Philosophie der Muster    Buch "Atem und Glück"

Klaus Neubeck

Atem und Glück

für Gela
»Das wahre Glück im Leben
kann es nur für Narren geben«

Dieses Buch kann bei jedem Buchhändler bestellt werden.

Außerdem direkt im Internet: www.libri.de und www.amazon.de

Anschrift des Autors:

Dr. Klaus Neubeck

Destouchesstr. 29

80803 München

Email: klaus.neubeck@mnet-online.de

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

ISBN 3-8330-0164-X

Herstellung: Books on Demand GmbH, Norderstedt

© Alle Rechte liegen bei dem Autor, München 2003

1 Einleitung 7

2 Das Glück des Sisyphos 21

3 »Angst fressen Seele auf« 29

3.1 Angst vor den Emotionen 31

3.2 Die Schmerzen der Verdrängung 40

3.3 Die Kraft der Angst 49

3.4 Gewalt macht Angst 59

3.5 Gefühle denken 65

4 »Die Seele allein ist glücklich, die liebt« 77

4.1 Odysseus und die Resonanz 77

4.2 Die Bindungskraft der Liebe 88

4.3 Lachen zur Verteidigung der Liebe 93

4.4 Die Illusion des geistigen Glücks 98

4.5 Der menschliche Klangkörper 102

5 Die Entstehung der negativen Gefühle 111

5.1 Basisemotionen und Ersatzgefühle 112

5.2 »Selbstsucht ist der Anfang vom Ende« 119

5.3 Das Glück des Unglücks 128

5.4 Warum ist der Glückliche weniger krank? 134

6 Die emotionalen Selbstheilungskräfte 139

6.1 Glück braucht Trauerarbeit 141

6.2 Abschied vom Ich 147

6.3 Heilkraft der Liebe 149

6.4 Die nützlichen Schuldgefühle 154

7 Emotionale Selbstorganisation 161

7.1 Die Signale des Glücks 162

7.2 Die Rationalität der Emotionen 164

7.3 Wer wahr handelt, fühlt sich frei 174

7.4 Der ethische Kompass 185

7.5 Sexuelles Glück 197

8 Die Verantwortung der anderen 201

8.1 Das Glück lebt vom Glück der anderen 203

8.2 Das Glück der Individualität 218

9 Der Beitrag des Atems zum Glück 223

9.1 Sammlungsfähigkeit und Achtsamkeit verbessern 227

9.2 Die inneren Rhythmen spüren 233

9.3 Die Botschaften des Organismus wahrnehmen 240

9.4 Rezeptive Grundhaltung einüben 245

9.5 Systemische Atemtherapie 248

10 Die Seele als Quelle des Glücks? 251

10.1 Der Verlust der Seele 254

10.2 Das Glück des ganzen Körpers 260

10.3 Falsche Mythen 277

10.4 Glück und Tod 282

10.5 Die Sprache des Atems 291

Literaturverzeichnis 309

1. Einleitung

»Der Mensch ist unglücklich, weil er nicht weiß, dass er glücklich ist. Nur deshalb. Das ist alles. Wer das erkennt, der wird glücklich sein, sofort, im selben Augenblick.« (Fjodor M. Dostojewski, »Dämonen«)
»Ein glückliches Leben besteht in erster Linie aus Freiheit von Sorgen.« (Cicero)

Manche Bücher über das Glück beginnen mit der Frage, ob es überhaupt noch etwas Neues zu diesem Thema zu sagen gibt, das zweifellos seit jeher die Menschen neugierig macht. Solche Fragen klingen wie eine Entschuldigung dafür, dass man aufgrund der überwältigenden Fülle an Überlegungen zum Glück nichts Neues beitragen kann, aber dennoch ein Buch darüber schreiben möchte. Ich habe mir diese Frage nach dem Neuen nie gestellt, da ich von Anfang an, seitdem ich mich mit diesem Thema beschäftige, überzeugt bin, dass mein Ansatz, der von einer Atemtheorie der Gefühle ausgeht, neue Aspekte in die Glücksdiskussion einbringen kann. Vor allem vermeidet er den Fehler aller Glückstheorien, die stets davon ausgehen, dass das Glück allein mit Hilfe des Denkens erreicht werden könnte. Denn es gibt gute Gründe dafür, dass die Glücksfähigkeit weniger vom Denken als von der Fähigkeit abhängig ist, seine Emotionen zu spüren und zu artikulieren.

● Mehr Fühlen!

Im traditionellen Denken war es selbstverständlich, dass die Vernunft die Aufgabe hat, Ordnung in der Seele herzustellen und die verschiedenen Antriebe miteinander zu harmonisieren. Platon verglich die Vernunft mit dem Reiter, der ein Pferd steuert. Zwar hat das Pferd auch einen Eigenwillen, aber es kommt auf die Kunst des Reiters an, das Pferd zu zähmen und seinen Zielen unterzuordnen. Seit Aristoteles gilt die vollkommene Entfaltung des Denkens als die zentrale Voraussetzung für das Glück. Das Denken gilt als die höchste und wertvollste Eigenschaft des Menschen. Deshalb könnten sich die Menschen erst gemäß ihrer Natur verhalten und damit glücklich sein, wenn sie ihr Denken entwickeln. An dieser antiken Auffassung hat sich im Grunde bis heute nichts geändert.

Ich halte diese Glorifizierung des Denkens für problematisch, weil sie mit einer falschen Einschätzung der Macht des Denkens über die Gefühle verbunden ist. Es wird angenommen, dass philosophische Einsichten unmittelbar in praktisches Handeln umgesetzt werden könnten. So unterstellt z.B. der Gedanke, dass Glück darin bestehen würde, in der Gegenwart zu leben, dass dies bei hinreichender Bemühung erreicht werden könnte. Es wird dabei aber übersehen, dass dazu eine ausgeglichene emotionale Grundverfassung und bestimmte Fähigkeiten wie Achtsamkeit erforderlich sind, die nicht ohne weiteres antrainiert werden können, weil sie voraussetzen, dass man relativ wenig Angst hat. Vermutlich ist es ein Irrtum anzunehmen, dass man das Glück mit der Einübung von einzelnen Fähigkeiten des Denkens zurückgewinnen kann. Es ist nicht zufällig, dass sich die Philosophie schon seit langem aus ihrer früher als zentral proklamierten Aufgabenstellung, Anleitungen zur Lebenskunst zu geben, mehr oder minder völlig verabschiedet hat und dieses Feld völlig der Psychotherapie überlassen hat, weil sie gespürt hat, dass sich Einsichten nicht ohne weiteres in Handeln umsetzen lassen.

Die Überschätzung des Denkens hat dazu beigetragen, dass das Zusammenspiel des Denkens mit den Gefühlen aus dem Blick geraten ist und die Menschen die Sensibilität für ihre emotionalen Impulse verloren haben. Solange geglaubt wird, dass mit bestimmen philosophischen Erkenntnissen das Glück zu finden sei, kann nicht die Erfahrung zulassen werden, dass man von inneren Ängsten am Glück gehindert wird und das heißt, dass man sich im Grunde selbst am Glück hindert. Insofern verstärken die philosophischen Glückstheorien die Verdrängung der Angst. Sie unterstützen ein problematisches Selbstverständnis von sich selbst, das auf der Möglichkeit von Selbstdisziplin und Kontrolle aufbaut. Dadurch werden die inneren Verspannungen weiter verstärkt. Glück setzt innere Gelöstheit voraus. Sie kann sich nur einstellen, wenn die eigenen Ängsten zugelassen werden können. Je länger ich mich mit den Glückstheorien auseinandersetze, umso mehr verdichtet sich bei mir der Verdacht, dass die Glücksbücher nach der traditionellen Machart entweder gar nichts bewirken oder ihre Leser eher noch unglücklicher machen.

● Glück ist ein Metagefühl

Seit Aristoteles gehört es zum Wesen des Menschen, dass er nach dem Glück strebt. Einer der wenigen, die dagegen eingesprochen haben, war Friedrich Nietzsche: »Ich will nicht das Glück, ich will mein Werk.« Tatsächlich konnte ich auch noch nie bei mir dieses Streben nach Glück feststellen. Vielmehr liegt mir primär daran, dass ich keine Angst mehr habe, selbstsicherer bin, mich nicht schwach fühle, mir nicht ständig Vorwürfe mache u. Ä., aber nie wollte ich direkt glücklich sein.

Hinter dem angeblichen Streben nach Glück steht vermutlich der Wunsch nach Befreiung von Ängsten, nach innerer Ausgeglichenheit, nach seelischem Gleichgewicht, nach gutem Kontakt mit anderen Menschen, nach Vitalität u. Ä. Wenn Aristoteles von der Schmerzlosigkeit sprach, meinte er sicherlich primär das Fehlen von psychischen Schmerzen. In der Antike wurden diese Wünsche in den Begriffen Seelenruhe und Seelenfrieden zusammengefasst. Was die Menschen am Glücksthema interessiert, ist vermutlich nicht die Suche nach einem positiven Gefühlszustand, sondern das Versprechen, von der inneren Unruhe befreit zu werden, also die Befreiung von etwas, was als schmerzlich empfunden wird. Sie wissen, dass sich das Gefühl des Wohlbefindens von selbst wieder einstellt, wenn die innere Unruhe vorbei ist.

Diese Auffassung des Glücks wird in der Philosophietradition nur von wenigen Philosophen geteilt. So begriff z. B. Arthur Schopenhauer Glück als die Abwesenheit von Schmerzen und Leiden. Die Hauptströmung des philosophischen Denkens über das Glück bestand in dem Versuch, das Glück positiv zu bestimmen. In zwei Jahrtausenden intensiver Gedankenarbeit ist es aber den Philosophen nicht gelungen, sich auf eine Glücksdefinition zu einigen. Aus der Not wurde in der Gegenwart eine Tugend gemacht und die Auffassung postuliert, dass Glück etwas Subjektives sei und jeder seine eigene Glückskonzeption selbst entwickeln müsse. Das ist natürlich nicht sehr hilfreich, weil damit der Einzelne hoffnungslos überfordert wird.

Wenn es richtig ist, dass es beim Glücksthema im Grunde um die Befreiung von innerer Unruhe geht, ist es problematisch, das Ziel des Glücks positiv bestimmen zu wollen. Jeder derartige Versuch enthält unweigerlich das Versprechen, dass man sich ein für alle Mal von innerer Zwietracht und Angst befreien könnte, als gäbe es ein Patentrezept, um auf immer Seelenfrieden herzustellen. Er gaukelt die schimärische Hoffnung vor, dass die menschlichen Probleme grundsätzlich gelöst werden können und lässt vergessen, dass das Leben immer mit Schmerzen, Leiden und Unglück verbunden ist.

Daraus ergab sich für mich die These, dass das Glücksthema, so wie es traditionell angegangen wird, ein Ersatzthema ist, um vor der Aufgabe auszuweichen, die in der Lösung der konkreten emotionalen Probleme liegt. Es spricht vieles dafür, dass alle seelischen Probleme letztlich durch Ängste ausgelöst werden. Dann müsste eigentlich das zentrale Thema des Glücks die Angst sein und das Ziel allen Strebens in der Befreiung von der Angst liegen. Aber die Angst macht Angst, sich damit zu beschäftigen. Deshalb blieb bisher die zentrale Frage unbeantwortet, warum die Angst eine so starke zerstörerische Macht auf die Beziehungen der Menschen untereinander hat. Wenn man sich auf diese Frage einlässt, müssen die Lebensbedingungen analysiert werden, die Angst auslösen und ganz konkret untersucht werden, wie dadurch die ursprüngliche Bereitschaft zu Liebe und Vertrauen zerstört wird.

Wahrscheinlich hat man sich früher mit dem Glücksthema auch so schwer getan, weil man vom Glück mehr erwartet hat, als es geben kann. Wer starke seelische Verletzungen durch Liebesverlust, Demütigungen und Benachteiligung erleidet, hat das Gefühl, vom Leben betrogen worden zu sein. Das tiefe Gefühl, hinsichtlich Liebe und Zuwendung zu kurz gekommen zu sein, produziert die Sehnsucht nach einem Ausgleich. Ich habe den Eindruck, dass dieses Gefühl das Motiv war, dass der Glücksbegriff mit den Vorstellungen des Paradieses und der völligen Abwesenheit von Leiden aufgeladen wurde und dass es deshalb schwierig geworden ist, eine Glücksdefinition zu akzeptieren, die vom Glück als innerer Ruhe und Ausgeglichenheit ausgeht. Die um das Glück betrogenen Menschen scheinen das Glück nur als ein ekstatisches Gefühl der Glückseligkeit auffassen zu können.

Die Besonderheit des Glücks besteht vermutlich gerade darin, dass es mit relativ wenig Erregung verbunden ist. Aber es ist natürlich ein Gefühl, weil es wie jedes Gefühl mit einer Bewertung verbunden ist und zwar mit der vollen, durch nichts eingeschränkten Bejahung des eigenen Lebens. Wenn die natürliche Selbstbejahung aufgegeben wird, meldet dies der Körper mit unübersehbaren Symptomen und Signalen, die als Unglücklichsein interpretiert werden. Die Wiederherstellung der uneingeschränkten Selbstbejahung ist die eigentliche Antriebskraft, die hinter der Suche nach dem Glück steht. Man könnte das Glück deshalb auch als ein Metagefühl bezeichnen.

● Sich von den Gefühlen leiten lassen, statt sie zu verdrängen!

Von den traditionellen Glückstheorien wird unisono gefordert, dass man seine Gefühle zähmen und dass man der Herr seiner Gefühle sein soll. Die damit verbundene Abwertung der Gefühle drückt sich in dem Begriff der Leidenschaft aus, der unterstellt, dass die Gefühle nur Leiden schaffen und deshalb kontrolliert werden müssten. Diese Abwertung der Gefühle war äußerst verhängnisvoll, weil so nicht erkannt werden konnte, dass das Unglück gerade daher kommt, dass die Gefühle zu stark kontrolliert werden. Denn nach der unten darzulegenden Theorie führt jedes Gefühl, das dauerhaft zurückgehalten wird, zwangsläufig zu muskulären Verspannungen, die die Gelöstheit des Glücks verhindern.

Die Abwertung der Gefühle konnte sicherlich erst auf dem Boden der idealistischen Philosophie entstehen, die den Geist als das Höhere begriff und ihn in den Gegensatz zu den Gefühlen stellte. Aufgrund dieses Dualismus zwischen Denken und Fühlen ist es schwierig geworden, eine rationale Theorie der Gefühle zu entwickeln, die ihre Funktion im zwischenmenschlichen Zusammenleben realitätsgerecht abbildet. So konnte nicht erkannt werden, dass die Gefühle eine unentbehrliche Orientierungsfunktion in der zwischenmenschlichen Kommunikation haben und dass auch die angeblich negativen Gefühle wie Angst und Wut unentbehrliche Hilfen sind, um einen befriedigenden Kontakt zu anderen Menschen zu bewahren.

Es wird vorgeschlagen, für eine rationale Theorie der Gefühle davon auszugehen, dass die Emotionen nicht der Sphäre des Geistes angehören, sondern ein Teil des Körpers sind. Wie ich in meinem Buch »Psychosomatik des Atems« dargestellt habe, können die Emotionen als körperliche Schwingungsphänomene aufgefasst werden, die die Schwingungen des Atems überformen. Dies ist keineswegs eine Anlehnung an esoterisches Gedankengut, sondern stützt sich auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse. Wenn die Emotionen als Ausdrucksformen des Atems begriffen werden, hören die Emotionen auf, etwas Flüchtiges und schwer Fassbares zu sein, sondern können als ein Bestandteil der komplexen Physiologie des Menschen bestimmt werden. Damit kann ihre zentrale Bedeutung für das Denken, für die Entstehung von Krankheiten und für den Heilungsprozess genauer bestimmt werden.

Wenn der enge Zusammenhang von Gefühlen und Atem ins Blickfeld gerät, wird verständlich, warum der Atem im esoterischen Denken als die Nahtstelle zwischen Körper und Geist begriffen wurde. Mit seiner physiologischen Funktion der Sauerstoffgewinnung gehört der Atem zum Körper. Da aber der Atem mit den von ihm beim Sprechen ausgelösten Körperbewegungen bzw. –schwingungen auch Bedeutungen transportieren kann, weist er scheinbar über das Körperliche hinaus. Aber er bleibt auch mit den symbolischen Bedeutungen dem Körper verhaftet, da die Bedeutungen an die körperlichen Schwingungen gebunden sind. In diesem Doppelaspekt des Atems liegt eine Chance, zu einem neuen Verständnis des Verhältnisses von Denken und Fühlen zu gelangen. Daraus läßt sich die Hypothese ableiten, dass der Atem der Schlüssel zum Verständnis der menschlichen Kommunikation ist, da er offensichtlich das Medium der Sprache ist. Und da der Atem auch das Medium ist, mit dem ganz untrüglich festgestellt werden kann, ob ein Kontakt gelungen ist, schien der Atem auch der Schlüssel für das Verständnis des Glücks zu sein. Vermutlich war immer der Atem gemeint, wenn von der Reinigung und Stärkung der Seele die Rede war. Es schien deshalb möglich zu sein, die zentrale Bedeutung von innerer Ruhe und Ausgeglichenheit für das Glück aus der Perspektive des Atems besser zu verstehen.

Wenn man sich die Geschichte der Philosophie vergegenwärtigt, dann ist der Zusammenhang von Glück, Gefühlen und Atem gar nicht so ungewöhnlich. Bis in die Neuzeit spielte der Begriff Seele eine zentrale Rolle. Bei vielen Philosophen, insbesondere in der Stoa, war die Seele die eigentliche Quelle des Glücks. Wenn man die Seele reinige und pflege, könne man des Glückes sicher sein. Es ist bemerkenswert, dass sich der Begriff Seele etymologisch vom Atem ableitet (vgl. S. Error: Reference source not found). In vielen alten Religionen hängen Atem und Lebenskraft so eng miteinander zusammen, dass zwischen beiden Phänomenen kein Unterschied gemacht wurde. »Im Atem hält der göttliche Geist den Menschen am Leben.« Überwiegend wurde der Atem als Ausdrucksform der Lebenskraft oder als die Lebenskraft selbst wahrgenommen.

Diese Überlegungen haben meine Überzeugung bestärkt, dass das Glücksthema nur angemessen bearbeitet werden kann, wenn der Atem mit in die Analyse einbezogen wird. Wenn davon auszugehen ist, dass das Glück an der Verfassung des ganzen Körpers hängt, dann braucht man zum Verständnis des Glücks eine Theorie, die die Gefühle im Körper verankert. Dies ist mit der vorgeschlagenen Atemtheorie der Emotionen möglich. Danach besteht Glück in der Befreiung der Emotionen von sich selbst auferlegten Zurückhaltungen, und da die Emotionen Manifestationen des Atems sind, könnte man auch sagen, dass das Glück in der Befreiung des Atems liegt. Man fühlt sich glücklich, wenn der Atem frei ist.

Die Funktion der Gefühle soll im Rahmen einer systemischen Gefühlstheorie beantwortet werden, die die wechselseitige Verstrickung der Gefühle mit den Gefühlen der anderen Menschen in den Mittelpunkt stellt. Die systemische Gefühlstheorie überwindet den individualistischen Ansatz, in dem der wichtige Aspekt ausgeblendet wird, dass die Gefühle immer von den Gefühlen der Menschen im sozialen Umfeld abhängig sind und immer auch eine Botschaft an andere Menschen enthalten. So fordert meine Freude den anderen auf, sich auch mit dem Gegenstand meiner Freude zu beschäftigen. Oder mein Schweigen signalisiert meinen Anspruch, dass ich der Mächtigere in der Beziehung bin. Oder meine Trauer fordert den anderen auf, mir bei der Überwindung der Trauer zu helfen. Häufig nörgelt man an anderen Menschen herum, um sie zu mehr Aufmerksamkeit zu zwingen. Es ist nicht zu übersehen, dass Gefühle in starkem Maße von den Gefühlen derjenigen Menschen abhängig sind, mit denen man zusammenlebt und dass ihr Verständnis sich erst erschließt, wenn man ihre Funktion für die anderen Menschen versteht.

Das traditionelle Dogma, dass man seine Gefühle kontrollieren müsse, übersieht das empirisch nicht zu leugnende Phänomen, dass sich die Gefühle weitgehend selbst organisieren und dass das Denken wenig Einfluss auf sie hat. Es gibt offensichtlich eine tiefere Entscheidungsebene im menschlichen Organismus, an die das bewusste Denken nicht heranreicht. So entstehen vermutlich die »negativen Gefühle«, die angeblich unter Kontrolle gehalten werden müssen, dadurch, dass der Organismus annimmt, dass er sich damit vor weiteren seelischen Verletzungen schützen kann. Es kann gezeigt werden, dass die Zurückhaltung von Emotionen nicht das Werk des Denkens oder des Ichs ist, sondern dass sie von den Emotionen selbst vorgenommen wird und zwar ausschließlich von der Angst. Deshalb können sich die Emotionen letztlich nur verändern, wenn das früher erlebte Defizit an Liebe und Zuwendung durch die reale Erfahrung von Liebe und Zuwendung ausgeglichen wird.

Ich habe den Eindruck, dass die Vernunft bzw. das Ich eine der letzten Illusionen ist, vor denen die Aufklärung noch Halt gemacht hat. Auch Sigmund Freud, der viele Illusionen zerstört hatte, hielt noch an der Illusion fest, dass das Ich gestärkt werden müsste, um die blinde Kraft des Es zu brechen. In der Idee des Ichs ist ohne Zweifel auch die Überzeugung enthalten, dass es eine innere Kraft gibt, um sich von inneren Ängsten zu befreien und das Glück wiederherzustellen. Was würde passieren, wenn die Vorstellung aufgegeben würde, dass es ein Ich gibt? Wird dadurch die Verantwortung für sich selbst, die im traditionellen Denken als das Fundament des moralischen Denkens gilt, zerstört? Sicher nicht! Darauf verweist seit langem der Buddhismus, zu dessen Grundlehren die Kritik an der Illusion des Selbst und des Ichs gehört.

Die Esoterik vertritt gegenüber der abendländischen Kontrollhaltung das Gegenkonzept, dass man sich von seinen Gefühlen leiten lassen soll. Den Emotionen wird die Kraft zugesprochen, richtiges Handeln anleiten zu können. Das erscheint aus abendländischer Sicht als fragwürdig, da die Emotionen als etwas Irrationales erscheinen. Aber es wird sich zeigen, dass die esoterische Einstellung gegenüber den Gefühlen etwas Wahres enthält. Gefühle, die sich frei, also in relativer Abwesenheit von Angst entfalten können, erweisen sich als der tragende Grund allen Denkens und Handelns, und damit auch des Glücks. Das moralische Denken wird keineswegs durch die Auflösung des Ichs zerstört, weil es im Grunde auf den Emotionen basiert, allerdings nur auf denjenigen, die sich vollkommen entfalten können und nicht verletzt und deshalb verdrängt werden.

● Wo Gewalt herrscht, gibt es kein Glück

Wer zu wenig Liebe erfährt, kann die dadurch ausgelöste Angst vor dem Verlassenwerden nicht integrieren und versucht, sich mit den Gefühlen des Hasses oder des Misstrauens vor dem Wiederauftauchen der Angst zu schützen. Wer seine Wut wegen einer seelischen Verletzung nicht artikulieren durfte, wird künftig in Konfliktfällen nachgeben oder von vornherein Harmonie anstreben. Die Philosophen haben sich mit den Gefühlen schwer getan, weil sie nicht begriffen haben, dass die als störend empfundenen Emotionen der Rachsucht, des Machtstrebens, des Neides, der Verachtung, des Hasses, der Eifersucht, des Egoismus nichts Angeborenes, sondern die Folge von seelischen Verletzungen durch Demütigungen, Benachteiligungen oder Defiziten an Liebe und Zuwendung sind.

Jeder seelischen Verletzung geht Gewalt voraus. Gewalt liegt vor, wenn in einer Beziehung ein Teil seine größere physische, soziale oder politische Macht benutzt, um dem anderen seinen Willen gegen dessen Widerstand aufzuzwingen. In diesem Sinne gibt es Gewalt auch in der Familie, wenn die Eltern die Bedürfnisse des Kindes nach autonomer Entfaltung brechen und sie ihren eigenen Bedürfnissen unterordnen. Je früher Kinder mit Ansprüchen und Erwartungen der Eltern, die sie überfordern, umso mehr wird die weitere seelische Entwicklung von tiefen Ängsten geprägt. Gewalt in zwischenmenschlichen Verhältnissen ist aber nie nur persönlich, sondern verweist auf Gewalt in der Struktur der gesellschaftlichen Beziehungen. Denn wenn Menschen ökonomische Macht über andere ausüben können, ist Gewalt in sozialen Beziehungen unausweichlich. Daraus ergibt sich die banale Strategie, dass weniger Gewalt dem Glück mehr hilft als besseres Denken.

Die Analyse der Gefühle führt zu der These, dass alle Gefühle die Aufgabe haben, in Kooperation mit anderen Menschen ein gestörtes inneres Gleichgewicht, also den »Seelenfrieden« wiederherzustellen. Auch die Angst leistet einen Beitrag dazu, da sie vor größeren seelischen Verletzungen schützt. Deshalb erscheint mir die übliche Redeweise von den »negativen Gefühlen« als problematisch. Es gibt keine negativen Gefühle und wenn bestimmte Gefühle als negativ abgewertet werden, ist dies in meinen Augen auf ein Unverständnis der Gefühle zurückzuführen.

Wenn die Philosophen erkannt hätten, dass Unglück aus verletzten Gefühlen entsteht, hätten sie eine kritischere Position gegenüber den herrschenden Lebensverhältnissen einnehmen müssen. Dann hätten sie erkannt, dass die meisten »negativen« Gefühle Ausdruck von emotionaler Not sind, die letztlich durch Gewalt verursacht worden sind. Die Tatsache aber, dass die Philosophen durchweg die Struktur der historischen, gesellschaftlichen Lebensverhältnisse gar nicht zum Thema gemacht haben, zeigt, dass ihr Denken bewusst oder unbewusst im Dienst der herrschenden Gruppen stand. Ihre abstrakten Glückstheorien hatten so insgeheim die ideologische Funktion, die individuellen Gefühle des Widerstandes gegen emotionale Unterdrückung als unberechtigt oder falsch zu denunzieren. Es kommt darauf an, im individuellen Unglück den Protest gegen Gewalt und Lieblosigkeit zu sehen.

Wenn die gesellschaftlichen Lebensverhältnisse individuelles Glücklichsein behindern, dann muss die kritische Reflexion dieser Verhältnisse in die Analyse des Glücks einbezogen werden. Eine Theorie des Glücks kann sich nicht um eine realistische Analyse herumdrücken, warum die herrschenden Lebensverhältnisse ein glückliches Leben erschweren. Sie muss zu einem Handeln ermutigen, das alle sozialen Strukturen bekämpft, die Angst erzeugen.

● Persönliche Motive

Ich werde oft gefragt, was eigentlich meine persönlichen Motive sind, mich mit dem Glück zu beschäftigen. Hinter dieser Frage steckt wohl der Verdacht, dass ich unglücklich sein müsse. Am Anfang meiner Beschäftigung mit dem Atem stand die Hoffnung, dass ich mit Atemübungen zu einem besseren Sehen gelangen könnte. Später kam die Hoffnung dazu, dass ich dadurch besser in Kontakt mit meinen Gefühlen komme. Es stellte sich aber für mich als ein Irrtum heraus, dass der Kontakt zu den Gefühlen allein mit körpertherapeutischen Methoden gefunden werden kann, ohne dass die Gefühle direkt angesprochen werden. Aus meinen persönlichen Erfahrungen geht hervor, dass die befreiende Kraft der Atemtherapie verstärkt werden kann, wenn die Emotionen stärker in die Atemarbeit einbezogen werden.

Je länger ich mich mit dem Atem beschäftigt habe, bildete sich bei mir die Überzeugung heraus, dass der Atem ein unentbehrlicher Schlüssel zum Verständnis aller psychischen Probleme ist, dass aber nicht der Fehler gemacht werden darf, den Atem als eine eigenständige Kraft zu mystifizieren, aus dem letztlich alles abgeleitet werden kann. In den meisten Atemtheorien sind immer noch solche metaphysische Gedanken und mystische Vorstellungen enthalten, wenn z. B. vom »Atemleib«, von der »Selbstbewegung des Atems« oder davon, dass »der Atem das Dasein strukturiert«, die Rede ist. Mein Ziel ist, am Leitfaden des Atems eine »materialistische« Theorie der Emotionen zu entwickeln, die nicht nur das Nachdenken über das Glück auf einen festeren Boden zu stellen vermag, sondern die auch die Bedeutung des Atems für das klärt, was das eigentlich Menschliche ausmacht, seine Gedanken und Gefühle. Das Phänomen des Atems stellt eine große Herausforderung dar, weil es die Frage aufwirft, wie das Personhafte beim Menschen mit dem unpersönlichen biologischen Grund verbunden ist.

Schließlich bin ich überzeugt, dass die Atemtheorie auch deshalb alle Anleihen an die esoterische und mystische Gedankenwelt von sich streifen muss, wenn sie eine breite öffentliche Anerkennung erzielen will. So unbestreitbar die therapeutischen Erfolge der Atemtherapie sind, die Atemtherapie hat es bisher nicht vermocht, die Heilkraft des Atems rational zu begründen. Vor allem ist es im Hinblick auf die Anerkennung durch die Medizin wichtig, dass mit einer rationalen Sprache die psychischen und somatischen Wirkungen der Atemarbeit erklärt werden können. Nur auf diese Weise können die verbreiteten Vorurteile gegenüber der Atemarbeit abgebaut werden.

Ein weiteres Motiv für meine Beschäftigung mit dem Glücksthema besteht darin, dass ich den Ehrgeiz habe, esoterische Erkenntnisse in einer rationalen, nachvollziehbaren Sprache zu erfassen. Das Problem der Esoterik besteht darin, dass sie viele tiefe Einsichten in die Natur des Menschen enthält, dass diese aber mit mythologischen Metaphern verbunden werden, die ein Verständnis erschweren und meist nur eine gläubige Unterwerfungshaltung zulassen. Hinzu kommt, dass die Esoterik eine verwirrende Vielfalt von Psychotechniken für die Suche nach dem Glück anbietet. Ich vermute, dass es gleichwertige Wege sind. Das wird an den Formulierungen deutlich, mit denen sie angepriesen werden. Zum Beispiel die Avatar-Methode: »Avatar möchte Menschen dazu ermächtigen, das zu tun, was für sie/ihn genau richtig ist. Kurzum: Ziel ist es, die Verantwortung für alles – wirklich für alles, was uns geschieht, ob gewollt oder ungewollt – in unserem Leben selbst zu übernehmen.« Meine These ist, dass alle Methoden letztlich ihre Wirkung daraus beziehen, dass sie helfen, dass die Blockierungen des Atems durch zurückgehaltene Emotionen aufgehoben werden. Ich hoffe, dazu beizutragen, dass die esoterischen Theorien in eine rationale Sprache übersetzt werden können.

Eigentlich steht die Aufgabe an, aus einer Gesamtschau der verschiedenen Glückstheorien eine alle Aspekte integrierende Theorie des Glücks zu entwickeln. Obwohl viele Philosophen den Standpunkt vertreten, dass das Glück überhaupt das zentrale Thema der Philosophie sei, erschöpfen sich ihre Theorien meist in der relativ unkritischen Rezeption der antiken Glückstheorien. Dabei herrscht eine Verehrung der großen Meister vor. Es wird nicht gefragt, ob deren Einsichten grundsätzlich richtig sind und ob sie noch in der gegenwärtigen Zeit gültig sind. Es sind keine Versuche unternommen worden, einen völligen Neuanfang im Denken über das Glück zu wagen. Das kann von mir auch nicht geleistet werden, aber ich bin überzeugt, dass der hier vorgelegte Entwurf einer rationalen Atemtheorie einen Anstoß dazu geben kann.

Das eingangs angeführte Dostojewskizitat ist eine Provokation. Es darf sicherlich nicht so gelesen werden, als würde es Hoffnung auf eine schlagartige Erlösung durch das Denken machen, sondern es ist eine überspitzte Formulierung, die deutlich machen soll, dass das Glück durch einen eigenen Entschluss aufgegeben wurde und dass es deshalb auch mit einem Entschluss zurückgeholt werden kann, es lässt aber offen, wie dieser Entschluss gelingen kann.

