperlicher Arbeit auszeichnen, dem menschlichen Organismus zu wenig abverlangen. Wenn das Gespür für die körperlichen Bedürfnisse wegen des Bewegungsmangels verloren geht, müssen diese sich in Form von Krankheiten Geltung verschaffen. Aufgeklärte Mediziner nutzen seit einiger Zeit den evolutionären Zusammenhang zwischen Krankheiten und Bewegungsmangel, um die zivilisatorisch bedingten chronischen Krankheiten zu heilen (vgl. Lieberman, Servan-Schreiber).

Mit der Entwicklung der Zivilisation haben sich die Menschen eine Umwelt geschaffen, für die ihr Organismus im Grunde nicht gebaut ist. Dass diese solange übersehen wurde, liegt sicherlich einerseits daran, dass das rationalistische Menschenbild die körperlichen Bedürfnissen vernachlässigt hat und dass andererseits die von Darwin eingeleitete evolutionäre Betrachtung der menschlichen Entwicklung nur langsam in das Denken eindringt. Die Hoffnung, dass die zunehmenden Funktionsstörungen durch Fortschritte in der Medizin kompensiert werden können, hat sich bisher nicht erfüllt. Ob sich der menschliche Organismus genetisch an die neuen Bedingungen anpassen kann, ist ungewiss; auf jeden Fall braucht es dafür sicherlich mehrere tausend Generationen.

Die für den menschlichen Organismus negativen Umweltbedingungen erzwingen eine aktive Gesundheitsvorsorge, die für die Menschen bis zur Erfindung der Landwirtschaft vor ca. 10.000 Jahren nicht erforderlich war. Die fehlenden körperlichen Anstrengungen und Widerstände müssen jetzt durch Sport und Krafttraining ersetzt werden, wobei es bisher noch nicht gelungen, das richtige Maß zwischen Über- und Unterforderung zu finden. Es muss eine neue Balance zwischen den körperlichen und den seelisch-mentalen Bedürfnissen gefunden werden. Wenn sich die Menschen als natürliche Wesen verstehen, was in erster Linie bedeutet, dass sie stärker auf ihre Bedürfnisse achten, wird sich die Balance von selbst einstellen.

4.10. Fazit

»Das Handeln stellt den innersten Kern der Ideen dar.« (John Dewey)

Das Ziel der persönlichen Entwicklung besteht darin, in jeder Situation fähig zu sein, angemessen reagieren zu können, insbesondere in Situationen, die ungewohnt sind oder in denen man kritisiert, angegriffen oder abgelehnt wird. Es geht nicht darum, dass negative Gefühle in Grenzen gehalten werden, wie häufig argumentiert wird, sondern dass negative Gefühle gar nicht erst entstehen, da man über Verhaltensmuster verfügt, um sich mit konfliktreichen Situationen konstruktiv auseinandersetzen und spontan nach einem Ausweg zu suchen. Wenn dennoch belastende Gefühle mit quälenden Gedanken auftreten, gelingt es relativ leicht, sich von ihnen zu lösen. Zu Recht bezeichnet Julius Kuhl solche Menschen als handlungsorientiert. Sie verlieren in kritischen Situationen nicht die Fähigkeit, ihre Probleme mit Hilfe des Handelns zu bewältigen (vgl. Kuhl). Sie beherrschen die Fähigkeit, sich selbst zu beruhigen. Man sagt, dass sie ein starkes Selbstwertgefühl haben.

Persönliche Probleme und Konflikte sind stets ein Zeichen dafür, dass man das eigene Handeln blockiert. Oben wurde bereits mehrfach erläutert, dass emotionale Verletzungen stets mit einer Einschränkung der eigenen Handlungsfähigkeit einhergehen. Es wird versäumt, geeignete Handlungsmuster zu entwickeln, um in kritischen Situationen den Überblick zu behalten und nicht »den Kopf zu verlieren«. Emotionale Verletzungen führen dazu, dass man sich von anderen Menschen emotional abhängig macht. Aus Angst, für die eigenen Gefühle mit Liebesentzug oder körperlich bestraft zu werden, orientiert man sich an den Erwartungen der Menschen, von denen die emotionalen Verletzungen ausgehen. Indem man anderen Menschen die Schuld für die eigenen Probleme zuweist, sie verantwortlich macht oder Vergebung erwartet, ist man unfähig, sich an den eigenen Gefühlen zu orientieren. Es wird nicht mehr gespürt, was man eigentlich will. Man verliert die Fähigkeit, seinen eigenen Gefühlen zu vertrauen. Letztlich blockiert man das eigene Handeln, weil man das Handeln von den anderen erwartet. Insofern ist emotionale Abhängigkeit die Ursache dafür, dass man in Vorwürfen, Anklagen und Grübeleien hängen bleibt. Man macht sich zum Opfer, um nicht handeln zu müssen. Persönliche Probleme weisen somit auf einen Mangel an ausreichender Handlungsfähigkeit hin.

Der erste Schritt, um die Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen, besteht darin, dass man handelnd seine Probleme anpackt und das Risiko des Scheiterns in Kauf nimmt. Erfolgreiches Handeln stärkt das Selbstvertrauen und ermutigt zu problemorientiertem Handeln. Das Wissen, dass man sich selbst blockiert und dass die Schuldvorwürfe nur ein Trick sind, um die eigene Angst zu rechtfertigen, kann dabei hilfreich sein, ist aber nicht unbedingt erforderlich.

5. Zum Verhältnis von Körper und Geist

»Wenn du ein Problem hast, versuche es zu lösen. Kannst du es nicht lösen, dann mache kein Problem daraus.« (Siddhartha Gautama)

Die Analyse des Ich hat immer wieder die Frage nach dem Verhältnisses von Körper und Geist berührt. Denn der Glaube an das Ich setzt den Dualismus von Körper und Geist voraus. Ohne die Vorstellung des immateriellen Geistes hätte sich die Vorstellung des Ich als innerer Wesenskern nicht entwickeln können. Das Ich ist untrennbar mit dem idealistischen, auf der Dominanz des Geistes aufbauenden Menschenverständnis verbunden.

Das philosophische Rätsel, wie das als immateriell verstandene Denken mit dem Körper zusammenhängt, ist nach wie vor ungelöst. Keiner der zahlreichen Vorschläge konnte bisher überzeugen. Im Folgenden soll dargestellt werden, dass mit Hilfe der Mustertheorie das Problem vermutlich endgültig erledigt werden kann. Es wird sich zeigen, dass es sich schlicht um ein Scheinproblem handelt.

5.1. Den Dualismus von Körper und Geist überwinden

»Unsere Krankheit ist es, erklären zu wollen.« (Ludwig Wittgenstein)

Der Geist wird als eine innere Steuerungsinstanz gedacht, die das Denken, die Gefühle und das Handeln lenkt. Er manifestiert sich in der Fähigkeit, innere Zustände mit einem Inhalt zu besitzen und über sie nachzudenken zu können. Er wird als Vermögen betrachtet, die Realität objektiv und exakt zu erkennen. Die Überzeugung von Aristoteles, dass das Denken die vornehmste Eigenschaft der Menschen sei, prägte nicht nur die Geschichte der Philosophie, sondern auch das Selbstverständnis der Menschen. Die Menschen werden seitdem als geistige, vernunftbegabte Wesen bezeichnet. Seit Descartes wird der Geist als eine innere immaterielle Substanz mit bestimmten Eigenschaften angenommen. Er ist mit der Überzeugung verbunden, dass das Denken die Fähigkeit hat, alle Probleme aus eigener Kraft zu lösen.

Wie bei allen Begriffen ist auch beim Begriff des Geistes der Rückblick auf seine etymologische Herkunft sehr lehrreich. Lange Zeit herrschte die Überzeugung vor, dass der Begriff aus dem griechischen Begriff pneuma und dem lateinischen Begriff spiritus abgeleitet werden kann. Wie unten für den Begriff der Seele gezeigt wird, erschien diese Herleitung deshalb überzeugend zu sein, da das Denken, insbesondere das Sprechen, unverkennbar mit dem Atem verbunden ist. Hartmut Buchner hat vorgeschlagen, den Begriff auf den germanischen Begriff gaista (m.) zurückzuführen, der soviel besagt wie lebhaft bewegt, aufgebracht, bestürzt, erschreckt sein. Demnach sei die Grundbedeutung des Geistes, aus dem Gewohnten und Erwarteten auszubrechen und über das Fixierte hinauszutreiben (Buchner). Der Begriff soll die Besonderheit des Denkens erfassen, nach dem Neuen zu suchen. Interessant ist, dass der Geist an körperlichen Merkmalen festgemacht wird. In diesem Punkt besteht Übereinstimmung mit der Ateminterpretation des Geistes, die ebenfalls von der körperlichen Lebendigkeit ausgeht. Offensichtlich wurden die Gedanken ursprünglich als ein Ausdruck des ganzen Körpers und nicht bloß eines isolierten Organs betrachtet.45 Der Begriff des Geistes resultiert offensichtlich aus dem Versuch, das Denken mit dem Bezug auf Körperliches zu erklären. Allerdings ist der Lösungsvorschlag wenig befriedigend, da der Übergang vom Körper zum Denken nicht nachvollziehbar ist.

Seit einiger Zeit streben die Neurowissenschaftler eine körperliche, naturalistische Erklärung an, indem der Geist entweder als eine Erfindung des Gehirns verstanden wird oder das Gehirn mit dem Geist gleichgesetzt wird. So verwenden Hirnforscher immer wieder die Formeln: »Nicht ich entscheide, sondern mein Gehirn entscheidet«. »Das Gehirn macht die Seele«. Oder: »Das Gehirn bringt das Denken hervor«. Dem Gehirn werden die Fähigkeiten zugesprochen, die früher der Geist besaß: »Das Gehirn denkt, das Gehirn wägt zwischen Alternativen ab, das Gehirn entscheidet, das Gehirn stellt Hypothesen auf. u. a.« Offensichtlich wird die Vorstellung, dass der Geist ein Steuerorgan ist, einfach auf das Gehirn projiziert. Bennett und Hacker haben angemerkt, dass das Gehirn in der gleichen logischen Struktur wie früher der Geist betrachtet wird. Es sei ein logischer Fehlschluss, wenn Begriffe für Fähigkeiten, die für Lebewesen als Ganzes entwickelt wurden, auf Teile von ihnen angewendet werden. Es sei deshalb ein falscher Gebrauch der Sprache, wenn davon gesprochen wird, dass das Gehirn denkt.

Der Versuch der Neurowissenschaftler, den Geist als ein Produkt des Gehirns zu erklären, kann auch deshalb als gescheitert angesehen werden, weil übersehen wird, dass das Gehirn – wie oben dargestellt – keine Schaltzentrale, sondern nur ein Koordinationsmedium ist, in dem alle einzelnen körperlichen Aktivitäten aufeinander abgestimmt werden. Demnach bringt das Gehirn nichts hervor, sondern organisiert nur Bewegungen mit Hilfe von Mustern. Aus der Perspektive, dass die Menschen Zellkolonien sind, erscheinen alle Behauptungen über zentrale Dirigenten als höchst unplausibel. Es ist zweckmäßig, davon auszugehen, dass sich die Gedanken aus dem komplexen Zusammenwirken des ganzen Körpers im Kontakt mit der Umwelt ergeben und dass die Gedanken aus dem bewussten Erleben dieser Prozesse bestehen. Aus dieser Sicht ist die Frage, ob das bewusste Erleben von Gedanken, Gefühlen und Wahrnehmungen identisch mit den physiologischen Grundlagen im Gehirn ist, falsch gestellt. Ebenso ist es sinnlos zu fragen, ob die mentalen und die körperlichen Prozesse völlig voneinander getrennt oder engstens miteinander verbunden sind.