2. Das Glück des Sisyphos

»Im Unglück müssen wir uns aufrichten, indem wir uns des Verlorenen mit Dankbarkeit erinnern, uns aufrichten durch die Erkenntnis, dass das Geschehene nicht ungeschehen zu machen ist.« (Epikur)

Der Mythos von Sisyphos kann auch so gelesen werden, dass er davon handelt, wie verloren gegangenes Glück zurückgefunden werden kann. Mit seiner Analyse können deshalb einige Grundgedanken zum Verhältnis von Glück, Emotionen und Gesellschaft dargestellt werden. Sie zeigen, dass man nicht den Fehler machen darf, die Mythen von ihrem geschichtlichen Hintergrund abzulösen, da sie stets Antworten auf neu entstandene moralische Fragen waren.

In dem bekannten Sisyphosmythos wird Sisyphos zur Strafe von den Göttern verurteilt, in der Unterwelt auf ewig einen schweren Stein auf einen Berg hoch zu wälzen. Wenn er das Ziel erreicht hat und glaubt, dass er jetzt von der Last befreit sei, rollte der Stein den Berg wieder hinab, so dass er den Stein erneut auf den Gipfel des Berges hoch stemmen muss. Die Götter hatten bedacht, dass es keine fürchterlichere Strafe gibt als eine unnütze und aussichtslose Arbeit. Der Mythos erzählt mehrere Gründe für die unvergleichlich harte Strafe. Aber offensichtlich kommt es gar nicht auf das gerechte Maß der Strafe an, sondern wie Sisyphos damit umgeht.

Albert Camus schließt seine Analyse des Mythos von Sisyphos mit den überraschenden Sätzen ab: »Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen« (Camus, 1985 S. 101). Für Camus ist Sisyphos der Held des Absurden, dem die Sinnlosigkeit und Wertlosigkeit des Lebens zu Bewusstsein kommt und der daraus die Folgerung zieht, die Götter zu verachten und sein Schicksal auf sich zu nehmen. »Darin besteht die ganz verschwiegene Freude des Sisyphos. Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache.« (Camus S. 100)

Zu Homers Zeiten gab es noch keine Zweifel an der Existenz der Götter und dem Sinn des Lebens. Deshalb geht die Interpretation von Camus an der Tiefenschicht des Mythos vorbei. Vermutlich wird man der Geschichte des Sisyphos nur gerecht, wenn man sie als eine moralische Parabel liest, in der es nicht um die Frage nach der Existenz der Götter und der Sinnlosigkeit des Lebens geht, sondern wie die Menschen mit großer Schuld umgehen. Es wird im Mythos nicht berichtet, welche Gedanken sich Sisyphos gemacht hat und wie seine Geschichte zu Ende ging. Im Folgenden möchte ich meine Phantasien über die Gedanken von Sisyphos darstellen, ganz im Sinne von Albert Camus, der festgestellt hat: »Mythen sind dazu da, von der Phantasie belebt zu werden.« (Camus S. 99)

Jedes Mal, wenn Sisyphos den Berg hinabgeht, kann er nach der vorangegangenen Anstrengung erleichtert aufatmen. Er hat die Chance, sich über seine Situation Klarheit zu verschaffen. Solange er sich aber bei den Göttern über sein schweres Schicksal beklagt, bleibt diese Chance ungenutzt. Er wird den Stein immer und immer wieder den Berg hinaufschieben müssen. Wenn er aber begreift, dass er sich selbst für diese Bestrafung entschieden hat, wird sich sein Schicksal schlagartig ändern. Dann stellt er sich die Frage, ob es nicht sinnvollere Wege gibt, um das Unrecht, das er anderen Menschen angetan hat, auszugleichen. Er wird sich wohler fühlen, wenn er zu seinen Taten steht und seine Schuld nicht länger verleugnet. Er wird sich glücklich fühlen, weil er hoffen kann, dass die betrogenen Menschen sein Angebot für einen Ausgleich annehmen und ihm vergeben werden, so dass er den verlorenen Kontakt zurückgewinnen kann.

Der Dreh bei der Geschichte ist, dass Sisyphos solange leidet, wie er seine Schuld darüber, dass er andere Menschen betrogen hat, nicht anerkennt und die Strafe der Götter als ungerecht empfindet. Die Vorstellung der strafenden Göttern erleichterte es ihm, die Konfrontation mit seiner Schuld zu vermeiden. Andernfalls müsste er sich ihr stellen. Er würde dann merken, dass die Schuldgefühle ihn niederdrücken und er wenig seelische Kraft hat, mit seinen Schuldgefühlen bewusst umzugehen. Aber er würde an der Erfahrung seiner Schwäche wachsen.

Offensichtlich gibt es innere Kräfte, die dafür sorgen, dass ein gestörtes seelisches Gleichgewicht wiederhergestellt wird, dass es aber auch die Bereitschaft gibt, die Störung aufrecht zu erhalten. Auf der einen Seite gibt es also seelische Selbstheilungskräfte, die seelische Heilung herbeiführen, auf der anderen Seite gibt es auch Kräfte, um im Leiden zu verharren. Welche Kräfte sich durchsetzen, hängt davon ab, für welche Seite sich der Organismus entscheidet. Ich sage bewusst nicht, für welche Seite sich das Ich entscheidet, weil ich davon ausgehe, dass es im Körper eine Entscheidungsebene gibt, die unterhalb des Bewusstseins liegt. Auf dieser Ebene geht es allein darum, wie der Organismus angesichts seiner Fähigkeiten und Kräfte, über die er aktuell verfügt, mit einer Situation am besten zurechtkommt. Wenn er dem Druck des eigenen Schuldgefühls nicht standhalten kann, wird er sich für eine Entlastung durch Schuldzuweisung an andere Personen oder andere Mächte entscheiden. Solange er sicher ist, dass er mit dem Tode bestraft wird, wenn er zu den Menschen zurückgeht, wird er das sinnlose Steinewälzen vorziehen. Wenn er aber die Schuld annehmen kann, wird er nach einer produktiven Lösung suchen.

Sisyphos hatte sich zunächst aus Schwäche dafür entschieden, seine Verantwortung für das anderen Menschen zugefügte Unrecht zu verleugnen. Aber als das Leiden an der sinnlosen Wiederholung des Immergleichen größer als der Schmerz des Schuldgefühls wurde, konnte er die ursprüngliche Entscheidung ändern und sich für eine produktive Lösung seines Konfliktes entscheiden.

Sisyphos hätte schon früher von seiner Plackerei erlöst werden können, wenn die Menschen, die er betrogen hatte, ihm vergeben hätten. Sie hätten von sich aus auf ihn zugehen und von ihm Wiedergutmachung verlangen können. Dadurch hätte Sisyphos nicht bis zu der absoluten Schmerzgrenze gehen müssen. Da sie dies aus welchen Gründen auch immer nicht getan haben, kann der Eindruck entstehen, als läge sein Schicksal allein in der Hand der Götter bzw. in seiner eigenen Hand. Dieser Eindruck ist falsch, da die eigene Schwäche immer relativ zur Stärke der anderen ist. Wenn die betrogenen Menschen stark genug gewesen wären, ihm zu vergeben, hätte er nicht aus seiner eigenen Schwäche heraus die Entlastung bei der Verantwortung der Götter suchen müssen. Er hätte damit viel leichter die Verantwortung für seine Taten übernehmen können.

In dieser Interpretation der Geschichte des Sisyphos wird deutlich, dass es falsch wäre, das Schicksal eines Menschen von der ihn umgebenden sozialen Umwelt zu isolieren und die Verantwortung für alles, was ihm widerfährt, allein ihm anzulasten. Das Schicksal von Sisyphos zeigt, dass seine Entscheidungen auch davon abhängen, wie sich die Umwelt verhält. Seine Emotionen antworten auf die Emotionen der anderen Menschen. Man muss sich fragen, warum er andere Menschen betrogen hat. War es Rache dafür, dass er selbst betrogen wurde? Ist er bestraft worden, damit sich die soziale Gruppe, die selbst fortwährend andere Menschen betrügt, vom schlechten Gewissen befreien kann? War also Sisyphos nur ein Sündenbock, das Opfer einer heuchlerischen Moral?

Der Mythos erzählt, dass Sisyphos der Gründer und erste König der Stadt Korinth war und sich um die Entwicklung seiner Stadt kümmerte. Er galt als äußerst schlau und durchtrieben, genauso wie sein Vater, der Götterbote Hermes, der Gott der Diebe und der Händler. Nach einer anderen Überlieferung betrieb Sisyphos das Gewerbe eines Straßenräubers. Es ist also anzunehmen, dass er sich bereits an der neuen Reichtumsquelle des Warenhandels beteiligt hat. Sisyphos kann als der Prototyp des Händlers angesehen werden, der seine ökonomische Macht benutzt hatte, um damit seine politische Machtstellung auszubauen. Seine eigentliche Schuld bestand also weniger darin, dass er Geheimnisse der Götter preisgab oder sogar Götter überlistete, sondern darin, dass er die Macht eines politischen Führers missbraucht hatte, um seine ökonomische Macht zu verstärken.

Damit liegt die historische Schicht der Geschichte von Sisyphos offen zutage. Der Mythos entstand am Übergang von der Stammesgesellschaft, in der nur für das Wohl der Gruppe produziert und getauscht wurde, zur bürgerlichen Gesellschaft der Privateigentümer, in der für einen anonymen Markt produziert wird. Das bedeutete eine radikale Veränderung der Lebensverhältnisse: In der Stammesgesellschaft begründete die wechselseitige Solidarität aller Stammesmitglieder eine tiefe Geborgenheit. In individuellen Notfällen konnte man auf die Hilfe der anderen rechnen. In der bürgerlichen Gesellschaft wurden diese Sicherheiten aufgelöst, ohne dass neue Sicherheiten gebildet wurden, außer der, dass man in Notzeiten sein Privateigentum, sofern man welches hat, verkaufen oder beleihen kann. Es entstand das auf sich selbst gestellte Individuum, das schlau und gerissen sein muss, um sich im Konkurrenzkampf zu behaupten. Das seelische Kennzeichen der neuen Gesellschaftsform ist deshalb tiefe Existenzunsicherheit. Auf diesem Boden entstanden die Forderungen nach Selbstverantwortung, Ichstärke und Kontrolle der Emotionen durch die Vernunft.

Damit entstanden auch völlig neue moralische Probleme. Im Zentrum stand das Problem, wie die strukturell unvermeidbare Übervorteilung der Arbeiter, die die Waren herstellen, und der Käufer, die die Waren abnehmen, moralisch gerechtfertigt werden kann. Zur Zeit von Sisyphos konnte mit diesem Problem nur durch die absolute Verurteilung derjenigen umgegangen werden, die sich an den neuen Formen der Produktion und des Austauschs von Waren beteiligten. Die harte Strafe des Sisyphos sollte alle anderen Menschen warnen. Wenn Sisyphos bestraft wurde, lebenslang einen Stein den Berg empor zu wälzen, sollte ihm damit verwehrt werden, seine Händlertätigkeit wieder aufzunehmen, die per se als betrügerisch galt.

Als die antiken Philosophen eine Lösung des Konfliktes suchten, gingen sie davon aus, dass der Prozess der Ausweitung der Märkte nicht zu verhindern ist. Wenn der Prozess nicht mit Strafen aufzuhalten ist, muss der moralische Konflikt mit mentalen Mitteln gelöst werden. Ihre Antwort auf die neue Situation bestand im Kern darin, dass jeder einzelne Mensch frei ist und deshalb die Verantwortung für sein eigenes Verhalten selbst übernehmen muss. Jeder entscheidet sich für seine Emotionen selbst. Deshalb trifft die Umwelt keine Mitverantwortung für den emotionalen Zustand des Einzelnen. Alles ist erlaubt, solange man sich dem Anschein nach an die Normen der Gemeinschaft hält und sein Verhalten gegenüber den anderen Menschen begründen kann. Es entstand die individualistische Moral, die die traditionelle Orientierung am Gemeinwohl und die traditionelle Verantwortung der Gemeinschaft für das Wohl des Einzelnen auflöste.

Der Preis der neuen ethischen Konzeptionen war, dass das Gespür für die tiefe Verschränkung der Emotionen verloren ging. Wenn nicht mehr darauf geachtet wird, wie die eigenen Gefühle von den Gefühlen der anderen Menschen abhängig sind und wie die Gefühle der anderen Menschen durch die eigenen Gefühle mitbestimmt werden, entsteht das falsche Selbstverständnis, dass man für seine Gefühle selbst verantwortlich ist und sie jederzeit ändern kann.

Mit der individualistischen Moral hat sich ein falsches Verständnis der individuellen Verantwortung durchgesetzt. Ursprünglich hat Verantwortung bedeutet, dass man sich mit dem eigenen Verhalten bedingungslos identifiziert und die eigenen Impulse gegenüber Fremdbestimmung verteidigt. Jetzt bedeutet Verantwortung, dass man sich Verhaltensmaßstäben unterwirft, die von der sozialen Gemeinschaft aufgestellt wurden und die nicht mehr kritisch in Frage gestellt werden dürfen. Verantwortung ist dann keine Verantwortung mehr gegenüber sich selbst und den inneren Impulsen, sondern Gehorsam gegenüber den von der sozialen Gemeinschaft festgesetzten Normen. War Verantwortung ursprünglich Treue zu sich selbst, so ist sie in der individualistischen Moral identisch mit Verleugnung von sich selbst.

Vermutlich entstand in der Antike die neue Gruppe der Philosophen, weil die moralischen Konflikte die soziale Stabilität gefährdeten und nach einer Lösung gesucht werden musste. Die Auflösung der alten sozialen Ordnung war der tiefere Grund, warum jetzt nicht mehr im Rahmen der Religion allein nach dem Sinn des Lebens gesucht wurde. Denn die Religion war nicht in der Lage, aus ihren überlieferten Denk- und Deutungsmustern auszubrechen und neue, den veränderten Lebensverhältnissen angepasste Interpretationen zu entwickeln.

Aus der Geschichte von Sisyphos kann die Lehre gezogen werden, dass es darauf ankommt, Widerstand gegen mentale Schuldentlastungsmechanismen zu leisten, dass aber auch die soziale Gemeinschaft die Aufgabe hat, die mentalen Entlastungsmechanismen zu kritisieren, so dass sie nicht zur Aufrechterhaltung eines inneren Ungleichgewichts missbraucht werden können. So dürfte z. B. die Religion nicht länger die göttliche Strafe als Ursache für das Leiden heranziehen oder die Philosophie das Schicksal oder falsches oder ungenügendes Denken als Ursache des Leidens proklamieren. Nur auf der Basis des Kontaktes mit den Emotionen kann Verantwortung für das eigene Verhalten übernommen werden. Dann ist man fähig, für bestehende Konflikte neue Lösungen zu finden.

So wie sich die Entlastungsversuche spontan einstellen, so ergeben sich auch unter günstigen Lebensbedingungen die Lösungen gleichsam wie von selbst. Sisyphos hätte sein Glück wiederfinden können, wenn er gespürt hätte, dass er sich selbst bestraft hat und wenn er sich bewusst gewesen wäre, dass er das Unrecht wieder gutmachen muss. Er konnte schon glücklich sein, bevor er den Ausgleich vollzogen hatte, da er die innere Ruhe zurückgefunden hatte. Sisyphos hatte nicht nach dem Glück gesucht; das befreiende Aufatmen beim Abstieg vom Berg hat ihm den Gedanken gegeben, dass er nicht länger die Götter für etwas verantwortlich zu machen braucht, was er selbst verschuldet und wofür er sich selbst bestraft hat. Er hat im Moment des tiefen Aufatmens gespürt, was er falsch gemacht hat. Er hat also streng genommen nicht nachgedacht, sondern hat die Impulse zugelassen, die er dann als seine Gedanken wahrgenommen hat.

An der Geschichte des Sisyphos zeigt sich, dass es eine Art inneren ethischen Kompass gibt, der das Verhalten des Einzelnen steuert. Dieser ethische Kompass stützt sich auf die Emotionen. Er funktioniert umso besser, je mehr die Emotionen zugelassen werden. Erst als Sisyphos seine Schuldgefühle zuließ, war er von seinem scheinbar unentrinnbaren Schicksal befreit.

Der Mythos von Sisyphos zeigt auch, dass es eine tiefe Abhängigkeit des Glücks von der gesellschaftlichen Ordnung gibt. Wie viel Glück möglich ist, hängt also nicht nur von der emotionalen Verfassung des Einzelnen, sondern auch von der gesellschaftlichen Verfassung ab. Auch wenn der Einzelne die soziale Ordnung nicht verändern kann, so hat er es in der Hand, sich wie Sisyphos von den eigenen Vorstellungen zu befreien, die die Schuld für das eigene Fehlverhalten anonymen oder transzendenten Kräften zuzuschieben, und dadurch das Glück zurückzugewinnen, das in der gegenwärtigen Situation möglich ist.

3. »Angst fressen Seele auf«

»Oft ist der Mensch selbst sein größter Feind.« (Cicero)

Im christlichen Glauben steht am Anfang der menschlichen Geschichte die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies. Die Vertreibung wird damit begründet, dass sich die Menschen angemaßt hätten, wie Gott zu sein, und gewagt hätten, selber zu denken. Das kann unmöglich der wahre Grund sein, denn zwischen Tat und Strafe ist so ein krasses Missverhältnis, dass damit vermutlich tiefere schmerzhafte Erfahrungen verdeckt werden sollen. Ich vermute, dass die Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies keine reine Erzählung ist, sondern dass sie einen realen historischen Kern hat. Sie markiert wahrscheinlich eine historische Zäsur im Leben der Menschen, in der dem bisher friedlichen und geordneten Leben ein Leben mit Mangel, Leiden und Unglück folgte. Vermutlich hängt dies mit der Entstehung des Privateigentums in der Zeit um ca. 700 Jahren v.u.Z. zusammen, die das Leben aufgrund der permanenten Unsicherheit und der direkten ökonomischen Abhängigkeit von anderen Menschen grundlegend verändert hat. Der Zwang zu Gehorsam und Pflichterfüllung machte die Zurückhaltung von Gefühlen der Wut und Liebe notwendig und führte dazu, dass die Menschen nicht mehr im Einklang mit ihren Gefühlen leben konnten.

Es ist zu vermuten, dass die Vertreibungsgeschichte einen Versuch darstellt, die traumatische Erfahrung des Verlustes der früheren Eingebundenheit in die schützende Stammesgesellschaft zu verarbeiten. Es sollte zugleich die Erinnerung an die früheren glücklichen Lebensbedingungen festgehalten werden. Aber eine Kritik an den neuen Lebensverhältnissen musste unterbleiben. Wahrscheinlich ist die Geschichte sogar von Intellektuellen der herrschenden Gruppe selbst ausgedacht worden, um den Bruch aus dem kollektiven Gedächtnis zu tilgen. Es wurde der alte Trick angewandt, dass die Menschen angeblich selbst durch ihr Fehlverhalten die Vertreibung aus dem Paradies verschuldet haben. Alles Leiden kann jetzt zu subjektivem Versagen erklärt werden, wie es z. B. später in der katholischen Lehre von der Erbsünde durchgeführt wurde.

Die Menschen erlebten die Herauslösung aus dem traditionalen Stammesverband sehr zwiespältig. Einerseits brachte es einen Gewinn an persönlicher Freiheit, weil die manchmal auch einengenden Fesseln der Stammestraditionen aufgelöst wurden. Allerdings war diese Freiheit auch notwendig, um sich an die neuen Lebensformen anpassen zu können. Andererseits war der Preis der Freiheit relativ hoch. Der Verlust der Solidarität wiegt sehr schwer, weil er durch nichts ersetzt werden kann. Er zwingt zur blinden Anpassung an die gesellschaftlichen Normen und führt somit dazu, dass das mögliche Potenzial an Freiheit gar nicht genutzt werden kann. Der Preis der Freiheit ist chronische Angst und damit chronische Gefährdung des individuellen Glücks.

Die Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies ist für das Thema des Glücks deshalb so wichtig, weil sie hervorhebt, dass es traumatische historische Ereignisse gab, die dazu geführt haben, dass das Leben seither von Angst geprägt wird. Natürlich gab es auch in den paradiesischen Verhältnissen der Stammesgesellschaften Angst, aber das war immer nur eine schnell vorübergehende Angst vor wilden Tieren, vor dem Gewitter u.Ä. Aber seit der angeblichen Vertreibung haben die Menschen chronische Angst vor ihren eigenen Gefühlen. Denn die neuen Lebensverhältnisse, in denen sich die eigentumslosen Menschen in die Abhängigkeit von Eigentümern begeben müssen, lassen es prinzipiell nicht zu, dass die Menschen sich an ihren Gefühlen orientieren. Der natürliche emotionale Kompass, der so geeicht ist, dass Beziehungen unter Gleichen angestrebt und alle dauerhaften Ungleichheiten als ungerecht bekämpft werden, muss neu eingestellt werden.

Wo Angst ist, gibt es keine innere Ruhe und Ausgeglichenheit. Warum zerstört die Angst die Fähigkeit, einen guten Kontakt herzustellen? Steht dies nicht im Widerspruch mit der nützlichen Funktion der Angst. Warum ist die Angst bei allen Gefühlen, die die Beziehungen zu anderen Menschen belasten wie Neid, Eifersucht, Feindseligkeit, Gleichgültigkeit, Egoismus u.a. beteiligt? Warum verwandelt sich die Furcht häufig in neurotische Angst, die die eigene Lebenskraft lähmt? Ich gehe von der Überzeugung aus, dass die Angst der Feind des Glücks ist und deshalb das zentrale menschliche Thema ist. Das Glück kann nur verstanden werden, wenn die Funktion der Angst begriffen wird.

3.1. Angst vor den Emotionen

»Der meiste Schatten in unserem Leben rührt daher, dass wir uns selbst in der Sonne stehen.« (Ralph Waldo Emerson)

Alle seelischen Probleme fangen damit an, dass Gefühle aus Angst zurückgehalten und nicht ausgedrückt werden. In dieser These steckt die Behauptung, dass das Kardinalproblem des Glücks darin besteht, dass Gefühle nicht ausgelebt werden. Es ist merkwürdig, dass für die zentrale Frage, warum und wie Gefühle zurückgehalten werden, bisher völlig ungeklärt ist. Das hängt sicherlich damit zusammen, dass die Angst in der abendländischen Kultur tabuisiert worden ist.

Jeder weiß aus Erfahrung, dass Gefühle häufig innerlich abgelehnt werden. Dazu gehören die Gefühle der Selbstverachtung, des Selbstmitleids, des Ärgers oder des Grübelns. Aber auch die Gefühle der Wut und Trauer können innerlich abgelehnt werden. Selbst das normalerweise positiv bewertete Gefühl der Liebe kann diese Abwertung erfahren. Üblicherweise wird die innere Ablehnung einfach auf den angeborenen Charakter zurückgeführt. Wenn aber die Anlässe genauer untersucht werden, die zur Ablehnung von Gefühlen führen, ist festzustellen, dass sie stets durch übermäßige Angst geprägt sind, den ursprünglichen Kontakt zu einem geliebten Menschen zu verlieren. Die Abwertung der Gefühle wird meist vorgenommen, weil die Erfahrung gemacht wurde, dass durch sie der Kontakt gefährdet wird. Nichts bringt einen Organismus mehr in Panik, als die Angst vor dem Verlust des Kontaktes zu geliebten Personen, der als unentbehrlich für das eigene Überleben betrachtet wird. Das kann so weit gehen, dass der Kontaktverlust ignoriert und in der Einbildungskraft geleugnet wird. Sigmund Freud führte Angst auf die »Furcht vor der Trennung von der beschützenden Mutter« zurück1. Was das kleine Kind in der Angst fürchtet, »habe den Charakter eines Vernichtet-, eines Ausgelöscht-Werdens.« Das Kind liebt die Mutter so sehr, dass es die Trennung von ihr als Tod empfindet. Jede spätere Angst erinnere an die früheren Ängste vor dem Verlassenwerden und der Todesangst.

Die Furcht hat von Natur aus eine produktive Funktion, weil sie ein deutliches Signal für mögliche Bedrohungen durch Verlust oder Verletzungen darstellt. Die Furcht mobilisiert den Organismus, seine erlernten Fähigkeiten zur Überwindung der Bedrohung einzusetzen. Wenn aber die Bedrohung als so stark erlebt wird, dass geglaubt wird, ihr nicht gewachsen zu sein, wirkt die Furcht überwältigend. Wenn z. B. das kindliche Bedürfnis nach Geborgenheit nachhaltig frustriert wurde oder die Frustration zu einem Zeitpunkt kam, als das Kleinkind die Situation noch nicht richtig einschätzen konnte, wird sich die Furcht zur Angst umwandeln. Jede Angst ist deshalb die Folge von erlebter Hilflosigkeit und Schwäche und man sollte deshalb nur von Angst sprechen, wenn Furcht mit Hilflosigkeit gepaart ist.

Die Anlässe für Angst sind sehr vielgestaltig: wenn die Bedürfnisse nach Essen, Trinken oder Zuwendung nicht beachtet werden; wenn der Wunsch nach Autonomie Angst bei seelischen Verletzungen ignoriert oder behindert wird; wenn man zu lange allein gelassen wird; wenn man für die Bedürfnisse anderer Menschen missbraucht wird; wenn Versprechungen nicht eingehalten oder die Erwartungen enttäuscht werden; wenn man gedemütigt wird; wenn man körperlich oder durch Liebesentzug bestraft wird und vieles mehr. Jedes Mal handelt es sich um eine seelische Verletzung, die den Organismus ins Ungleichgewicht bringt. Bei starken Verletzungen wrid von einem Trauma gesprochen. Im Grunde gibt es ein lückenloses Kontinuum zwischen den kleinen Verletzungen, die auch als Mikrotraumata bezeichnet werden könnten, und den großen Traumata. Deshalb sind die körperlichen Reaktionen der Erregung und Angst, die bei großen Traumata zu beobachten sind, in abgeschwächter Form auch bei den Mikrotraumata zu beobachten.

Die erste Reaktion auf eine starke Bedrohung ist die Schreckreaktion. Sie ist eine fundamentale Antwort auf unbekannte und überwältigende Reize, bei denen das Gefühl vorherrscht, dass die eigenen Fähigkeiten zum Kampf oder zur Flucht nicht ausreichend sind. Im Schreckreflex werden die muskulären Anspannungen verstärkt, bei starkem Schock bis zum Extrem der völligen Erstarrung, bei der sich der Organismus völlig empfindungslos macht. Der Schreckreflex »tritt bei plötzlicher, unvorhergesehener Bedrängnis oder vorübergehenden alarmierenden Situationen in Aktion. Wir halten inne, pausieren, versteifen uns, spannen unsere Muskulatur an, halten den Atem ein, erforschen die Lage und reagieren, indem wir entweder warten, bis die Gefahr vorüber ist, oder handeln. Ist die Bedrohung ernsthafter Natur oder geht sie nicht vorbei, vertieft sich das Schreckmuster. Wir versuchen, die Schwierigkeit zu umgehen, wenden uns ab, stellen uns auf Kämpfen oder Flüchten ein.« (Keleman 1992 S. 82) Mit den schlagartig einsetzenden physiologischen Veränderungen werden alle Kraftreserven mobilisiert. Gleichzeitig werden die Reaktionen des Herzens, der Atmung, des Hormonsystems, des Nervensystems u. a. gesteigert. Dies zeigt sich an Symptomen wie Zittern von Stimme und Händen, trockenem Mund, Schluckbeschwerden, gespannten Muskeln, Unruhe, Ungeduld, Nervosität u. a.

Der Schreckreflex manifestiert sich bei den Tieren in der Immobilitätsreaktion, die häufig auch als Totstellreflex bezeichnet wird. Wenn Tiere keine Chance mehr sehen, sich durch Kampf oder Flucht zu retten, stellen sie sich tot. Der Angreifer wird danach oft unaufmerksam. Im günstigen Moment können dann die Tiere fliehen. Die Immobilitätsreaktion ist so neben Kampf und Flucht die dritte natürliche Reaktion, um mit besonders starken Bedrohungen des Lebens fertig zu werden. Sie ist in abgeschwächter Form auch bei den Menschen zu beobachten, wenn sie vor Schreck erstarren und sich wie gelähmt fühlen. Peter Levine geht davon aus, dass bei jedem Trauma eine Immobilitätsreaktion ausgelöst wird. Wenn die damit verbundene körperliche Anspannung nicht wieder aufgelöst wird, kommt es zu vielfältigen seelischen und körperlichen Symptomen.

Die Erfahrung zeigt, dass Säuglinge und Kleinkinder jede Zurückweisung, Ablehnung oder Vernachlässigung, also alle Formen versagter Zuwendung, als Bedrohung erleben. Sie signalisieren mit ihrem Weinen, dass sie noch nicht über die seelischen Kräfte verfügen, um den als bedrohlich erlebten Liebesverlust zu verarbeiten. Sie haben noch kein Zeitgefühl, um vorübergehende Versagungen zu überbrücken. Andererseits sind sie ganz elementar auf Zuwendung angewiesen. In vielen Untersuchungen ist nachgewiesen worden, dass durch den Verlust von Zuwendung die körperliche und psychische Entwicklung empfindlich gestört werden kann. Das Kind lernt zwar von Anfang an, Verletzungen des Liebesbedürfnisses auszuhalten; es ist aber entscheidend, dass die Stärke der Verletzungen nicht die bereits erworbenen seelischen Kräfte der Frustrationstoleranz übersteigen darf. Andernfalls kommt es zu traumatischen Reaktionen des Rückzugs.

Als Paradebeispiel für die innere Ablehnung von Gefühlen soll die Wut dargestellt werden. Das kleine Kind äußert seine Wut ungebremst, wenn es in seinen Bedürfnissen verletzt wird. Es will dadurch den gestörten Kontakt wiederherstellen. Es muss und will lernen, mit der ungestümen Kraft der Wut umzugehen, die sich zunächst in Schreien, Schlagen und Treten äußert. Dazu müssen seine Wutäußerungen von den Eltern akzeptiert werden, im Vertrauen darauf, dass das Kind von sich aus ein Interesse hat, am Vorbild der Eltern zu lernen, sich mithilfe der Sprache, also letztlich ohne körperliche Gewalt durchzusetzen. Wenn das Kind spürt, dass seine Wut angenommen wird, gewinnt es die Kraft, seine Wut in eine produktive Kraft umzuwandeln, mit der es sich gegen seelische Verletzungen zur Wehr zu setzen kann.

Meistens scheitert aber das Erlernen der Wut, weil sie in der abendländischen Kultur als eine negative Emotion diffamiert wird und sich deshalb viele Eltern pädagogisch berechtigt fühlen, die noch unkoordinierten kindlichen Äußerungen der Wut zu bestrafen. Dadurch kommt ein Teufelskreis der Wutabwehr in Gang. Die Wut, die ursprünglich einen gestörten Kontakt wiederherstellen sollte, darf nicht ausgedrückt werden und verändert sich so in eine destruktive Kraft, die nach Vergeltung und Zerstörung trachtet. Da kein produktiver Umgang mit ihr gelernt wurde, wird sie dazu neigen, sich in unkoordinierten Wutexplosionen zu entladen. Aus schlechtem Gewissen wird die eigene Wut abgelehnt.

Wenn wiederholt die Erfahrung gemacht wird, dass der Wunsch nach körperlicher Zuwendung mit Liebesverlust bestraft wird oder dass man bestraft wird, weil man sich gegen die Einschränkung der eigenen Bedürfnisse zur Wehr gesetzt hat, werden die eigenen Emotionen zur Quelle von Angst. Überlässt man sich also den eigenen Impulsen, gerät man in Konflikt mit den tiefen Bedürfnissen nach uneingeschränkter Zuwendung. In diesem Konflikt besteht keine andere Wahl, als sich gegen die eigenen emotionalen Impulse zu stellen und sie abzuwehren, da es lebenswichtiger erscheint, den Verlust der Liebe zu vermeiden.

● Der innere Dialog der Angst

Ängste lösen stets einen inneren Dialog aus. Von Anfang an muss sich das Kind mit den Anforderungen seiner Bezugspersonen, wie es sein, denken, fühlen oder handeln soll, auseinandersetzen. In vielen Punkten stimmen seine spontanen emotionalen Reaktionen nicht mit den Erwartungen der Bezugspersonen überein, so dass eine innere Spannung entsteht. Es steht vor der Aufgabe, die Erwartungen der Umwelt mit den eigenen Bedürfnissen zusammenzubringen. Wenn es ihm nicht gelingt, im direkten Kontakt mit den Bezugspersonen eine Balance zu finden, muss es versuchen, im inneren Gespräch die Auseinandersetzung mit den Bezugspersonen fortzusetzen und zu Ende zu bringen.