Auch die Versuche, den Geist als das Resultat von speziellen Energiefeldern zu erklären, sind gescheitert. Schaut man sich die Herkunftsgeschichte des Begriffs der Energie an, wird deutlich, dass er ursprünglich dafür gedacht war, das eigenartige Phänomen zu erfassen, dass die Menschen in sich Kräfte verspüren, die sich in Gedanken, Gefühlen oder Träumen manifestieren. Diese Kräfte können nicht beobachtet oder gemessen werden, sie können nur aus den Äußerungsformen des psychisch-mentalen Innenlebens erschlossen werden. Nachdem der frühere Erklärungsversuch mit dem Begriff der Seele gescheitert war, griff man auf den Begriff der Energie zurück, da er den Vorteil hat, dass er keine religiösen Konnotationen enthält. Wie der Begriff der Seele ist er aber auch nur ein metaphorischer Hilfsbegriff. So bezog sich der Begriff der Energie bei den Chinesen ursprünglich darauf, wie Wasser über einer Feuerstelle verdunstet. Das chinesische Zeichen Chi, das mit Energie übersetzt wird, setzt sich zusammen aus »Dampf« und »Reis« – Dampf, der beim Kochen von Reis entsteht (Elberfeld S. 304). Die Prominenz des physikalischen Energiebegriffs täuscht darüber hinweg, dass es noch völlig ungeklärt ist, ob der Energiebegriff sinnvoll auf mentale und psychische Prozesse angewandt werden kann.

Ohne Übertreibung kann festgestellt werden, dass alle Versuche, die Existenz des Geistes zu begründen oder den Geist aus anderen Prinzipien abzuleiten, bisher gescheitert sind. Aus der bisherigen Analyse des Denkens in diesem Buch ergibt sich ein neuer Erklärungsansatz. Da das Denken mit Mustern operiert, die spontan in der Interaktion mit der Umwelt gebildet wurden, kann der Ort des Denkens nicht im Geist lokalisiert werden. Die Mustertheorie hebt die traditionelle Unterscheidung zwischen geistigen und körperlichen Aktivitäten auf. In der psychisch-mentalen Innenwelt gibt es weder rein psychische noch rein körperliche Prozesse. Alle inneren Prozesse haben sowohl einen körperlichen als auch einen psychischen bzw. mentalen Aspekt. Aus dieser Sicht kann das Denken nicht länger als ein immaterieller, sondern muss es als ein körperlicher Prozess betrachtet werden. Die Bewegungsmuster, die beim Denken miteinander verknüpft werden, sind letztlich körperliche Bewegungsdispositionen. Zu Recht hat Hans Aebli die These vertreten, dass das Denken ein Ordnen des Tuns und dass es deshalb nicht vom Handeln zu trennen ist (Aebli Bd. 2 S. 285).

Dieser Ansatz wird durch die Theorie der Hirnforschung bestätigt, dass das Denken eng mit der Motorik zusammenhängt. »Die Schaltkreise im Gehirn, die dazu dienen, geistiges Handeln zu veranlassen, zu ordnen und zeitlich abzustimmen, sind dieselben, die auch physisches Handeln veranlassen, ordnen und zeitlich abstimmen.« (Ratey S. 179). Sogar das Kleinhirn, das ursprünglich als das Zentrum der Bewegungen galt, ist am Denken beteiligt. John Ratey vertritt die Auffassung, dass die Programme für die Bewegungsmuster im Kleinhirn und in den Basalganglien abgespeichert werden. Auch im philosophischen Behaviorismus ging man davon aus, dass das Denken durch Regungen der Muskulatur bestimmt wird. Bei emotional beladenen Themen kommt es spontan zu muskulären Anspannungen. Beim Hören von metaphorischen Begriffen wird eine minimale motorische Reaktion ausgelöst (Schramm S. 75). Das spricht dafür, dass vom Gehirn Metaphern ganz wörtlich genommen werden. Wird die gesamte Muskulatur medikamentös gelöst, ist man unfähig, sich auf etwas zu konzentrieren.

Dementsprechend sind mentale Prozesse nicht als Aktivitäten zu verstehen, die eine physiologische Basis und darüber hinaus noch eine eigenständige geistige Entität haben. Da sie simulierte Handlungen sind, bestehen sie ausschließlich aus physiologischen Prozessen. Allerdings laufen die körperlichen Zustandsveränderungen unterhalb der Bewusstseinsschwelle und außerhalb des motorischen Systems ab, so dass sie nicht bewusst erlebt werden können. Wie die Neurowissenschaftler Roth und Strüber darstellen, sind Gedanken ohne diese körperlichen Zustandsveränderungen gar nicht denkbar (Roth 2014 S. 238). Da die simulierten Handlungen aber das propriozeptive Nervensystem stimulieren und die Neigung besteht, sie sofort zu verbalisieren, werden sie als Gedanken erlebt. Die These von Moshé Feldenkrais, dass innere Prozesse nur bewusst werden können, wenn sie sich in Bewegungen manifestieren, gilt somit auch für das Denken (Feldenkrais S. 65). Beim Denken ist es nicht anders als beim Handeln: beides sind physiologisch verankerte Prozesse, die mit einem Sich-selbst-Erleben verbunden sind.

Die häufig von Psychologen vertretene Auffassung, dass alle Gedanken und Gefühle mit dem Körper zu tun haben und deshalb verkörperte Phänomene sind (Leuzinger-Bohleber S. 9, Varela 1992 S. 238), wird ihrer körperlichen Qualität nicht gerecht. Solange Gedanken als verkörperte Fähigkeiten betrachtet werden, bewegt sich das Denken noch im Rahmen des alten Dualismus von Körper und Geist. Denn der Begriff Verkörperung suggeriert, dass etwas Nicht-Körperliches in einen körperlichen Ausdruck transformiert wird. Zumindest ist unklar, wodurch sich die körperlichen Prozesse, in denen sich mentale Phänomene verkörpern, von anderen körperlichen Prozessen unterscheiden. Man muss vielmehr davon ausgehen, dass Gedanken von vornherein ausschließlich körperliche Phänomene sind, die zusätzlich bewusst erlebt werden können, da sie differenzierte virtuelle Bewegungen sind.

Wenn es nicht gerechtfertigt ist, zwischen körperlichen und geistigen Prozessen zu unterscheiden, kann auch der Gegenbegriff zum Geist, nämlich der Begriff des Körpers, nicht länger mechanistisch als bloß ausgedehnte Materie bestimmt werden. Es wurde gezeigt, dass der materielle Körper von Lebewesen eine dialogische Struktur hat, da er aus Zellen besteht, die intensiv mit Hilfe einer Vielzahl von kommunikativen Medien (elektrische Felder, Hormone, Biophotonen u. a.) miteinander kommunizieren. Deshalb sollte der Begriff der Materie bei der Analyse des menschlichen Verhaltens vermieden werden. Er bewegt sich auf einer zu hohen Abstraktionsebene, als dass damit das menschliche Denken und Handeln erklärt werden kann.

Es zeigt sich, dass die in der Dualismusdebatte verwendeten Begriffe wie Körper, Materie und Geist reine Abstraktionen sein, denen nichts real Erlebbares entspricht. Die Begriffe erweisen sich als untaugliche Versuche, um damit die zentrale Frage zu beantworten, wie es das Denken fertigbringt, das Handeln zu beeinflussen. Bei einem kritischen Gebrauch des Begriffs Geist sind Behauptungen wie »Geist und Materie sind zwei Seiten der gleichen Sache« unvorstellbar. Man wird hier von der Objekttäuschung des abstrakten Allgemeinbegriffs Geist in die Irre geführt. Ebenso sind Formulierungen wie »in meinem Geist«, höherer Geist oder universeller Geist sinnlos geworden. So behauptet z. B. Bruce Lipton, »dass wir die menschliche Intelligenz nur ganz verstehen können, wenn wir einen höheren Geist (Energie) ... miteinbeziehen.« (Lipton S. 161). Hier wird der Fehler gemacht, dass Begriffe, die für menschliche Fähigkeiten entwickelt wurden, auf den Kosmos, die Natur oder andere außermenschliche Instanzen angewandt werden. Aus dem Erstaunen über das Wunder der Natur kann niemals ein höherer Geist, allenfalls die Beschränktheit des menschlichen Denkens abgeleitet werden.

Alle bisherigen Versuche, die Frage zu klären, wie das Denken das Handeln lenkt, litten daran, dass auf der Seite des Denkens innere Vorstellungen angenommen wurden. Da die Vorstellungen als geistige Repräsentationen der vorgegebenen Wirklichkeit verstanden wurden, war es schwierig zu verstehen, wie die Kluft zwischen Vorstellung und Handeln überbrückt wird. Sehr einflussreich war das von Lotze und James Ende des 19. Jh. entwickelte ideomotorische Prinzip, wonach Vorstellungen Handlungen auslösen können. »Jede Vorstellung einer Bewegung ruft bis zu einem gewissen Grad die tatsächliche Bewegung wach, die ihr Gegenstand ist und sie ruft sie immer dann maximal wach, wenn sie nicht von einer antagonistischen Vorstellung davon abgehalten wird, die gleichzeitig im Geist anwesend ist.« (James S. 526). Da die Vorstellungen als etwas Geistiges betrachtet werden, konnte das Rätsel, wie etwas Geistiges körperliche Handlungen auslösen kann, nur scheinbar gelöst werden. Für die alternative Erklärung, dass Gedanken aufgrund ihrer energetischen Qualität in biologische Prozesse eingreifen können, die aus quantenphysikalischer Sicht letztlich aus Energie bestehen, gibt es ebenso wenig überzeugende Beweise. Es wird lediglich das große Prestige der Quantenphysik für die dogmatische Gleichsetzung von Gedanken und Energie benutzt.

Wenn dagegen das Denken als ein virtuelles Handeln aufgefasst wird, ergibt sich eine plausiblere Erklärung. Denken wirkt nicht auf das Handeln ein, sondern ist selbst eine virtuelle Form des Handelns. Es wird aktiviert, wenn die verfügbaren Handlungsmuster unzureichend sind und neue Lösungswege gesucht werden müssen. Das Denken ist nicht der Grund des Handelns, sondern hat die Aufgabe, Unsicherheiten durch probeweises Handeln aufzulösen.

Offensichtlich ist das Rätsel, wie das Denken das Handeln beeinflusst, dadurch entstanden, dass das Denken als eine eigenständige Funktion der Erkenntnis missverstanden wurde. Es löst sich auf, wenn das Denken als ein virtuelles Handeln und als ein Aspekt der komplexen Reaktion des Organismus auf Erfahrungen begriffen wird. In diesem Verständnis kann auf den Begriff der Repräsentation verzichtet werden, der bisher alle Erklärungsversuche scheitern ließ. Dadurch werden die Gedanken keineswegs auf etwas Materielles reduziert! Vielmehr wird bloß die Mystifizierung der Gedanken überwunden, die sie zu einem Rätsel gemacht hat.

Damit verliert der traditionelle Begriff des Geistes seine Grundlage. Die Erklärung des Denkens mit der Aktivität des Geistes erweist sich als eine Pseudoerklärung. Der Begriff des Geistes ist ein mentales Konstrukt. Er drückt lediglich aus, dass das Denken als ein geheimnisvoller Prozess erlebt wird, der sich dem menschlichen Verständnis entzieht. Das idealistische Körperverständnis, das den Organismus in einen immateriellen Geist und einen materiellen Körper spaltet, bricht in sich zusammen.