Von Beginn des Spracherwerbs an führt jeder Mensch einen solchen inneren Dialog mit sich selbst und es gehört zur wichtigsten Selbsterfahrung, dass er ständig - oft unbemerkt - auf dem Hintergrund des Bewusstseins abläuft. Im inneren Dialog wird ohne Zweifel das Gespräch mit den Bezugspersonen nachgebildet. Der innere Dialog läuft völlig spontan ab und hat nichts mit dem aktiven, bewussten Denken zu tun. Offensichtlich wird die Sprache relativ früh in der persönlichen Entwicklung so gut beherrscht, dass auch Erfahrungen, die nicht durch bewusstes Denken verarbeitet wurden, im Bewusstseinshintergrund ohne Beteiligung des bewussten Ichs - dem Traum vergleichbar - bearbeitet werden können.

Wenn das Kind liebvolle Bezugspersonen hat, die seine Bedürfnisse respektieren, wird sich ein innerer Dialog entwickeln, der sich durch Bewusstheit, Flexibilität und Kreativität auszeichnet. Das Kind macht die Erfahrung, dass ein bewusst geführter innerer Dialog mit vorgestellten Personen eine kreative Quelle für die Lösung der alltäglichen Lebensprobleme sein kann. Es entstehen in Worte gekleidete innere Überzeugungen, die die weitere Entwicklung fördern, wie z. B. »Ich kann mich auf die Liebe meiner Mutter verlassen.« Ein Erziehungsprozess, der durch Einfühlung und Fürsorge geprägt ist, befähigt zu authentischem Verhalten. Er garantiert dann einen guten Kontakt zu sich selbst und damit auch Selbstbewusstsein und Selbstreflexivität. Das Kind wird sich deshalb auf die Ergebnisse seines inneren Dialoges verlassen.

Wenn jedoch ein Kind in einer frühen Entwicklungsphase Verletzungen erfährt, mit denen es noch nicht aus eigener Kraft fertig werden kann, wird es, da es noch nicht über die erforderliche Frustrationstoleranz und Stärke zur Abwehr der Verletzungen verfügt, mit Rückzug reagieren. Wenn es mit Bedrohungen konfrontiert wird, denen es absolut nicht gewachsen ist, wird es mit Panik reagieren. Dies ist ein Zustand, der unter allen Umständen vermieden werden muss.

Wenn zu starke Verletzungen und Demütigungen verarbeitet werden müssen, kann der innere Dialog nicht bis zum produktiven Ende durchgeführt werden. Unter dem Druck der Bedürfnisse des Angreifers entsteht die Neigung, sich mit den Botschaften des Angreifers zu identifizieren. Mit Rücksicht auf dessen Botschaften werden Glaubenssätze formuliert, die die eigenen Bedürfnisse abwerten und die Bedürfnisse des Angreifers zum Maßstab des eigenen Handelns machen. Da sie sich gegen die eigene Person richten, werden sie als negativ empfunden, obwohl sie letztlich eine positive Schutzfunktion haben. Der Organismus verliert so das im inneren Dialog angelegte Potential der eigenständigen produktiven Lösung von sozialen Konflikten. Die Emotionen können dann nicht mehr kreativ weiter entwickelt werden. Der innere Dialog verwandelt sich in einen Monolog2, dessen Ergebnis ist, dass die Bedürfnisse des Angreifers mehr Recht als die eigenen Bedürfnisse haben. Der innere Dialog wird von Glaubenssätzen beherrscht, die die eigene Person herabsetzen und abwerten. An die Stelle der natürlichen Selbstbejahung, die sich in der uneingeschränkten Identifizierung mit den eigenen Emotionen äußert, treten innere Ablehnung und Zweifel.

Die seelische Entwicklung besteht im Grunde darin, dass gelernt wird, ein gewisses Maß an Spannung und die damit verbundene Erregung zu halten, ohne dass die Angstreaktion ausgelöst wird. Die Summe dieser Fähigkeiten macht das aus, was die antiken Philosophen als Seelenstärke bezeichnet haben und was heute allgemein mit Ichstärke oder seelischer Kraft umschreiben wird. Seelische Kraft bedeutet, dass der Atem auch bei erhöhter Erregung ruhig bleibt. Ihre Voraussetzung ist das Vertrauen, über genügend Fähigkeiten zu besitzen, um mit der inneren Erregung fertig zu werden. So wie seelische Kraft erworben werden muss, kann sie auch wieder verloren gehen, wenn wiederholt die Erfahrung von Hilflosigkeit gemacht wird.

Das seelische Innenleben ist also stark, wenn es über genügend Reserven verfügt. So wie der Körper stark genannt wird, wenn er bei anstrengenden Tätigkeiten nicht außer Atem gerät und sich flexibel an die Anforderungen anpasst, so ist das seelische Innenleben stark, wenn es bei emotionalen Problemen wie Konflikten, Demütigungen oder Verlusten nicht zusammenbricht. Ein starkes seelisches Innenleben hat wie ein starker Körper ausreichende Kraftreserven. Es wird dann gesagt, dass die »Seele« Herr über sich selbst sei, zu Recht, weil man nicht von äußeren Ereignissen abhängig ist. Ein schwaches seelisches Innenleben neigt dazu, das sich an andere Menschen anzupassen und die fehlende Stärke über die Symbiose mit anderen zu holen. Selbst gewählte Fremdbestimmung dient dem Ausgleich der inneren Schwäche.

Grundsätzlich wird der innere Dialog immer wieder in Gang gesetzt, wenn der Organismus während eines Kontaktes in einen Spannungszustand versetzt wird, weil unerfüllbare Erwartungen gestellt werden, Bedrohungen ausgesprochen werden oder eigene Bedürfnisse abgelehnt werden. Der innere Dialog wird solange fortgesetzt, bis eine »Lösung« gefunden wird. Problemlösungen bestehen im Kern darin, dass die ursprünglichen emotionalen Reaktionsmuster verändert werden. Dazu müssen die alten Vorstellungen auflöst werden, die bisher die Emotionen gesteuert haben und neue Vorstellungen gebildet werden. Die neuen Vorstellungen kleiden sich meist in kurze Sätze, die den Charakter von Befehlen, Aufforderungen oder Ermahnungen haben: »Meine Mutter liebt mich« oder »Buben weinen nicht!«. Diese Sätze werden auch als Glaubenssätze bezeichnet, zu Recht, da sie eine normative Bedeutung haben. Sie werden oft auch als Projektionen bezeichnet, weil sie die Wahrnehmung der Welt lenken. Der Begriff Problemlösung darf aber nicht den Eindruck entstehen lassen, dass in den Glaubenssätzen stets produktive Lösungen gefunden werden. Meistens können dadurch die Ängste nur gemildert werden, denn sie melden sich immer wieder bei Situationen, die an die Verletzungssituation erinnern.

Die Glaubenssätze werden so im Inneren abgespeichert, dass sie sich in den inneren Dialog einmischen können. Sie haben die Funktion, den emotionalen Ausdruck zu kontrollieren. Sie nehmen so Einfluss darauf, wie emotional auf Ereignisse reagiert wird und wie Erfahrungen verarbeitet werden. Sie wachen also darüber, wie viel von den eigenen Emotionen der Umwelt gezeigt wird. Die Glaubenssätze werden meistens als negativ empfunden, weil sie die Emotionen zurückhalten, die eigene Person abwerten und den Kontakt zu anderen Menschen blockieren.

Die entscheidende Wirkung der Angst besteht also darin, dass man sich den Bedürfnissen anderer Menschen anpasst und dadurch den Kontakt zu den eigenen Emotionen verliert. Die Angst führt zur Bereitschaft, die eigene Autonomie aufzugeben und sich fremd bestimmen zu lassen. Die Bedürfnisse der anderen Menschen werden zum Maßstab der eigenen Bedürfnisse gemacht. Die Fremdbestimmung manifestiert sich in Selbstverneinung, Selbstablehnung und Selbstverurteilung. Die Preisgabe der eigenen Autonomie ist äußerst folgenreich, weil jetzt keine Chance mehr besteht, sich aus eigener Kraft von den inneren Ängsten zu befreien, bevor nicht das Grundmuster der Anpassung an andere Menschen verändert wird.

3.2. Die Schmerzen der Verdrängung

»Oft ist der Mensch selbst sein größter Feind.« (Cicero)

Warum ist der Organismus fähig, dauerhaft die Emotionen zurückzuhalten, die Angst vor Kontaktverlust auslösen können? Diese Frage hat zum ersten Mal Sigmund Freud gestellt. Er hat aber keine befriedigende Erklärung für den Verdrängungsprozess gefunden. Früher wurde einfach davon ausgegangen, dass es die Aufgabe der Vernunft ist, die Affekte zu kontrollieren. Die Vernunft schien der Garant für Seelenruhe und Seelenfrieden zu sein. Freud hatte erkannt, dass damit die Vernunft überfordert wird.

Wilhelm Reich hat 1927 die These entwickelt, dass der Prozess der Verdrängung ein muskulärer Prozess ist. »Ich konnte mich am Ende dem Eindruck nicht entziehen, dass die körperliche Verkrampfung das wesentlichste Stück am Verdrängungsvorgang darstellt. Unsere Patienten berichten ausnahmslos, dass sie Perioden in der Kindheit durchmachten, in denen sie durch bestimmte Übungen im vegetativen Verhalten (Atem, Bauchpresse etc.) lernten, ihre Hass-, Angst- und Liebesregungen zu unterdrücken.« (Reich 1981 S. 226) Daraus ergab sich für ihn die Schlussfolgerung: »Denn es war nun klar, dass die Atembremsung als der physiologische Mechanismus der Affektunterdrückung und Affektverdrängung auch der Grundmechanismus der Neurose überhaupt ist.« (Reich 1981, S. 233) Er konnte seine These allerdings nicht verständlich machen, weil er die Emotionen nicht als Bewegungsprozess begreifen konnte und deshalb auch nicht den Zusammenhang der Verdrängung mit dem Atemprozess erkennen konnte.

Das Geheimnis der Verdrängung erschließt sich, wenn davon ausgegangen wird, dass die Emotionen Bewegungen sind. Das leuchtet sofort ein, wenn daran gedacht wird, wie wichtig dabei z. B. die Gesichtsmuskeln für den emotionalen Ausdruck sind. Menschen ohne lebendigen Gesichtsausdruck erscheinen als kalt und fremd. Auch bei den Augen, dem dominanten Sinnesorgan für den Kontakt, sind es die Augenmuskeln, die den Kontakt herstellen oder vermeiden. Jede Emotion besitzt einen charakteristischen körperlichen Ausdruck. Die Emotionen werden umso besser von anderen Menschen verstanden, je klarer sie von dem bewegten Körper ausagiert werden. Dass Emotionen primär Bewegungsprozesse sind, darauf weist bereits der Begriff Emotion hin, der sich von lat. movere (= bewegen) ableitet. Auch bei der Beobachtung anderer Menschen kann einem nicht entgehen, dass die Emotionen den ganzen Organismus mit einbeziehen. Nur bei sehr zurückgehaltenen Emotionen tritt ihr Bewegungsaspekt in den Hintergrund. Die Menschen müssen sich auf höchst differenzierte Weise bewegen, wenn sie emotionalen Kontakt herstellen wollen. Emotional sein bedeutet, nicht nur die eigenen Emotionen auszudrücken, sondern auch die Emotionen der anderen Menschen sehr sorgsam wahrzunehmen. Nichts ist deshalb irritierender, als wenn das Gegenüber seine Gefühle nicht zeigt. Gefühlskälte wird deshalb abgelehnt und der Kontakt zu solchen Menschen gemieden.

Wenn man davon ausgeht, dass die Emotionen primär aus ihren körperlichen Bewegungen bestehen, kann angenommen werden, dass sie wie jede körperliche Bewegung dadurch zurückgehalten werden können, dass ihre antagonistischen Muskeln angespannt werden. Ein Teil des Muskelsystems wird also so eingesetzt, dass der Vollzug der Bewegung verhindert wird, d. h. die Bewegungsabsicht besteht nach wie vor, sie wird aber sofort im Vollzug unterbrochen. So wird z. B. der Impuls, jemanden zu umarmen, durch die Aktivierung von Muskelanspannungen blockiert; aber der Wunsch bleibt bestehen. Oder der Ausdruck von Wut wird unterbrochen, wenn die Kaumuskeln und die Muskeln entlang des Rückgrates chronisch angespannt werden und dadurch der stimmliche und muskuläre Ausdruck der Wut behindert wird.

Die Verspannungen betreffen nicht nur die peripheren Muskeln des Bewegungsapparates, sondern beziehen vielfach auch die tiefer liegenden Muskeln und die Muskeln der inneren Organe ein. So sind sehr häufig Abschnitte des Darms chronisch verspannt, mit der Folge von dauerhaften Verdauungsschwierigkeiten. Regelmäßig kommt es zu Verspannungen der tiefen Muskeln an der Wirbelsäule, zwischen den Rippen oder im Becken. Hier liegt das Zentrum der Verspannungen. Das erklärt sich daraus, dass die Nervenimpulse, die an unterschiedlichen Stellen die Wirbelsäule verlassen, um das Handeln zu steuern, mit Muskelanspannungen blockiert werden können. Wenn die Wirbelsäulenmuskeln chronisch angespannt werden, werden die Handlungsimpulse der Emotionen regelrecht abgeklemmt. Äußerlich machen diese Menschen dann einen normalen Eindruck; in der Tiefe ihres Organismus aber tobt ein emotionaler Abwehrkampf.

Die Annahme, dass die Emotionen dadurch zurückgehalten werden, dass ihr muskulärer Ausdruck verhindert wird, wird durch die Gehirnphysiologie unterstützt. Es wird davon ausgegangen, dass das Bewusstsein nur Macht über Bewegungen hat3. Auch der französische Essayist Alain hat auf das Geheimnis der Weisen hingewiesen, »dass der Wille zwar keine Macht über die Leidenschaften, wohl dagegen über die Bewegungen hat« (Alain S. 46). Wenn die Emotionen also als Bewegungen betrachtet werden, löst sich das Rätsel auf, wie es zur Zurückhaltung von Emotionen kommen kann.

Die Zurückhaltung von Emotionen bedeutet nicht, dass sie völlig zerstört werden, sondern dass bestimmte Reaktionsmuster gebildet werden, mit denen ihr Ausdruck kontrolliert wird. So ist z. B. ein häufig zu beobachtendes Reaktionsmuster, den Blickkontakt abzubrechen, wenn Angst hochkommt und Gefahr droht, die Kontrolle über die Situation zu verlieren. Man hat erfahren, dass die Angst durch Wegschauen kontrolliert werden kann. Andere Menschen wechseln abrupt das Gesprächsthema, wenn sie erste Angstsignale spüren oder sie werden einsilbig und schweigsam. Jeder entwickelt spezifische Gewohnheitsmuster, mit aktivierter Angst umzugehen. Immer handelt es sich um stereotype Bewegungsmuster.

Da die Gewohnheitsmuster die Funktion haben, die Angst abzuwehren, entziehen sie sich jeder Veränderung. Sie geben Sicherheit und Schutz. Deshalb ist jede Veränderung der Gewohnheitsmuster mit dem Risiko verbunden, das man unsicher und hilflos wird. Mit dem bewussten Willen ist ihnen deshalb nicht beizukommen. Der Organismus hält an ihnen starr fest, solange er nicht die Gewissheit hat, dass er nicht mehr bedroht ist. Die Gewohnheitsmuster können deshalb als eingefrorene Angst angesehen werden.

Wie Ida Rolf, die Erfinderin der Rolfing - Körpertherapie, deutlich gemacht hat, bringt jede Verspannung den Körper aus dem Lot, so dass sich andere Muskelpartien ihrerseits verkrampfen oder erschlaffen müssen, um das verlorene räumliche Gleichgewicht wiederherzustellen. Insofern trifft die Metapher vom seelischen Gleichgewicht genau das Problem, dass bei seelischen Störungen reale Probleme mit der Schwerkraft entstehen. So führt z. B. die Vermeidung des aggressiven Ausdrucks, der primär aus dem Rückgrat heraus organisiert wird, zur Verspannung des oberen Rückens. Das Gleichgewicht verlagert sich nach hinten und lässt die Gefahr entstehen, nach hinten zu fallen. Zum Ausgleich muss das Becken nach vorn verlagert werden. Die Zurückhaltung von Emotionen bringt so den Körper aus dem räumlichen Gleichgewicht. Gleichzeitig bewirkt sie dadurch auch eine Blockierung des Atemprozesses, da zentrale Bereiche der Atemmuskulatur in Dauerverspannung übergehen. Daraus erklärt sich das mit der Verdrängung regelmäßig einhergehende Gefühl der Energielosigkeit.

Die Zurückhaltung von Emotionen kostet Energie, die dann nicht mehr für die normalen Stoffwechselprozesse zur Verfügung steht. Das hängt damit zusammen, dass der Atem sich nicht voll entfalten kann, da die Einatmung durch die chronischen Verspannungen behindert wird. Die Atmung wird flach und unruhig. Das normale Gleichgewicht zwischen Ein- und Ausatmung geht verloren. Dabei kann die Ein- oder die Ausatmung einen dauerhaften Vorrang einnehmen. Die Blockierung der Einatmung hat auch die physiologischen Wirkungen, dass dem Organismus zu wenig Sauerstoff zur Verfügung gestellt wird und zu wenig Schlackenstoffe ausgeschieden werden.

Die Verspannungen haben weiterhin den Nachteil, dass sie mit einem Verlust an sinnlichem Gewahrsein in dem Bereich der Muskelanspannung erkauft werden. Die sensorische Rückkoppelung über das propriozeptive Nervensystem wird eingeschränkt, so dass das Bewusstsein für diesen Bereich und damit die Kontrolle der Gehirnrinde (Neocortex) über dieses Gebiet verloren geht. Denn Kontrolle ist nichts anderes als die Fähigkeit, Muskeln bewusst zusammenzuziehen und sie auch wieder in ihrer vollen Länge zu entspannen. Mit anderen Worten wird ein Teil des Organismus von der inneren Kommunikation abgeschnitten, so dass der Organismus die Empfindungen in diesem Bereich ignoriert4. Das spiegelt sich in dem Gefühl der inneren Zwietracht, das oft auch als innere Dissonanz oder innere Spaltung bezeichnet wird.

Da die Zurückhaltung von Emotionen mit einer chronischen Kontraktion von Muskeln verbunden ist, gehen mit ihr stets auch Schmerzen einher. Die Schmerzen weisen auf eine Verhärtung der Muskulatur hin, die ihr reibungsloses Funktionieren behindern. Meist sind es diffuse Dauerschmerzen, an die man sich gewöhnt, so dass sie unter die Schmerzschwelle fallen. Wie gesagt, befinden sich die Verspannungen häufig auch in den Muskeln der inneren Organe, wie z. B. dem Darm, die keine Schmerznerven haben. Man kann den gleichsam eingefrorenen Schmerz spüren, wenn man die entsprechenden Muskeln (z. B. die Kiefermuskeln) berührt. Oft meldet sich der Schmerz erst in der Entspannung, weil dann der Muskelpanzer gleichsam etwas aufgetaut wird. Diese Zusammenhänge bedeuten, dass seelische Schmerzen regelmäßig mit muskulären Verspannungen verbunden sind. Die physiologische Unruhe der muskulären Verspannungen erzwingt die seelische Unruhe, die aus der ununterbrochenen Beschäftigung mit den Ursachen der Verspannung resultiert. Die seelischen Schmerzen sind deshalb nur schwer von den mit ihnen verbundenen somatischen Schmerzen zu unterscheiden.

Jede emotionale Zurückhaltung lässt Schuldgefühle entstehen. Sie resultieren aus den dauerhaften Muskelverspannungen, die wie eine Narbe an die sich selbst beigefügten Verletzungen erinnert. Die Schuldgefühle erinnern an den Verrat an sich selbst, weil man sich selbst Freude und Lust versagt. Es richtet sich also primär gegen die eigene Person und weist auf ein ungelöstes Problem hin. Wenn man das Gefühl hat, anderen etwas schuldig zu sein, ist dies eine Projektion des eigenen Schuldgefühls. Somit kann das Schuldgefühl als ein Signal verstanden werden, das im Dienst des Glücks steht.

● Die Kraft der zurückgehaltenen Gefühle

Trotz der Verdrängung bleiben die Emotionen lebendig. Schließlich repräsentieren sie elementare Bedürfnisse des Organismus. Auch wenn sie vom Vollzug abgeschnitten werden, bringen sie sich immer wieder zur Geltung – in Träumen, in Fehlleistungen, Ersatzbefriedigungen, Rationalisierungen u. a. Darauf beruht die Erfahrung, dass man sich oft von den Emotionen überwältigt fühlt, dass sich die Emotionen gegen die Vernunft durchsetzen oder dass man sich ihnen ausgeliefert fühlt. Aus solchen Erfahrungen wurde der »Mythos der Leidenschaften« abgeleitet, wie es der amerikanische Philosoph Robert Solomon nennt. Solomon vertritt die Überzeugung, dass die Emotionen keineswegs blinde, irrationale Kräfte sind, sondern Entscheidungen darstellen, auf bestimmte Situationen so und nicht anders zu reagieren. Die vorliegende Analyse zeigt, dass die Emotionen erst zu etwas Blindem werden, wenn sie verdrängt werden. Die Erfahrung zeigt, dass sich Menschen auch mit ihren Emotionen der Wut oder Trauer identifizieren können, wenn sie relativ angstfrei erlebt werden können. Deshalb führen die so genannten negativen Gefühle nicht zwangsläufig zu einer inneren Dissonanz (vgl. S. Error: Reference source not found).

Ganz wesentlich ist, dass die Verdrängung kein einmaliger Akt ist, sondern fortwährend erneuert werden muss. Die Anspannung der entsprechenden Muskeln muss immer wieder aufgebaut werden, weil die Muskeln nicht in Daueranspannung gehalten werden können. Nach einiger Zeit werden sich die wiederholt angespannten Muskeln verkürzen, so dass die aus emotionalen Gründen gewählte Atemdynamik chronisch wird und auch in relativ angstfreien Phasen die Verspannungen anhalten. Hinzu kommt, dass die unbewältigten Ängste dazu führen, dass man ständig in der Erwartung lebt, dass sich die Bedrohung wiederholen könnte. Denn der ursprüngliche Wunsch nach Liebe und Zuwendung oder die Abwehr von Verletzungen und die dadurch ausgelösten Ängste bleiben nach wie vor lebendig. In allen aktuellen Situationen wird automatisch geprüft, ob es noch einen Grund für die Ängste gibt. Wenn dies der Fall zu sein scheint, wird mithilfe der Glaubenssätze die Verdrängung erneut aktiviert.

Jede Verdrängung basiert somit auf der Entscheidung des Organismus, sich vor der Wiederholung von Situationen, die den Kontakt zu anderen Menschen gefährden könnten, zu schützen. Dieses Ziel kann nur dadurch erreicht werden, dass seine gesamte körperliche Verfassung mit Hilfe von inneren Glaubenssätzen verändert wird. Insofern gehören zur Verdrängungen immer auch innere Vorstellungen dazu.

Wenn von seelischen Verletzungen gesprochen wird, wird dies meist als metaphorische Umschreibung verstanden. Es zeigt sich, dass die Verdrängung tatsächlich zu einer Verletzung führt, da der Organismus durch die chronischen Verspannungen in seinem optimalen Funktionieren behindert wird. Dies zeigt sich z. B. am Energieverlust, aber auch an den somatischen Störungen, die infolge der Verspannungen auftreten können (vgl. S. 134).

Wenn von der »Verhärtung des Herzens« die Rede ist, dann ist dies aus meiner Sicht eine metaphorische Umschreibung der Tatsache, dass der ganze Brustkorb verspannt ist. In meinem Buch »Atem-Ich« habe ich dargestellt, dass sich alle sprachlichen Ausdrücke, die sich um das Herz ranken, Metaphern sind5. Sie haben ihren Ursprung in Empfindungen, die auf einen verspannten Brustkorb und ein verspanntes Zwerchfell zurückgehen. Da das Herz mit dem Zwerchfell verbunden ist, spiegeln sich alle Empfindungen, die durch die Verspannungen der Brustkorbwände hervorgerufen werden, im Herzen. So können sich die zärtlichen Gefühle, die einen flexiblen, elastischen Brustkorb für ihren Ausdruck benötigen, in einem verhärteten Brustkorb nicht entfalten. In Wirklichkeit ist also nicht das Herz, sondern sind der Brustkorb und das Zwerchfell verhärtet.

Warum kippt der Mechanismus der Verdrängung, der kurzfristig Stärke bedeutet, langfristig in Schwäche um? Der Organismus scheint so beschaffen zu sein, dass sofort alles getan wird, um ein entstandenes Ungleichgewicht auszugleichen. Was kurzfristig positiv wirkt, hat aber dauerhaft physiologische Folgewirkungen, da die Kräfte, die normalerweise das Gleichgewicht wiederherstellen, für die Verspannungen eingesetzt werden und nicht mehr für die normalen Lebensprozesse zur Verfügung stehen. So ist kurzfristige Furcht für den Organismus kein Problem; aber Dauerangst stellt ihn vor große Probleme, da die Kompensationsmechanismen dazu führen, dass er dauerhaft aus dem Punkt des optimalen Funktionierens herausfällt. Da der Organismus über keine Abwehrmechanismen verfügt, die dauerhaft physiologisch unschädlich sind, besteht keine andere Wahl, als entweder die ursprüngliche Entscheidung rückgängig zu machen oder die damit verbundenen physiologischen Schädigungen in Kauf zu nehmen.

Aus diesen Überlegungen ist zu folgern, dass der Begriff Verdrängung falsche Assoziationen über den Ablauf des Prozesses enthält, der zur Zurückhaltung der Emotionen führt. Es werden keineswegs Emotionen in den Bereich des Unbewussten verschoben, sondern es werden spontan Vorstellungen gebildet, die die ursprünglichen Impulse für einen emotionalen Ausdruck durchkreuzen und so den emotionalen Bewegungsausdruck blockieren. Der Prozess der Verdrängung ist mit dem Abbruch einer Kommunikation vergleichbar, weil die bewusste Kontrolle über bestimmte Muskeln aufgegeben wird. Da die Angst tendenziell zum Rückzug aus dem Kontakt führt, bedeutet jede Verdrängung, dass dem äußeren auch ein innerer Kontaktverlust entspricht.

Diese Überlegungen führen zu der These, dass Verdrängung nichts anderes ist als die muskuläre Zurückhaltung von Emotionen. Es bestätigt sich die Vermutung von Wilhelm Reich, dass das Wesentliche am Verdrängungsprozess chronische Verspannungen sind. Mithilfe der muskulären Verspannung wird ein Teil des Körpers gleichsam abgespalten. Das harmonische Zusammenspiel aller Teile des Organismus wird gestört und ein Teil aus der bewussten Kontrolle herausgenommen. Es entsteht sozusagen ein innerer Riss, bei dem Teile des Körpers von der inneren Kommunikation abgespalten werden. Verdrängung bedeutet deshalb immer ein Verzicht auf Bewusstsein.

3.3. Die Kraft der Angst

»Angst ist für das Überleben unverzichtbar«.(Hannah
Arendt)

Wenn Wissenschaftler die körperlichen Symptome der Angst aufzählen, wird stets darauf hingewiesen, dass unter dem Einfluss des von den Nebennieren ausgeschütteten Adrenalin vielfältige physiologische Veränderungen auftreten: das Herz beginnt wie wild zu schlagen, die Blutgefäße werden eng gestellt, die Muskulatur wird zur Aktion vorbereitet, die Energiereserven der Leber werden mobilisiert, die Pupillen werden weit aufgemacht. Der ganze Organismus wird in Sekundenschnelle darauf vorbereitet, die Bedrohung zu bekämpfen, zu fliehen oder in den Totstellreflex zu gehen. Es wird aber selten erwähnt, dass auch der Atem sich beschleunigt und dass auf diese Weise die Energiebereitstellung unterstützt wird.

Meine These ist, dass der Atem bei der spontanen Umstellung des Organismus nicht ein Faktor unter anderen, sondern der Leitfaktor ist, d.h. dass alle anderen physiologischen Prozesse in ihrem Verlauf und ihrer Stärke von der Atemreaktion bestimmt werden. Das hängt damit zusammen, dass der Atem schlagartig seinen Rhythmus an jede körperliche Bewegung und jeden körperlichen Ausdruck anpasst, damit ausreichend Energie bereitgestellt werden kann. Zu diesem Zweck wird der Tonus des ganzen Körpers verändert, der seinerseits die Funktionsweise der inneren Organe beeinflusst. Um die These von der Leitfunktion des Atems zu verstehen, muss ich kurz einige Aspekte meiner Theorie der Emotionen rekapitulieren, die ich in meinem Buch »Psychosomatik des Atems«– gestützt auf Untersuchungen von Susana Bloch6 – dargestellt habe.

Die Neurologin Susana Bloch hat nachgewiesen, dass jeder Emotion eine bestimmte Atemdynamik entspricht. So zeigen sich bei den einzelnen Emotionen deutliche Unterschiede hinsichtlich des Verhältnisses von Einatmung und Ausatmung, der Länge eines Atemzyklus (Frequenz), der Länge bzw. Abwesenheit von Atempausen, der Tiefe der Atmung (Amplitude) und ob der Atem ruhig oder stockend verläuft. So zeichnet sich z. B. Angst durch einen schnellen Atemrhythmus, überwiegende Einatmung, unregelmäßige Stöße in der Einatmung, wiederholtes Anhalten des Atems und fehlende Atempause aus. Demgegenüber ist bei der Freude ein ruhiger Atemrhythmus, ein leichtes Überwiegen der Ausatmung und eine Atempause festzustellen. So hat jede Emotion ein charakteristisches Atemmuster und da der Atem den ganzen Körper ergreift, wird dieser jeweils in einen charakteristischen Schwingungszustand versetzt. Es liegt deshalb nahe, Emotionen als körpereigene Schwingungen zu verstehen. die durch den Atem möglich geworden sind 7.

Abbildung 1: Schwingungsmuster von ausgewählten Emotionen (nach Susana Bloch)(hier nicht enthalten!

● Der Atem der Angst

Warum Angst zur Zurückhaltung von Emotionen führt, wird beim Blick auf ihr Atemmuster verständlich. Von allen Emotionen ist die Angst am weitesten vom Ruheatem entfernt. Die Einatmung ist sehr heftig. Sie weist unregelmäßige Schwankungen auf und wird oft sogar angehalten. Aufgrund der verlängerten Einatmung geht das Gleichgewicht zwischen Ein- und Ausatmung verloren. Die Kraft der Angst, chronische Verspannungen aufzubauen, hängt offensichtlich damit zusammen, dass ihr Atemmuster mit umfangreichen muskulären Verspannungen, insbesondere in den Muskeln der Wirbelsäule, der Augen, des Kiefers, des Darms, des Zwerchfells u. A., verbunden ist. Das zeigt sich besonders am für die Angst charakteristischen Atemanhalten, bei dem der Organismus in angespannte Alarmbereitschaft versetzt wird. Dieses Atemmuster hat physiologisch den Sinn, den Organismus mit einem Maximum an Sauerstoff zu versorgen, damit die Kampf- und Fluchtreflexe aktiviert werden können.

Abbildung 2: Atemmuster der Emotionen (hier nicht enthalten!)

Von zentraler Bedeutung ist, dass bei der Angstatmung die Atempause verloren geht, die für den Organismus eine kurze Erholungspause bedeutet. So kurz sie auch ist, sie scheint für den Organismus von großer Bedeutung zu sein, da sich der Organismus im Bruchteil einer Sekunde völlig entspannen kann, um alle Muskeln in den optimalen Tonus für die nächste Bewegung zurückzubringen. Da dieser physiologisch wichtige Vorgang bei der Verdrängung ausfällt, wird der dabei entstehende chronische Energiemangel weiter vergrößert.

Diese Eigenarten des Atemmusters der Angst führen zu der These, dass nicht die Adrenalinausschüttung, sondern die Atemreaktion den Grad der Angstreaktion bestimmt. Der Organismus weiß aus Erfahrung, wie er bedrohliche Situation einzuschätzen hat. Wenn aber eine Situation als übermäßig bedrohlich empfunden wird, bedeutet das, dass dem Organismus noch keine Reaktionsmuster zur Verfügung stehen, um die Bedrohung zu bewältigen. Es kommt zu einer überschießenden Angstreaktion mit angehaltenem Atem. Da die Atemreaktion den ganzen Körpers in einen hochgradigen Spannungszustand versetzt, werden alle anderen physiologischen Parameter davon beeinflusst. Physiologisch hat die Atmung einen hohen Stellenwert, da die ununterbrochene Versorgung aller Körperzellen mit Sauerstoff oberste Priorität hat. Wenn aber die Angst chronisch wird, werden die physiologisch sinnvollen Anspannungen zur Belastung für die Atmung. Da z. B. die Muskeln im Brustkorb und Bauchraum verspannt bleiben, kann sich die Einatmung nicht voll entfalten. Es entsteht das Problem, dass die Emotionen rückwirkend die Atmung beeinflussen.