Aus der Analyse des Denkens folgt, dass die Frage nach dem Ursprung der Gedanken eine sinnlose Frage ist. Die Frage, welches Organ oder welche Instanz das Denken hervorbringt, folgt der problematischen Neigung, für mentale Regungen ein verursachendes Subjekt anzunehmen. Es wird nach dem Muster vorgegangen, dass innere Prozesse einem imaginären Akteur oder einer inneren Person zugeschrieben werden. Oben wurde dieses Denkmuster als personal bezeichnet, weil aus abstrakten Zusammenhängen Als-ob-Handlungen von imaginären Personen gemacht werden. Der Dualismus von Körper und Geist erweist sich damit als ein Scheinproblem.

Damit kann nicht länger an dem Verständnis des Menschen als einem doppeldeutigen Wesen (Helmuth Plessner) festgehalten werden, dem sowohl eine natürliche wie eine geistige Existenzweise zukommt. Die Fähigkeit, sich zu sich selbst verhalten zu können, spricht nicht für eine geistige Existenzweise. Sie ist aus der Aufgabe entstanden, die Anforderungen, die sich aus dem sozialen Zusammenleben ergeben, in die natürliche Ausstattung zu integrieren (vgl. Bennent-Vahle S. 160). Diese Aufgabe verlangt die Fähigkeit der Selbstreflexion, die ebenfalls keine geistige Fähigkeit ist, sondern als ein körperlicher Aspekt effektiven Handelns bestimmt werden kann.

Die Überwindung des Dualismus von Körper und Geist hilft, sich von Illusionen zu befreien, die das Verhältnis zum eigenen Körper stören. Denn der Dualismus hatte die ideologische Funktion, den Geist als ein höherwertiges Prinzip zu verklären und den Körper als etwas Minderwertiges abzuwerten.

Der Dualismus von Körper und Geist ist nicht nur aus sprachanalytischer Sicht ein Scheinproblem. Auch wenn man die oben entwickelte Perspektive einnimmt, dass der menschliche Körper eine Zellenkolonie ist, muss die dualistische Aufspaltung als völlig absurd erscheinen. Wenn alle Aktivitäten aus dem Zusammenwirken der einzelnen Zellen hervorgehen, kann es keinen Dirigenten geben. Was der eigene Körper will, kann nur auf die Weise erfahren werden, dass achtsam auf die inneren Impulse geachtet wird. Die Metapher des Menschen als Zellenkolonie regt einen totalen Perspektivwechsel an, der die Menschen von allen religiösen und philosophischen Autoritäten befreit, die sich anmaßen, den Willen des Körpers bzw. Geistes zu kennen. Er befreit sie auch von der Fiktion, sich selbst steuern zu können und in den Griff bekommen zu müssen. Wenn das Konzept des Geistes aufgegeben wird, entfällt zwangsläufig auch der Begriff des Ich.

Vermutlich konnte das Rätsel des Dualismus von Körper und Geist bisher nicht gelöst werden, da im traditionellen Denken der Geist als der Ort angenommen wurde, von wo aus die Menschen den Zugang zum Göttlichen herstellen können. Das wird noch deutlicher an der traditionellen Formulierung des Dualismus als Leib-Seele-Problem. Die Seele verbindet nach religiöser Überzeugung die Menschen mit dem Göttlichen. Die Kritik am Dualismus wurde deshalb immer auch als Kritik am religiösen Glauben erlebt.

Die hier vorgeschlagene Lösung des Dualismus beruht auf dem Grundgedanken, dass das Denken im Grunde ein virtuelles Handeln ist. Damit kann das Denken erstmals als ein natürlicher Prozess verstanden werden. Die absolute Kluft, die bisher zwischen Denken und Körper angenommen wurde, löst sich auf.

5.2. Die Grenzen des Denkens

»Es ist nicht gut, vor Wirklichkeiten zu tun, als ob sie nicht wären, sonst rächen sie sich.« (Romano Guardini)
Wenn jemand ein Problem erkannt hat und nichts zur Lösung beiträgt, ist er selbst ein Teil des Problems.“ (Sigmund Graff)

Mit der Auflösung des Dualismus von Körper und Geist muss auch die traditionelle Überzeugung, dass die Erkenntnis aus einem Abbild der Wirklichkeit besteht, korrigiert werden. In der klassischen Erkenntnistheorie besteht das Abbild aus Vorstellungen, Bildern oder Ideen, die zusammenfassend als Symbole aufgefasst werden. Es wird angenommen, dass die Symbole die bewusstseinsunabhängige Welt repräsentieren. Die Erkenntnisse werden als das Produkt des aktiven Bemühens des Ich bzw. des Geistes verstanden. Aus der Sicht der Mustertheorie muss diese Vorstellung aufgegeben werden, da Erkenntnisse weder Repräsentationen noch Produkte aktiver Tätigkeit sind.

Der Blick nach innen lässt erkennen, dass es dort keine korrekten Abbilder gibt, sondern bloß schemenhafte Gebilde, bei denen nur wenige Details halbwegs realitätsgetreu abgebildet werden. Das fällt bereits auf, wenn man sich kurze Zeit nach einer Wahrnehmung vergewissert, was in der Erinnerung von der Wahrnehmung noch vorhanden ist, erst recht einige Zeit danach. Das bedeutet, dass nur ein kleiner Prozentsatz der Informationen verarbeitet wird. Es entsteht das Problem, was eigentlich als Inhalt des Bewusstseins angenommen werden muss: die Sinneswahrnehmungen oder das, was unbewusst für die weitere Verarbeitung ausgewählt wurde.

Diese Differenz zwischen der Fülle des Wahrgenommenen und den schemenhaften inneren Gebilden im Bewusstsein hängt damit zusammen, dass bei jeder bewussten Wahrnehmung Muster wiedererkannt oder neu gebildet werden. Es wird nur der Teil der sinnlichen Wahrnehmungen bewusst, der in die Muster eingeht. Denn bei der Wahrnehmung von Gegenständen wird primär an ihre Funktionen gedacht. Dies ist bei kulturellen Artefakten unübersehbar. Wie oben dargestellt wurde, wird z. B. ein Tisch nur vage in seiner konkreten sinnlichen Gestalt wahrgenommen. Vorrangig richtet sich der Blick auf seine Funktion, dass man daran sitzen und essen kann. Objekte werden nicht als Bündel von Eigenschaften, sondern als Aufforderungen zu einem bestimmten Handeln wahrgenommen. Das bedeutet, dass immer daran gedacht wird, was man mit ihnen machen kann (Metzinger S. 173 und 237). Wenn man etwas beobachtet, dass anders beschaffen ist oder anders abläuft, als aufgrund der Muster erwartet wird, fällt dies sofort auf und weckt eine emotionale Reaktion, meistens Lachen (vgl. Neubeck 2012 S. 211). Auch bei natürlichen Gegenständen wird primär die Funktion gesehen, die ihnen die Kultur zugewiesen hat. Auch bei Bewegungen richtet sich der Blick spontan auf die möglichen Absichten und Ziele des Akteurs.

Hinter der Oberfläche der manifesten Inhalte gibt es demnach eine tiefere Schicht, die nicht bewusst ist, aber jederzeit ins Bewusstsein gehoben werden kann. Beim Nachdenken über Gegenstände oder Bewegungen wird sofort deutlich, dass die tiefere Schicht immer latent vorhanden ist. Diese Tiefendimension des Bewusstseins erschließt sich sofort, wenn man sich fragend dem Wahrgenommenen zuwendet: Was sagt mir das? An was erinnert mich das? Wozu ist das gut? Beim Lesen von Wörtern ist es selbstverständlich, dass immer sofort ihre Bedeutung erfasst wird. Analog dazu wird beim Wahrnehmen von Objekten an deren Bedeutung gedacht. Wie dargestellt wurde, sind die wesentlichen Inhalte des Bewusstseins die Muster und die damit verbundenen Bedeutungen. Man wird demnach dem Bewusstsein nicht gerecht, wenn man sich nur an die Oberfläche der Sinneswahrnehmungen hält.

Das bedeutet, dass die Menschen einen praktischen, instrumentellen Zugang zur Wirklichkeit haben. Um zu überleben, müssen sie lernen, wie sie die Gegenstände ihrer Umwelt für sich gebrauchen können. Allen wahrgenommenen Gegenständen wird deshalb immer zugleich eine Bedeutung zugewiesen, die auf ihrer Funktion für die soziale Praxis basiert. Alle Gegenstände werden so erlebt, als würden sie einen Aufforderungscharakter haben. Wird ein Muster aktiviert, wird zugleich seine implizite Handlungsanweisung aufgerufen. In den Mustern besitzen die Menschen alles, um sich gezielt in der Wirklichkeit bewegen zu können.

Bei den Mustern handelt es sich also nicht um Repräsentationen der Wirklichkeit, sondern um Instrumente, mit denen auf die Wirklichkeit eingewirkt werden kann. Da das Handeln mit Handlungsmustern organisiert wird und die Handlungsmuster alles enthalten, was dafür erforderlich ist, werden keine mentalen Repräsentationen der Außenwelt benötigt. Da die Muster Handlungsanleitungen sind, haben sie keine bildhaften Charakter. Damit entfällt das schwierige Problem zu klären, welche Beschaffenheit die inneren Repräsentationen haben.46 Ebenso wenig muss geklärt werden, wie ihre Wahrheit ermittelt werden kann. Gedanken und Sätze lassen sich nur handelnd überprüfen (Prechtl S. 169).

Dieses Verständnis des Bewusstseins baut auf der Entdeckung der Psychologie auf, dass die Wahrnehmungen immer schon von ganzheitlichen Mustern geprägt sind. Die vorherrschende Auffassung, dass die Inhalte des Bewusstseins aus einzelnen Sinnesempfindungen bestehen, die vom Verstand zu Gegenständen zusammengefasst (synthetisiert) werden müssen, kann nicht aufrechterhalten werden. Sie wird zu Recht von Herbert Schnädelbach als mentalistisches Paradigma kritisiert (Schnädelbach S. 46). Da die Gegenstände bereits bei ihrer Wahrnehmung verstanden werden, muss dem Verstand nicht die Aufgabe angedichtet werden, die Sinnesatome zu verständlichen Komplexen zusammenzufügen. Auch sprachliche Ausdrücke erhalten ihre Bedeutung nicht durch die Inhalte des Bewusstsein (z. B. Vorstellungen), sondern durch den direkten Bezug zu den Mustern.

Die übliche Auffassung, dass Wirklichkeit alles das ist, was der Fall ist, wird der komplexen Interaktion von Mensch und Welt nicht gerecht. Aus der Etymologie des Begriffs der Wirklichkeit geht deutlich hervor, dass er direkt aus dem Handeln stammt. Der deutsche Begriff der Wirklichkeit wurde von Meister Eckhart als Übersetzung des lateinischen Wortes aktualitas geprägt, das wiederum auf das griechische Wort energeia zurückgeht, das seinen Wortstamm im Begriff ergos für Werk hat. Diese Wortgeschichte lässt sich so interpretieren, dass im griechischen Denken das Denkmodell des Handelns dominant war (Brodbeck). Die Welt wurde als das Werk eines Schöpfers verstanden und alle Prozesse in der Welt wurden in Analogie zum menschlichen Handeln verstanden. Dementsprechend wurde die Wirklichkeit als das Bewirkte und das Wirkende verstanden. Die Wirklichkeit steht dem Handeln als Widerstand entgegen und setzt dem Handeln Grenzen. Sie darf deshalb nicht als etwas rein Gegenständliches verstanden werden. Wirklichkeit ist das Umfeld, in dem die Menschen handeln. Sie ist das Ergebnis eines dynamischen Prozesses zwischen Mensch und Welt. Die Wirklichkeit ist die erlebte Welt.