● Entscheidung für die Angst

An der spontanen Angstreaktion wird deutlich, dass die Angst nicht vom bewussten Ich gesteuert wird, sondern dass es ein Entscheidungszentrum gibt, das auf einer tieferen Ebene liegt. Häufig wird davon ausgegangen, dass es im Bereich der Seele zwei Entscheidungszentren gibt: Ich und Selbst; Ich und Unbewusstes bzw. Es; Ego und wahre Natur; Ego und natürliche Intelligenz, Lustprinzip und Realitätsprinzip. Im Allgemeinen wird einem »wahren Prinzip« ein anderes gegenübergestellt, das die wahre Natur des Menschen verfälscht. Bisher ist es nicht gelungen, die unterschiedlichen Entscheidungszentren physiologisch zu lokalisieren oder ihre physiologische Grundlage zu bestimmen. Alle Erklärungsversuche wie z. B. die Zirbeldrüse, das limbische System, das Zusammenwirken mehrerer Gehirnteile, das Herz u.a. haben sich als Irrtum erwiesen. Es spricht vieles dafür, dass es sich dabei lediglich um theoretische Konstrukte handelt, die ein Element in einem komplexen Entscheidungsprozess verabsolutieren. Wahrscheinlich kann nie bestimmt werden, wo die Entscheidungen getroffen werden und ob es dafür eine bestimmte Instanz gibt. Ich habe mich entschieden, davon auszugehen, dass daran immer der ganze Organismus beteiligt ist. Ich möchte deshalb die Entscheidungen, die zu Verdrängungen führen, als somatische Entscheidungen kennzeichnen.

Beim Prinzip der somatischen Entscheidung ist davon auszugehen, dass Leben Bewegung ist. Bei Lebewesen, die in Wechselbeziehung mit der natürlichen und sozialen Umwelt stehen, ist Sichentscheiden eine zentrale Dimension. Von einem zum nächsten Augenblick muss entschieden werden, wie man sich verhalten und das heißt bewegen soll, um für die eigenen Bedürfnisse optimal zu sorgen. Das gilt bereits für Einzeller, die noch kein selbständiges Nervensystem haben. Und da Handeln im sozialen Bereich auf emotionalen Bewegungen basiert, geht es aus einer ununterbrochenen Kette von emotionalen Einzelentscheidungen hervor. Bei jeder emotionalen Entscheidung wird festgelegt, wie viel von den eigenen Impulsen, d. h. von den persönlichen Bedürfnissen und wie viel von den Erwartungen anderer Menschen in das Handeln einfließen sollen. Entscheidungen sind so immer ein Ausgleich zwischen der Orientierung an der inneren Natur einerseits und den sozialen Erwartungen andererseits. In jedem Moment kann man immer nur eine Entscheidung treffen oder sich vor der Entscheidung drücken und im Konflikt in der Unentschiedenheit verharren. Bei der Unentschiedenheit will man sich nicht festlegen, welcher Seite man mehr Recht geben soll und schwankt in Folge dessen ständig zwischen beiden Seiten.

Den Emotionen ist eine Kraft inhärent, ihr gewähltes Ziel zu verwirklichen. Deshalb äußern sich die getroffenen Entscheidungen als Wille. Insofern ist der Wille nichts anderes als der Ausdruck der motivierenden Kraft der Emotionen. Ein unklarer, unentschiedener Wille ist deshalb immer die Folge von emotionalen Konflikten. Da die Emotionen mit kulturellen Vorstellungen angeeignet werden müssen, ist der »Wille« immer auch mit bewussten Vorstellungen verbunden. Diese Vorstellungen lassen den falschen Eindruck entstehen, dass der Wille ein geistiger Prozess sei.

Aus organismischer Sicht ist im Grunde jede Entscheidung richtig. Auch wenn sie auf der Oberfläche als unvernünftig erscheint, hat sie für den Organismus einen tieferen Sinn. So ist z. B. die Entscheidung, den Kontakt zu den eigenen Eltern abzubrechen, um sich vor weiteren emotionalen Verletzungen zu schützen, aus der Sicht des Organismus richtig, auch wenn sie von der Umwelt verurteilt wird. Daraus entsteht das Problem, dass man sich meist weigert, die vom Organismus ohne Beteiligung des bewussten Ichs gewählten Entscheidungen zu akzeptieren. Diese Weigerung geht keineswegs auf das »rationale, bewusste Ich« zurück. Sie ist ebenfalls eine spontane somatische Entscheidung. Sie hat offensichtlich die Funktion, die Verantwortung für das eigene Leiden anderen Menschen zuzuschieben und sich selbst von der Verantwortung freizusprechen, was insofern auch richtig ist, da die Verletzung von anderen Menschen ausgegangen ist. Aber es darf dabei nicht vergessen werden, dass man es zugelassen hat. Dass die somatischen Entscheidungen auf einer tieferen Ebene als der des bewussten Ichs getroffen werden, geht auch daraus hervor, dass sie sich jeder bewussten Veränderung entziehen. Diese Einsicht drückt sich in den esoterischen Metaphern der »natürlichen Intelligenz des höheren Selbst« oder der »Weisheit des Körpers« aus.

Der Eindruck, dass es mehrere Entscheidungsprinzipien gibt, konnte offensichtlich deshalb entstehen, weil im alltäglichen Verhalten Angst nicht zu vermeiden ist und weil es deshalb unmöglich ist, sich immer ausschließlich von den inneren Impulsen leiten zu lassen. In die Entscheidungsprozesse geht immer ein unterschiedliches Maß an Angst ein. Daraus entstand das Ideal, dass alle Entscheidungen ohne Angst getroffen werden sollten. Dieses Ideal schafft eine innere Differenz zum eigenen Verhalten. Wahrscheinlich erklärt diese Differenzerfahrung die Annahme von unterschiedlichen Entscheidungsprinzipien.

Die spontane Angstreaktion legt den Schluss nahe, dass es ein somatisches Entscheidungszentrum gibt, das über eine hohe Intelligenz verfügt. Wie die Analyse der Liebe weiter unten zeigen wird, wird das emotionale Verhalten zur Umwelt gleichsam wie von einem Autopiloten gesteuert. Es liegt deshalb nahe, das in der Physik und Biologie entwickelte Konzept der Selbstorganisation auch auf das seelische Innenleben der Menschen zu übertragen (vgl. S. 165).

● Angst im Denken

Der Verdrängungsprozess ist so schwierig zu verstehen, weil er eine funktionelle Einheit aus muskulären und mentalen Prozessen ist. Das Ineinander von Verspannung und Denken konnte bisher nicht verstanden werden, weil unklar war, wie das Denken in die muskulären Prozesse eingreift. Die Tatsache, dass bei der Verdrängung intensive Denkprozesse ablaufen, ist kein ausreichender Beweis, dass das Denken die bewirkende Kraft der Verdrängung ist.

Die unmittelbare Erfahrung lässt den Eindruck entstehen, als würde bei inneren Konflikten das Denken gegen die drängenden Gefühle ankämpfen. Konflikte sind aber nur dem äußeren Anschein nach Konflikte zwischen dem Denken und dem Fühlen. Wenn man mit sich selbst hadert, dann liegt dem immer ein Konflikt zwischen den eigenen Bedürfnissen und den Anforderungen von anderen Menschen zugrunde, mit denen man sich identifiziert. Es fehlt die Kraft sich gegen deren Anforderungen durchzusetzen. Hinter der Rücksicht auf äußere Anforderungen steht die Angst vor Sanktionen in Form von Liebesentzug, Verlust an Einkommen oder Anerkennung, Demütigungen u. Ä. Die Angst zwingt zur Suche nach einem Kompromiss zwischen den eigenen Bedürfnissen und den äußeren Anforderungen. Das bedeutet, dass der Konflikt letztlich durch die Angst angestoßen wird. Offen bleibt lediglich, wie sich der Organismus mit den vorweg akzeptierten Anforderungen arrangiert. Hinter dem Konflikt zwischen Denken und Fühlen steht deshalb immer ein Konflikt zwischen den eigenen Emotionen und den Emotionen anderer Menschen.

Aus den bisherigen Überlegungen leitet sich die These ab, dass die bei der Verdrängung wirkende Kraft die Angst. Oben wurde dargestellt, dass die Ängste einen inneren Dialog auslösen, in dem mithilfe von inneren Vorstellungen das innere Gleichgewicht wiederherzustellen versucht wird. Offensichtlich sind die Ängste zuerst da und stellen sich die Gedanken erst danach ein. Die inneren Vorstellungen, die sich in den Glaubenssätzen niederschlagen, sind aber dennoch nichts Nebensächliches. Vielmehr sind sie für den Verdrängungsprozess unentbehrlich. Vermutlich ist der Verdrängungsprozess überhaupt erst dadurch möglich geworden, dass die Emotionen mit inneren Vorstellungen in Form von Glaubenssätzen verbunden werden können.

Warum die Glaubenssätze für die Verdrängung so wichtig sind, wird begreiflich, wenn von dem neuen Verständnis des Denkens ausgegangen wird, das sich aus meiner Theorie des Atems ergibt. Man kann davon ausgehen, dass die Bausteine der Sprache, die Konsonanten und Vokale, mithilfe von Schwingungen der Atemmuskeln produziert werden. Die Begriffe können als komplexe Schwingungsmuster des Atems verstanden werden. Beim Denken wird deshalb der ganze Atemapparat aufs Intensivste genutzt. Daraus kann geschlossen werden, dass auch das Denken auf sehr feinen und differenzierten Bewegungsprozessen basiert, die mithilfe des Atems organisiert werden. Die traditionelle Vorstellung, dass die Atemmuskeln bloß benutzt werden, um die Gedanken zu artikulieren, ist falsch; die Bewegungen selbst sind die Gedanken. So wie mit körperlichen Bewegungen etwas ausdrücken werden kann (z. B. Kopfnicken, Augenzwinkern), so kann auch den Atembewegungen, die für bestimmte Lautfolgen erforderlich sind, eine Bedeutung zugewiesen werden. So wie sich normale Bewegungen einerseits aus der Absicht, etwas zu erreichen, und andererseits aus den Bedingungen der Umwelt ergeben, so ist das Sprechen und Denken eine Antwort auf konkrete Probleme im Umgang mit der Realität. Denken kann so als eine innere Abfolge von subtilen Bewegungen verstanden werden, die beim Sprechen als Laute artikuliert werden, die aber auch in einem lautlosen inneren Sprechen verbleiben können8. Deshalb kann das Denken genauso spontan ablaufen wie normale Bewegungen; ebenso muss es wie normale Bewegungen erlernt werden.

Wenn das Denken als ein subtiler Bewegungsvorgang verstanden wird, wird es nachvollziehbar, warum sich Denken und Fühlen so tief miteinander verbinden können. Denn beide Funktionen benutzen das gleiche physiologische Substrat der Atemschwingungen. Es ist deshalb unvermeidlich, dass sich ständig die Schwingungen der Emotionen mit denen der Begriffe vermischen und sich wechselseitig beeinflussen. Deshalb können sich auch die Glaubenssätze mit Impulsen verbinden, bestimmte Emotionen zurückzuhalten. Da sich der Organismus in jedem Moment in einem bestimmten emotionalen Zustand befindet, haben die Emotionen einen Vorrang. Es kann deshalb kein neutrales Denken geben. Das macht verständlich, warum einige Philosophen der Überzeugung sind, dass das Denken von den Gefühlen bestimmt wird.

Daraus ergibt sich eine Neubestimmung des Denkens. Es ist falsch, das Denken als eine vom übrigen Organismus isolierte Funktion zu begreifen, wie es die abendländische Philosophie im Allgemeinen lehrt. Es ist vielmehr äußerst tief mit der emotionalen Dynamik verbunden. Das Denken erhält seine Kraft von den Emotionen. Es wird destruktiv, wenn es von den Emotionen abgespalten wird, weil es dann selbst von der Angst geprägt wird. Das Denken kommt ganz offensichtlich erst in Gang, wenn das bisherige Gleichgewicht gestört wird und neue Lösungen gefunden werden müssen. Und welche Lösungen akzeptiert werden, hängt wiederum von den Emotionen ab (vgl. S. 114).

Aus diesen Überlegungen folgt, dass das Denken als eine Reflexion der Gefühle zu begreifen ist. Das gilt nicht für das technisch-instrumentelle Denken, wohl aber für alle Gedanken, die zur Begründung des zwischenmenschlichen Handelns aufgestellt werden. Auch die Glaubenssätze sind mit Sprache verbundene Emotionen. Es gilt natürlich auch für die kompliziertesten philosophischen Theorien, nur ist hier der Zusammenhang mit den Gefühlen nicht mehr so offenkundig, wie am Beispiel der Geschichte der Vertreibung aus dem Paradies gezeigt wurde.

3.4. Gewalt macht Angst

»Wenn man Angst vor den Menschen hat, hat man vor allem Angst vor sich selbst«. (Renato Guttuso)

Wie im Zusammenhang mit der Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies bereits angedeutet wurde, ist die zentrale Ursache emotionaler Zurückhaltung nicht die Angst selbst, sondern die Erfahrung von Gewalt, die Angst auslöst. Gewalt wird als Kraft definiert, andere zu zwingen, ihre Bedürfnisse zu Gunsten der eigenen Bedürfnisse aufzugeben. Dabei ist nicht zu übersehen, dass die Gewalt unterschiedlichste Formen annehmen kann. Liebesentzug, Vernachlässigung oder Demütigung sind ebenso Gewalt wie körperliche Verletzungen, körperliche Strafe oder Missbrauch. Auch Verhaltensweisen, die auf den ersten Blick nichts mit Gewalt zu tun zu haben scheinen, wie z. B. Überfürsorglichkeit oder Nichtbeachtung sind Formen der Gewalt, weil damit die eigenen Bedürfnisse auf Kosten der Bedürfnisse anderer durchgesetzt werden. Auch die subtile Gewalt des Schweigers oder des Beredsamen müssen als Gewalt wahrgenommen werden, auch wenn dies im normalen Sprachgebrauch nicht so gesehen wird. Versteckte Gewalt ist heimtückischer als offene Gewalt. Gewalt ist im Grunde immer im Spiel, wenn die Bedürfnisse der anderen nicht respektiert und d. h. missachtet werden. Deshalb müssen auch Arbeitslosigkeit oder Gehaltskürzung als Formen der Gewalt gesehen werden.

Die in der Antike neu entstandene, auf dem Privateigentum basierende Gesellschaftsform ist mit dem Anspruch der Gleichheit aller Bürger angetreten. Es entstand die Idee der demokratischen Selbstverwaltung der Polis, an der sich alle Bürger gleichberechtigt beteiligen. Nach den Erfahrungen mit willkürlich herrschenden Feudalherren sollten jetzt alle Bürger an der Gestaltung des Gemeinwesens teilnehmen. Das machte die ungeheure historische Prägekraft der griechischen Polis aus. Die erste bürgerliche Revolution fand also in der Antike ca. 700 v.u.Z. statt. Alle späteren Revolutionen holten nur das zurück, was im Laufe der Geschichte wieder verloren gegangen war.

Bereits in der griechischen Polis zeigte sich, dass in den neuen Lebensverhältnissen eine starke immanente Dynamik zu Ungleichheit und Gewalt angelegt ist. Aufgrund der Unsicherheit der ökonomischen Existenz musste jeder danach streben, sein Eigentum zu vermehren. Wer im Konkurrenzkampf sein Eigentum verlor, musste seine Arbeitskraft verkaufen und sich damit in die soziale Abhängigkeit von anderen Menschen begeben. Neu in die Städte zuziehende Menschen konnten nur durch außergewöhnlichen Fleiß und herausragende Tüchtigkeit in die Klasse der Bürger aufsteigen. Andernfalls mussten sie ihr Leben damit fristen, dass sie für andere Menschen arbeiten und sich damit abfinden, dass sie weniger an Lohn bekommen, als sie an Gütern erarbeitet haben. Damit wurde die Vermehrung des Reichtums in wenigen Händen weiter gesteigert.

Wenn der Einzelne die Freiheit verliert, seine Arbeit autonom organisieren zu können, ist Gewalt in ihren verschiedenen Spielarten an der Tagesordnung. Die Besitzer der Produktionsmittel verlangen bedingungslosen Gehorsam und behindern so die autonome Entwicklung des Einzelnen. Anpassung wird belohnt und Eigensinnigkeit bestraft. Jedem drängt sich unter den Lebensbedingungen sozialer Abhängigkeit die Erfahrung auf, dass es keinen Vorteil bringt, den Gefühlen, »Gott« oder der »Natur« zu folgen und dass es vorteilhafter ist, die eigene »Natur« zu ignorieren. Man kann nur einigermaßen überleben, wenn man seine Emotionen kontrolliert.

In feudalen Zeiten funktionierte soziale Herrschaft mittels unmittelbarer körperlicher Gewaltandrohung. In der bürgerlichen Gesellschaft mit ihrer zunehmenden wirtschaftlichen Abhängigkeit des Einzelnen vom arbeitsteilig ausdifferenzierten Wirtschaftssystem legen die Machthaber Wert darauf, dass ihre Ge- und Verbote als innere Glaubenssätze verinnerlicht werden, so dass die Emotionen unmerklich im Interesse der Herrschenden gesteuert werden. Die Forderung nach Selbstdisziplin wurde damit begründet, dass der Einzelne sein Leben kraft seines eigenen Geistes selbst gestalten könne. Deshalb wird in der bürgerlichen Gesellschaft der Geist regelmäßig als frei und höherwertig gepriesen. So kann verschleiert werden, dass sich die Selbstdisziplin gegen die eigene innere Natur richtet und dass damit eine Art von Selbstherrschaft errichtet wird.

In der bürgerlichen Gesellschaft wird in der Regel die emotionale Beziehungsfähigkeit schon sehr früh gestört9. Die meisten Kinder erfahren bereits früh in ihrer emotionalen Entwicklung einschränkende Kontrollen. Ihre Bedürfnisse werden oft missachtet oder ihre Emotionen werden missverstanden und bestraft, obwohl sie nichts Böses beabsichtigt haben. Denn Eltern, die den Repressionen des dominanten Herrschafts- und Wirtschaftssystems ausgesetzt sind, verhalten sich tendenziell einschränkend gegenüber ihren Kindern und bringen ihnen so schon sehr früh Verletzungen bei. Da sie selbst oft ein großes Defizit an emotionaler Zuwendung haben, erwarten sie unbewusst von ihren Kindern eine Entschädigung dafür. Diese Erwartungen kreuzen sich mit den Autonomiebestrebungen des Kindes und sind deshalb nur mit Druck und Gewalt durchzusetzen. Das Kind muss sich vor den ständigen Verletzungen mit Kontakteinschränkungen schützen und wird gezwungen, die eigenen Emotionen zu kontrollieren. Wenn die Kinder später als Erwachsene in das dominante Herrschafts- und Wirtschaftssystem eintreten, machen sie die Erfahrung, dass ihr emotionaler Mangel an Liebes- und Kontaktfähigkeit im Grunde auch einen Vorteil darstellt, da es ihnen relativ leicht fällt, sich zu unterwerfen und anzupassen.

Mit Defiziten aufgewachsene Kinder werden wiederum als Eltern unbewusst von ihren Kindern Entschädigung für ihre eigenen emotionalen Entbehrungen erwarten und ihnen Verletzungen zumuten, die jene nicht verkraften können. So werden die Defizite unbewusst von einer zur nächsten Generation weitergegeben und unbeabsichtigt eine generationsübergreifende emotionale Folgewirkungskette in Gang gesetzt, die fälschlicherweise meist dem Schicksal zugeschrieben wird. Sie wird sich aber nicht weiter fortsetzen, wenn die Erwachsenen so sehr an ihren emotionalen Problemen leiden, dass sie beginnen, an deren Überwindung zu arbeiten.

Wer Gewalt erfährt, erlebt solche Situationen mit unkontrollierbarer Angst. Die erlernten Reaktionsweisen, auf die Verletzung mit Wut zu reagieren, helfen nicht. Es macht sich das Gefühl der Hilflosigkeit breit. Die normale Reaktion auf übermäßige Angst ist Rückzug aus dem Kontakt, verbunden mit der Hoffnung, damit weiteren Verletzungen aus dem Weg gehen zu können. Im Rückzug ist die Chance, dass man mit Verletzungen konfrontiert wird, wesentlich geringer. Hier fühlt man sich sicherer, weil man nicht handeln muss. Handeln ist immer mit unkontrollierbaren Folgen verbunden.

Der soziale Rückzug kann vielfältige Formen annehmen. Die extremste Form besteht in der Leugnung des Geisteskranken, dass überhaupt ein Kontakt bestanden hat. Am anderen Ende des Spektrums steht die Person, der es auf den ersten Blick gar nicht anzusehen ist, dass sie sich zum Teil zurückgezogen hat, weil sie scheinbar vollständig im Kontakt ist und ganz normal am Gespräch teilnimmt. Man bemerkt den Rückzug nur an der fehlenden Bereitschaft, die eigenen Gefühle preiszugeben. Der Rückzug führt dazu, dass man sich neuen Situationen nicht uneingeschränkt öffnet, weil unbewusst die Wiederholung der früheren Verletzungen erwartet wird. Rückzug stellt so in jedem Fall einen Versuch dar, die Angst vor Liebesverlust dadurch zu bewältigen, dass Situationen vermieden werden, in denen die unerfüllten Bedürfnisse nach Liebe und Zuwendung geweckt werden könnten. Damit kann auch das quälende Gefühl der Hilflosigkeit vermieden werden, das immer mit der Angst verbunden ist.

● Die Entscheidung, aus dem Kontakt zu gehen

Aus diesen Überlegungen folgt, dass jedem Rückzug eine individuelle Entscheidung zu Grunde liegt. Die Entscheidung wird auf der Ebene der Emotionen getroffen, wobei der Organismus zunächst prüft, ob er mit seinen erlernten Emotionen die Bedrohung verarbeiten kann. Ist dies nicht der Fall, entscheidet sich der Organismus für muskuläre Verspannungen, die sich zwangsläufig in reduzierter Kontaktbereitschaft äußern. Das Ergebnis der bewusst getroffenen Entscheidung teilt sich lediglich dem Bewusstsein mit. Man ist tief im Inneren mit dem Rückzug einig, weil gespürt wird, dass man sich mit dem Rückzug schützen kann. Es wäre deshalb ein Irrtum, wenn das Bewusstsein (das »Ich« oder der »Geist«) annehmen würde, dass es sein Werk sei.

Der Gedanke, dass die Entscheidung für den Rückzug unbewusst vom Organismus getroffen sei, ist schwer zu akzeptieren, da er mit dem erlernten Selbstverständnis unvereinbar ist. Nahezu alle Menschen haben sich mit dem Dogma der Philosophie identifiziert, dass alle Entscheidungen, die äußerlich als negativ erlebt werden, das Werk von blinden, irrationalen Kräften seien. Dies Dogma gerät langsam ins Wanken. Viele Therapeuten haben z. B. beobachtet, dass sich Krebspatienten ganz genau an das einschneidende Ereignis erinnern können, bei dem sie sich für den Krebs »entschieden« haben. Wer sich genauer beobachtet, wird feststellen, dass tatsächlich alle Entscheidungen eine konkrete Entstehungsgeschichte haben und ursprünglich als sinnvoll erlebt wurden.

Aus diesen Überlegungen ergibt sich, dass Rückzugsentscheidungen Reaktionen auf erfahrene Gewalt sind, der man sich beugen musste, weil man sich nicht wehren konnte. Um die eigenen Bedürfnisse vor Missachtung oder Missbrauch zu schützen, entschied man sich, der Gewalt auszuweichen und sich ihr zu unterwerfen. Dass gelingt, indem die Gewalt gegen sich selbst gerichtet wird. Verdrängung bedeutet somit eine Verinnerlichung von Gewalt. Im Grunde werden mit den muskulären Verspannungen nach dem Gesetz der Resonanz die Verspannungen des Angreifers nachgeahmt. Auf dem Weg über die Angst und die damit ausgelöste Verdrängung wird so die erfahrene Gewalt zum Bestandteil der seelischen Innenwelt und Hilflosigkeit ein Teil des Charakters. Sie nimmt im Körper die Gestalt von muskulären Verspannungen an, die gegen die eigenen Emotionen gerichtet werden.

Daraus ergibt sich, dass Angst trennt, weil die Natur nur ein Mittel zur Verfügung gestellt hat, um sich vor übermäßiger Angst zu schützen: nämlich die Verspannung der Muskeln, mit denen der Kontakt zur Welt aufgenommen wird. Die angstbedingten Verspannungen trennen, weil sie die Emotionen, die den Kontakt herstellen, einschränken. Gleichzeitig wird dadurch die Kraft des Atems eingeschränkt. Er kann sich nicht mehr voll entfalten und den ganzen Körper mit seinem Rhythmus durchdringen. Die Qualität des Atems hängt offensichtlich vom Schicksal der Gefühle ab!

3.5. Gefühle denken

»Gefühle sind der Reichtum der Menschen und die Armut der Götter.« (Ludwig Klages)

Wenn Angst als die Kraft angesehen werden kann, die den Organismus veranlasst, sich für die Zurückhaltung von Emotionen zu entscheiden, kann daraus gefolgert werden, dass sie eine Schlüsselrolle im psychischen Haushalt einnimmt. Bereits die Furcht hat eine zentrale Rolle, da sie körperliche Signale bereitstellt, wenn der Kontakt mit anderen Menschen oder der Umwelt bedroht wird. Denn die menschliche Natur hat ein elementares Interesse daran, einen guten Kontakt mit anderen Menschen herzustellen bzw. aufrechtzuerhalten. Die Furcht ist kein Problem, da sie einen produktiven Lernprozess in Gang setzt. Aber wenn der Organismus mit Verletzungen konfrontiert wird, die ihn überfordern, kippt die Furcht in Angst um und löst eine Kette von Folgewirkungen aus, die als negativ empfunden werden, obwohl sie ebenso an der Aufrechterhaltung des Kontaktes orientiert sind. Zum tieferen Verständnis der Angst soll im Folgenden dargestellt werden, welche Funktion die Emotionen im zwischenmenschlichen Kontakt haben.

Jede Emotion stellt körperliche Signale zur Verfügung, mit deren Hilfe der Kontakt zu anderen Menschen gestaltet werden kann. In einem langen Erziehungsprozess muss gelernt werden, welche Bedeutung die körperlichen Signale haben. Wenn ein kleines Kind eine heiße Herdplatte zum ersten Mal berührt, wird es die Hand nicht spontan zurückziehen. Es merkt zwar den Schmerz, aber es weiß nicht, dass der Schmerz mit der Berührung der Herdplatte zu tun hat. Erst wenn ihm der Zusammenhang von der Mutter erklärt wird, wird es künftig die Berührung der Herdplatte vermeiden. So müssen die Empfindungen, die bei der Erfahrung der Emotionen den Körper erfüllen, als Gefühle mit einem bestimmten Namen und einer bestimmten Bedeutung erlernt werden.

Ebenso muss gelernt werden, mit welchen Bewegungen sie ausgedrückt werden müssen, damit sie von anderen Menschen verstanden werden. Tatsächlich beobachten kleine Kinder sehr genau, wie die Erwachsenen die Emotionen der Freude, Zuneigung, Wut, Trauer u. a. ausdrücken und versuchen den jeweiligen Ausdruck nachzuahmen. Sie orientieren sich also zunächst ausschließlich am körperlichen Ausdruck. So können sie sicher sein, dass ihre Emotionen von den Erwachsenen verstanden werden. Gleichzeitig müssen sie lernen, was die Emotionen bedeuten. Dazu werden die eigenen emotionalen Bewegungen mit Vorstellungen darüber verbunden, was sie bei anderen Menschen bewirken und wie die anderen darauf sprachlich reagieren. Deshalb lernt das Kind, welche emotionalen Botschaften mit den spontan artikulierten Emotionen ausgedrückt werden und wie die anderen wahrscheinlich darauf reagieren werden. Das Erlernen der Gefühle ist damit immer ein gleichzeitiges Erlernen von Bewegungsmustern und Bedeutungen.

Alle Emotionen zeichnen sich dadurch aus, dass sie auf der Basis von früheren Erfahrungen spontane Bewertungen von Situationen vornehmen: So wie die Furcht auf eine mögliche Bedrohung aufmerksam macht, so lenkt das Schuldgefühl das Bewusstsein auf Störungen im Kontakt mit anderen Menschen hin oder zeigt die Freude, dass eine Handlung gelungen ist. Die Emotionen sind spontane Reaktionen auf den Kontakt mit anderen Menschen und machen so deutlich, wie der Organismus die aktuelle Situation bewertet. Gleichzeitig zeigen sie den anderen Menschen, in welchem Gefühlszustand man sich gerade befindet. So spüren die Menschen die Ängste der anderen an ihren vielfältigen körperlichen Symptomen und können ihr Verhalten darauf einstellen.

Die Emotionen haben offensichtlich die biologische Aufgabe, den inneren Zustand des Körpers so zu regulieren, dass der Organismus auf eine für das Überleben optimale Reaktion vorbereitet wird. So werden z. B. die Sinnesorgane geöffnet, um die Umwelt mit Neugierde wahrzunehmen, oder der Kreislauf, das Atemsystem, die Muskulatur und das Nervensystem werden auf Kampf oder Flucht eingestellt. Diese komplexen Anpassungsreaktionen werden spontan vom autonomen Nervensystem übernommen. Die Emotionen versetzen so den Organismus nicht nur in einen handlungsfähigen Zustand, sondern motivieren auch dazu, die Handlung durchzuführen10.

Es ist für den Kontakt charakteristisch, dass er sich entweder spontan einstellt oder spontan verfehlt wird. Der Kontakt entzieht sich der bewussten Willensentscheidung. Er kann nicht bewusst hergestellt werden. Was auch immer man sich vornimmt, um einen guten Kontakt zu gestalten, er wird anders verlaufen, als wie man geplant hat. Der Kontakt ergibt sich offensichtlich aus der emotionalen Gesamtverfassung der Menschen.

Die Qualität des durch die Emotionen hergestellten Kontaktes kann sehr unterschiedlich sein. Bei Liebe, Zuneigung, Freude, Begeisterung und Neugierde ist man dem anderen uneingeschränkt zugewandt. Demgegenüber stellen zwar Wut, Hass, Feindseligkeit oder Misstrauen auch Kontakt her, aber sie veranlassen, auf Abgrenzung und Distanz zu gehen. Auf Trauer, Schuldgefühl oder Angst kann sowohl mit Zuwendung als auch mit Abwehr reagiert werden, je nachdem wie diese Gefühle artikuliert werden oder man selbst disponiert ist. Offensichtlich stellen auch die »negativen« Emotionen Kontakt her: So kann z. B. die Abwehr gegen Wut, Demütigung oder Misstrauen eine starke Bindung herstellen, die lange nachwirkt. Deshalb halten viele Menschen an feindseligen Partnern fest: Ein negativer Kontakt ist immer noch besser als gar keiner.

Da die Emotionen für einen optimalen Kontakt sorgen oder ihn wiederherstellen, wenn er gestört wurde, sind sie für die soziale Kommunikation unentbehrlich. Deshalb wird ihnen von vielen Autoren ein kognitives, rationales Element zugesprochen (vgl. S. 169). Antonio Damasio hat gezeigt, dass sich Menschen, deren Gehirn in den Emotionszentren beschädigt ist, nicht mehr entscheiden können. Das belegt, dass die Emotionen von zentraler Bedeutung für realitätsangepasstes Verhalten sind.

Die Gefühle waren auf Grund ihrer Zwischenstellung zwischen dem Körper und dem Geist schon immer ein Rätsel. Einerseits äußern sie sich z. B. in eindeutigen körperlichen Symptomen wie beschleunigtem Herzschlag, flacher Atmung, gerötetem Gesicht und weit geöffneten Augen. Andererseits sind die Gefühle immer mit geistigen Vorstellungen verbunden, so dass sie auch der geistigen Sphäre anzugehören scheinen. Beide Aspekte konnten im traditionellen Denken nicht zusammengebracht werden, weil sie sich zu widersprechen scheinen. Deshalb wurden bisher entweder die Emotionen mit den physiologischen Prozessen gleichgesetzt und die Gefühle als bloßes Begleitphänomen hingestellt (William James) oder die körperlichen Aspekte der Gefühle als irrelevant abgetan.