Es ist daran zu erinnern, dass sich die Muster spontan in der Interaktion mit der Wirklichkeit herausbilden und von der ganzen Kultur mitgeprägt werden. Man wird deshalb dem Phänomen der Erkenntnis nur gerecht, wenn davon ausgegangen wird, dass die Muster die Grundbausteine der Erkenntnis sind. Wie dargestellt, bestehen praktische Erkenntnisse im Wissen, wie etwas erreicht, bewirkt oder verändert werden kann. Praktische Erkenntnisse sind damit Fähigkeiten und Können. Letztlich sind die Menschen primär daran interessiert, ihr Können zu verbessern. Ob das Wissen eine exakte Darstellung der Realität darstellt, ist unwichtig. Hauptsache ist, dass es sich im Handeln bewährt. Das ändert sich nicht, wenn die Fähigkeiten mit Hilfe der Sprache in Aussagesätzen dargestellt werden.

Diese Argumente bedeuten, dass der traditionelle Weg, die Erkenntnis mit den Begriffen von Subjekt und Objekt zu erfassen, verfehlt ist. Weder wird die Erkenntnis von den Objekten bestimmt, noch konstruiert das Subjekt die Erkenntnis. Erkenntnis ergeben sich aus dem Zusammenwirken von Erkennendem und Erkanntem. Beide Seiten bestimmen sich wechselseitig (vgl. Varela, in: Pörksen S. 118). Das hängt damit zusammen, dass die Erkenntnis von Mustern abhängig ist, die aus dem Zusammenwirken von handelnden Menschen und Wirklichkeit entstehen.

Aus diesen Gründen ist die Vorstellung, dass das Denken die Wirklichkeit exakt erkennen könne und dass das Ziel des Denkens sei, objektive Erkenntnisse zu erlangen, ein Irrtum. Der Anspruch, dass das Wesen der Dinge erfasst und damit erklärt werden könne, ist verfehlt. Erkenntnisse stellen keine Aussagen über einen Tatbestand dar, sondern sind Handlungsanweisungen, wie etwas bewirkt werden kann. Es ist ein Missverständnis, dass Erkenntnis darin bestehen würde, dass das sinnlich Wahrgenommene auf allgemeine Prinzipien zurückgeführt und damit erklärt wird. Wie oben bereits erläutert wurde, führt dieses reduktionistische Denkmuster im Bereich des menschlichen Handelns zu absurden Scheinerklärungen. Im Bereich der Welt der Gegenstände führt es allenfalls zu Hypothesen, die solange brauchbar sind, wie sie dem Handeln eine Orientierung geben können. Theorien sind bloß Versuche, Erfahrungen sprachlich darzustellen. Sie können deshalb nicht mehr als Beschreibungen sein.

Damit hängt zusammen, dass die Menschen nur das verstehen können, was sie selbst hergestellt haben. Wie bereits Gianbattista Vico erkannt hatte, bleiben die Naturtatsachen, die die Menschen vorfinden und denen sie ausgeliefert sind, grundsätzlich verschlossen. Die Naturtatsachen vermag nur Gott zu verstehen (vgl. Prinz 2008). Ebenso hatte Thomas Hobbes erkannt, dass eine Sache erkennen heißt: »to know what we can do with it when we have it.« Auch Immanuel Kant wusste, dass die Menschen nur erkennen können, was sie selbst gemacht haben (Welsch 2015 S. 195). Robert Spaemann hat herausgearbeitet, dass alles Erkennen zwangsläufig anthropomorph ist. »Wenn wir unbelebtem Seienden Wirklichkeit zusprechen wollen, dann können wir das nur, indem wir das Sein dieses Seienden als etwas dem Leben Ähnliches bestimmen, von dem wir bestimmte für Leben charakteristische Phänomene wie den Stoffwechsel abziehen, so wie wir Leben verstehen müssen als bewusstes Leben, von dem wir das Bewusstsein abziehen.« (Spaemann, Wirklichkeit)

Das anthropomorphe Denken hängt damit zusammen, dass Bewegungen anderer Lebewesen nur verstanden werden können, wenn deren Muster vom eigenen Verhalten her bekannt sind. Da sie dem Handeln dienlich sind, erscheinen sie als evident. Hergestellte Objekte werden verstanden, wenn man die Muster kennt, die bei ihrer Herstellung angewandt wurden. So werden z. B. optische Theorien, mit deren Hilfe effiziente Brillen, Mikroskope oder Fernrohre gebaut werden können, verstanden, wenn man die Funktionsweise von Glaslinsen kennt. Solche Theorien gelten als begründet. Demgegenüber können über Zusammenhänge in der Natur nur Vermutungen angestellt werden. Wenn ihre Richtigkeit nicht durch menschliches Handeln (z. B. durch Experimente, Produktionsprozesse u. a.) bestätigt wird, bleiben sie bloß Hypothesen, so überzeugend die Argumente auch sein mögen (Falkenburg S. 397). Oben wurde bereits dargestellt, dass Theorien nicht als Abbild der Realität missverstanden werden dürfen. Ob sie wahr sind, also die Realität korrekt wiedergeben, spielt im Grunde keine Rolle. Die Fixierung auf die Wahrheit kann sogar dysfunktional sein. Wenn Wahrheiten als etwas Absolutes begriffen werden, wird allzu leicht darauf verzichtet, nach Verbesserungen der Theorie und damit des Herstellungsprozesses zu suchen.

Das bedeutet, dass sich alle Vorstellungen auf gelernte Muster beziehen. In den Vorstellungen werden die Fähigkeiten und Handlungsweisen vergegenwärtigt, die in die Muster eingeflossen sind. Da alle Muster auf das Handeln bezogen sind, haben alle Vorstellungen eine instrumentelle, strategische Bedeutung. So ist z. B. auch die Vorstellung, ein Ich zu besitzen, nur eine strategische Vorstellung, die dazu benutzt wird, sich versuchsweise ein Bild davon zu machen, wer der Autor des Denken und Handeln sein könnte.

Aus diesen Überlegungen folgt, dass die Grenzen des Denkens durch die Muster gebildet werden, über die das Denken verfügt. Wofür keine Muster gebildet wurden, darüber kann nicht nachgedacht werden. Die Schwierigkeiten, abstrakte Phänomene wie das Gute, die Gerechtigkeit, die Tugend, die Freiheit, die Erkenntnis u. Ä. zu erkennen, hängen schlicht damit zusammen, dass diesen Begriffen keine sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände entsprechen und dass die Muster, die für sie versuchsweise gebildet werden müssen, relativ willkürlich sind. Wenn Begriffe, die sich von Haus aus nicht auf sinnlich wahrnehmbare Gegenstände beziehen, wie Gegenstände behandelt werden, entstehen zwangsläufig Scheinprobleme. So ist z. B. die Frage, ob die Menschen innerhalb der Evolution eine besondere Aufgabe haben, völlig abwegig, da die Evolution außerhalb des menschlichen Erfahrungs- und Handlungsbereichs liegt. Ebenso entzieht sich die Mikrowelt und die Makrowelt der Erkenntnis, es sei denn, dass technische Hilfsmittel für die Sinnesorgane (Mikroskop, Fernrohr u. Ä.) zur Verfügung stehen. Da für den transzendenten Bereich keine unmittelbaren Erfahrungen erlangt werden können, kann auch darüber nicht rational nachgedacht werden. Scheinprobleme entstehen, wenn Denkmuster, die für die alltäglichen Probleme gebildet wurden, auf Bereiche jenseits des Erfahrbaren übertragen werden. So ist z. B. die Frage, was die Wirklichkeit im Ganzen und die besondere Stellung des Menschen in ihr ausmacht, vom Denken nicht zu beantworten. »Die Grenzen des Erkennens sind ... die Grenzen unseres Handelns und Erlebens.« (Janich 2000 S. 157) Deshalb müssen alle Theorien, die sich auf Bereiche jenseits der Erfahrbarkeit beziehen, Spekulationen bleiben.

Die Beschränktheit des Denkens zeigt sich insbesondere bei der Frage, ob der Einzelne einen inneren Führer braucht oder ob er sich seinen inneren Impulsen überlassen kann. Diese Frage kann nicht geklärt werden, da von den inneren Prozessen, die bei der Bildung von Gedanken, Impulsen, Intuitionen oder Gefühlen ablaufen, prinzipiell keine direkten Erfahrungen gemacht werden können.

Colin McGinn hat die These aufgestellt, dass viele philosophische Probleme deshalb unauflösbar sind, weil die menschlichen Denkmuster dafür nicht geeignet sind. Er sieht das menschliche Grunddenkmuster darin, dass Einzelelemente miteinander kombiniert werden (McGinn S. 39). Ein Phänomen erscheint als erklärt, wenn es gelingt, es als eine Kombination von seinen Elementen zu verstehen. Bei den philosophischen Problemen versage dieses Denkmuster. Bei dieser Argumentation wird das menschliche Grunddenkmuster nicht richtig erfasst. Es spricht vieles dafür, dass das Denken, wie es sich in der Evolution herausgebildet hat, von Anfang an darauf ausgerichtet ist, die Beschaffung von Lebensmitteln zu erleichtern und der Absicherung des Lebens zu dienen. Hauptziel des Denkens ist die Entdeckung, welche Handlungen welche Wirkungen haben, also die Entdeckung von empirischen Regelmäßigkeiten. Das Denken hat sich als ein Hilfsmittel des Handelns herausgebildet. Wenn es jedoch mit konstruierten Allgemeinbegriffen hantiert, die sich nicht auf empirisch beobachtbare Gegenstände, also nicht auf Praktisches beziehen, muss es versagen. Da solchen Begriffen keine realen Phänomene zugrunde liegen, kann ihre Bedeutung nicht aus den Einzelelementen abgeleitet werden. Das Denken kann sich nur damit behelfen, dass es sie wie Quasi-Subjekte behandelt. Da McGinn nicht erkannt hat, dass den philosophischen Problemen keine realen Phänomene zugrunde liegen, muss er die beschränkte Erkenntnisfähigkeit des menschlichen Denkens postulieren. In Wirklichkeit geht es um das Problem, dass sich das Denken überschätzt, wenn es glaubt, auch im Bereich der psychisch-mentalen Innenwelt zu ähnlichen sicheren Erkenntnissen zu kommen, wie dies im Bereich der Gegenstandswelt und des Handelns möglich ist. Philosophische Probleme lassen sich also nicht deshalb auflösen, weil das Denken nicht über geeignete Denkmuster verfügt, sondern weil es sich im Bereich der psychisch-mentalen Innenwelt um begrifflich konstruierte Pseudoprobleme handelt.

Es bleibt die skeptische Frage, ob das Denken überhaupt über sich selbst nachdenken kann. Oben wurde bereits ausgeführt, dass dies im Grunde ausgeschlossen ist, da die inneren Prozesse selbstorganisiert ablaufen. Beim Denken kann man sich nicht selbst zuschauen und deshalb darüber auch keine Erfahrungen machen. Die Frage, wie das Denken funktioniert, kann letztlich nicht geklärt werden. Die Frage nach seinem Ursprung muss als eine Scheinfrage abgelegt werden. Die einzige Möglichkeit besteht darin, aus realen Handlungen und verbalisierten Gedanken auf innere Prozesse zu schließen. Dabei muss man sich bewusst sein, dass es sich dabei immer nur um Hypothesen handelt, die von den kulturellen Handlungsmöglichkeiten und Denkmustern mitgeprägt werden.