● Emotionen und Gefühle

Für ein volles Verständnis der Emotionen ist es aber notwendig, dass die körperlichen und geistigen Aspekte der Gefühle als gleichberechtigt anerkannt werden und ihr Zusammenhang begriffen wird. An dem Beispiel der heißen Herdplatte sollte gezeigt werden, dass in frühen Stadien der Entwicklung nur körperliche Signale da sind, die noch keine Bedeutung haben. Das kleine Kind äußert verschiedene Signale der Furcht, Wut oder Freude, aber es kann erst die verschiedenen Gefühle voneinander unterscheiden, wenn seine Eltern ihm die Bedeutung der einzelnen Gefühle und Empfindungen erklärt haben. Die physiologischen Signale sind damit der Grundstoff, aus dem in einem langen Erziehungsprozess die menschlichen Gefühle entstehen, indem die emotionalen Bewegungen mit Bedeutungen verbunden werden. Die Erfahrung bestätigt, dass die Gefühle umso differenzierter werden, je sensibler die Emotionen beachtet werden. Je gelöster die Körpermuskulatur ist und sich damit im optimalen Tonus befindet, desto mehr können sich die Gefühle der Liebe und Freude, aber auch des seelischen Schmerzes entfalten

Aus der Sicht der Gehirnphysiologie stellt sich dieser Prozess wie folgt dar. Zunächst müssen von den einzelnen Organsystemen chemische und neuronale Signale an das Gehirn gesendet werden. Im Gehirn werden die Signale dann zu einem neuronalen Muster zusammengefügt, dass als Gefühl wahrgenommen wird. »Ich habe vorgeschlagen, den Ausdruck Gefühl für die private, mentale Erfahrung einer Emotion zu reservieren.« (Damasio 1999 S. 57). Das bedeutet, dass zuerst die Emotionen da sind und dass die Gefühle aus der Sensibilität für die körperlichen Begleitsymptome der Emotionen hervorgehen. Für die Definition der Emotionen folgt daraus, dass Emotionen die körperlichen Bewegungsprozesse sind, mit denen sie sich ausdrücken und zeigen, während Gefühle aus der inneren Erfahrung der Emotionen und ihrer Verbindung mit Bedeutungen entstehen.

Die Doppelnatur der Emotionen als körperlicher und als gefühlter Prozess ist notwendig, damit die Emotionen das Verhalten steuern können. Nur wenn sie der bewussten Erkenntnis zugänglich gemacht werden, können sie mit weiteren Informationen über die Situation, mit Erinnerungen an frühere vergleichbare Situationen und mit Erwartungen verbunden werden, so dass das Handeln optimal an die Situation angepasst werden kann. Außerdem kann über die eigene emotionale Reaktion kritisch nachgedacht werden, um künftig angemessener reagieren zu können. Die Gefühle machen deshalb den Menschen bewusst, welche Beziehung sie zu einer Person, einem Objekt oder einer Situation haben. Daraus können sie dann entsprechende Folgerungen für zukünftiges Verhalten ableiten. Das Bewusstsein stellt so ein Instrument dar, um das innere Gleichgewicht, das aufgrund des sozialen Zusammenlebens stets gefährdet ist, aufrechtzuerhalten. Es schafft die Chance, zwischen der spontanen emotionalen Reaktion und dem Vollzug der Handlung eine Pause des Nachdenkens einzulegen.

Die Spiegelung der spontanen emotionalen Bewertungen im Bewusstsein stellt also eine Chance dar, dass die Emotionen evtl. korrigiert werden können. Sie können mit anderen Vorstellungen verbunden, korrigiert und so im Gedächtnis abgespeichert werden. Dadurch ist die Fähigkeit der emotionalen Selbstreflexivität entstanden, die das eigentlich Menschliche an den Emotionen und die Einzigartigkeit der Menschen ausmacht.

Dadurch, dass sich die Emotionen nicht von selbst verstehen, sondern immer auch vom Bewusstsein dechiffriert werden müssen, entsteht das Problem, dass die Gefühle missverstanden oder ganz ignoriert werden können. Wenn man z. B. das Gefühl hat, einer Situation völlig gewachsen zu sein, wird ein äußerer Beobachter am Zittern des Körpers oder am verspannten Gesichtsausdruck erkennen, dass das keineswegs der Fall ist. Oft macht man sich etwas vor, weil man aufgrund eines überzogenen Ichideals die Unsicherheitssignale nicht akzeptieren kann. So können als unangenehm erlebte Emotionen völlig aus dem bewussten Erleben ausgeblendet werden. So sind die psychosomatischen Krankheiten dadurch gekennzeichnet, dass die Patienten kein Bewusstsein von ihren körperlichen Symptomen wie z. B. erhöhtem Blutdruck haben. Ihr Leiden hängt damit zusammen, dass sie die Orientierung an den Emotionen aufgegeben haben und sich deshalb unsicher fühlen. Auf der anderen Seite muss nicht jedes Gefühl mit der Wahrnehmung von körperlichen Begleitsymptomen zusammengehen. Oft sind die körperlichen Symptome so fein (z. B. bei der Sehnsucht, beim Neid u. Ä.), dass sie unterhalb der Sensibilitätsschwelle liegen und deshalb nicht ins Bewusstsein treten.

Die Entschlüsselung der Bedeutung der emotionalen Signale wurde bisher als Aufgabe des Ichs oder der Vernunft angesehen. Es wurde dabei oft der Be­griff Reflexion benutzt. Seine metaphorische Herkunft vom Spiegel zeigt, worum es geht: die körperlichen Emotionen sollen zusätzlich im Bewusstsein gespiegelt werden. Die Reflexion bezieht sich letztlich auf etwas Körperliches. Aus der Erfahrung weiß man, dass die Reflexion der somatischen Signale keineswegs ein rein geistiger Vorgang ist. Im Grunde geht es darum, die Bedeutung der emotionalen Signale zu spüren und sie in sprachliche Formen auszudrücken. Dazu muss man sich sowohl in die gegenwärtige Situation als auch in die Erinnerungen einfühlen, die die somatischen Signale in sich tragen. Die Reflexion ist deshalb ein komplexer Prozess, bei dem die mentalen und emotionalen Anteile nicht voneinander getrennt werden können. Davon geht auch Antonio Damasio aus, wenn er darstellt, dass die körperlichen Signale, die er somatische Marker nennt, das Werk des gesamten Gehirns sind, das unbewusst alle verfügbaren Informationen zu körperlichen Signalen verarbeitet11.

Zu Recht bezeichnet der amerikanische Philosoph Robert Solomon die Gefühle als reflektierte Emotionen. »Denken ist transparent gemachtes Fühlen.« In den Gefühlen wird die Bedeutung der Emotionen ins Bewusstsein gebracht. Damit können sie zum Gegenstand der Kommunikation und der bewussten Veränderung werden. Sie können aber auch verfehlt und missverstanden werden. Aber die emotionale Selbstreflexivität bedeutet nicht, dass damit die Emotionen bewusst vom Denken gestaltet werden können, sondern sie bedeutet nur soviel, dass die Erfahrungen im Gebrauch der Emotionen benutzt werden können, um die Emotionen zu modifizieren. Es muss also davon ausgegangen werden, dass die Interpretation der Emotionen ebenfalls eine spontane Angelegenheit ist, die abhängig vom Gesamtzustand des Organismus ist. Sie ist offensichtlich ebenso ein Teil der organismischen Selbstregulation, die überall in der Natur anzutreffen ist.

Im Zusammenhang mit dem Atemmuster der Angst wurde begründet, dass der Atem der Leitfaktor in der zwischenmenschlichen Kommunikation ist. Damit wird die These, dass dafür allein das Gehirn zuständig sei, relativiert. Die Komplexität der zwischenmenschlichen Kommunikation kann nur verstanden werden, wenn berücksichtigt wird, dass die Emotionen ein wesentlicher Faktor bei der Steuerung der Kommunikation sind. Es wurde dargestellt, dass sich die Emotionen im Atemsystem bilden und die mit ihnen verbundenen Informationen erst sekundär auf der Ebene des Gehirns dargestellt werden. Es reicht deshalb nicht aus, die Emotionen als Leistung des limbischen Systems zu behaupten, wie dies in der Gehirnforschung angenommen wird. Gleichzeitig muss auch ihre tiefe Verflechtung mit dem von vornherein auf die Umwelt ausgerichteten Atemsystem beachtet werden. Deshalb sollte das Zusammenspiel des limbischen Systems mit dem Atemsystem ein Gegenstand der zukünftigen Gehirn- und Emotionsforschung sein.

● Systemischer Ansatz

Die Analyse der menschlichen Gefühle zeigt, dass sie oft falsch entschlüsselt werden. Ihre Entschlüsselung ist deshalb so schwierig, weil viele Gefühle dazu verwendet werden, um andere Gefühle zu verdecken. Wenn z. B. jemand dazu neigt, im Zustand der Erregung zu weinen, hat das meist wenig mit Trauer zu tun, sondern stellt einen Versuch dar, sich z. B. vor den Gefühlen der Wut zu schützen, die im Erregungszustand hoch kommen könnten. Die Gefühle sind auch deshalb so schwierig zu verstehen, weil mit ihnen oft etwas erreicht werden soll, was von sich selbst oder der sozialen Gemeinschaft abgelehnt wird. Wenn man z. B. eine starke Neigung zu Süßigkeiten hat, steht dahinter meist der Wunsch nach körperlichem Kontakt, den man sich nicht eingestehen kann.

An dieser Stelle muss der Gedanke der zwischenmenschlichen Verschränkung der Emotionen wieder aufgenommen werden. Emotionen werden in der zwischenmenschlichen Kommunikation erlernt, weil sie die biologische Funktion haben, diese zu unterstützen und zu stabilisieren. Sie sind deshalb von Anfang an eine Antwort auf die Emotionen der anderen Menschen. Wenn das Lächeln des Babys von der Mutter oder anderen Bezugspersonen erwidert wird, wird es daraus unwillkürlich schließen, dass es willkommen ist. Das Dasein der Mutter wird ihm helfen, mit seinen Ängsten leichter fertig zu werden. Wenn hingegen das Lächeln nicht erwidert wird, wird es bald verstummen und das Baby wird sich resignativ zurückziehen und vielleicht im Extremfall autistisch werden. Das bedeutet, dass das emotionale Schicksal davon abhängig ist, welche Emotionen von anderen Menschen ausgehen und wie die Umwelt auf die eigenen Emotionen reagiert.

Das kleine Kind beobachtet sehr wachsam die Emotionen seiner Bezugspersonen. Wenn es z. B. bei seiner Mutter Angst wahrnimmt, ist seine natürliche Reaktion, ihr nach seinen Möglichkeiten zu helfen. Es ist sogar bereit, seine eigenen Bedürfnisse nach lebhaftem Gefühlsausdruck zurückzustellen, wenn es merkt, dass es damit seiner Mutter helfen kann. Nichts ist dem Kind wichtiger als das Gefühl zu haben, dass sich seine Mutter wohlfühlt. Komplizierter wird es, wenn das Kind wahrnimmt, dass die Eltern Konflikte miteinander haben. Wenn es z. B. beobachtet, dass seine Mutter ständig den Vater abwertet, kommt es selbst in Konflikte, weil es Angst hat, die Liebe der Mutter zu verlieren, wenn es weiterhin seine Liebe zum Vater zeigt. Es muss seine Liebe zum Vater verleugnen, aber auch seinen Hass auf die Mutter, da sie die Liebe zum Vater nicht zulässt. Dadurch verliert das Kind den Kontakt zu seinen Emotionen. Seine spontanen Reaktionen auf die Eltern werden ihm fremd bleiben. Es kämpft mit seinen Gefühlen ständig gegen die Spannungen zwischen den Eltern und hofft insgeheim, mit seinem »schwierigen« Verhalten die Beziehung der Eltern zu verbessern.

Wenn aber die Gefühle ihr Ziel nicht erreichen, Spannungen in der persönlichen Umwelt auszugleichen oder die Akzeptanz der eigenen Bedürfnisse zu erreichen, löst das eine große Krise aus. Kein Organismus kann auf Dauer die innere Zerrissenheit ertragen, die aus der Identifikation mit dem Unglück anderer Menschen oder aus der Ablehnung der eigenen Bedürfnisse entsteht. Das Misslingen des eigenen Handelns führt zu dem schmerzlichen Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Es bleibt dann nur der Ausweg, sich partiell oder vollständig aus dem Kontakt mit den anderen Menschen zurückzuziehen. Das geschieht insgeheim mit der Hoffnung, dass dadurch künftig weiterer Liebesverlust vermieden werden kann und dass durch die Vermeidung von Wut oder Liebe zumindest der schlechte Kontakt erhalten bleibt. Der Rückzug ist aber keine bewusste Entscheidung, sondern ergibt sich indirekt aus der Zurückhaltung der eigenen Emotionen. Denn wenn die Intensität der Emotionen eingeschränkt wird, nimmt auch die Kontaktbereitschaft und –fähigkeit ab (vgl. S. 121).

Es wäre demnach falsch, die Emotionen als etwas Individuelles zu betrachten, wie es üblicherweise geschieht. Die Emotionen sind wie ein Radarsystem, die den Zustand der Umwelt erkunden. Wenn sie Konflikte und Bedrohungen feststellen, werden sie darauf mit Angst oder Wut reagieren. Wenn Harmonie wahrgenommen wird, stellen sich Freude und Heiterkeit ein. Insofern sind sie nicht nur vom eigenen inneren Zustand, sondern auch vom Zustand der Gefühle der anderen Menschen abhängig. Man kann sich selbst nur wohlfühlen, wenn man sicher ist, dass sich auch die Menschen wohlfühlen, die man liebt und dass man von ihnen akzeptiert wird.

Daraus folgt, dass es kein Gefühl gibt, das nicht gleichzeitig eine Bedeutung für andere Menschen hat. Die Emotionen können ihre Aufgabe, den Kontakt zu anderen Menschen herzustellen, wahrnehmen, weil sie sich im körperlichen Ausdruck, also mithilfe der Gesichtsmuskeln, dem Augenausdruck, der Körperhaltung u. a. zeigen, so dass sie von anderen Menschen erkannt werden können. Sicherlich erfolgte die Kommunikation zwischen den Menschen in der frühen Phase der Menschheitsentwicklung, als die verbale Sprache noch nicht entwickelt war, überwiegend mithilfe der Emotionen und der körperlichen Gesten. Die körperliche Artikulationsbreite der Emotionen war sicherlich so groß, dass damit eine relativ differenzierte Kommunikation möglich war. Auch heute noch erfolgt der größte Teil der Kommunikation nonverbal, so dass man zu Recht von der Sprache der Emotionen spricht. Wenn dies zutrifft, ist das Körperliche eine unentbehrliche Eigenschaft der Emotionen.

Die Entwicklung der Sprache hat das Problem entstehen lassen, dass die eigenen Emotionen mit kognitiven Deutungsmustern umgedeutet werden können. Jetzt kann man wie Sisyphos sein Unglück als Strafe der Götter oder als Fügung der Vorsehung begreifen. Das kann im Einzelfall tröstend wirken, aber in der Gesamtwirkung führt es dazu, dass man dazu neigt, sich vor den Gefühlen der Angst zu schützen und damit evtl. die erforderlichen Veränderungen des eigenen Verhaltens abzuwehren. Es wurde dargestellt, dass die herrschenden Gruppen solche Entlastungsmechanismen fördern, weil dadurch die Menschen zum Gehorsam und zur Unterwerfung unter fremde Bedürfnisse gefügig gemacht werden können.

Wie oben dargestellt, haben die herrschenden Gruppen die individuelle Betrachtungsweise der Emotionen gefördert, weil sie wissen, dass das Bewusstsein für die wechselseitige Abhängigkeit der Emotionen die Aufrechterhaltung von sozialer Herrschaft gefährdet. Wer genau spürt, dass sein Unglück die mittelbare oder unmittelbare Folge des Handelns der herrschenden Gruppen ist, wird dagegen ankämpfen. Wer allerdings das Dogma verinnerlicht hat, dass er für sein Unglücklichsein selbst verantwortlich ist, stellt keine Gefahr mehr dar. Sein Widerstand ist gebrochen. Er äußert sich allenfalls als Dominanzstreben oder als Unterwürfigkeit in den persönlichen Beziehungen. Es ist deshalb kein Wunder, dass die Gefühle in der gesamten Philosophiegeschichte immer nur aus der Sicht des Individuums betrachtet wurden.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Entscheidung, sich vor der Angst vor Kontaktverlust mit einer Zurückhaltung von Emotionen zu schützen, weitreichende Rückwirkungen auf den ganzen Menschen hat. Die Ängste führen zur chronischen körperlichen Verspanntheit und lassen die ganze Welt in einem düsteren Licht erscheinen. Es leuchtet unmittelbar ein, dass ein verspannter Körper unfähig zum Glück ist und dass der direkte Weg zum Glück in der Auflösung der im Körper sedimentierten Ängste besteht.

4. »Die Seele allein ist glücklich, die liebt«

»Lieben - das heißt Seele werden wollen in einem anderen.« (Friedrich Ernst Schleiermacher)

Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, dass die Emotionen ein dichtes Netz von Verbindungsfäden mit der sozialen Umwelt knüpfen. Ihre zentrale Funktion besteht darin, den Einzelnen in soziale Beziehungen zu stellen und evtl. Störungen des Kontaktes zu beseitigen. Die Emotionen sind somit Ausdruck der natürlichen Neigung der Menschen, einen guten Kontakt herzustellen und zu bewahren. Allerdings ist der menschliche Kontakt sehr stark gefährdet, da er durch Angst nicht nur kurzfristig, sondern auch dauerhaft bis zum völligen Rückzug reduziert werden kann. Im Folgenden soll geklärt werden, warum der Kontakt so leicht störbar ist, obwohl er von so zentraler Bedeutung für das seelische Befinden ist.

Es muss die grundsätzliche Frage geklärt werden, wie überhaupt Kontakt zustande kommt. Die Erfahrung spricht dafür, dass es die Liebe ist, die den Kontakt herstellt. Es ist aber nach wie vor ein Rätsel, warum dies die Liebe vermag. Die Emotionstheorien konnten bisher keine plausible Erklärung dafür geben. Das liegt vermutlich daran, dass bisher einerseits die biologische Verankerung der Emotionen und andererseits ihre Funktion im sozialen Zusammenleben ungeklärt geblieben ist. Es wird sich zeigen, dass der oben gewählte Ansatz, die Emotionen als Atemschwingungen zu betrachten, auch erklären kann, warum die Liebe den Kontakt herstellen kann. Es wird deutlich werden, dass Angst und Liebe die zentralen emotionalen Gegenspieler sind und dass von ihrer jeweiligen Kraft die Chance des individuellen Glücks abhängig ist.

4.1. Odysseus und die Resonanz

»Geteilte Freud´ ist doppelte Freud´, geteiltes Leid ist halbes Leid.« (Sprichwort)

Zu den wohl bekanntesten Abenteuern, die Odysseus auf seiner Schifffahrt von Troja nach Ithaka zu bestehen hatte, gehören die Verlockungen durch die Gesänge der Sirenen. Sie sind geflügelte Frauen, die Glück und Weisheit dem versprachen, der sein Schiff ans Ufer lenkt und ihren Stimmen zuhört. Die Göttin Circe warnte Odysseus vor den tödlichen Gefahren:

»Erstlich erreicht dein Schiff die Sirenen; diese bezaubern

Alle sterblichen Menschen, wer ihre Wohnung berühret.

Welcher mit törichtem Herzen hinanfährt und der Sirenen

Stimme lauscht, dem wird zu Hause nimmer die Gattin

Und unmündige Kinder mit freudigem Gruße begegnen.«

(Homer, Odyssee, XII. Gesang, 39)

Dem Rat Circes folgend verstopfte er die Ohren der Gefährten mit Wachspfropfen. Er selbst ließ sich mit Stricken an den Mast des Schiffes binden, damit er dem Sirenengesang gefahrlos lauschen kann. Als das Schiff sich der Insel näherte und er den verlockenden Gesang der Sirenen hörte, bat Odysseus seine Gefährten, ihn loszubinden. Doch sie verweigerten den Gehorsam und banden ihn noch fester.

Es ist auffallend, dass in diesem Fall die Götter Odysseus genaue Ratschläge gaben, wie er sich vor den Gefahren schützen kann, obwohl Odysseus von Homer immer wieder als der Erfindungsreiche tituliert wird. Das kann so interpretiert werden, dass Odysseus vor eine neuartige Herausforderung gestellt wurde, die außerhalb seiner militärischen Erfindungskraft lag. Er verfügte über keine fertigen Reaktionsmuster, die er für diese Situation nutzen kann. Wenn die Götter Ratschläge erteilen, dann bedeutet das, dass die Handlungsideen nicht das Ergebnis angestrengter Überlegung sind, sondern dass sie sich intuitiv von selbst einstellen. Denn die Götter stehen offensichtlich für die Erfahrung, dass die Gefühle und Gedanken spontan kommen12.

Der Reiz der Geschichte besteht darin, dass die Anziehungskraft der Frauen auf ihren bezaubernden Gesang zurückgeführt wird und dass diejenigen, die ihm nicht widerstehen können, zum Tode verurteilt sind. Es geht bei der Geschichte aber nicht um die Macht der Musik, sondern um die Sehnsucht nach uneingeschränkter Hingabe und um die Gefahren, die damit verbunden sind, wenn man ihnen schutzlos ausgeliefert ist. Die Geschichte soll davor warnen, dass es tödlich sein kann, wenn man sich seinen Impulsen überlässt. Sie zeigt aber auch, dass sich die Gemeinschaft Regeln setzen kann, um sich davor zu schützen.

Dass die Probleme der Hingabe mit dem Hören von Musik identifiziert werden, konnte historisch sicherlich erst hergestellt werden, seitdem Musikinstrumente existieren und die Erfahrung gemacht werden kann, dass Töne den eigenen seelischen Zustand ausdrücken und verändern können. Einerseits kann dadurch die innere Ruhe und Liebesfähigkeit gestärkt werden, andererseits kann man sich mit Hilfe der Musik in große Erregung hineinsteigern. Es lag deshalb nahe, die zwischenmenschlichen Beziehungen nach dem Muster der musikalischen Schwingungen zu verstehen.

Der menschliche Körper wurde seit Entdeckung der Musikinstrumente oft mit einem Musikinstrument verglichen. Der Klang des Musikinstrumentes ist umso reiner, je mehr sein Körper in Resonanz mit den Schwingungen der Saiten treten kann. Dazu müssen die Wände absolut gleichmäßig sein und ihre Größe im richtigen Verhältnis zu der Länge der Saiten stehen. Wenn zwei Saiten gleich gestimmt sind, gerät eine Saite von selbst in Schwingung, wenn die andere Saite in Schwingung versetzt wird. Es lag deshalb nahe anzunehmen, dass auch der Körper wie ein Musikinstrument eine bestimmte Schwingung besitzt und dementsprechend gestimmt werden muss.

Der Vergleich des menschlichen Körpers mit einem Musikinstrument ist völlig zutreffend, da auch der Körper mit seinen Emotionen dem gleichen Naturgesetz der Resonanz wie jedes Musikinstrument gehorcht. Jeder kann die Erfahrung machen, wie er von den Emotionen anderer Menschen berührt wird. Es kann gespürt werden, wie man in den Bann der Emotionen anderer Menschen gerät und wie man von bestimmten Gefühlen wie Freude und Lachen regelrecht angesteckt wird. Zu Recht wird von Sympathie gesprochen und die Zuneigung zu einem anderen Menschen als ein Zusammenschwingen (»gleiche Wellenlänge«) bezeichnet. Es liegt deshalb nahe, dieses Phänomen, das als Gesetz der emotionalen Ansteckung oder der emotionalen Suggestibilität bezeichnet wird, mit dem Naturgesetz der Resonanz zu verstehen.

Der Zustand der Liebe wird häufig als ein Verschmelzen charakterisiert. Dies darf natürlich nur als eine metaphorische Umschreibung verstanden werden, denn es kann im zwischenmenschlichen Kontakt immer nur einen mehr oder weniger intensiven Kontakt geben. Bei der Liebe befindet sich das Bewusstsein gleichsam an der äußersten Membrangrenze zur Außenwelt, so dass es sich allen Reizen, die auf den Organismus eintreffen, öffnen kann. Der Organismus kann natürlich nicht mit den Reizen verschmelzen, sondern sich nur auf sie einschwingen, d. h. in Resonanz mit ihnen gehen, und der Kontakt ist umso intensiver, je vollständiger die Resonanz ist. Es findet nur insofern eine Verschmelzung statt, als die Bedürfnisse, Neigungen und Eigenarten des anderen intensiv wahrgenommen werden und man sich in seinem eigenen Verhalten daran orientiert. Die als Liebe empfundene Resonanz führt so bei beiden Partnern zu etwas Neuem.

Für das bloße Sich-auf-den-anderen-Einschwingen wird im Allgemeinen der Begriff Einfühlung verwendet. Von Identifikation wird gesprochen, wenn man sich das, was in einem anderen schwingt, zu Eigen macht (Assimilation). Einfühlungsvermögen und Identifikation sind aber noch keine Liebe. Sie führen zunächst dazu, dass man sich im anderen verliert, mit ihm verschmilzt, sich dessen Atemmuster aneignet und damit von ihm abhängig wird. Ihnen fehlt deshalb das für die Liebe charakteristische Moment, dass der andere in seinem Anderssein akzeptiert wird, ohne die eigene Eigenständigkeit aufzugeben. Von Liebe kann deshalb nur gesprochen werden, wenn man trotz der Resonanz mit dem anderen identisch mit sich selbst bleibt. Liebende Resonanzbereitschaft bedeutet also, sich von anderen prägen zu lassen, sich mit seinen Wünschen und Erwartungen zu verbinden, ohne dabei aber die eigene Identität zu verlieren. Liebe ist Mitschwingen ohne Aufgabe der Eigenschwingung.

● Die Resonanz der Liebe

Liebe ist damit ist die Folge der genialen Eigenschaft des Atems, sowohl im Einklang mit dem anderen als auch im Kontakt mit dem inneren Zustand des Organismus schwingen zu können. Wenn deshalb Liebe als Einssein verstanden wird, ist dies eine mystische Fiktion, die der menschlichen Aufgabe, eine komplexe Balance zwischen Einssein und Anderssein herzustellen, nicht gerecht wird. Erschöpft sich die Liebe in einfacher Resonanz, wird sie zur Symbiose. Wird der andere nicht akzeptiert, löst sich Liebe auf und wird zum infantilen Wunsch nach Versorgtwerden. Liebe darf deshalb nicht mit Resonanz gleichgesetzt werden. Liebe ist eine besondere Resonanz, bei der im Zusammenschwingen gleichzeitig das Gefühl der Verschiedenheit besteht.

Die Liebe kann somit unmittelbar aus dem naturwissenschaftlichen Gesetz der Resonanz abgeleitet werden. Emotionale Resonanz ist bei den Menschen möglich, weil sie atmende Wesen sind. Es wurde immer schon angenommen, dass die Liebe eine Ausdrucksform der gleichen Kraft ist, die in der materiellen Welt zwei getrennte Teilchen durch Magnetismus, Gravitation, Anziehung u. a. zusammenbringt. »Wenn wir die Tendenz, in Resonanz zu treten, als ein universelles Prinzip anerkennen, dann ist die Liebe Ausdruck und Ziel dieses Prinzips.« (Hüther 2000, S. 64) Auch im esoterischen Denken wird die Liebe als Ausdruck der kosmischen Energie »Chi« oder »Prana« begriffen. In solchen Theorien steckt insofern ein wahrer Kern, als sie die zentrale Bedeutung der Liebe bei jedem Kontakt herausstellen. Die kontaktstiftende Wirkung der Liebe wird verständlicher, wenn davon ausgegangen wird, dass sich in ihr das Naturgesetz der Resonanz entfaltet. Wenn der Organismus frei von Verspannungen ist, fühlt er sich im Vollbesitz aller Kräfte. Gleichzeitig kann er auf die Sicherheit und Geborgenheit vertrauen, die die Liebe zu anderen Menschen gewährt.

Es ist Zeichen menschlicher Unvollkommenheit, dass die Resonanz nie vollständig ist. Wahrscheinlich kann absolute Resonanz aufgrund der menschlichen Vergesellschaftung nur noch in Grenzsituationen erfahren werden. Aus der Erfahrung unterschiedlich gelungener Resonanz ist die Wunschvorstellung der idealen Resonanz entstanden, die sich in der Idee der göttlichen Liebe und in der mystischen Idee des Einsseins, dass sich also die Einzelseele mit der kosmischen Allseele verbindet, niedergeschlagen hat. Wahrscheinlich speisen sich alle Utopien letztlich aus dem physiologisch verwurzelten Verlangen nach absoluter Resonanz mit anderen Menschen.

In der Vorstellung der antiken Philosophie besteht göttliches Glück in der völligen Übereinstimmung mit sich selbst und in der harmonischen Beziehung aller Teile zueinander. Dieses Ruhen der Götter in sich selbst wurde als Glückseligkeit begriffen. Die Glückseligkeit erschien auch als die Grundlage für die unerschütterliche, bedingungslose Liebe der Götter. Die Philosophen wussten, dass die Götter unerkennbar sind. Wenn sie dennoch sich eine Vorstellung von ihrem Wesen machen wollten, mussten sie irdische Erfahrungen verwenden. Ich vermute, dass das harmonisch klingende Zusammenspiel mehrerer Saiten das Vorbild der Idee der göttlichen Harmonie war. Der harmonische Klang der Saiteninstrumente kann an die Götter denken lassen, weil man an sich selbst die Erfahrung macht, wie man dadurch beruhigt wird und sich die Liebesfähigkeit verstärkt.

Die Untersuchungen von Susana Bloch zeigen, dass sich Liebe dadurch auszeichnet, dass sich ihre Schwingungen relativ nahe am Ruheatem befinden und im Gegensatz zu allen anderen Emotionen immer eine Atempause aufweisen. Alle Muskeln des Körpers befinden sich in einem optimalen Tonus, so dass sie sehr leicht in Resonanz mit den emotionalen Schwingungen anderer Menschen gehen können. Deshalb machen liebende Menschen einen heiteren und ausgeglichenen Eindruck. Im Zustand der Liebe befindet sich der Atem offensichtlich im Zustand höchster Resonanzfähigkeit. Das macht die emotionale Sonderstellung der Liebe aus.

Liebe hat hinsichtlich ihrer Gefühlsqualität sehr viel Ähnlichkeit mit dem Glück. Oben wurde das Glück als ein Metagefühl gekennzeichnet, weil es im Gegensatz zu den meisten anderen Gefühlen sehr wenig Erregungsqualität hat und seine Substanz in der eindeutigen Selbstbejahung hat. Auch die Liebe zeichnet sich dadurch aus, dass sie etwas Ruhiges hat. Es ist die ruhige Heiterkeit, mit der der andere bejaht wird. Wer liebt, ist im Einklang mit sich selbst. Dadurch erreicht er die innere Ruhe des Glücks. Wahrscheinlich ist Glück gar kein eigenes Gefühl, sondern ist es mit der Liebe identisch. »Zuneigung im Sinne echten gegenseitigen Interesses zweier Personen füreinander, nicht nur als Mittel zum gegenseitigen Besten, sondern vielmehr als eine Mischform, die sich auch auf das allgemeine Wohl erstreckt, ist eines der wichtigsten Elemente wahren Glücks.« (Russel 1977, S.126)

Daraus folgt, dass es das resonante Mitschwingen mit den Emotionen anderer Menschen ist, was als Kontakt erlebt wird. Nur wo Resonanz ist, wird Kontakt gefühlt. Kontakt bedeutet also immer, dass man in Kontakt mit den Emotionen anderer Menschen ist. Da die Resonanz innerlich gespürt wird, kann man fühlen, inwieweit der Kontakt gelungen ist. Ein gelungener Kontakt zeichnet sich dadurch aus, dass man sich dabei mehr oder weniger vergisst. Oft wird diese Selbstvergessenheit als das eigentlich Befriedigende am Kontakt erlebt. Nur im persönlichen Kontakt kann erfahren werden, ob man zum Kontakt fähig ist. Bei der Lektüre eines Buches oder beim Betrachten eines Filmes oder Bildes kann auch ein emotionaler Kontakt zustande kommen. Aber die emotionale Ergriffenheit, insbesondere bei den Gefühlen der Liebe, Angst und Wut, ist deutlich schwächer. Das Erröten der Scham gibt es nur im direkten Kontakt. Da die Emotionen zeigen, wie das Verhältnis zu anderen Menschen beschaffen ist, bestimmen sie die persönliche Identität.

Kontakt bedeutet immer auch, dass man mit sich selbst in Kontakt kommt. Wenn die Emotionen frei artikuliert werden, versetzen sie den ganzen Körper in einen bestimmten Schwingungszustand, der sich gefühlsmäßig dem Bewusstsein mitteilt. Der Organismus erfährt sich so in seinen Emotionen. Es ist im Grunde ein inneres Sich-selbst-Berühren. Da man die Bedeutung dieser Schwingungen aus eigener Erfahrung kennt, kann man sie auch verstehen. Deshalb kann man sich umso besser in andere einfühlen, umso mehr man seine eigenen Emotionen kennt. Einfühlung besteht somit darin, bereit und fähig zu sein, sich von den Emotionen anderer in Schwingung versetzen zu lassen. Da sie Resonanz ermöglicht, wird sie oft als höchster Wert betrachtet.

Wenn sich der Organismus im Zustand der Resonanz bewegt, befindet er sich im Optimum seines Funktionierens. Wohlgefühl und Lust stellen sich ein. Deshalb werden viele Aktivitäten um ihrer selbst willen getan: Man hat Spaß an ihnen, weil sie die intrinsische Belohnung des Wohlbefindens bieten. Das bedeutet, dass sich der Kontakt von selbst einstellt, wenn sich der Organismus optimal in die gegebene Situation einschwingen kann. Dann ist auch der Atem im Einklang mit der Bewegung. Demgegenüber wirken Bewegungen ohne harmonische Verbindung mit dem Atem mechanisch und steif. Sie laufen gewohnheitsmäßig ab und reagieren nicht flexibel auf Veränderungen der Situation.

Für guten Kontakt reicht also keineswegs bloß die persönliche Nähe aus. Es kommt vielmehr darauf an, sowohl mit den Emotionen des anderen als auch mit den eigenen Emotionen im Kontakt zu sein. Dann kann man sich dem anderen zuwenden, ohne sich dabei selbst zu vergessen. Dies geht beim symbiotischen Verhalten verloren, bei dem man mit dem anderen gleichsam verschmilzt und sich allein an dessen Bedürfnissen orientiert. Das symbiotische Verhalten wird deshalb meist als Co-Abhängigkeit bezeichnet und durch »zu viel Nähe« charakterisiert.

Emotionen können aber ihre Funktion, einen Kontakt herzustellen, nur übernehmen, wenn sie sich frei entfalten können, d. h. wenn der ganze Organismus gelöst und ausgeglichen ist und keine Muskelgruppen chronische Verspannungen aufweisen. Wenn z. B. der Kiefer festgehalten wird, um den Ausdruck von Wut zu bändigen, wird der Ausdruck von Emotionen im Gesicht behindert. Wie sollen sich Liebe oder Freude ausdrücken, wenn das Gesicht verspannt ist? Der Kontakt muss misslingen, wenn sich der Organismus weigert, seine Emotionen zu artikulieren.

Wenn die Resonanz durch Verspannungen verhindert wird, entsteht die Begierde, sie mit Gewalt herzustellen. Resonanz lässt sich aber nicht erzwingen. Wenn man es dennoch versucht und scheitert, wird man sich an dem Liebesobjekt rächen. Das Abenteuer von Odysseus mit den Sirenen sollte zum Ausdruck bringen, dass die Gefahr, sich zu verlieren, besonders groß ist, wenn man den Kontakt zu seinen Gefühlen verloren hat und nicht mehr resonanzfähig ist. Wer übermäßig verspannt ist, ist nicht nur zur Liebe fähig, sondern wird auch sich selbst vernichten. Deshalb musste sich Odysseus an den Schiffsmast fesseln lassen.

● Hilfsbereitschaft

Die wechselseitige Resonanz der Emotionen begründet die Hilfsbereitschaft, die stets als Ausdruck von Liebe verstanden wird. Die spontane Hilfsbereitschaft führt spontan dazu, dass man nie das Wohl des anderen aus dem Auge verliert. Die positive Reaktion des anderen wird zwar antizipiert, ist aber nicht der Grund des Handelns. Denn die emotional angeleitete Tat geschieht nicht aus Berechnung oder in Erwartung einer Gegenleistung. Unbewusst weiß man zwar, dass die Freude und Dankbarkeit des anderen die eigene Stimmung verbessert. Schon das Lächeln hebt die Stimmung des anderen und aus Dankbarkeit dafür lächelt man zurück. Aber das Handeln erfolgt nicht direkt um des Glücks des anderen willen. Wenn das Verhalten aus Liebe geschieht, ist gewährleistet, dass das Wohl des anderen beachtet wird. Es besteht ein natürliches Vertrauen, dass man auch unter schwierigen Bedingungen mit Hilfe des anderen ein Gleichgewicht zwischen den eigenen und deren Bedürfnissen finden wird.

Allerdings wird man nur dann zufrieden sein, wenn bei der Orientierung an den Emotionen des anderen nicht die eigenen Bedürfnisse aufgegeben werden. Wer anderen hilft und sich selbst dabei aufopfert, erreicht nur ein Scheinglück. Er gerät in die Abhängigkeit von der Hilfsbedürftigkeit des anderen und verliert die Entscheidungsfreiheit, wann er helfen will und wann nicht. Der Partner spürt den Verzicht und wehrt sich spontan gegen die Unterwerfung unter seine Bedürfnisse. Deshalb befriedigt die Hilfe anderer nur dann, wenn sie auf dem spontanen Bedürfnis basiert, dem anderen zu helfen und wenn es nicht aus Pflicht oder Abhängigkeit geschieht.

Hilfe und Fürsorge bräuchten somit eigentlich nicht gefordert werden, da sie in der ursprünglichen seelischen Ausstattung des Menschen angelegt sind. Insofern ist es falsch, das altruistische Verhalten als egoistisch zu diffamieren, weil es angeblich nur auf das eigene Glück abziele. Man weiß genau, dass das eigene Glück nichts ist ohne das Glück des anderen. Insofern existiert die begriffliche Polarität von egoistisch und altruistisch nur scheinbar. Wenn man den eigenen unbeschädigten Bedürfnissen folgt, löst sich die Polarität auf. »Sicherlich wollen wir um das Glück geliebter Personen besorgt sein, aber nicht unter Ausschluss unseres eigenen Glückes. Der ganze Gegensatz zwischen dem Ich und der Welt, der in der Lehre von der Selbstaufgabe liegt, verschwindet tatsächlich mit einem Schlage, sobald wir ein wahrhaftes Interesse an Menschen und Dingen außerhalb unserer selbst fassen. ... Durch solche Interessen gelangen wir dahin, uns als einen Teil des großen Lebensstromes zu empfinden, statt als eine harte, für sich bestehende Einheit wie ein Billardball, der mit anderen solchen Einheiten keine Beziehung außer der des Zusammenprallens haben kann.« (Bertrand Russel 1977, S. 171).

Wenn der natürliche Hilfeimpuls unterdrückt wird, verändert sich die ganze seelische Verfassung. Das Verhältnis zum anderen wird durch Misstrauen und feindselige Abgrenzung bestimmt. Das spontane Hilfsbedürfnis geht verloren und pervertiert zum Tauschgeschäft, für das eine Gegenleistung erwartet wird. Die egoistische Grundhaltung erscheint dann als natürlich, so dass man für die Idee spontaner selbstloser Hilfsbereitschaft nur noch Hohn übrig hat. Es kann dann nicht mehr verstanden werden, dass das Bedürfnis nach intrinsischer Belohnung ein wesentlicher Bestandteil des seelischen Innenlebens ist (vgl. S. 85). Nur wer dieses Bedürfnis nicht kennt, neigt dazu, einen falschen Gegensatz von egoistisch und altruistisch aufzubauen.

Liebe stellt also Bindungen her, indem sie die Emotionen mehrerer Menschen miteinander in Resonanz bringt. Sie enthält nicht nur die Aufforderung, das eigene Verhalten immer auch aus der Perspektive des anderen zu sehen, sie stellt offensichtlich auch die Fähigkeit dazu bereit. Liebe führt somit dazu, dass der andere als ein emotionales Wesen wahrgenommen wird. Sie geht davon aus, dass der andere ähnliche physische und emotionale Bedürfnisse hat. Darauf basiert die Anerkennung des anderen. Ein geliebter Mensch kann nicht als Mittel für die eigenen Zwecke benutzt werden, da das nur möglich ist, wenn die Wahrnehmung der emotionalen Verletzbarkeit des anderen ausgeblendet wird. Daraus kann abgeleitet werden, dass die Fähigkeit, den Standpunkt des anderen einzunehmen, keine intellektuelle Leistung, sondern ein Bestandteil der Liebe selbst ist. Sie ist nur dort anzufinden, wo Liebe ist.

4.2. Die Bindungskraft der Liebe

»Liebe ist das Einzige, was wächst, wenn wir es verschwenden.« (Ricarda Huch)

Das erste Liebesabenteuer von Odysseus bestand in der Begegnung mit der Göttin Circe, die normalerweise mit ihren Zaubermitteln alle Männer in Tiere verwandelt. Der Götterbote Hermes warnte Odysseus vor den Zauberkräften der Circe und gab ihm ein Gegenmittel. Circe war überrascht, dass Odysseus ihren Zaubermitteln widerstand und bot ihm zur Versöhnung Geschlechtsverkehr an. Vorweg verlangte Odysseus aber vorher von ihr das Gelöbnis, dass sie künftig nicht mehr versucht, ihn zu überlisten und dass er jederzeit die Heimfahrt fortsetzen kann. Daraus entwickelte sich eine einjährige Liebesbeziehung, die eigentlich nur deshalb zu Ende ging, weil die Gefährten von Odysseus auf eine Rückreise in die Heimat drängten.

Diese Geschichte bedeutet, dass sich Odysseus auf eine längere Beziehung einlassen konnte, weil er aufgrund des Gelöbnisses der Göttin, ihn nicht zu hintergehen, ein gleichberechtigter Partner wurde. Außerdem hat Circe nicht - wie später die Göttin Calypso - von ihm verlangt, ihr Mann zu werden. Circe hat sich in Odysseus verliebt, weil sie von ihrem Fluch befreit wurde, alle Männer verhexen zu müssen und Odysseus konnte ihre Liebe erwidern, weil er nicht die Beziehung zu seiner Frau Penelope aufgeben musste. Es war praktisch der erste Seitensprung zwischen zwei gleichberechtigten Partnern, von dem in der abendländischen Literatur berichtet wird.

Die Liebesaffäre von Odysseus zeigt, dass die Liebe eine Emotion ist, die die Liebe eines anderen Menschen begehrt und auf sie antwortet. Liebe ist untrennbar mit der Erwartung verbunden, dass der andere die Liebe erwidert. So, wie das Kleinkind sich bemüht, sich so zu verhalten, dass es von der Mutter geliebt wird, so versucht der Liebende spontan, die Liebe seines Partners zu wecken und zu erhalten. Niemand wird an der eigenen Liebe zu einem anderen festhalten, wenn er nicht Resonanz findet. Die Zuneigung durch andere ist ein tiefes emotionales Bedürfnis, ohne die das Leben als nicht lebenswert erscheint. Sie wird weder aus Berechnung noch aus Rücksicht auf die Folgen angestrebt.

Je mehr sich der Liebende öffnet, umso empfindlicher wird er für Einschränkungen des Kontaktes, so dass schon geringe Einbußen der resonanten Übereinstimmung als sehr schmerzhaft erlebt werden. Die Liebe gibt ihm auch die Kraft, gegen die Einschränkungen zu kämpfen, auch die Kraft, unangenehmen Wahrheiten ins Auge zu sehen, Schmerzen und Angst zu ertragen und das Unvermeidbare hinzunehmen. Umgekehrt werden Menschen, die ihre Emotionen verdrängt haben und deshalb die Emotionen anderer Menschen nur gedämpft spüren, mit Liebesverlust viel leichter fertig, da sie sich mit ihren Verspannungen besser schützen können.

Die Liebe wird von dem Biologen Humberto Maturana zu Recht als die Grundemotion des sozialen Lebens herausgestellt. Er kennzeichnet Liebe »als eine Emotion, die den Bereich der Handlungen bestimmt, in denen sich die Annahme des anderen im nahen Zusammenleben ereignet.« (Maturana/Verden-Zöller 1994, S. 234) Die Liebe veranlasst die Menschen, aus sich herauszugehen, Kontakt mit anderen Menschen aufzunehmen und den anderen als eine Person mit eigenen Bedürfnissen zuakzeptieren. Liebe kann sich auch Gerüchen, Gegenständen, Informationen, Kunstwerken und vielem mehr zuwenden und sie mit den Sinnen aufnehmen. Stets geht es darum, in Kontakt zu gelangen. Liebe ist wahrscheinlich deshalb das Grundbedürfnis des Menschen, da die Qualität des Lebens umso höher ist und man umso besser überleben kann, wenn ein optimaler Kontakt mit anderen Menschen und der Außenwelt gefunden wird.

Auch wenn die Liebesfähigkeit zur Naturausstattung jedes Menschen gehört, muss sie wie jede andere Emotion lernend angeeignet werden. Es muss gelernt werden, wie sie im jeweiligen kulturellen Kontext artikuliert wird, damit sie von den anderen Menschen verstanden und akzeptiert wird. Genauso wichtig ist zu erlernen, wie die Liebesfähigkeit vor Verletzungen geschützt und wie sie wiederhergestellt werden kann, wenn sie Schaden erlitten hat. Die Erfahrung zeigt, dass sich die Liebesfähigkeit nur entfalten kann, wenn die eigenen Bedürfnisse und Ansichten von der Umwelt mit Achtung und Respekt behandelt werden.

Liebe erweist sich als die eigentliche Kontaktemotion, da sie uneingeschränkte Bindungen zu anderen Menschen herstellen kann. Ihre Bindekraft basiert darauf, dass sie sich völlig für die emotionalen Schwingungen anderer Menschen öffnet und deshalb mit der Bereitschaft verbunden ist, in Resonanz mit diesen Schwingungen zu gehen. Es ist auffallend, dass nur die Liebe selbst und die Emotionen, denen Liebe beigemischt ist, zu einem eindeutig als positiv bewerteten Kontakt führen. Dazu zählen Freude, Zuneigung, Begeisterung, Neugierde, Fürsorge, Achtung und Respekt. Liebe ist die Grundbedingung des Glücks, weil sie die Offenheit des Organismus herstellt, die für einen uneingeschränkten Kontakt erforderlich ist. Denn nur im Zustand der Liebe kann sich die glücksbringende Resonanz einstellen. Allerdings darf nicht der Fehler des moralistischen Denkens gemacht werden, von anderen Menschen Liebe zu verlangen. Wenn die Fähigkeit zu lieben verloren gegangen ist, reicht ein Appell an die Liebe bei weitem nicht aus.

Damit ist die verbindende Liebe der Gegenpol zur trennenden Angst. Liebe und Angst markieren die zentrale Achse im emotionalen Haushalt. Das Leben pendelt zwischen den beiden Polen Liebe und Angst, die sich durch die Gegensatzpaare öffnen - verschließen, frei - unfrei, glücklich - unglücklich, entspannt – verspannt charakterisieren lassen. Jeder Mensch entscheidet sich aufgrund seiner emotionalen Erfahrungen für einen bestimmten Ort auf dem Kontinuum zwischen Liebe und Angst. Je mehr Liebe in der Kindheit erfahren wurde, umso mehr kann die Liebesfähigkeit entfaltet werden. Wer guten Kontakt erfahren hat, kann ihn auch geben. Glückliches Leben zeichnet sich dadurch aus, dass sich der seelische Lebensmittelpunkt relativ nahe beim Liebespol befindet und man jederzeit nach Angst auslösenden Ereignissen zum Liebespol zurückkehren kann. In der Realität ist zu beobachten, dass sich der seelische Lebensmittelpunkt mit zunehmendem Alter hin zum Angstpol verschiebt. Aber der Ort kann jederzeit neu gewählt werden, wenn man die Kraft gewinnt, sich mit den Ängsten zu konfrontieren. Liebe und Angst bestimmen so die Grundbeschaffenheit des seelischen Innenlebens. »Wo Liebe ist, gibt es keine Angst.« »Wo Liebe fehlt, breitet sich Angst aus.« Diese aus Erfahrungen geborenen Lebensweisheiten sind theoretisch nachvollziehbar, wenn davon ausgegangen wird, dass sich das emotionale Kräftegleichgewicht bei einem Übermaß an Angst völlig verschiebt.

Liebe und Angst prägen das Leben, da sich aus ihrer jeweiligen Stärke ergibt, ob das Leben bejaht oder verneint wird. Wer liebt, bejaht sich, die anderen Menschen und die Welt uneingeschränkt. Wem die Kraft zur Liebe fehlt, weil die Ängste zu stark sind, wird das Leben verneinen. Während sich dem Liebenden die Frage nach dem Sinn des Lebens überhaupt nicht stellt, wird der Ängstliche von dieser unbeantwortbaren Frage gequält. Sie ist deshalb unbeantwortbar, weil sie der mentale Reflex einer emotionalen Konstellation ist, die nicht mit mentalen Mitteln aufgelöst werden kann.

In wissenschaftlichen Katalogen der Emotionen nimmt die Liebe erstaunlicherweise nur eine Randstellung ein. Obwohl die Liebe im Zentrum des praktischen Denkens steht und letztlich sich alle menschlichen Sehnsüchte darauf beziehen, wird sie in der Wissenschaft mehr oder minder totgeschwiegen. Das hängt sicherlich mit der verbreiteten Idealisierung der Liebe zusammen. Lange Zeit wurde die Liebe als eine Manifestation des Göttlichen im Menschen verstanden. Sie galt für viele Philosophen als die höchste Fähigkeit, weil sie an der göttlichen Liebe teilhat. Oder die Liebe wurde als eine Eigenschaft der immateriellen Seele begriffen und auch damit idealisiert. Die allgemeine Idealisierung der Liebe hat dazu geführt, dass es bereits als Abwertung der Liebe empfunden wird, wenn die Liebe als körperliche Emotion angesprochen wird. Darüber hinaus wurde der Liebesbegriff auch durch seine unscharfe Abgrenzung zur Sexualität belastet. Das hier vorgeschlagene Verständnis der Liebe zeigt, dass es richtig war, der Liebe eine Sonderstellung einzuräumen, dass man aber der Liebe nur gerecht wird, wenn sie in das Zentrum der menschlichen Emotionen gestellt und ihre Verankerung im Körper anerkannt wird (vgl. S. Error: Reference source not found).

Diese Ausführungen zeigen, dass Liebe die Bedingung für das Glück ist. Glück ist ohne Liebe undenkbar. Wer liebt, ist glücklich, weil er sich für einen uneingeschränkten Kontakt öffnet und weil er im Einklang mit seinen Gefühlen handelt. Die Erfahrung des Glücks ist besonders intensiv, wenn gefühlt wird, dass der eigene Atemrhythmus im Einklang mit dem Atemrhythmus des anderen schwingt. Es scheint so zu sein, dass man sich bloß der Welt liebend öffnen müsse, um des Glückes teilhaftig zu werden. Aber so einfach ist das nicht. Liebe ist zwar eine Fähigkeit, die ursprünglich alle Menschen als Kleinkinder besitzen. Sie kann aber unter dem Druck von seelischen Verletzungen sehr leicht verloren gehen und kann nicht ohne weiteres - sozusagen auf Knopfdruck - eingeschaltet werden.

4.3. Lachen zur Verteidigung der Liebe

»Lachen ist die beste Medizin.« (Volksweisheit)
»Der Himmel hat den Menschen als Gegengewicht gegen die Mühseligkeiten des Lebens drei Dinge gegeben: die Hoffnung, den Schlaf und das Lachen.« (Immanuel Kant)

Jeder fühlt sich zu Menschen hingezogen, die viel lachen, da dadurch die eigene Stimmung verbessert wird. Es wird angenommen, dass die Fähigkeit zu lachen Ausdruck von innerer Ausgeglichenheit, seelischer Kraft und Seelenruhe ist. Wer lacht, wird auch glücklich sein und scheint das Geheimnis zu kennen, wie das Unglück vermieden werden kann. Kann von lachenden Menschen gelernt werden, das Unglück zu überwinden?

In den letzten Jahren ist das Lachen in den Rang einer Therapie gehoben worden. Den ersten Anstoß gaben die Erfahrungen des amerikanischen Journalisten Norman Cousins, der in seinem Buch »Der Arzt in uns selbst« beschrieben hat, wie er mit mehrmaligem 10-minütigen Lachen pro Tag seine Rückenschmerzen beseitigt hatte und seine Wirbelsäulenerkrankung Morbus Bechterew damit ausheilen konnte. In den letzten Jahren wurden in vielen Städten Lachclubs eingerichtet und in Krankenhäusern - insbesondere in Kinderkrankenhäusern - wurden Ärzte engagiert, die es verstehen, die Patienten zum Lachen zu bringen. Aus den Erfahrungen mit der Lachtherapie wurde die Empfehlung abgeleitet, täglich mehrfach herzlich zu lachen. Denn eine Minute herzliches Lachen ersetze 30 Minuten Entspannungstraining.

Die wissenschaftlichen Grundlagen des Lachens werden von der Gelotologie13 erarbeitet. Allerdings sind die wissenschaftlichen Belege für die Ursachen der gesundheitlichen Wirkung des Lachens noch relativ schmal. Sie basieren in erster Linie auf der Produktion der körpereigenen Glückshormone (Endorphine), auf der Senkung des Blutdrucks, auf der dadurch erhöhten Sauerstoffzufuhr und der Stärkung des Immunsystems. Es konnte empirisch nachgewiesen werden, dass Menschen, die einen guten Sinn für Humor haben, Stress besser bewältigen und länger leben. Wer gern und oft lacht, ist halb so gefährdet, einen Herzinfarkt zu bekommen. Das sind beobachtbare und messbare physiologische und psychische Veränderungen. Sie erklären aber nicht, warum das Lachen eine so tief greifende gesundheitliche und glücksfördernde Wirkung hat.

Zum Verständnis des Lachens muss geklärt werden, in welchen Situationen das Lachen ausgelöst wird. Lachen resultiert oft aus dem Gefühl der Überlegenheit gegenüber der Schwäche eines anderen. Man lacht über sich selbst, weil beim Reden oder Handeln etwas anderes entstanden ist, als man beabsichtigt hatte. Lachen stellt sich ein, wenn man sich im Witz eine Situation vorstellt, in der einschränkende Normen in versteckter Form kritisiert werden. Man lacht, um dem Gegenüber zu zeigen, dass man seine gerade geäußerten Erwartungen zurückweist. Es wird gelacht, wenn nach einem großen Leistungsversprechen nur ein bescheidenes Ergebnis kommt. Regelmäßig bricht Lachen aus, wenn man das Metaphorische in der Redeweise des anderen bemerkt und bewusst macht, weil man es dann nicht ernst zu nehmen braucht. Ganz allgemein wird gelacht, wenn etwas anders abläuft, als man es erwartet hat. Man lacht, wenn die gewohnte Perspektive verlassen wird und die Dinge neu betrachtet werden. So sieht man z. B. Schwäche, wo man vorher Stärke sehen wollte. Wenn die Kinder so viel lachen, hängt das damit zusammen, dass sie alles als beseelt erleben und auf alle Abweichungen von ihren Erwartungen reagieren.

Ob in einer Situation gelacht wird, hängt weniger von der Situation selbst ab, sondern von der Fähigkeit, das Komische an der Situation zu spüren. Das beste Beispiel ist, dass einige Menschen einen Galgenhumor besitzen, mit dem sie sich selbst in der Verzweiflung über das Traurige und Entsetzliche erheben können. Andere steigen lachend aus ihrem Autowrack, weil sie der Unfall nicht verletzt hat. Die Wirkung des Lachens scheint darin zu bestehen, das dadurch innere Spannungen aufgelöst werden. Man bleibt im Kontakt mit sich selbst, obwohl etwas passiert ist, das den Kontakt gestört hat oder ihn stören könnte. Das Lachen verteidigt den Kontakt gegen seine Störer.

Auffallend beim Lachen ist, dass man dabei oft die bisherige Sicht der Welt aufgibt und die Welt neu wahrnimmt. Die Entspannung des Lachens macht es möglich, die Welt in veränderter Perspektive zu betrachten. Im Lachen wird eine Distanz zu den Dingen und Verhältnissen hergestellt, so dass sie neu gesehen werden können. Philosophieren und Lachen gehören deshalb für Epikur zusammen. Lachen hat demnach die Funktion, sich von der Fixierung an Vorstellungen, Überzeugungen und Glaubenssätzen zu befreien und dadurch einen weniger einschränkenden Umgang mit der Welt zu gewinnen.

Menschen, die wenig lachen, sind meist sehr verspannt. Es fehlt ihnen die seelische Kraft, sich von ihren Vorstellungen zu lösen, mit denen sie sich übermäßig identifiziert haben. Den muskulären Verspannungen entspricht die mentale Fixierung an die Vorstellungen. Sie können nicht lachen, weil sie nicht bereit sind, ihre Erwartungen zur Disposition zu stellen.

Warum das Lachen die Funktion hat, das Loslassen von Vorstellungen zu erleichtern, wird verständlich, wenn das besondere Atemmuster des Lachens analysiert wird. Einer kurzen Einatmung folgt eine lange, forcierte Ausatmung, ähnlich dem Weinen. Bei keinem anderen Gefühl überwiegt die Ausatmung so eindeutig gegenüber der Einatmung.

Charakteristisch für das Lachen sind die Atemstöße (Saccaden) in der Ausatmung, meist bei geöffnetem Mund und mit charakteristischer Mimik. Durch die rhythmischen Staccati in der Ausatmung wird das Zwerchfell teilweise so heftig erschüttert, dass es schmerz. Es werden ca. 240 der 600 Muskeln des Körpers aktiviert und dadurch eine umfassende Entspannungsreaktion ausgelöst. Die heftigen Zwerchfellerschütterungen bewirken so nicht nur eine nachhaltige Entspannung des ganzen Körpers, sondern verbessern auch die Spannkraft und Entspannungsfähigkeit des Zwerchfells. Das Lachen ist damit ein äußerst intensives Atemtraining. Es ist offensichtlich das natürliche Gegenmittel zur Wut, bei der sich die Zwerchfell-, Bauch- und Rückenmuskeln verspannen. Deshalb kann das Lachen zu einem Ausgleich von emotionalen Spannungen führen und einen Zustand des inneren Friedens, der Ruhe und des Wohlseins herbeiführen.

Offensichtlich setzt eine mentale Neuordnung immer auch eine muskuläre Entspannungsreaktion voraus. Die inneren Vorstellungen können nur verändert werden, wenn gleichzeitig die körperlichen Verspannungen, mit denen sie fixiert wurden, aufgelöst werden. Das Lachen kann als Signal betrachtet werden, dass der Organismus die Kraft besitzt, sich von inneren Verspannungen zu befreien, die durch Vorstellungen hervorgerufen worden sind. Da das Lachen die muskulären Voraussetzungen dafür schafft, dass sich die inneren Vorstellungen neu ordnen können, nützt es der Erneuerung des ganzen Organismus.

Lachen ist aber nur gesund, wenn der Impuls zum Lachen spontan von innen kommt. Im Gegensatz zum Lächeln, das bewusst eingesetzt werden kann, ist das Lachen ein rein unwillkürlicher Vorgang. Wissenschaftler gehen davon aus, dass die gesundheitliche Wirkung genauso groß ist, wenn das Lachen imitiert wird. Aber durch ein bewusst intendiertes Lachen-über-sich-selbst kann keine größere Fähigkeit zur inneren Distanz erzeugt werden. Insofern hat das angestrengte Lachen nach Witzen u. Ä. nur einen mechanischen Wert. Es kann die physiologischen Werte der Sauerstoffversorgung und des Kreislaufs verbessern; aber damit wird noch nicht dauerhaft die seelische Kraft verbessert, über sich selbst lachen zu können. Die Fähigkeit zum spontanen Lachen über sich selbst ist als der zentrale Indikator für seelische Gesundheit anzusehen. Es ist deshalb vergeblich, jemanden zu empfehlen, die Dinge nicht so ernst zu nehmen. Solange die psychische Kraft dazu fehlt, verursacht die Empfehlung nur zusätzlichen Stress.

Das Lachen geht keineswegs aus dem Lächeln hervor, wie es üblicherweise dargestellt wird. Beide Gefühle haben unterschiedliche Quellen und Funktionen. Während das Lachen die Funktion hat, Spannungen abzubauen, die auf Grund von falschen Erwartungen entstanden sind und eine eigenständige Emotion darstellt, hat das Lächeln die Funktion, einen gelungenen Kontakt zu signalisieren und wurzelt in der Emotion der Freude. Während das Atemmuster des Lachens eine heftige, stoßweise Ausatmung zeigt, weist das Lächeln fast keine Veränderung gegenüber der Ruheatmung auf.

Trotz des großen Unterschiedes gegenüber dem Lachen hat das Lächeln eine ähnlich befreiende Kraft wie das Lachen. Da es willkürlich aktiviert werden kann, ohne dass dadurch seine stimmungsverändernde Kraft abgeschwächt wird, kann das Lächeln bewusst eingesetzt werden, um damit die eigene Stimmung und das Verhältnis zum Gegenüber zu verändern. Vielleicht gelingt es dann eher, die Fixierung an einschränkende Vorstellungen aufzulösen.

4.4. Die Illusion des geistigen Glücks

»Auch im Genuss soll stets die Weisheit führen.« (Voltaire)

Bisher wurde die These vertreten, dass innere Ruhe nur im Zustand der Liebe gefunden werden kann. Seit Aristoteles gibt es die Gegenthese, dass auch reine geistige Tätigkeit dazu geeignet sei, die Seele zu beruhigen und dass deshalb geistiges Glück das höhere Glück sei (Schummer 1998, S. 72). Aristoteles begründete diese Auffassung damit, dass man dadurch Gott ähnlich werden würde. Gott würde sein Glück darin finden, dass er ständig mit sich selbst identisch sei und sich im absoluten Ruhezustand befinden würde. Glück liege also nicht im Sinnlichen, sondern im Verzicht auf Sinnlichkeit. Diese These soll im Folgenden geprüft werden.

Der Hochschätzung der geistigen Lust entspricht regelmäßig die Abwertung der sinnlichen Lust. Die Abwertung wird meist mit der Maßlosigkeit der Lust begründet, die dem Denken keinen Raum mehr lasse und Abhängigkeiten herstelle. Die Abwertung der sinnlichen Lust, die sich durch die ganze abendländische Geschichte durchzieht, muss infrage gestellt werden. Im Licht der bisherigen Überlegungen scheint die sinnliche Lust eine wesentliche Grundlage des Glücks zu sein. Im Hinblick auf die Grundthese, dass Glück eine Angelegenheit des ganzen Körpers ist und sich im Zustand des Glücks der ganze Mensch bejaht, muss die Abwertung der sinnlichen Lust überwunden werden.

Bei der Abwertung der sinnlichen Lust wird übersehen, dass sie eine inhärente Tendenz zur Selbstregulierung hat. Sie ist bestrebt, ein Maximum an Lust zu erreichen, ohne sich selbst damit zu schädigen. Der Organismus setzt spontan alle Fähigkeiten ein, um dieses Ziel zu erreichen. Ein Mittel kann durchaus auch die Selbstdisziplin sein, da dadurch die Lusterfahrung gesteigert werden kann. Wie unten dargestellt wird, neigt die sinnliche Lust nur dann zur Maßlosigkeit, wenn die Fähigkeit zur freien Artikulation der Emotionen blockiert wird (vgl. S. 194). Der wahre Grund für die Abwertung der sinnlichen Lust liegt darin, dass in Herrschaftssystemen die Emotionen unterdrückt werden müssen. Dadurch verlieren sie ihre immanente Selbstregulierungskraft und werden maßlos. Die Maßlosigkeit der Lust ist deshalb nichts Ursprüngliches, sondern Folge von verletzten Emotionen.

Die sinnliche Lust beeindruckt zunächst durch ihre scheinbare natürliche Unmittelbarkeit. Der sinnliche Kontakt kann zweifellos leichter gelingen, weil er intensiver ist und deshalb wenig geistige Anwesenheit verlangt. Aber dennoch kann auch die unmittelbar sinnliche Berührung misslingen, wenn sich die Gedanken in Vergangenem oder Zukünftigem verlieren. Wenn man nicht im Zustand geistiger Ausgeglichenheit ist, wird die sinnliche Lust durch Achtlosigkeit und Gleichgültigkeit beeinträchtigt. Andererseits wird die Lust gesteigert, wenn man sich ihr auch mit Bewusstsein zuwendet. Die sinnliche Lust setzt offensichtlich ebenso ein hohes Maß an geistiger Anwesenheit und Beteiligung voraus, wie dies bei geistigen Kontakten selbstverständlich ist. Deshalb ist es problematisch, eine scharfe Trennung zwischen sinnlichem und geistigem Kontakt vorzunehmen. In jede sinnliche Lust gehen immer auch mentale Anteile ein.