5.3. Der Mensch als handelndes Wesen

»Um klar zu sehen, genügt oft ein Wechsel der Blickrichtung.« (Antoine de Saint-Exupery)

Wenn das Selbstverständnis des Menschen nicht mehr aus dem Geist abgeleitet werden kann, stellt sich die Frage, wie dann das Wesen des Menschen zu bestimmen ist. Eigentlich müsste auf jegliche Bestimmung verzichtet werden, da sich bisher alle Versuche stets als historisch relativ erwiesen haben. Da aber die Menschen dazu neigen, von sich als Ganzes ein Selbstverständnis zu bilden, muss doch eine inhaltliche Alternative gefunden werden. Die Alternative kann nicht darin bestehen, dass das Gehirn an die Stelle des Geistes gestellt wird. Damit würde man weiterhin im personalen Denkmuster verhaftet bleiben. Als sinnvoll erscheint nur die auf den ersten Blick als nichtssagend erscheinende Bestimmung des Menschen als handelndes Wesen. Nichtssagend deshalb, weil von einer Bestimmung verlangt wird, dass sie die Besonderheit der Menschen bezeichnet, die sie von den übrigen Tieren unterscheidet. Aber diese Kennzeichnung ist der einzig mögliche Weg, um sich von überholten Kennzeichnungen verabschieden zu können. Sie verzichtet auch auf den müßigen Versuch, die Sonderstellung der Menschen aus dem Vergleich mit den Tieren abzuleiten.47

Wenn die Menschen als handelnde Wesen begriffen werden, wird die Aufmerksamkeit darauf gerichtet, dass Handlungen das gemeinsame Prinzip aller menschlichen Funktionen ist. Wie gezeigt wurde, sind letztlich auch Sprechen und Denken Handlungen. Menschen können am Besten verstanden werden, wenn man ihre Handlungen kennt. Das drückt die alte esoterische Weisheit aus, dass alles Bewegung ist.

Alles Handeln, auch das virtuelle Handeln des Denkens, ergibt sich aus der jeweiligen Situation und den persönlich verfügbaren Handlungsmustern. Auch die Gefühle, Gewohnheiten und muskulären Verspannungen sind das Ergebnis der handelnden, weitgehend unbewusst ablaufenden Auseinandersetzung mit der Umwelt. Wie Erfahrungen verarbeitet werden, hängt davon ab, ob die naturgegebene Offenheit für die Signale der Umwelt bewahrt werden konnte oder ob sie aufgrund von emotionalen Verletzungen (Misshandlung, Vernachlässigung, Überforderung, Ablehnung u. a.) einschränkt werden musste. Es steht demnach dem Einzelnen nicht frei, welche Erfahrungen er macht und wie er sie verarbeitet.

Der Kern des neuen Selbstverständnisses besteht darin, dass das eigene Leben nicht gestaltet werden kann. Das hat nichts mit Determinismus, sondern mit der Einsicht zu tun, dass sich das Leben in jedem Augenblick aus der Gesamtheit der früheren Erfahrungen heraus ergibt. Wer sein Denken sensibel beobachtet, wird feststellen, dass seine Denkmuster von seinem Handeln abhängig sind. Er kann spüren, dass die Veränderungen der Umwelt, die er durch sein Handeln bewirkt, auf das eigene Denken und Handeln zurückwirken. Was Menschen sind, wird deshalb wesentlich durch die Beschaffenheit der Umwelt bestimmt. Das Vertrauen, dass sich erforderliche Veränderungen spontan einstellen, wenn die Zeit dafür reif ist, lässt den Wunsch nach Gestaltung des eigenen Lebens verstummen. Irrtümer, Fehler und Leiden lassen sich nicht vermeiden. Wenn sie als Herausforderungen begriffen werden, können evtl. neue Handlungsmuster entstehen.

Das bei indigenen Völkern selbstverständliche Gefühl, ein Teil der Natur zu sein, ist durch den Mythos des Objektivismus und den damit verbundenen Begriff des Geistes historisch verloren gegangen. Es konnte so die Vorstellung entstehen, ein von seiner Umwelt losgelöstes Wesen zu sein, das wie ein Fremder der Natur gegenüber steht (Welsch 2015). Wenn das Gespür wiederbelebt wird, dass sich die Gedanken von selbst einstellen und dass sie vom Handeln abhängig sind, kann das Gefühl zurückgewonnen werden, ein natürliches Wesen zu sein.

Die eigene Natürlichkeit wird am stärksten an den vitalen Impulsen wie Hunger, Durst, Müdigkeit, Schmerz oder Sexualität, insbesondere auch an den eigenen Gefühlen gespürt. Die Gefühle entziehen sich jeglicher Beeinflussung, sind nicht im geringsten Maße transparent und verändern sich nur aufgrund von neuen Beziehungserfahrungen. Denn als Gefühlswesen sind die Menschen Beziehungswesen. Was sie sind, wie sie sich selbst erfahren und wie sie mit sich umgehen, wird weitgehend durch andere Menschen bestimmt. Alle Veränderungen gehen deshalb von Veränderungen im sozialen Milieu (Erwartungen, Anforderungen, Kritik u. Ä.) aus (vgl. Kap. 4.1.). Insbesondere am eigenen Atem, der hinsichtlich seiner Stärke und seinem Rhythmus ständig Schwankungen unterworfen ist, kann gespürt werden, wie sehr sich die inneren Prozesse dem kontrollierenden Zugriff entziehen.

Wenn man sich als ein natürliches Wesen begreift, ist es ausgeschlossen, gegenüber dem eigenen Körper eine instrumentelle Einstellung einzunehmen. Wenn man z. B. meint, man könnte seiner Hand den Befehl geben, etwas zu ergreifen, ist das eine Selbsttäuschung. Der Impuls, mit der Hand etwas zu ergreifen, ist bereits da, bevor man ihn bewusst wahrnimmt! Die instrumentelle Interpretation ist nur eine durch den Werkzeuggebrauch nahe gelegte Analogie. Da es kein Subjekt (Geist, Ich, Selbst u. Ä.) gibt, das zum Körper ein äußerliches Verhältnis einnehmen kann, ist es sinnlos, vom instrumentellen Gebrauch von Teilen von sich selbst zu sprechen.

Das sich aus dem Konzept der Selbstorganisation ergebende Selbstverständnis hat nichts mit dem naturalistischen Menschenbild zu tun, das gegenwärtig von Gehirnforschern und ihnen nahestehenden Philosophen propagiert wird. In dessen Zentrum steht die Vorstellung, dass die Menschen als determinierte Bioautomaten zu begreifen sind. Aus dem naturalistischen Menschenbild wird häufig die Konsequenz gezogen, dass die Menschen keine Verantwortung für ihre Handlungen haben, da sich in ihren Handlungen nur ihre innere Natur durchsetzt. Damit verliere das Schuldprinzip seine Grundlage und bestehe keine Berechtigung mehr, Straftäter zu bestrafen. Diese Interpretation der Rechtsprechung übersieht, dass es primär darum geht, durch die Androhung von Strafe die Einhaltung der sozialen Regeln zu sichern. Das Schuldprinzip stellt nur eine mögliche Art dar, diese Praxis zu begründen. Es ist unzulässig, aus dem naturalistischen Weltbild normative Konsequenzen zu ziehen.

Wenn anerkannt wird, dass alle mentalen und psychischen Prozesse nach Prinzipien der Selbstorganisation ablaufen, können die Menschen nicht länger als Bioautomaten oder Ego-Maschinen verstanden werden, wie es das naturalistische Menschenbild behauptet. Der Vergleich der Menschen mit Maschinen ist irreführend, da es bei Automaten und Maschinen um von Menschen hergestellte Artefakte handelt und dass diese Begriffe nur Metaphern sind. Außerdem werden die Menschen im Gegensatz zu Maschinen wesentlich von ihrer Umwelt geprägt.

Prinzipiell ist gegen die Bemühungen der Neurowissenschaftler, eine neue naturalistische Anthropologie zu entwerfen, einzuwenden, dass die Ergebnisse der neurowissenschaftlichen Untersuchungen keine bestimmten Interpretationen erzwingen, sondern für verschiedene Interpretationen offen sind. Die Geschichte der Gehirnforschung zeigt, dass für die Interpretation von Messergebnissen immer wieder auf philosophische Theorien (z. B. das Konzept des Selbst) zurückgegriffen wurde, ohne dass diese Theorien gesichert sind. Da die Hirnforscher in der Regel aus der naturwissenschaftlichen Denkschule kommen, neigen sie dazu, sich bei ihren Interpretationen am materialistischen und naturalistischen Weltbild zu orientieren. Das bedeutet, dass die Hirnforscher letztlich das hohe Prestige der Gehirnforschung dazu benutzen, um ihr Weltbild zu verallgemeinern und gegen Kritik zu immunisieren. Außerdem sind die Hirnforscher im Allgemeinen blind gegenüber der historischen Bedingtheit der von ihnen verwendeten Begriffe. Deshalb hat die Behauptung des Philosophen Thomas Metzinger, dass das naturalistische Menschenbild der Neurowissenschaften das traditionelle Menschenbild unwiderruflich tiefgreifend verändern wird und dass es dazu keine Alternative gibt, wenig Substanz (Metzinger S. 300).

Eine weitere Schwäche des naturalistischen Menschenbildes besteht darin, dass es auf problematischen Allgemeinbegriffen wie Natur, Materie und Geist aufbaut. Wie oben dargestellt wurde, ergeben sich daraus zwangsläufig falsche Erklärungen des menschlichen Verhaltens. Das naturalistische Menschenbild ist somit genauso eine dogmatische Sichtweise wie das idealistische Menschenbild.

Es wäre falsch, die hier entwickelte Theorie des Handelns als materialistisch zu bezeichnen. Die materialistischen Theorien sind aus dem Impuls entstanden, religiöse und idealistische Erklärungen durch natürliche Erklärungen zu ersetzen. Sie gingen von der Überzeugung aus, dass alle Phänomene aus den Grundbausteinen der Natur (z. B. den Atomen) erklärt werden können. Es wurde oben dargestellt, dass das reduktionistische Denkmuster bei der Erklärung des menschlichen Verhaltens versagt, auch deshalb, weil die Annahmen über die Beschaffenheit der Grundbausteine metaphysischer Natur sind. Das hier entwickelte Konzept der Muster bietet einen alternativen Weg für eine natürliche Erklärung an. Da das Konzept der Muster nicht in den traditionellen Dualismus von Materie und Geist passt, macht es keinen Sinn, ihm das Etikett des Materialismus anzuhängen.

Als Fazit ist festzuhalten, dass durchaus ein Konzept des Menschen entwickelt werden kann, das ohne die Verwendung von naturwissenschaftlichen Erklärungsmustern auskommt und das sich der falschen Alternative von Freiheit und Determinismus entzieht. Es besteht im Kern aus der Sichtweise, dass alle menschlichen Aktivitäten Ausdruck von Verhaltensmustern sind. Letztlich sind sie als Manifestationen der Zellen zu betrachten, aus denen sich der menschliche Organismus zusammensetzt. Die Zellen sind die eigentlichen Akteure. In den menschlichen Handlungsimpulsen kommt ihr kollektiver Wille zum Ausdruck.

Allerdings ist es in der gegenwärtigen Kultur extrem schwierig, sich als natürliches Wesen wahrzunehmen. Jedermann wächst mit der Überzeugung auf, dass sich die Menschen grundlegend von den Tieren unterscheiden würde. Wie John Gray behauptet, ist diese Überzeugung im Abendland durch das Christentum inthronisiert worden. Es sei ein Grundproblem der Philosophie, dass sie diesen Kardinalfehler des Christentums beibehalten hat (Gray S. 51). Tatsächlich haben die tonangebenden Philosophen das christliche Weltbild mit seiner Behauptung, dass sich die Menschen durch Vernunft, Freiheit und moralische Urteilsfähigkeit von den Tieren unterscheiden, zur scheinbar unumstößlichen Wahrheit gemacht. Sie standen vor dem unlösbaren Problem, den Mensch als animal rationale zu begründen, ohne aber die Rationalität aus der tierischen Natur abzuleiten. Denn sonst wäre die Besonderheit der Menschen sofort wieder infrage gestellt. Deshalb blieb den Philosophen nichts anderes übrig, als die Sonderstellung der Menschen zu dogmatisieren.

Der erste Schritt, sich als ein natürliches Wesen zu verstehen, besteht demnach darin, die Grundpfeiler des Verständnisses des Menschen als geistiges Wesen, das sich grundlegend von den Tieren unterscheidet, infrage zu stellen. Die Verleugnung der eigenen Natürlichkeit durch die Blindheit gegenüber seinen Abhängigkeiten, durch die Rigidität seines Selbstbehauptungswillens und die Illusion der Spontaneität muss überwunden werden. Es muss erkannt werden, dass die Begriffe Vernunft (Geist), Ich, Freiheit und Moral, mit denen die Sonderstellung des Menschen begründet wird, hohl und gegenstandslos sind. Sie haben lediglich die legitimatorische Funktion, die Herrschaft von Menschen über Menschen zu begründen. Mit der Mustertheorie des Menschen verlieren alle Argumente zugunsten einer Sonderstellung des Menschen ihre Berechtigung.

5.4. Die Lebensform des Sich-führen-Lassens

»Glück ist, wenn deine Gedanken, deine Worte und dein Tun im Einklang sind.« (Mahatma Gandhi)

Aus der bisherigen Analyse geht hervor, dass das traditionelle Verständnis der Philosophie als ein auf die Wahrheit gerichtetes Unternehmen falsch ist. Die Philosophie mit ihrer Fixierung auf die mentalen Instanzen der Seele, des Geistes, der Vernunft, des Ich und dem Bewusstsein spiegelt lediglich die individualistische Lebensform, die sich in der von Privateigentum und Geldwirtschaft geprägten sozialen Verfassung herausgebildet hat. Ihre Erzählungen zentrieren sich um Selbstbestimmung, Freiheit und Selbstreflexion. Alle gehen davon aus, dass der Einzelne sein Handeln nach seinen Gedanken ausrichtet und dass er frei zwischen verschiedenen Alternativen auswählen kann. Diese Erzählungen sollen helfen, mit den widersprüchlichen Erfahrungen umzugehen, dass man einerseits von der Gesellschaft abhängig ist, aber andererseits sich als selbständiges Wesen behaupten muss. Je stärker der Zwang ist, sich als unabhängiges, in sich zentriertes Individuum durchzusetzen, umso mehr drängt sich die Erfahrung der Abhängigkeit auf. Das Selbstbild, egoistisch und auf den individuellen Vorteil bedacht zu sein, muss mit der Erfahrung vereinbart werden, auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein. Diese störenden Erfahrungen müssen abgewehrt werden, damit man den Anforderungen der Leistungsgesellschaft gewachsen bleibt.

Während die Kleinkinder noch im Zustand des Sich-führen-Lassens leben, wird spätestens in der Jugendzeit durch den Druck des Erziehungs- und beruflichen Ausbildungssystems der Ich-Kultur ein Bruch erzwungen, in dem die Grunderfahrung der Abhängigkeit verdrängt werden muss. Der Druck schärft dem Einzelnen ein, dass er ab jetzt der Herr seines Schicksals ist. Die Grunderfahrung bleibt aber als Sehnsucht lebendig und lässt nach Visionen suchen, in denen Gemeinschaftlichkeit gelebt werden kann.

In der zunehmenden Kritik am Ich steckt die Sehnsucht nach einer Lebensform, in der die Ängste und Unsicherheiten der Ich-Lebensform überwunden werden. Die bisherigen Überlegungen zur Selbstorganisation des Denkens, Fühlens und Handelns umkreisen eine solche Lebensform, die mit den Begriffen Sich-führen-Lassen, Geführt-Werden und Selbststeuerung umschrieben werden könnte. Sie basiert auf der Grunderfahrung, dass das Handeln wie von selbst geschieht. Jeder ist sich mehr oder weniger bewusst, durch und durch von der Kultur geprägt zu sein, in die er hineinwächst. Diese Grunderfahrung erwächst aus der totalen Abhängigkeit als Kind von der Fürsorge der sozialen Gemeinschaft über viele Jahre hinweg. Dabei wird erfahren, primär ein Gemeinschaftswesen zu sein. Die Identität des Einzelnen ergibt sich aus den Aufgaben, die die Umwelt ihm zuweist, und hängt von der Qualität der Beziehungen ab, in denen er steht. Im günstigsten Fall ist die Anpassung nicht blind, sondern das Ergebnis einer kreativer Auseinandersetzung mit den Anforderungen der Umwelt. Der Einzelnen entfaltet also nicht die Subjektivität, die in ihm als sein Wesen angelegt ist, sondern entwickelt die Fähigkeiten, die von der jeweiligen Kultur verlangt werden.

Die heute vielfach geforderte neue Kultur des Miteinander, des Wir, der Kooperation, des Teilens und des bürgerschaftlichen Engagements geht in die richtige Richtung48, aber greift zu kurz, da zu wenig beachtet wird, dass ein Klima der Solidarität und sozialer Sicherheit erforderlich ist, in der junge Menschen angstfrei ihre Fähigkeit entfalten können und in der sie gegenüber den Risiken von Krankheit, Invalidität und Arbeitslosigkeit abgesichert sind. Das bedingungslose Grundeinkommen hat in den zeitgenössischen Visionen einen zentralen Stellenwert, da es die Grundsicherheit verspricht, die in der Ich-Kultur abhanden gekommen ist. Es ist aber wahrscheinlich der falsche Weg, da es mit vielen Nachteilen verbunden ist, insbesondere mit dem, dass dadurch die Gesellschaft in eine Klasse der Produktiven und eine Klasse der Müßiggänger gespalten wird. Außerdem kann der Produktionsprozess nur funktionierten, wenn ihm ein stabiles, berechenbares Arbeitskraftangebot zur Verfügung steht. In der Vision einer Lebensform des Sich-führen-Lassens sollte jeder die Pflicht und die Chance haben, sich aktiv an den produktiven Prozessen der Gesellschaft zu beteiligen.

Die Lebensform der Selbststeuerung ist kein Rückfall in die alte Stammesgesellschaft, in der vermutlich diese Lebensform früher gelebt wurde. Auf dem historisch extrem hohen Stand der Produktivität der Arbeit kann der soziale Konformitätsdruck auf den Einzelnen, der normalerweise den Stammesgesellschaften nachgesagt wird, reduziert werden. Jedem kann jetzt die Chance gegeben werden, sich nach seinen Fähigkeiten am Produktionsprozess zu beteiligen.

Die Lebensform der Selbststeuerung drückt sich darin aus, dass bei allen Aktivitäten stets Rücksicht darauf genommen wird, was der Gemeinschaft nützt. Dabei werden die eigenen Bedürfnisses keineswegs zurückgestellt, sondern vielmehr darauf geachtet, dass ein gerechter Ausgleich zwischen den eigenen Bedürfnissen und denen der anderen gefunden wird. Dabei kann der Einzelne durchaus in Konflikt mit den kulturellen Anforderungen kommen. Das liegt daran, dass es oft schwierig ist, zwischen den Anforderungen der Kultur und den eigenen Bedürfnissen einen sinnvollen Ausgleich zu finden. Die Lebensform des Sich-führen-Lassens kann nur gedeihen, wenn jeder Einzelne die Chance hat, sich angstfrei an seinen individuellen Bedürfnissen zu orientieren. Nur in einem sozialen Klima ohne Angst vor Strafe ist radikale Individualität in dem Sinne der freien Entfaltung aller Fähigkeiten möglich. Während erzwungene Anpassung zu Intoleranz und Feindseligkeit gegenüber fremden Lebensformen führt, ergibt sich aus der Chance, einen individuellen Ausgleich zwischen den Anforderungen der Kultur und den eigenen Bedürfnissen herauszufinden, ganz zwanglos die Bereitschaft, andere Lebensformen zu akzeptieren.

Der Einzelne wird dann ein starkes Interesse daran entwickeln, dass die anderen die Regeln des gemeinsamen Zusammenlebens einhalten, wobei jedem ein großer Spielraum bei der Regelauslegung gelassen wird. An die Stelle der individualistischen Selbstreflektion tritt die empathische Achtsamkeit gegenüber dem Verhalten der anderen.

Im Zentrum einer Philosophie für die Lebensform der Selbststeuerung steht das Konzept der Muster. Es führt aus der Polarität von aktivem Handeln und passivem Geführt-Werden heraus. Die Menschen können sich als selbständig handelnde Wesen begreifen und dennoch anerkennen, dass sich die Handlungsimpulse ohne Beteiligung des Bewusstseins bilden. Da die Muster, mit denen alle Aktivitäten als selbst organisierte gestaltet werden, spontan aus der Auseinandersetzung des Einzelnen mit seiner Umwelt im Rahmen einer bestimmten Kultur entstehen, haben sie einen kollektiven Charakter. Gleichwohl ermöglichen sie aufgrund ihrer Abstraktheit Individualität. Die Muster lassen einen Spielraum, wie sich jeder an die kulturellen Bedingungen anpasst.





6. Scheinprobleme

»Handeln ist das Gegengift für Verzweiflung.« (Joan Baez)
»Unsere Krankheit ist es, erklären zu wollen.« (Ludwig Wittgenstein)

Die Analyse des Ich und die Diskussion des Dualismus von Körper und Geist haben deutlich gemacht, dass die Philosophie dazu neigt, Scheinprobleme zu produzieren, weil sie zu wenig ihre zentralen Begriffe reflektiert. Die Überlegungen in diesem Buch zeigen, dass auch andere philosophische Hauptbegriffe wie Freiheit, Wahrheit, Selbst und Seele zu den Scheinproblemen zu zählen sind. Wenn man tiefer schürfen würde, kämen sicherlich auch noch die Begriffe Bewusstsein, Wille, Erkenntnis, Sinn, Glück und viele andere hinzu.

Es ist sicherlich kein Zufall, dass der Begriff des Scheinproblems in der Philosophie nur ein Schattendasein spielt. Er erlebte nur eine kurze Blüte, als Rudolf Carnap 1928 seinen viel beachteten Aufsatz »Scheinprobleme in der Philosophie« veröffentlicht hatte. Der Begriff des Scheinproblems ist von den Philosophen des Wiener Kreises (1924-1936) als Kampfbegriff verwendet worden, um ihre eigene Position des Logischen Positivismus von jeder Gestalt von empirisch nicht begründeten Formen des Denkens abzugrenzen. Alle metaphysischen Probleme wurden mit einem Schlag als Scheinprobleme abgewertet. Der Impuls, Scheinprobleme aus der Wissenschaft zu verbannen, ging von Ludwig Wittgenstein aus, der davon überzeugt davon war, dass durch logische Analyse bedeutungsvolle von sinnlosen Sätzen unterschieden werden können, obwohl er selbst den Begriff des Scheinproblems nicht gebraucht hat. Bertrand Russel und Alfred North Whitehead griffen den Begriff auf. Aber seitdem scheint das Programm, das hinter den Begriffen Scheinproblem und Scheinfrage steht, nicht mehr verfolgt worden zu sein. Vermutlich hängt das mit Ahnung zusammen, dass damit der Philosophie insgesamt der Boden entzogen wird.