Das Besondere an der sinnlichen Lust ist, dass sie nicht im bloßen Konsum der Lustobjekte aufgeht, sondern auf eine intensive Beziehung angewiesen ist. Wie oben gezeigt wurde, ist Lust eine Lust am Kontakt. Sie ist deshalb immer in eine emotionale Beziehung eingebettet. Da jeder Kontakt durch Emotionen zu Stande kommt, sind auch bei der Lust Emotionen beteiligt, meist Freude, Liebe oder Neugierde. Deshalb ist die Lust umso intensiver, je mehr der Kontakt Präsenz und Aufmerksamkeit enthält. Die Lust an Objekten ist umso höher, je mehr sie in einen guten zwischenmenschlichen Kontakt eingebettet ist.

Sicherlich liegt die Bedeutung des philosophischen Hedonismus primär darin, dass sie die absolute Hochschätzung des geistigen Glücks infrage gestellt hat. Der Hedonismus hat aber den Fehler gemacht, dass er im Gegenzug die sinnliche Lust verabsolutiert und die geistige Beteiligung an der Lust ignoriert hat.

Für die meisten Menschen ist Denken ohnehin mit wesentlich weniger Lust verbunden als dies bei körperlichen Bewegungen und bei sinnlicher Lust der Fall ist, auch wenn die antiken Philosophen immer wieder das Gegenteil behauptet haben. Was geistige Lust bringt, sind die seltenen Momente der Intuition, der plötzlichen Einsicht in vorher nicht gesehene Zusammenhänge. Meist kommt es zu einem als befreiend erlebten Aufatmen. Ganz offensichtlich hängt diese Lust damit zusammen, dass sich aufgrund der Einsicht der ganze Körper entspannt und damit der Atem von Blockierungen befreit wird. Somit ist in Wirklichkeit geistige Lust letztlich sinnliche Lust. Auch geistige Lust hängt von der Beruhigung des Atems und der Ausgeglichenheit des Körpers ab.

Daraus folgt, dass das Verhältnis von Denken und sinnlicher Lust neu bestimmt werden muss. Wenn die geistige Aktivität ihr Ziel in der Erkenntnis der äußeren Welt sieht und mehr oder weniger zum Selbstzweck erhoben wird, kann es nur vorübergehend in den seltenen Momenten der Einsicht gelingen, dass mehr oder weniger zufällig eine innere Dissonanz aufgehoben wird. Wenn aber die Beschäftigung mit dem Geistigen primär dem Ziele dient, die aufgrund von Ängsten vorgenommenen emotionalen Blockierungen aufzulösen und damit die sinnliche Lust zu intensivieren, kann der Geist direkt dazu beitragen, eine stabilere innere Harmonie herzustellen und damit die Dualität von geistiger und sinnlicher Lust aufzuheben. Es ist offensichtlich, dass nicht jede geistige Tätigkeit die »Seele« beruhigt. Es kommt vielmehr darauf an, dass sich der Geist bewusst in den Dienst der sinnlichen Lust stellt.

Das Ziel des Organismus ist von Natur aus der ruhige und ausgeglichene Atem. Dieses Ziel kann auf verschiedenen Wegen erreicht werden. Wenn sich das Denken an diesem Ziel orientiert, wird es als befriedigend erlebt. Zugleich ist es dagegen gefeit, sich in abstrakten Spekulationen zu verlieren. Es ist ein Irrtum der antiken Philosophen, dass innere Ausgeglichenheit und Glück allein durch das Denken herbeigeführt werden könne. Aus den zahlreichen orientalischen Traditionen ist bekannt, dass dieses Ziel auch mit körperlichen Übungen, insbesondere mit Atemübungen, erreicht werden kann (vgl. S. 227).

Am Leichtesten stellt sich aber der ruhige und ausgeglichene Atem ein, wenn man sich im Zustand der Liebe befindet. In der Liebe öffnet man sich für den unmittelbaren sinnlichen Kontakt. Aus dieser Sicht erscheint das geistige Glück der Philosophen ein Ersatz für misslungene Liebeskontakte zu sein. In der Überbewertung des geistigen Glücks steckt das stillschweigende Eingeständnis, dass das geistige Glück das sinnliche Glück nicht ersetzen kann.

Wenn die körperliche Seite des Glücks der ausgeglichene Atem ist, dann müssen die Behauptungen, dass Glück eine Frage der Hormone oder des Gehirns sei, relativiert werden. Im Grunde ist die Aussage, dass das Glück mit der Ausschüttung von Endorphinen zusammenhängt, nichts sagend. Sie bedeutet nicht viel mehr, als dass jeder Gefühlszustand mit Hilfe von Hormonen (Neurotransmitter) im Körper verankert wird. Sie erklärt aber nicht, unter welchen Umständen Gefühle aktiviert werden. Diese Erklärung kann im Rahmen der hier entwickelten Atemtheorie der Emotionen geleistet werden, indem gezeigt wird, wie Ängste den natürlichen Kontaktwunsch der Liebe einschränken und wie sich Glück im gelungenen Kontakt einstellt.

Es ist somit nicht berechtigt, der geistigen Lust einen Vorrang vor der sinnlichen Lust zu geben. Die sinnliche Lust ist von zentraler Bedeutung, da sie unentbehrliche Signale dafür bereitstellt, dass der Kontakt mit anderen Menschen und mit der Umwelt gelungen ist. Sie ist ein wesentlicher Bestandteil jeden Kontaktes mit anderen Menschen und den Dingen und ist deshalb für ein gelungenes Leben unverzichtbar. Auch die Lust des Denkens erweist sich als eine sinnliche Lust, die mit gelöstem Atem zusammenhängt.

4.5. Der menschliche Klangkörper

»Der Sitz der Seele ist da, wo sich Innenwelt und Außenwelt berühren. Wo sie sich durchdringen, ist er in jedem Punkt der Durchdringung.« (Novalis)

Der amerikanische Psychotherapeut James Lynch stellt in seinem Buch »Die Sprache des Herzens« dar, wie bei jedem Gespräch eine Reihe von physiologischen Veränderungen stattfindet. Dazu gehören Veränderungen des Blutdrucks, der Herzfrequenz, des intrapleuralen Druckes, des peripheren Widerstandes, des Herzminutenvolumens und des Sauerstoffgehalts im Körpergewebe. Er war überrascht von der Entdeckung, wie stark der gesamte Körper bis hinab zur mikroskopischen Ebene der Blutzirkulation und des Gasaustausches im einzelnen Gewebe am Dialog beteiligt ist (Lynch S.237). Lynch schloss aus seinen Messungen, dass es eine Art sozialer Membran geben müsste, die den einzelnen Menschen umschließt, die ihn von der übrigen menschlichen Gemeinschaft trennt und zugleich mit ihr verbindet. Diese Vorstellung half ihm zu verstehen, wie die Außenwelt einer Person mit der inneren Welt der Physiologie verzahnt ist. Jetzt konnte er die innere Physiologie als ein System betrachten, das sowohl durch innere, als auch durch äußere Kräfte nachhaltig beeinflusst wird.

Als ich diese Überlegungen las, kam mir die Intuition, dass es der Atem sein könnte, der die soziale Membran bildet, von der Lynch sprach. Rein physiologisch betrachtet, muss der Sauerstoff des Atems auf seinem Weg ins Innere der Körperzellen mehrere Membranen passieren. Aber diese physiologischen Membranen erfüllen nicht die Funktion einer sozialen Membran. Dagegen können alle Muskelwände, die den Körper und seine Organe umschließen, in ihrer Einheit als eine soziale Membran begriffen werden. Denn mit Hilfe dieser Muskeln werden die Gesten und Emotionen ausgedrückt, mit denen die Menschen den größten Teil ihrer Kommunikation gestalten. Auch die verbale Sprache benutzt diese Muskeln, denn ohne das Zwerchfell und die Muskeln im Brustkorb und Hals- und Gaumenbereich wäre die Sprache nicht möglich.

Membrane haben in der Natur die Funktion, den Stoffwechsel zwischen den Zellen und ihrem äußeren Milieu zu regulieren. Sie grenzen die Zelle von ihrer Umwelt ab, sind aber so durchlässig, dass einerseits alles in die Zelle hineinströmen kann, was die Zelle für ihr Überleben und ihre Funktionen benötigt, und dass andererseits alle Abfallstoffe die Zelle verlassen können. Die Mem­branen regulieren somit den stofflichen Austausch mit ihrer Außenwelt. Im Grunde kann auch die Haut des menschlichen Körpers als eine komplexe Membran betrachtet werden, da sie vielfältige Ausgleichs- und Kommunikationsfunktionen (z. B. das Erröten bei Scham) mit ihrer Umwelt übernimmt. In diesem Sinne kann auch die muskuläre Hülle des menschlichen Körpers als eine Membran betrachtet werden, da sie die Emotionen ausdrückt und somit für den emotionalen Austausch mit der Umwelt zuständig ist.

Das Gemeinsame aller einfachen und komplexeren Membranen besteht darin, dass sie den Austausch mit dem äußeren Milieu mit Hilfe von Schwingungen herstellen. Sie weiten sich, wenn sie sich für äußere Reize öffnen und ziehen sich zusammen, wenn sie sich verschließen. So kann auch die muskuläre Hülle des Menschen als Ganze schwingen, wenn Emotionen ausgedrückt werden. Oben wurde dargestellt, wie jedes Gefühle den ganzen Körper in einen besonderen Schwingungszustand versetzt (vgl. S. Error: Reference source not found). Jeder kennt die Erfahrung, dass man von den Emotionen anderer Menschen berührt wird und dass man sich häufig der Einwirkung der Emotionen anderer Menschen kaum entziehen kann. Dieses Phänomen wird als emotionale Suggestibilität bezeichnet. Es ist nicht zufällig, dass man bei Zuneigung auch von Sympathie oder von einer harmonischen Beziehung spricht.

Viele Mediziner weisen daraufhin, dass es falsch ist, die Muskeln isoliert zu betrachten. In der körperlichen Realität stellen sie ein riesiges Netzwerk dar, das darin zum Ausdruck kommt, dass die Bindegewebshüllen der einzelnen Muskeln ohne Trennlinien ineinander übergehen sind. Diese Betrachtungsweise erleichtert die Vorstellung, dass der Körper als Ganzer schwingt. Und wenn die gesamte Muskelhülle als eine einheitliche Membran betrachtet wird, wird verständlich, warum die Atemtherapeuten schon immer davon ausgegangen sind, dass der ganze Körper im Rhythmus des Atems schwingt. Der Rhythmus des Atems teilt sich im Idealfall dem ganzen Körper mit und ein Mensch gilt als umso gesünder, je mehr die Atemwelle bis in die Peripherie des Körpers durchdringen kann. Er kann aber auch durch muskuläre Verspannungen eingeschränkt werden. Das geübte Auge kann deshalb an der Körperhaltung und am Körpertonus die Qualität des Atems ablesen.

Da im gelösten Körper jeder Muskel im Atemrhythmus mitschwingt, nehme ich an, dass die soziale Membran, von der James Lynch sprach, aus der Muskelschicht besteht, die den ganzen Körper umhüllt. Ich habe vorgeschlagen, diese muskuläre Hülle als Atemmembran zu bezeichnen, da ihr Charakteristikum darin besteht, dass ihre Schwingungen identisch mit den Atemschwingungen sind14. Die Atemmembran beschränkt sich aber nicht nur auf die Muskelhülle die inneren Atemräume, sondern bezieht auch die peripheren Körperteile mit ein. Der häufig vorgenommene Vergleich des menschlichen Körpers mit einem Musikinstrument ist völlig zutreffend, da die muskuläre Hülle den Körper zu einem Resonanzkörper macht und somit der Körper mit seiner Atemmembran dem gleichen Naturgesetz der Resonanz wie jedes Musikinstrument gehorcht.

Damit die Atemmembran die Reize aufnehmen kann, die dem Organismus nützlich sind, und die schädlichen Reize abwehren kann, muss sie ihren gesamten Tonus verändern. Es wird also nie nur ein Teilbereich, sondern immer die gesamte Atemmembran im Fluss der veränderten Atemdynamik verändert. Im Zustand der Freude und Zuneigung fühlt sich die Körperhülle weich und geschmeidig an, da sie sich mit allen Sinnen der Umwelt öffnet. Dementsprechend fühlt sich auch der Atem gelöst und mühelos an. Wenn sich hingegen der Organismus bedroht fühlt, verspannt er seine Körperhülle, die dadurch hart und undurchdringlich wird, die Sinne wenden sich von der Außenwelt ab und der Atem wird eingeschränkt. Die Atemmembran verhält sich also im sozialen Kontakt wie eine Membran, nur mit dem Unterschied, dass sie nicht den körperlich-stofflichen Stoffwechsel, sondern den emotionalen Austausch organisiert. Beide Formen sind als Kommunikationsprozesse aufzufassen. Es erscheint deshalb als gerechtfertigt, der muskulären Hülle des Menschen einen eigenen Begriff zu geben, so als wäre es ein eigenes Organ.

Seelische Verletzungen führen dazu, dass die Atemmembran geschwächt wird. Sie verliert ihre Fähigkeit, klar zwischen nützlichen und schädlichen Umweltreizen zu unterscheiden, d.h. sie kann keine klare Grenze zwischen den eigenen Bedürfnissen und den von außen kommenden Anforderungen treffen. Die Fähigkeit zur Abgrenzung hängt somit entscheidend vom Zustand der Atemmembran ab. Offensichtlich kann sich das seelische Innenleben am besten organisieren, wenn es nicht durch äußere Zwänge und Kontrollen gestört wird. Es kann deshalb auch von der Selbstregulation der Atemmembran gesprochen werden.

Es ist die Eigenart der Atemmembran, dass sich ihre jeweilige Gestalt ohne Zutun des Bewusstseins herausbildet. Die Atemmembran reagiert sehr empfindsam auf alle emotionalen Veränderungen im sozialen Umfeld, weil sie die Aufgabe hat, den emotionalen Austausch mit anderen Menschen zu regulieren. Deshalb werden die Emotionen so organisiert, dass sie sich spontan, also unabhängig vom bewussten Ich herausbilden. Wie im Kap. 7.2 dargestellt wird, kann davon ausgegangen werden, dass der emotionale Austausch einer immanenten Selbststeuerung folgt (vgl. S. Error: Reference source not found).

Für das Verständnis der Atemmembran ist von zentraler Bedeutung, dass sich alle Emotionen und Gedanken auf der Atemmembran abspielen. Da sie selbst nichts Anderes als Schwingungen sind, sind sie Teil der Schwingungen der Atemmembran. Es wäre falsch anzunehmen, dass die Emotionen etwas Geistig-Seelisches sind und nur auf der körperlichen Atemmembran ausgedrückt werden. Vielmehr sind die Emotionen mit den Schwingungen der Atemmembran identisch und führen deshalb kein davon unabhängiges Eigenleben. Welche Gedanken und Gefühle im Moment aktiv sind, hängt allein von der aktuellen Situation ab, in der sich gerade der Organismus befindet.

Die Atemmembran kann somit als die eigentliche Grenzschicht zwischen Innen und Außen verstanden werden. Sie kann einerseits von innen als Gefühl empfunden werden und andererseits den inneren seelischen Zustand nach außen darstellen. Am Atem hat immer schon fasziniert, dass er einerseits von außen beobachtet werden und andererseits innerlich mit seinen vielfältigen Qualitäten erfahren werden kann. Aus körperlicher Sicht manifestiert sich der Atem hauptsächlich in dem muskulären Ausdruck der Emotionen. In der inneren Erfahrung stellt sich der Atem als eine ungeheure Vielfalt an Stimmungen und Gefühlen dar. Aber beide Sichtweisen betrachten nur die zwei Seiten der Atemmembran.

Die Atemmembran verbindet das Innere mit der Außenwelt. Sie hat alle Eigenschaften einer Membran. Wie oben dargestellt, macht sie den Körper zu einem Resonanzkörper, der durch die Emotionen der anderen Menschen in Schwingung versetzt werden kann. Sie organisiert die Qualität des Kontaktes zu anderen Menschen und zur Umwelt. Ihr Schicksal ist aber nicht nur vom inneren Zustand des Einzelnen, sondern auch von den äußeren Lebensbedingungen abhängig. Wenn Novalis von der Seele sagte, dass sie sich dort befindet, wo sich Innenwelt und Außenwelt berühren, dann scheint die Atemmembran genau dieser körperliche Ort zu sein.

Das Konzept der Atemmembran gibt eine schlüssige Antwort auf die bisher ungeklärt gebliebene Frage nach dem Ort der Gefühle. Im Gespräch waren das Herz, das Zwerchfell, die Wirbelsäule, das Gehirn, die Zirbeldrüse u.a. Aber kein Organ konnte sich bisher durchsetzen. Warum konnte bei einem so zentralen Thema keine Einigkeit erzielt werden? Es liegt Vermutung nahe, dass aufgrund der Fixierung der Philosophie auf die immaterielle Seele nicht wahrgenommen werden konnte, dass die Gefühle in Wirklichkeit Gestaltungsformen des körperlichen Atems und damit Bestandteil des Körpers sind. Wenn die Gefühle als Atemschwingungen akzeptiert werden, kann die Atemmembran als Ort der Gefühle wahrgenommen werden. Da die Atemmembran auch der Ort der Gedanken ist, wird es verständlich, warum sich die Gefühle mit Gedanken verbinden können. Und da die Emotionen die Basis der menschlichen Entscheidungen sind, kann die Atemmembran auch als Ort der Entscheidungen begriffen werden. Die Atemmembran macht so den Atem zum Medium der Kommunikation.

Es wird nun verständlich, warum sich im emotionalen Ausdruck immer der ganze Mensch mitteilt, so dass z. B. allein am Augenausdruck die seelische Verfassung abgelesen werden kann. Aus der Sicht der Atemmembran scheint das Persönliche aus nichts anderem als den individuell typischen Gestaltungsformen der Atemmembran zu bestehen. Wenn die Atemmembran der Ort der Gefühle und Gedanken ist und die Gewohnheiten auf erlernten Emotionen basieren, folgt daraus, dass das, was mit Persönlichkeit umschrieben wird, sich aus Struktur der Atemmembran ergibt. Umgekehrt wird damit auch die Frage beantwortet, warum mit körperlichen Bewegungen der Zustand des seelischen Innenlebens verändert werden kann und warum körperliche Berührungen die Seele erreichen. Da jede Berührung spontan emotional bewertet wird, verändert sie zwangsläufig den Atem und seinen körperlichen Ausdruck in der Atemmembran. Und da sich das seelische Innenleben im Medium des Atems abspielt, führt jede Befreiung des Atems immer auch zu einer Befreiung der Emotionen und des Denkens und umgekehrt. Das Konzept der Atemmembran macht auch verständlich, warum die Entspannung eins Körperteils (z. B. Kiefer) zur Entspannung weit entfernt liegender anderer Körperteile (z. B. Becken) führen kann und warum mit der Anspannung eines peripheren Körperteils wie z. B. des großen Zehs der Atem beeinflusst werden kann.

Es sollte deutlich gemacht werden, dass der Begriff Atemmembran eine ganzheitliche Sicht des seelischen Innenlebens ermöglicht und damit die Trennung zwischen »körperlich« und »seelisch« überwindet. Er macht verständlich, warum emotionale Erfahrungen tief in die Physiologie eingreifen und warum es z. B. zutreffend ist, wenn im Volksmund gesagt wird, das eine seelische Gewohnheit »in Fleisch und Blut« übergegangen ist. Wie unten gezeigt wird, kann mit dem Begriff auch erklärt werden, warum emotionale Erfahrungen zu somatischen Veränderungen führen können (vgl. S. 136).

Die alte Erfahrung, dass sich alle seelischen Regungen im Körper ausdrücken und sie nicht von Körper abgelöst werden können, wird oft mit dem altertümlich klingenden Begriff des Leibes zu begreifen versucht. Unter Leib wird die Gesamtheit der Persönlichkeit verstanden, also die geistige und seelische Dimension, die die Person ausmacht und die sich in seinem Körper »verleiblicht« bzw. inkarniert. Im Leibbegriff wird also ein geistiges Zentrum angenommen wird, das sich wesentlich vom Körper als dem anatomisch-physikalischen Teil des Menschen unterscheidet. Die Leibphilosophie hält demnach an dem problematischen Dualismus von Geist und Körper fest. Sie hat das Verdienst, hervorgehoben zu haben, dass nicht die bewusste Vernunft, sondern eine unbewusste innere Instanz, der die Bezeichnung Leib gegeben wurde, die Beziehung zur Umwelt herstellt und dass der Mensch nur aus seiner Vernetzung mit der Umwelt verstanden werden kann. Aber diese wichtige Einsicht in die Selbstorganisation des emotionalen Austausches kann mit dem Konzept der Atemmembran klarer formuliert werden (vgl. S. 265). Ich kann deshalb auf den problematischen Begriff des Leibes verzichten. Der Begriff der Atemmembran kann vermutlich alle Erfahrungen abdecken, die mit dem schwierigen Begriff des Atemleibes angesprochen werden: die Verbindung des Atems zum unpersönlichen biologischen Grund einerseits und zur Sphäre der Persönlichkeit andererseits.

Wenn die Gedanken und Gefühle als Bewegungsformen der Atemmembran verstanden werden, kann nicht länger an der Theorie festgehalten werden, dass sie ausschließlich vom Gehirn organisiert werden. Gedanken und Gefühle müssen als eine Gemeinschaftsleistung des ganzen Körpers begriffen werden. Ohne die Bewegungen der Atemmembran, die natürlich im Gehirn koordiniert werden, wären sie nicht denkbar. Das Gehirn darf nicht als Kontrollzentrale verstanden werden, sondern es hat vielmehr die Funktion eines Raumes, in dem die Impulse aus verschiedenen Teilen des Körpers koordiniert und aufeinander abgestimmt werden. Denn die Informationsverarbeitung ist eine komplexe, den ganzen Körper integrierende Aktivität.

Die Gefühle verlieren durch ihre Bindung an das Körperliche keineswegs ihren geheimnisvollen Zauber. Im Gegenteil: jetzt erst wird es deutlich, wie genial die Natur den physiologischen Atem nutzt, um die höheren Formen der Kommunikation mit Gedanken und Gefühlen zu erschaffen und warum sich im Atem immer der ganze Mensch spiegelt. »Der Atem, der ich bin«, sagt der Freiburger Atempsychotherapeut Stefan Bischof treffend dazu.

Die eingangs gestellte Frage, warum der Kontakt so leicht störbar ist, kann jetzt damit beantwortet werden, dass die Qualität des Kontaktes vom Tonus des ganzen Körpers abhängig ist, der wiederum davon bestimmt wird, ob die Emotionen uneingeschränkt artikuliert oder zurückgehalten werden. Liebe kennzeichnet einen Organismus, der über große Resonanzfähigkeit gegenüber den Emotionen anderer Menschen verfügt und der deshalb einen guten Kontakt zu sich und zu anderen Menschen aufnehmen kann. Sein Atem besitzt große Abwehrkräfte, so dass Störungen des Kontaktes rasch überwunden werden können. Unglück setzt ein, wenn die Kräfte fehlen, Kontaktstörungen zu bewältigen.

5. Die Entstehung der negativen Gefühle

»Liebe tilgt jeden Eigennutz.« (Voltaire)

Die Metapher vom Leib als Gefängnis der Seele, die von Pythagoras stammt und durch Platon bekannt geworden ist, darf nicht wörtlich genommen werden. Sie drückt die Erfahrung aus, dass die Menschen darunter leiden, dass sie ihre Emotionen und damit ihren Atem einschränken, so dass sie sich um das Gefühl uneingeschränkter Lebendigkeit betrügen. In ihrem verspannten Körper werden die Gefühle regelrecht gefesselt. Wenn davon die Rede war, die Seele zu befreien, war damit letztlich immer gemeint, den Atem und die Emotionen zu befreien.

In der Philosophie herrscht große Ratlosigkeit bei der Frage nach den Ursachen des Unglücks, des Leidens und des Bösen. Die Philosophie kam bisher nicht über die Aussage hinaus, dass das Unglück dadurch entsteht, dass sich die Menschen von der Seele oder von der Natur abwenden bzw. sie nicht beachten. Wenn Philosophen behaupten, dass das Unglück dadurch entsteht, dass sich die Menschen im Zustand der Unwissenheit befinden (Platon) oder zu wenig Geist haben (Plotin), geht das in eine ähnliche Richtung. Andere erklären das Unglück damit, dass die Menschen ihre Freiheit missbrauchen (Kant), unfähig sind, in der Gegenwart zu leben (Wittgenstein), keine Interessen haben (Russel) oder keinen Lebensplan verfolgen (Rawls). Eine andere Erklärung liegt darin, dass die Menschen von ihren Sinnen verführt werden und einen Mangel an Selbstbeherrschung haben (z. B. Stoa). Offensichtlich ist diese Ratlosigkeit der Philosophen damit zu erklären, dass sie nicht begriffen haben, welche verhängnisvolle Dynamik entsteht, wenn Gefühle von der Umwelt abgelehnt werden und zurückgehalten werden.

Im Folgenden soll die These dargestellt werden, dass das Unglück einen Versuch darstellt, mit körperlichen Verspannungen einen Teil des Glücks zu retten, dass durch seelische Verletzungen gefährdet wurde. Auch wenn es paradox klingt, es scheint so zu sein, dass sich die Menschen für das Unglück entscheiden, weil sie glücklich sein wollen. In dieser Betrachtung kommt das Unglück nicht von den Göttern, vom Schicksal oder von anderen äußeren Instanzen, sondern geht auf die menschliche Entscheidung zurück, Emotionen zurückzuhalten und sich aus dem Kontakt zurückzuziehen.

5.1. Basisemotionen und Ersatzgefühle

»Alles Böse stammt von der Schwäche.« (Jean-Jacques Rousseau)

In der Philosophie gibt es die begriffliche Unterscheidung zwischen Gefühlen und Affekten. Zu den Gefühlen werden diejenigen Gefühle gerechnet, die zu ausgeglichenem und heiterem Verhalten führen. Dagegen umfassen die Affekte alle Emotionen, die mit heftigem und leidenschaftlichem Verhalten verbunden sind. Die Gefühle werden positiv bewertet, weil sie den persönlichen Freiheitsspielraum erweitern, während die Affekte als negativ empfunden werden, weil sie als etwas Fremdes und Nicht-Gewolltes erlebt werden und deshalb der Eindruck entsteht, dass sie unfrei machen. Diese Unterscheidung ist sehr problematisch, da damit die starken Emotionen der Wut und Angst abgewertet werden. Außerdem werden die Gefühle als angeboren betrachtet und damit verschleiert, dass ihre heftigen Varianten in Wirklichkeit Reaktionen auf seelische Verletzungen sind und dass die Aufgabe ansteht, den Erziehungsprozess so zu gestalten, dass emotionale Verletzungen weitgehend vermieden werden.

Die Analyse des Verdrängungsprozesses hat gezeigt, dass sich dadurch der gesamte emotionale Haushalt verändert. Die Verdrängung einer Emotion führt zwangsläufig zur Veränderung alle anderen Emotionen, weil dadurch die gesamte Atemmembran verändert wird. So ist es unausweichlich, dass die Lebensfreude verloren geht, wenn man in einem Trauerprozess stecken bleibt. Es entwickeln sich neue Gefühle, wenn die Angst wegen bedrohter Liebe nicht bewältigt werden kann. So entwickeln sich Neidgefühle, wenn man zu wenig Liebe erfährt, Hass, wenn man betrogen wird, oder Resignation, wenn man den Glauben aufgibt, jemals Liebe zu finden. Darüber hinaus wird das energetische Niveau des Organismus reduziert, so dass alle Emotionen an Lebendigkeit verlieren. Wegen der Einschränkung der Lebendigkeit entstehen Schuldgefühle und Teile des Organismus werden aus dem Scheinwerferlicht des Bewusstseins gerückt.

Wenn man zum Beispiel die Entstehung des Neids genauer anschaut, geht ihr immer das Gefühl der Benachteiligung und der Ungleichbehandlung voraus. Die Wut darüber darf aber nicht geäußert werden. Das Kleinkind schließt aus der Benachteiligung, dass es nicht geliebt wird und dass es weniger wert ist, nicht klug oder nicht brav genug ist. Es wird sich deshalb als minderwertig vorkommen und sich selbst abwerten. Es verliert die Orientierung an seinen inneren Impulsen und wird die Maßstäbe anderer Menschen übernehmen, von denen es meint, dass es danach bewertet wird. Es wird auf alle Menschen mit versteckter Feindseligkeit reagieren, die abgelehnten inneren Impulse zu leben scheinen.

Ärger entsteht, wenn man wiederholt ungerecht behandelt wird und sich verletzt fühlt, sich aber nicht zutraut, die Verletzung zurückzuweisen. Man wird ärgerlich, weil man glaubt, sich nicht verteidigen zu können. Das Problem des Ärgers entsteht dadurch, dass man nicht handelt, obwohl man handeln müsste. Ärger entsteht so aus zurückgehaltener Wut. Wenn die Hilflosigkeit zum vorherrschenden Gefühl wird, entwickelt sich Ärger bereits bei projektiv erwarteten Verletzungen.

Hass wird meist als die Folge enttäuschter Liebe verstanden. In Wirklichkeit ist sie die Folge davon, dass man seine Wut über enttäuschte Liebe nicht klar genug ausdrücken und den gestörten Kontakt nicht wiederherstellen kann. Die Voraussetzung für die Entstehung von Hass ist, dass man mit Projektionen an den Partner gebunden ist, so dass es unmöglich ist, die Beziehung mit dem dauerhaft sich verweigernden Partner aufzulösen. Hass verbindet sich deshalb regelmäßig mit Selbsthass, der aus der unbewussten Wahrnehmung der eigenen Mängel entsteht. Im Extrem kann sich ein »Hass auf alles Lebendige« (Wilhelm Reich) entwickeln. Wut nimmt dann den Charakter eines blinden Hasses an, der grenzenlos und unansprechbar ist. Hass ist somit hilflose, unproduktiv gewordene Wut.

Diese Beispiele verallgemeinernd kann gesagt werden, dass immer, wenn Emotionen wiederholt und dauerhaft verletzt werden, neue Gefühle entstehen, die helfen sollen, mit dem erlittenen Mangel an Liebe und mit einem Übermaß an Angst fertig zu werden. Wenn z. B. die Wut nicht als eine produktive Kraft der Konfliktbewältigung entwickelt werden kann, wird daraus Gewalt. Wer zu wenig Zuwendung erhält, wird versuchen, sich Anerkennung über ehrgeiziges Leistungsstreben zu holen. Wer wiederholt gedemütigt wird, wird andere Menschen beneiden und überwiegend negativ bewerten. So kann aus Wut Hass, aus Trauer Depression, aus Liebe Eifersucht und damit die ganze verwirrende Vielfalt der menschlichen Gefühle wie z. B. Neid, Feindseligkeit, Ressentiment, Verachtung, Trotz, Rache, Ehrgeiz, Spott u. a. entstehen. Ich schlage vor, diese Gefühle als kompensatorische Gefühle oder Ersatzgefühle zu bezeichnen, da sie nicht von Geburt an existieren, sondern sich erst zu relativ eigenständigen Gefühlen herausbilden, wenn damit Defizite an Liebe ausgeglichen werden sollen. Natürlich kennen auch durchweg liebevoll erzogene Menschen Neid, Ärger und die anderen Ersatzgefühle, aber bei ihnen entwickeln sie sich nicht zu selbständigen Charakterzügen.

Im Gegensatz zur Vielfalt an Ersatzgefühlen gibt es wenige Basisemotionen. Dazu zähle ich Liebe, Freude, Furcht, Wut, Schuld und Trauer. Bei Kleinkindern sind die Basisemotionen noch in reiner Form zu beobachten. Bei den Erwachsenen sind die Basisemotionen von Ersatzgefühlen überdeckt oder völlig ersetzt. Damit hängt wahrscheinlich die Vielfalt der wissenschaftlichen Klassifikationsversuche für die zentralen Emotionen zusammen. Stets gehören zu den Basisemotionen Freude, Wut, Trauer, Angst und Schuld. Meist bleibt aber die Liebe unberücksichtigt.