In der Philosophie wird seit Platon der Begriff des Scheins dazu verwendet, um die alltägliche Welt gegenüber der wahren Welt der Ideen als minderwertig und verunreinigt abzuwerten. In der Schattenwelt des Alltags seien die Ideen nur unklar und verdunkelt zu erkennen. In der üblichen Begriffsverwendung ist der Gegenbegriff von Schein der Begriff der Wirklichkeit. Nach der hier entwickelten Analyse bezieht er sich nicht auf die Gesamtheit dessen, was der Fall ist, sondern auf das gesamte Umfeld, in dem menschliches Handeln stattfindet. Wirklichkeit bezieht sich demnach auf das, was auf das Handeln der Menschen einwirkt. Der Begriff des Gegenstandes macht deutlich, dass es dabei um die Wirklichkeit geht, die dem Handeln entgegensteht. Wirklichkeit ist das Wirkende und das vom Handeln Bewirkte. In diesem Verständnis von Wirklichkeit ist Schein das Wirkungslose. Der Schein ist unwirklich und deshalb für das Handeln ohne Bedeutung. Scheinprobleme sind demnach Aussagen, die sich nicht auf die Wirklichkeit beziehen und deshalb für das Handeln unbrauchbar sind. Scheinprobleme handeln von einer Scheinwelt, einer Welt, in der es keine handelnden Menschen gibt. Der Begriff des Scheins macht darauf aufmerksam, dass über Probleme geredet wird, die für das Handeln irrelevant sind.

Die philosophischen Scheinprobleme konnten so lange überleben, weil die Überzeugung von der kontemplativen Kraft des Denkens dazu verleitet hat, die Welt der Gedanken als eine höhere Wirklichkeit anzusehen und die sinnliche Wirklichkeit als eine Scheinwelt abzuwerten. Dadurch hat sich das philosophische Denken vom Handeln entfremdet. Obwohl die menschliche Kultur im Kern eine handwerkliche Basis hat, wurde die Abhängigkeit des Denkens von der Handarbeit übersehen. Auf der Basis der traditionellen Überzeugung, dass die wahrgenommene Welt objektiv ist und eine innere vernünftige Ordnung besitzt und dass die Objekte aus ihren inhärenten Eigenschaften heraus verstanden werden können (Lakoff S. 213), konnte sich das traditionelle Denkmuster herausbilden, dass sich alle Probleme allein mit dem Denken lösen lassen. Zu Recht spricht George Lakoff vom Mythos des Objektivismus. Dass die Probleme Ausdruck der sozialen Lebensbedingungen sind und nur über deren Änderung gelöst werden können, konnte nicht ins Blickfeld gelangen.

Historisch hat sich das gestörte Verhältnis zwischen Denken und Handeln in der Antike herausgebildet. Es entstand die Überzeugung, dass die Menschen rationale Wesen sind und dass die Struktur der Welt von der Vernunft in kontemplativer Haltung unmittelbar erkannt werden kann. Das Denken sei deshalb nicht auf Erfahrungen aus dem handelnden oder experimentellen Kontakt mit der Wirklichkeit angewiesen. Es setzte sich ein Verständnis des Menschen durch, das der geistigen Schau absolute Priorität einräumt und die Bedeutung des Handelns für das Denken ignoriert. Demgemäß wurde der Körper von Platon und Aristoteles als ein Instrument aufgefasst, über den die Vernunft verfügen kann und muss (Bayertz S. 314).

Peter Sloterdijk führt den Vorrang der theoretischen Haltung auf den Zusammenbruch der Demokratie in der Antike und das damit verbundenen Desinteresse der Intellektuellen an der Gestaltung des Gemeinwohls zurück. Dieser Prozess wurde durch die damals beginnende Verschulung unterstützt, in der die Menschen als Zuhörer und Leser zu reinen Beobachtern abgerichtet wurden (Sloterdijk S. 69ff). Diese Erklärung ist soweit zutreffend, aber sie übersieht den zentralen Einfluss der Religion und der neuen Institution des Privateigentums. Die Religionen haben die Grundüberzeugung verbreitet, dass die Welt eine sinnvolle Ordnung enthält. Es lag deshalb nahe, dass die ersten Philosophen bei ihren Versuchen, die Ordnung der Welt zu erklären, sich dieses religiösen Grunddenkmusters bedienten und die Ordnung des Kosmos auf das Wirken einer universalen Vernunft zurückführten. Das kontemplative Verständnis des Denkens wurzelt demnach in der Prägung des philosophischen Denkens durch unreflektiert übernommene religiöse Denkmuster.

Vor allem verändert sich in der Schriftkultur das Verhältnis zwischen Denken und Handeln. Philosophisches Denken wird nicht mehr primär beim Umgang mit direkt erfahrenen Problemen und im Gespräch mit anderen Menschen, sondern bei der Lektüre von philosophischen Texten gelernt. Dabei ist es nahezu unvermeidlich, dass man die Problemstellungen der Vordenker übernimmt. Man eignet sich mehr oder weniger unbewusst deren Denkmuster und Werte an. Der Normaltyp des philosophischen Lehrers verlangt die perfekte Wiedergabe seiner Gedanken und hat wenig Motivation, den Schüler zum Selberdenken anzuregen. Wenn vom Denken Unterwerfung verlangt wird, nimmt es autoritäre Züge an. Es entsteht die bedenkliche Bereitschaft, sich von Geistesheroen abhängig zu machen. Statt das Risiko des eigenen Denkens auf sich zu nehmen, unterwirft man sich den Gedanken anderer. Das Ergebnis ist bestenfalls ein gekonntes Nachbeten von mangelhaft verdauten Gedanken anderer.

Erst die Entwicklung des Privateigentums hat die Lebensform des kontemplativen Philosophen möglich gemacht (Graeber S. 234). Begüterte Menschen, deren Lebensunterhalt durch Sklavenarbeit erarbeitet wurde, konnten sich in Griechenland ausschließlich der Produktion von theoretischen Gedanken widmen. Von produktiver Handarbeit freigestellt, neigten sie dazu, die tragende Rolle des Handelns zu übersehen und das praktische Handeln und die Handarbeit abzuwerten. Es war äußerst folgenreich, dass dadurch die praktische Erfahrung als Quelle philosophischer Überlegungen abgewertet wurde und allein abstrakten Gedanken, die sich im Allgemeinen bewegen, ein philosophischer Wert beigemessen wurde. Außerdem ist durch die neue Erfahrung, dass alle am Markt ausgetauschten Waren einen monetären Tauschwert haben, das abstrakte Denken gefördert worden. So konnte z. B. der abstrakte Begriff des Seins erst entstehen, nachdem das Denken gelernt hatte, in den Waren das quantitativ Gemeinsame, den Tauschwert, zu erkennen (vgl. zur Lippe). Da die Philosophen in der Antike einen großen Einfluss hatten, prägten sie nachhaltig das Selbstverständnis des Menschen als geistiges Wesen. Sie haben sich aber nie gefragt, wie ihre Denkmuster durch die sozialen Lebensbedingungen von sozialer Ungleichheit und Unterdrückung, Privateigentum und Schrift geprägt wurden. Deshalb waren sie blind gegenüber dem historisch bedingten Gehalt ihrer Begriffe.

Die Privilegierung des Kopfes gegenüber der Hand hat die Geistesgeschichte bis ins 19. Jh. geprägt.49 Als während der industriellen Revolution überdeutlich wurde, dass die Kultur eine materielle Basis hat und dass alle naturwissenschaftlichen Theorien aus handwerklichen Leistungen hervorgehen, war nicht mehr zu übersehen, dass die theoretische Entwicklung untrennbar von der handwerklichen Entwicklung abhängig ist. Die traditionelle Spaltung von Handarbeit und geistiger Arbeit war nicht länger aufrecht zu erhalten.

Auch die naturwissenschaftlichen Entdeckungen, wie das Nervensystem funktioniert, haben ein Umdenken bezüglich des Denkens angeregt. Bei der Analyse des Zusammenhangs von Reiz und Reaktion war nicht zu übersehen, dass zwischen den Sinnesreizen und der motorischen Reaktion ein direkter Zusammenhang besteht. Wenn das Denken als eine Aktivität der Nervenzellen aufgefasst wird, folgt daraus zwingend, dass das Denken nur ein Zwischenglied zwischen den Sinneswahrnehmungen und den Handlungen ist und dass das Denken nur im funktionalen Bezug zum Handeln verstanden werden kann. Diese Konsequenzen wurden im Pragmatismus gezogen, der sich gleichzeitig unabhängig voneinander in Deutschland (Hans Vaihinger) und in Amerika (Charles Sanders Peirce, William James und John Dewey) entwickelt hat (vgl. Ceynowa). Der ursprüngliche Bezug der Menschen zur Wirklichkeit ist für diese Autoren nicht mehr das Wahrnehmen und Denken, sondern das Fühlen und Handeln. Für die Pragmatisten ist das grundlegende Weltverständnis von praktischer Natur.

In der pragmatistischen Sicht ist das Handeln das einzige Prüfkriterium für das Denken. Das Denken verliert die Autorität, aus sich heraus die Richtigkeit von Gedanken feststellen zu können. Es hat keinen direkten Bezug zur Wirklichkeit. Denken ohne Handeln ist leer, Handeln ohne Denken ist blind. So könnte man einen berühmten Spruch von Kant abwandeln. Umgekehrt sind alle Theorien auf das Herstellen bezogen, wie bereits Thomas Hobbes erkannt hat.

Es ließe sich zeigen, dass die meisten philosophischen Fragen nicht aus praktischen Problemen hervorgegangen sind, sondern aus der Aneignung von theoretischen Texten der Vorfahren, so dass sie einfach von einer Philosophengeneration auf die nächste übertragen wurden. Dabei wurde meistens vergessen, dass sie ursprünglich in einem religiösen Kontext entstanden sind. Wären die Fragen aus praktischen Erfahrungen abgeleitet worden, würden sich diese Probleme gar nicht stellen. Es hätte nicht das Dogma entstehen können, dass philosophische Probleme nichts mit praktischen Problemen zu tun haben.

Dass die philosophischen Fragen nicht aus dem praktischen Handeln hervorgegangen sind, erklärt, dass es in der Philosophie praktisch keinen Fortschritt zu geben scheint, im Gegensatz zu den erfahrungsbasierten Wissenschaften, deren Erkenntnisfortschritt sich mit der Zeit exponentiell beschleunigt. Da sich die Philosophie nicht auf im Handeln gewonnene Erfahrungen stützt, kann es bei ihr keine Lernprozesse geben.

Als Fazit aus diesen Überlegungen ergibt sich die These, dass die meisten der bisher von der Philosophie ungelösten Fragen letztlich dadurch entstanden sind, dass ihre Besonderheit gegenüber praktischen Fragen nicht erkannt und geglaubt wurde, dass sie allein mit dem Denken gelöst werden könnten. Da ihr Zusammenhang mit dem praktischen Handeln geleugnet wurde, konnte nicht erkannt werden, dass sie im Grunde gar keine Berechtigung haben.

An die Stelle des traditionellen Primats des Denkens muss das Primat des Handelns treten. Probleme entstehen, wenn das Handeln misslingt. Bei allen Problemen muss deshalb gefragt werden, auf welches konkretes Handeln sie sich beziehen. Das Primat des Handelns bedeutet, dass alle Probleme, die nicht mit Handeln gelöst werden können, als Scheinprobleme behandelt werden müssen. Natürlich muss bei schwierigen Problemen das Handeln mit gründlichem Denken vorbereitet werden. Mit selbständigem Denken können geeignete Lösungen gefunden werden. Aber Gewissheit über die Richtigkeit der Gedanken kann nur im praktischen Handeln gefunden werden. Deshalb beginnt und endet alles Denken mit dem Handeln.Wenn trotzdem die Probleme nicht verschwinden, war das Handeln nicht effektiv genug. Das individuelle Handeln wird dann darauf gestoßen, dass die persönlichen Probleme Symptome struktureller sozialer Probleme sind und dass deshalb kollektives Handeln mit dem Ziel sozialer und politischer Reformen erforderlich ist. Dieses Prinzip des praktischen Denkens gilt seit langem für das naturwissenschaftliche Denken, das mit experimentellem Handeln vorangetrieben wird.

Das Primat des Handelns kann letztlich nicht begründet werden. Es bezieht seine Plausibilität allein aus der praktischen Lebenserfahrung. Das stärkste theoretische Argument besteht darin, dass sich das Denken in evolutionärer Betrachtung im Zusammenhang mit dem Handeln entwickelt hat. Da sich die Muster des Handelns spontan bilden und ebenso spontan angewandt werden, muss das Denken als Produkt der Selbstorganisation begriffen werden. Das Primat des Handelns konnte bisher von der Philosophie nicht akzeptiert werden, weil das Konzept der Selbstorganisation konträr zu ihren Grundüberzeugungen steht. Wer die Menschen als bewusst denkende und frei handelnde Wesen begreift, muss die Idee der Selbstorganisation als absurd zurückweisen.

Ob die Scheinprobleme nach ihrer Lösung tatsächlich verschwinden, wie Ludwig Wittgenstein behauptet hat, wird sich zeigen. Da nach seiner Auffassung philosophische Probleme durch eine falsche Denk- und Lebensweise entstehen, werden die Scheinprobleme erst verschwinden, wenn die Gesellschaft das Handeln ihrer Mitglieder nicht einschränkt und die Menschen gelernt haben, ihre Probleme mit eigenständigem Handeln zu lösen.

Als Friedrich Nietzsche das Programm einer Philosophie am Leitfaden des Leibes aufgestellt hatte, glaubte er noch, damit die Philosophie retten zu können (Allos S. 162). In Wirklichkeit führt eine körperorientierte pragmatische Philosophie zu ihrer eigenen Auflösung, weil ein Denken, das sich am Handeln orientiert, dem spekulativen Denken den Boden entzieht. Das mündige Denken kann auf die Fertigprodukte der Philosophie verzichten. Es gibt die Erwartung auf, Lösungen seiner Probleme in der Philosophie zu finden. Es kann und muss die Lösung der praktischen Probleme selbst finden. Theoretische Überlegungen anderer Denker lenken davon nur ab. Fragen, die sich nicht lösen lassen, werden als Scheinfragen ad acta gelegt.

Die Philosophie steht somit vor der Aufgabe, den philosophischen Ballast, der mit der Produktion von Scheinproblemen aufgehäuft wurde, wieder zu beseitigen. Solche Philosophie wird sich als eine moderne Version des Pragmatismus verstehen. Sie hat keine Angst vor ihrer eigenen Auflösung, weil sie sich nicht der Tradition, sondern der Zukunft verpflichtet fühlt.





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1Unter Lebensform wird die Gesamtheit der Verhaltensweisen verstanden, die das Verhalten der Menschen in allen kulturellen Bereichen bestimmen.

2Diese Art von Begriffen werden im Folgenden als mentalistisch bezeichnet.

3Eine genauere Begründung erfolgt im nächsten Kapitel.

4Unten wird der spontane Musterbildungsprozess mit Hilfe des Konzeptes der organismischen Selbstorganisation erklärt (vgl. Kap. 2.7.).

5Der Begriff Angebotscharakter ist eine Übersetzung des von Gibson gebildeten Kunstbegriffs Affordanz, abgeleitet von »to afford« (anbieten).

6Der Mechanismus der metaphorischen Übertragung wird im Kap. 2.4. dargestellt.

7Vgl. Hugo Liepmanns Bewegungsformel: Das temporäre Abbild der Handlung beinhaltet sowohl die Intention der Bewegung als auch räumliche, zeitliche und sequentielle Informationen.

8Es ist anzumerken, dass hier Begriff und Wort synonym verwendet werden. Der philosophische Sprachgebrauch, Begriffe im Sinne von Bedeutung oder Gehalt von Wörtern zu verwenden, wird abgelehnt, da er irreführend ist.

9Deshalb ist es auch falsch, Begriffe als Unterscheidungsgewohnheiten aufzufassen. In den Begriffen spiegeln sich nur Unterscheidungen, die bereits auf der vorsprachlichen Ebene der Muster vorgenommen wurden. Vgl. Ros, Arno: Geist und Materie, S. 42

10Meine Überlegungen zu den biologischen Voraussetzungen der Sprache möchte ich an dieser Stelle nicht wiederholen. Vgl. Neubeck, Klaus: Die Intelligenz der Regeln, München 2012, S. 69ff.

11Dass die abstrakten Allgemeinbegriffe bloß sprachliche Konstrukte ohne Entsprechung in der Realität sind, wurde erstmals vom Nominalismus (William Ockham) erkannt.

12Für diese Sprachspiele haben die Linguisten den Begriff performativ eingeführt.

13Der Ursprung der Sprache liegt nach der Theorie von Christoph Türcke in religiösen Ritualen. Nachdem entdeckt wurde, dass die Sprache auch das gemeinsame Handeln fördert, hat sie sich rasant durchgesetzt.

14Die Formulierung »im Inneren« ist natürlich nur eine Metapher. Früher sagte man dazu »in der Einbildungskraft«, »in der Seele« oder »in der Vorstellung«.

15Es ist bemerkenswert, dass bereits Thomas Hobbes den Gedanken entwickelt hatte, dass das Denken die subjektive Erfahrung von inneren Bewegungen ist.

16Vgl. Levine S. 329: »Unsere Empfindungen und Emotionen steuern unsere Gedanken.«

17Der Begriff der Repräsentation wurde im Kap. 2.2. kritisiert.

18„Ich bin der Ansicht, daß der Mensch vom Unbekannten gelebt wird. In ihm ist ein Es, irgendein Wunderbares, das alles, was er tut und was mit ihm geschieht, regelt. Der Satz >ich lebe< ist nur bedingt richtig, er drückt ein kleines Teilphänomen von der Grundwahrheit aus: Der Mensch wird vom Es gelebt.“ (Georg Groddeck, Das Buch vom Es, 1923, S. 18)

19Der Begriff des Bösen als Gegenbegriff zum Guten ist zwar in der zeitgenössischen Moralphilosophie in den Hintergrund getreten, sei aber nach Höffe nach wie vor unentbehrlich (vgl. Höffe S. 337).

20Wie im Kap. 2.8. dargestellt wird, sind alle Erfahrungen mit Bewertungen verbunden, die ihrerseits aus emotionalen Reaktionsmustern hervorgehen.

21Kant fasste Grundsätze als notwendig auf, aber es war ihm klar, dass sie nicht beweisbar sind. (Röd, Wolfgang: Heureka! Philosophische Streifzüge im Licht von Anekdoten, München 2013, S. 46)

22Diese Fähigkeit scheint der Inbegriff des Bewusstseins zu sein. Der Begriff Bewusstsein leitet sich nicht zufällig von dem Verb wissen ab: man weiß aus der Beobachtung, wie die eigene Bewegung im Idealfall ablaufen sollte und kann sich bei der Ausführung an diesem Wissen orientieren.

23Der Philosoph Chr. Wolff (1679–1754) hat in der Unterscheidung das wesentliche Merkmal des Bewusstseins gesehen.

24Für den Gesamteindruck hat Eugene Gendlin den Kunstbegriff felt sense (körperlich gefühlte oder gespürte Bedeutung) eingeführt.

25Oben wurde bereits dargestellt, dass das Wesen der Emotionen darin besteht, ein bestimmtes Handeln anzustoßen.

26Dafür den Begriff emergent zu verwenden, ist sinnlos, weil er nicht erklärt, wie die Neustrukturierungen zustande kommen.

27Vgl. Neubeck, Klaus: Atem und Glück, Kap. 5

28Vgl. Ciompi S. 94

29Dieser Ansatz wird in Kapitel 2.9. für die moralischen Werte weiter ausgeführt.

30Im nächsten Kapitel wird gezeigt, dass diese Interpretation erst unter bestimmten historischen Bedingungen möglich geworden ist.

31vgl. Kap. 3.8.

32»Ich spüre, also bin ich.« Wie oben bereits erwähnt wurde, vermittelt vor allem der Tastsinn das Gefühl zu existieren und sich in einer Welt zu befinden (vgl. Kap. 2.3.).

33Eine Ausnahme ist Meister Eckhart, der das Ich zum ersten Mal als Substantiv verwendet hat (vgl. Gabriel S. 214).

34Platon fasste die Seele als eine innere Steuerinstanz auf, die die Begierden kontrollieren soll. Bei Freud muss das Ich die Realitätskontrolle gegenüber den blinden Kräften des Ich übernehmen.

35WOOP ist eine Kurzbezeichnung der Methode (Wish, Outcome, Obstacle, Plan)

36Davon wurde auch das Verb reflektieren im Sinne von nachdenken abgeleitet.

37Die Existenz von speziellen Neuronen, die für die Einfühlung zuständig sind, ist keineswegs gesichert (Plamper). Es ist nicht weiter verwunderlich, dass Bewegungen in den gleichen Hirnarealen wahrgenommen werden, in denen sie auch ausgeführt werden, da Bewegungen nur verstanden werden können, wenn sie innerlich nachvollzogen werden.

38Das Erkennen von Mustern wird häufig als Interpretieren bezeichnet (z. B. Lenk). Der Begriff der Interpretation ist problematisch, da er suggeriert, dass das Interpretieren eine rein geistige Aktivität ist.

39Eine Ausnahme stellen die Dialoge und Gleichnisse (z. B. das Höhlengleichnis) von Platon dar.

40z. B. Schnädelbach, Herbert: Was Philosophen wissen und was man von ihnen lernen kann, München 2013

41Vgl. Eagleman, der die Willensfreiheit als eine Erzählung begreift, die das Gehirn erfindet (S. 175).

42Bekanntlich leitet sich der Begriff des Fakts vom lat. facere (machen, tun) ab. Demnach wurde das Wissen von Gegenständen ursprünglich als ein Tun verstanden.

43Die Unterscheidung des Wissens in Wissen-wie und Wissen-dass geht übrigens auf den Philosophen Gilbert Ryle zurück, für den das Wissen-wie logische Priorität hatte (vgl. Jung, Wissen S. 68).

44Zum Teil haben sich auch einige Muskeln zurück entwickelt. Die mit Feuer zubereitete weiche Nahrung der Menschen hat die Kaumuskeln im Vergleich zu den Menschenaffen sich zurückbilden lassen, was zu dem besonderen Gesicht der Menschen geführt hat.

45Es kann hier nicht entschieden werden, welches der beiden Konzepte richtig ist.

46Vgl. die Kritik am Begriff der Repräsentation bei Varela 1992.

47Alle Vergleiche der Menschen mit den Tieren müssen prinzipiell scheitern, weil nicht geklärt werden kann, ob Tiere ein Bewusstsein haben und wie sie ihr Leben organisieren.

48Vgl. Jeremy Rifkin, Stefan Mekiffer, Peter Spiegel

49Die immer stärker werdende Betonung der praktischen Erfahrung seit der Spätscholastik im 13. Jh. hat daran nichts ändern können.