● Kontaktemotionen

Alle Basisemotionen sind daran orientiert, den Kontakt zu erhalten oder wiederherzustellen; sie sind deshalb reine Kontaktemotionen. So stellen Liebe und Freude den Kontakt her, während Wut und Furcht die Funktion haben, Verletzungen zu vermeiden. Schuld und Trauer haben die Funktion, einen verletzten Kontakt wiederherzustellen. Bei den kompensatorischen Emotionen ist dieser Zusammenhang mit dem Kontaktziel gestört; Sie sollen primär das durch ein Liebesdefizit gestörte innere seelische Gleichgewicht wiederherstellen. Sie können aber das ursprünglich angestrebte Kontaktziel nicht erreichen, weil sie darauf angelegt sind, andere Menschen abzuwehren und auf Distanz zu halten. Ihnen liegt letztlich die Entscheidung zu Grunde, sich damit vor möglichen negativen Folgen eines misslungenen Kontaktes zu schützen. Die kompensatorischen Gefühle versuchen also, die mangelnde Handlungskompetenz auszugleichen, ohne dass dies aber gelingen kann. Die Ersatzgefühle sind deshalb mit ständiger

Tabelle 1: Basisemotionen und Ersatzgefühle

Unruhe verbunden. Das liegt daran, dass sie Variationen der Angst sind. Sie sind misslungene Bewältigungsversuche der Angst. Ressentiment, Rachsucht, Neid, Missgunst, Verzweiflung, Langeweile und Selbstmitleid sind deshalb Gift für die innere Ruhe des Glücks.

Es gibt keine Ersatzgefühle, die nicht mit körperlichen Verspannungen verbunden sind. Denn sie können ihr Ziel, sich aus dem Kontakt zurückzuziehen, nur erreichen, wenn Teile der Motorik verspannt werden, so dass die emotional bedingten Handlungsimpulse blockiert werden können. Das bedeutet, dass sich die Atemmembran verhärtet und an Resonanzfähigkeit verliert. Wie unten dargestellt wird, hat das Rückwirkungen auf den gesamten emotionalen Haushalt.

Alle Ersatzgefühle sind mit der Neigung verbunden, die Verantwortung für das eigene Handeln anderen zuzuschieben. So wird z. B. die Feindseligkeit gegenüber anderen Menschen auf deren negatives Verhalten zurückgeführt. Dementsprechend besteht keine Bereitschaft, die Ersatzgefühle zu reflektieren. Vielmehr wird das eigene Verhalten mit allen nur erdenklichen Tricks verteidigt. Die Wahl von Ersatzgefühlen verlangt nach einer inneren Rechtfertigung.

Offensichtlich kann man mit der Selbstabwertung, die mit den meisten Ersatzgefühlen verbunden ist, nur leben, wenn man ihr einen Sinn geben kann. So kann man sich z. B. als Opfer definieren und damit die Verantwortung auf andere schieben; oder man gibt ihr einen höheren Sinn im Rahmen einer Weltanschauung (Bestrafung für Sünde u. a.). Mit solchen Interpretationen wird das innere Ungleichgewicht stabilisiert. Oft wächst die kognitive Deckschicht so stark an, dass man am Schluss nicht mehr weiß, was man mit bestimmten Handlungen eigentlich ursprünglich erreichen wollte. Es wird vergessen, dass das eigene Verhalten im Grunde nur eine Ersatzfunktion für die unerfüllten Kontaktbedürfnisse darstellt.

Die meisten Ersatzgefühle werden in der Kindheit gebildet und waren nützlich, um sich vor der Angst vor weiterem Liebesverlust zu schützen. Aber außerhalb der Familie sind sie meist dysfunktional. Im Kontakt mit Arbeitskollegen, Liebespartnern oder Freizeitpartnern sind sie sinnlos. Man spürt, dass man der Gefangene seiner emotionalen Reaktionsgewohnheiten ist. Denn die Ersatzgefühle lassen es nicht zu, flexibel mit den Emotionen umzugehen. Man neigt deshalb dazu, alle Gefühle als negativ zu verurteilen, wenn sie die Beziehungen belasten.

Die Unterscheidung zwischen Basisemotionen und kompensatorischen Emotionen ist von zentraler Bedeutung. Sie macht bewusst, dass viele Gefühle, die scheinbar natürlich sind, die Folge von verletzten Basisemotionen sind. Während die verletzten Basisemotionen den Organismus nur kurzfristig aus dem Gleichgewicht bringen, wird das Ungleichgewicht bei den kompensatorischen Gefühlen chronisch. Dadurch wird die Atemmembran in Dauerspannung gehalten, die sich in verschiedenen Folgesymptomen wie Depression, Schlafstörungen, Hyperaktivität, übertrieben starke emotionale Reaktionen, verringerte Stresstoleranz u. Ä., aber auch in psychosomatischen Symptomen wie Bauchschmerzen oder Bluthochdruck äußert15. Auf jeden Fall führt die chronische Verspannung der Atemmembran zu einer Reduzierung des Energieniveaus des Organismus, da die Atmung in ihrer Vitalität eingeschränkt wird. Das Hauptproblem der Ersatzgefühle besteht also darin, dass sie die Vitalität des gesamten Organismus lähmen.

Letztlich weiß man genau, ob das eigene Verhalten von Ersatzgefühlen oder Basisgefühlen bestimmt wird. Wenn das Verhalten zu einem guten Kontakt führt, kann man davon ausgehen, dass es von Basisgefühlen angeleitet wird. Wenn man hingegen im Kontakt mit anderen Menschen Gefühle der Distanz, Fremdheit, Ablehnung oder Neid hat, sind mit Sicherheit Ersatzgefühle im Spiel. Das Problem für die Selbstwahrnehmung ist, dass viele Ersatzgefühle wie z. B. Leistungsstreben, Ehrgeiz, Erfolgsstreben von der Umwelt positiv bewertet werden, so dass es schwierig ist, darin das Ersatzhafte zu erkennen. Wer spüren kann, ob die Gefühle des Gegenübers auf Basisemotionen oder auf Ersatzemotionen basieren, wird sich anders verhalten. Er wird Gefühle der Verachtung, Misstrauen oder Gleichgültigkeit beim anderen genauso ernst nehmen wie die akzeptierenden Gefühle, sie aber nicht persönlich nehmen.

Die Ersatzgefühle stellen kreative Lösungen dar, um mit Defiziten an Liebe und mit nicht zu verarbeitenden Ängsten zurechtzukommen und die eigene Selbstachtung zu bewahren. Wenn man sie als negative Gefühle abwertet, macht man den Fehler des Sisyphos, der die Verantwortung für die eigenen Gefühle den Göttern oder fremden Mächten zugeschoben hatte. Man will nicht wahrhaben, dass man sich selbst für die Gefühle entschieden hat und wird sich dadurch selbst untreu (vgl. S. Error: Reference source not found). Kleinkinder haben das Privileg, glücklich zu sein, weil sie noch vollständig aus ihren Basisgefühlen heraus leben. Erwachsene können das Glück nur zurückfinden, wenn sie den Kontakt zu ihren Basisgefühlen wiederherstellen.

5.2. »Selbstsucht ist der Anfang vom Ende«

»Grober Eigennutz ist das notwendige Resultat armseliger Beschränktheit«. (Novalis)

Das Kernthema aller Religionen und der philosophischen Ethik ist die Kritik an egozentrischem Verhalten. Als egozentrisch gilt das Verhalten, das nicht am Glück aller in der sozialen Gemeinschaft orientiert ist, sondern eigennützige Interessen verfolgt, die regelmäßig auf Kosten des Glücks der anderen gehen. Das egozentrische Denken und Verhalten ist ein Ärgernis und provoziert die philosophische Frage nach den Bedingungen guten Lebens.

Die Philosophen konnten die religiöse Erklärung, dass die egoistischen Menschen von Gott abgefallen seien, nicht mehr übernehmen und erklärten das egozentrische Verhalten damit, dass es ein Mangel an richtiger, am Ganzen orientierter Erkenntnis sei. Egozentrisches Verhalten sei dadurch gekennzeichnet, dass man sich nicht an der Weltordnung, am Logos o. ä. orientiere.

Oft wird behauptet, dass das egoistische Handeln in der Natur des Menschen angelegt sei. So wird z. B. in der sozietären Evolutionsbiologie die These vertreten, dass der Mensch naturbedingt die Fähigkeit hätte, gegen die evolutionär entstandenen Gemeinschaftsregeln zu verstoßen. Er kann lügen, täuschen und heucheln, kann Verrat üben, meucheln, betrügen usw. Dagegen stünde die soziale Kontrolle, die mit Sanktionen das egoistische Handeln im Interesse des Kollektivs einschränken würde. Soziale Moral sei ein Kompromiss aus zwei widerstrebenden Antrieben: der auf der Grundlage der taktischen Täuschung bei Primaten entfalteten Fähigkeit des Menschen zur strategischen Lüge, um seine individuellen Vorteile zu maximieren auf der einen Seite und der auch für menschliche Sozietäten geltenden Gesetzmäßigkeiten des gemeinsamen Handelns auf der anderen Seite16. Deshalb wäre es unabdingbar, den potentiell maximalen Entscheidungs- und Handlungsspielraum des Individuums mit der Androhung von Sanktionen einzuschränken.

Auch die Philosophie hat mit dazu beigetragen, dass der Egoismus als ein Bestandteil der natürlichen Grundausstattung des Menschen angesehen wird. So findet sich z. B. bei Schopenhauer der Satz: »Die Haupt- und Grundtriebfeder im Menschen wie im Tier ist der Egoismus, d. h. der Drang zum Dasein und Wohlsein«. (Schopenhauer 1992, S. 727). Immanuel Kant singt das hohe Lied des Egoismus als die Quelle der Kultur: »Ohne jene, an sich zwar eben nicht liebenswürdige Eigenschaft der Ungeselligkeit, woraus der Widerstand entspringt, den jeder bei seinen selbstsüchtigen Anmaßungen notwendig antreffen muß, würden in einem arkadischen Schäferleben, bei vollkommener Eintracht, Genügsamkeit und Wechselliebe, alle Talente auf ewig in ihren Keimen verborgen bleiben: die Menschen, gutartig wie die Schafe, die sie weiden, würden ihrem Dasein kaum einen größeren Wert verschaffen, als dieses ihr Hausvieh hat; sie würden das Leere der Schöpfung in Ansehung ihres Zwecks, als vernünftige Natur, nicht ausfüllen. Dank sei also der Natur für die Unvertragsamkeit, für die missgünstig wetteifernde Eitelkeit, für die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben, oder auch zum Herrschen! Ohne sie würden alle die vortrefflichen Naturanlagen in der Menschheit ewig unentwickelt schlummern.« (Kant 1993, 178, 37ff. in Kurz, S. 77)

Das kulturelle Dogma des natürlichen Egoismus muss infrage gestellt werden, wenn man begreifen will, was Glück ist. Dabei muss aber klar zwischen Egoismus und Selbsterhaltung unterschieden werden. Die Selbsterhaltung ist ohne Zweifel ein natürlicher Antrieb, aber sie schließt Hilfsbereitschaft und Orientierung am Glück des anderen nicht aus, da das Glück des anderen als wesentlich für die eigene Selbsterhaltung erfahren wird (vgl. S. Error: Reference source not found). Deshalb ist die Behauptung falsch, dass der Egoismus etwas Natürliches sei, weil er auf dem Selbsterhaltungstrieb beruhe. Es muss offensichtlich noch etwas hinzukommen, damit aus dem Selbsterhaltungstrieb Egoismus wird.

Zur Erklärung egozentrischen Verhaltens kann man daran ansetzen, dass alle Ersatzgefühle mit einer Verminderung der Liebesfähigkeit verbunden sind, da sich die Liebe in einem Körper, der aufgrund von Ersatzgefühlen verspannt ist, nicht entfalten kann. Wie oben dargestellt, wird mit den Ersatzgefühlen versucht, mit einem Defizit an Zuwendung und Liebe auf die Weise zurechtzukommen, dass alle Menschen mithilfe von Feindseligkeit, Arroganz, Spott, Geringschätzung u. Ä. auf Distanz gehalten werden. Die innere Verspannung wirkt sich auf den ganzen emotionalen Haushalt negativ aus. Vor allem wird die emotionale Einfühlungsfähigkeit beeinträchtigt, die auf emotionaler Resonanzfähigkeit basiert und die sich einstellt, wenn die Liebe frei artikuliert werden kann. Dadurch gehen Rücksicht auf andere, Mitgefühl, Achtung, Neugierde auf Neues, kreatives Denken u. Ä. verloren. Ebenso wird das Schuldgefühl, also die Fähigkeit, die Folgen des eigenen Handelns für die anderen Menschen zu spüren, beeinträchtigt. Ebenso reduziert sich die Fähigkeit zum Trauern. Auf der anderen Seite entsteht ein übermäßiges Verlangen nach Anerkennung. Die seelische Entwicklung wird so insgesamt gestört. Das Resultat ist egozentrisches Verhalten.

Subjektiv wird die Dominanz egozentrischen Verhaltens an der Neigung gespürt, den Kontakt mit den Menschen zu vermeiden, von denen die Verletzungen ausgegangen sind. Bei stärkeren Verletzungen wird der Rückzug verallgemeinert, so dass man sich von jeder Art sozialen Kontaktes zurückhält. Auch wird der Kontakt mit Menschen vermieden, die glücklicher zu sein scheinen. So können die schmerzlichen Erinnerungen an die eigenen Defizite vermieden werden. Einerseits beneidet man die glücklichen Menschen um ihre größere Emotionalität, andererseits hasst man sie, weil sie die alten seelischen Wunden aufbrechen lassen. Das eigene Unglück führt so zum Hass auf alles Lebendige, wie Wilhelm Reich in seinen Büchern hervorhoben hat.

Kontaktvermeidung bedeutet nicht in jedem Fall Kontaktlosigkeit. Kontaktvermeidung hat den Sinn, den emotionalen Kontakt zu verhindern. Das wird von vielen Menschen dadurch erreicht, dass sie sogar den Kontakt anstreben, dann aber alles versuchen, den Kontakt zu dominieren und nur nach ihren Bedürfnissen zu strukturieren. Hinter der scheinbaren Geselligkeit verbirgt sich die Angst vor einem emotionalen Kontakt mit Einfühlung in die Gefühle und Bedürfnisse des anderen. Deutlicher wird die Kontaktvermeidung, wenn man den Kontakt mit anderen Menschen vermeidet und sich zurückzieht.

Der Rückzug manifestiert sich nicht nur im abnehmenden Interesse für andere Menschen, sondern auch darin, dass der Antrieb erlahmt, sich für die Entfaltung der eigenen Fähigkeiten (z. B. kein Interesse an Hobbys) und für die Ereignisse im öffentlichen Leben einzusetzen. Zu Recht hat Bertrand Russel festgestellt: »Alles Unglück beruht auf irgendeiner Art Zerfall des Ichs... , wenn Ich und Welt nicht durch die Kraft objektiver Interessen und Zuneigungen zusammengeschweißt werden.« (Russel 1977, S. 171) Es wäre aber kurzsichtig, daraus die Empfehlung abzuleiten, der Unglückliche solle sich einen Lebensplan aufstellen und Interessen pflegen. Das Problem des Unglücklichen besteht ja gerade darin, dass er alles vermeidet, was ihn in Kontakt mit dem Außen bringen könnte Interesse an der Welt und die Entwicklung der eigenen Fähigkeiten werden sich spontan wieder einstellen, wenn man keinen Grund mehr hat, sich von der Welt zurückzuziehen.

Das Grundmuster der von Ersatzgefühlen geprägten Menschen ist Rücksichtslosigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber den Bedürfnissen anderer Menschen. Egoismus ist damit die psychische Struktur von Menschen, deren emotionale Resonanzfähigkeit geschwächt oder ganz zerstört worden ist. Egoismus ist demnach nichts Natürliches, sondern das Ergebnis der emotionalen Umorganisation aufgrund von emotionalen Defiziten, Egoismus ist Ausdruck einer verhärteten Atemmembran. Diesen Zusammenhang stellt Novalis in dem eingangs aufgeführten Zitat her, wenn er Eigennutz auf armselige (= arme Seele) Beschränktheit zurückführt.

Das eingeschränkte Einfühlungsvermögen löst eine Kette von weiteren seelischen Veränderungen aus. Die Fähigkeiten, mit Verletzungen und Bedrohungen umzugehen, werden nicht weiter trainiert und tendieren im Gegenteil dazu, verloren zu gehen. Wenn man sich nicht mehr aktiv für seine Bedürfnisse einsetzt, wird verlernt, konstruktiv mit der eigenen Wut umzugehen. Die in konkreten Situationen sich anbietenden Erfahrungsmöglichkeiten werden nicht mehr ausgeschöpft, so dass der Lernprozess im Umgang mit den Emotionen zum Stillstand kommt. Das Gewicht der unerledigten Probleme der Vergangenheit bewirkt, dass man unfähig ist, in der Gegenwart zu leben. der Kontakt mit anderen Menschen vermieden wird, wachsen die Wenn Kontaktängste weiter an und bestätigen sich selbst. Man gerät in einen Teufelskreis, so dass man sich aus Angst vor überfordernden Situationen immer mehr zurückzieht. Was ursprünglich eine gewisse Stärke bedeutete, führt langfristig zur Schwächung. Der Preis des Selbstschutzes ist die behinderte Entwicklung von emotionaler Autonomie, die sich in Selbstverurteilung, Wertlosigkeitsgefühlen und Identitätsmangel äußert.

Die Kontaktvermeidung trübt insgesamt den Blick auf die Wirklichkeit, da dadurch die Sinne, insbesondere die Augen, geschwächt werden. Es werden viele Wahrnehmungen ausgefiltert. Daraus entstehen Unachtsamkeit und Unaufmerksamkeit. »Normalerweise besteht das Böse in Unaufmerksamkeit, im verstohlenen Wegschauen von dem, was wir nebenbei anrichten und in Kauf nehmen.« (Spaemann 1998, S. 190).

Zum egozentrischen Verhalten gehören Schuldgefühle. Sie manifestieren sich als Unzufriedenheit mit sich selbst. Die damit verbundene innere Unruhe führt dazu, dass man aufgrund des Kontrollverlustes ständig Handlungen ausführt, die man selbst verurteilt, weil sie dem eigenen Ichideal widersprechen. Man wird ständig daran erinnert, dass man in seinem Handeln hinter den eigenen Idealvorstellungen zurückbleibt. Tief im Inneren empfindet man Schuld darüber, dass man die Entwicklung der eigenen Fähigkeiten vernachlässigt hat und dass man deswegen andere Menschen vernachlässigt und sie nicht als Subjekt respektiert. Aber auf der bewussten Ebene werden die Folgen der eigenen Unaufmerksamkeit geleugnet. »In allem Bösen steckt eine Unaufrichtigkeit, eine Lüge.« (Spaemann 1998, S. 244) Deshalb hat die Schuld meistens nicht die Kraft, das eigene Verhalten zu korrigieren.

Charakteristisch für das egozentrische Verhalten ist die Scham darüber, dass man nicht Herr im eigenen Haus ist: Man wird von den eigenen Emotionen überwältigt und zu einem Handeln getrieben, das nicht den eigenen Idealvorstellungen entspricht. Man reagiert mit Scham, weil man die Kontrolle über sich verloren hat. Wie oben dargestellt, hängt das zwanghafte Verhalten damit zusammen, dass man entweder versucht, unaufgelöste Traumata zu verarbeiten, oder dass es im eigenen sozialen System eine bestimmte Funktion hat. Das zwanghafte Verhalten hat somit stets einen tieferen Sinn.

Außerdem lassen die blockierten Emotionen ein chronisches Gefühl der Langeweile entstehen, das häufig durch hektische Betriebsamkeit überdeckt wird. »Sie sind nicht unzufrieden, weil sie böse sind, sondern weil die Langeweile, die sie überallhin verfolgt, das Zeichen dafür ist, dass sie nicht die ihnen erreichbare Vollkommenheit entwickeln und dementsprechend in der Art blinder mechanischer Ursachen handeln.« (Alain 1982, S. 215)

Aufgrund der gebrochenen Orientierung an den eigenen Emotionen entsteht eine große Verhaltensunsicherheit. Der Egoist versucht dieses Problem dadurch zu lösen, dass er sich emotional an bestimmte Bezugspersonen bindet. Aber dadurch bleibt das Verhalten gegenüber anderen Menschen weiterhin mit Unsicherheit behaftet. Er kann dieses Problem dadurch lindern, dass er sich mit den gesellschaftlich anerkannten Verhaltensmaximen des Geldes, der Macht, der Leistung und des Ruhmes identifiziert. Diese Verhaltensregeln erlauben es ihm, sich im gesellschaftlichen Raum zu bewegen, auch wenn er den vollen Kontakt mit den eigenen Emotionen aufgegeben hat. Denn er kann den eigenen Vorteil wahrnehmen, ohne sich darum kümmern zu müssen, was er damit anderen Menschen antut. Die Verhaltensregeln geben so eine Ersatzsicherheit, ohne sich dessen bewusst zu sein, dass dafür das Bedürfnis nach Liebe und Zuwendung eingeschränkt wurde.

Im Grunde ist Egoismus die psychische Grundstruktur der individualistischen Gesellschaft. Ein gewisses Maß an Egoismus ist unentbehrlich, damit sich das auf sich selbst gestellte Individuum behaupten kann. Die Schwierigkeit des Begriffs Egoismus besteht darin, dass Egoismus sehr viele Schattierungen annehmen kann. Bei den milden Formen des Egoismus, die durchaus mit verminderter emotionaler Einfühlungsfähigkeit vereinbar sind, spricht man deshalb eigentlich noch nicht von Egoismus. Wer aber Macht über andere Menschen ausübt, muss seinen Egoismus stärker ausbilden und dementsprechend das Einfühlungsvermögen deutlich reduzieren. Erst die Überidentifikation mit den Verhaltensnormen der Leistung und des Geldes tritt als Egoismus in Erscheinung. Man darf aber nicht vergessen, dass das, was als Egoismus gebrandmarkt wird, nur die Extremvariante eines normalen Verhaltens ist.

Die Anpassung an den Lebensstil der herrschenden Gruppen muss mit dem Preis bezahlt werden, dass die innere ethische Selbststeuerung, die darin besteht, dass man sich von seinen Emotionen leiten lässt, eingeschränkt werden muss und an ihre Stelle Fremdsteuerung gesetzt wird (vgl. S. Error: Reference source not found).

Die Selbstdisziplin des Egoisten wird meist als bewusste Überwindung gegenläufiger Antriebe missverstanden. Sie ist in Wirklichkeit keine Leistung, sondern Ausdruck einer unbewusst ablaufenden rigiden emotionalen Kontrolle. Sie erfolgt aus innerem Zwang, aus tiefer Angst heraus. Wenn der Egoist als kontrolliert erscheint, so darf dies also nicht so verstanden werden, als würde dies ein bewusster Vorgang sein. Der Egoismus zeichnet sich gerade dadurch aus, dass die bewusste Kontrolle zum Teil aufgegeben worden ist. Insbesondere sind die Emotionen nicht mehr frei gestaltbar. Denn das zwanghafte Verhalten des Egoisten ist das Ergebnis von unbewusster neurotischer Kontrolle. So ist auch der bewusste Vorsatz des Egoisten, sich zu entspannen, zum Scheitern verurteilt.

Der Glaube, dass das eigene Verhalten aus Freiheit erfolgt, beruht auf einer Selbsttäuschung. Wie im Kap. 7.3 dargestellt wird, kann von Freiheit nur gesprochen werden, wenn es von den Basisemotionen geleitet wird (vgl. S. 174). Gemessen daran ist das egoistische Verhalten unfrei. Das würde bedeuten, dass der gesellschaftliche Trend der Individualisierung tendenziell mit einem Verlust an Freiheit verbunden ist, weil er den Kontakt zu den Basisemotionen erschwert.

Insofern folgt auch das egoistische Verhalten der organismischen Selbststeuerung. Aber die egoistische Selbststeuerung hat ihr Zentrum nicht mehr in den persönlichen Bedürfnissen, sondern in den äußerlich übernommenen Maximen der sozialen Umwelt. An die Stelle einer flexiblen emotionalen Selbststeuerung tritt eine regelhafte und zwanghafte Selbststeuerung. Es ist im Grunde auch ein Zulassen, aber ein Zulassen von Kontaktverweigerung und Fremdbestimmung. Da der permanente Selbstverrat dunkel gespürt wird, ist das egoistische Verhalten sehr instabil und für moralische Vorwürfe ansprechbar. Hinter der blasierten Selbstgefälligkeit verbirgt sich tiefe Unsicherheit.

Es ist wichtig zu erkennen, dass zwar das egozentrische Verhalten in der menschlichen Biologie als Verhaltenspotential angelegt ist, dass es aber erst zu einem kulturellen Massenphänomen wurde, seitdem der größte Teil der Interaktionen durch Abhängigkeit von sozial mächtigen Menschen geprägt wird. Wie oben dargestellt wurde (vgl. S. Error: Reference source not found), geht die Zurückhaltung von Emotionen auf den Druck der herrschenden Gruppen zurück, sich ihren Geboten zu unterwerfen. Der Verhaltensstil der herrschenden Gruppen ist durch die Verhaltensmaximen Geld, Macht, Leistung und Ruhm geprägt und ist zwangsläufig egozentrisch. Denn die herrschenden Gruppen müssen sich gegen das Leiden und Unglück der Unterdrückten immunisieren, um ihre Herrschaft aufrechterhalten zu können. Ohne Gefühllosigkeit hat kein Herrschaftssystem Bestand. Egozentrisches Verhalten ist somit immer ein Symptom sozialer Herrschaft.

Als Ergebnis ist festzuhalten, das egoistische Menschen unglücklich sind, weil sie sich entschieden haben, ihre eigenen Basisemotionen einzuschränken oder ganz aufzugeben. Die Orientierung an äußerlich übernommen Verhaltensnormen kann nie die innere Sicherheit und Ruhe bringen, die mit den Basisemotionen verbunden ist. Vor allem halten sie mit den Ersatzgefühlen andere Menschen auf Distanz. Weil sie den Kontakt zu ihren Emotionen und damit zur einzigen Quelle für das Glück abgeschnitten haben, sind sie unglücklich.

5.3. Das Glück des Unglücks

«Nun schaut der Geist nicht vorwärts, nicht zurück, die Gegenwart allein ist unser Glück» (Goethe, Faust II)
»Es ist nicht schwer, unglücklich zu sein.« (Alain)

Diese Analyse des Egoismus führt zu der Hypothese, dass Egois­mus die psychische Grundstruktur des Unglücklichseins ist. Wenn man zum Schutz vor als bedrohlich erlebten eigenen Emotionen darauf verzichtet, sich an den eigenen Emotionen zu orientieren, geht die Fähigkeit verloren, sich mit anderen Menschen emotional zu verschränken, d. h. ihre Bedürfnisse wahrzunehmen und zu respektieren. Die Missachtung der eigenen Emotionen ist eine partielle innere Selbstabtötung. Da dadurch die Sauerstoffversorgung des Körpers reduziert wird, ist der Begriff Selbstabtötung nicht metaphorisch zu versehen, sondern drückt eine reale Einschränkung der Lebendigkeit aus. Insofern ist zutreffend, wenn man früher sagte, dass die Unglücklichen sich gegen die eigene Natur stellen. Nur müsste deutlich gemacht werden, dass es sich bei der inneren Natur immer um die eigenen Emotionen handelt.

Das bedeutet umgekehrt auch, dass Unglück immer mit Egoismus einhergeht. Auch wenn viele egoistische Menschen es weit von sich weisen würden, dass sie unglücklich sind, zeigt sich bei einer genaueren Analyse, dass sie tief im Inneren doch unglücklich sind. Sie können es sich selbst gegenüber nicht zugeben, um die kleine Sicherheit, die sie durch ihre Kompensationen des Unglücks durch das Streben nach Anerkennung oder Macht erreichen, nicht zu gefährden.

Das Unglück ist somit eine Mischung aus muskulärer Verspanntheit und Schuld- und Schamgefühlen. Es ist Ausdruck einer seelischen Grundverfassung, die von Kontaktvermeidung geprägt ist. Es ist ein Symptom verminderter Lebendigkeit und damit auch Lebenstüchtigkeit. Da man sich mehr oder minder bewusst für den Rückzug entschieden hat und an dieser Entscheidung festhält, kann man sagen, dass man sich selbst für das Unglück entschieden hat. Letztlich sind die Menschen unglücklich, weil sie den Kontakt zu ihren Emotionen abgeschnitten haben. Da die Emotionen die einzige Quelle des Glücks sind, haben sie sich damit gegen das Glück entschieden.

Nach den bisherigen Überlegungen kann das Unglücklichsein als ein Versuch verstanden werden, unter Lebensbedingungen, in denen man seine Emotionen nicht zeigen darf, dennoch so glücklich zu leben, wie es gerade noch möglich ist. Unglücklichsein scheint immer noch erträglicher zu sein, als direkt einer Bedrohung des Kontakts ausgesetzt zu sein, der man nicht gewachsen ist. Unglück scheint deshalb eine selbst gewählte Form reduzierten Glücks zu sein.

Es wird jetzt klar, warum Unglück identisch ist mit der Unfähigkeit, in der Gegenwart zu leben. Das Gewicht der seelischen Verletzungen ist so groß, dass sich der Unglückliche nicht voll der Gegenwart öffnen kann. Bei allem, womit man sich gerade beschäftigt, läuft im Hintergrund des Bewusstseins ein intensiver innerer Dialog ab, der durch die Angst vor der Wiederholung von Verletzungen angestoßen wird. Dadurch wird verhindert, dass man sich voll und ganz auf die im Augenblick anstehende Aufgabe konzentrieren kann. Die Emotionen sind zu verletzt, als dass ein Kontakt zustande kommen könnte. Denn wie oben dargestellt wurde, gelingt Kontakt nur mithilfe von relativ unbeschädigten Basisemotionen. Insofern ist der oben zitierte Spruch von Johann W. Goethe, dass die Gegenwart die Quelle des Glücks sei, nicht ganz richtig. Er müsste richtigerweise lauten: »Die Emotionen sind die Quelle unseres Glücks.«

Es ist erstaunlich, wie viele persönliche Strategien es gibt, mit denen die Verletzungen durch zu wenig Zuwendung so gut bewältigt werden können, dass das Gefühl des Unglücklichseins in den Hintergrund des Bewusstseins gedrängt wird. Das Unglück kann damit zum großen Teil kompensiert werden. Das Unglück verflüchtigt sich in diffuse Missstimmung oder macht sich nur an partikularen Symptomen wie Kopfschmerzen, Tics u. Ä. fest. Angesichts der Gratifikationen, die man sich mit den kompensatorischen Strategien verschaffen kann, geht das Bewusstsein für die Ursachen des Unglücks verloren.

Es gehört zur Dynamik des Unglücks, dass es unbewusst an andere Menschen weitergegeben wird. Der Unglückliche verhält sich regelmäßig so, dass die anderen Menschen in sein Unglück hineingezogen werden, weil er sich über deren Bedürfnisse hinwegsetzt. Zur Abwehr der von den Unglücklichen ausgehenden emotionalen Übergriffe muss man sich selbst körperlich verspannen und beeinträchtigt dadurch sein eigenes Glück. Man kann deshalb das eingangs erwähnte Epikur-Zitat auch in eine negative Lesart umformen: »Wer unglücklich ist, wird auch andere unglücklich machen.« Das natürliche Interesse am Glück der anderen wandelt sich so bei verletzten Menschen in ein tiefes und unbewusstes Interesse am Unglück der anderen um (vgl. S. Error: Reference source not found). Die anderen Menschen können sich umso weniger dagegen wehren, je mehr sie selbst unter seelischen Verletzungen leiden. Im Folgenden sollen einige Strategien herausgearbeitet werden, mit denen das eigene Unglück an andere weitergegeben wird.

 Streben nach Anerkennung durch Leistung

Menschen, die in ihrer Kindheit wenig Nähe und Zuwendung erfahren haben, zeichnen sich häufig dadurch aus, dass sie sich intensiv um Anerkennung durch überdurchschnittliche Leistungen bemühen. Die Leistung wird ständig gesteigert, weil die erreichte Anerkennung nie das bringt, was man eigentlich damit erhofft hatte. Das große Verlangen nach Ruhm, Ehre und Anerkennung ist unersättlich, da diese Formen der Bestätigung nie die eigentlich angestrebte Zuwendung ersetzen können. Subjektiv wird die Unzufriedenheit darauf zurückgeführt, dass die Leistung noch nicht vollkommen genug ist.

Der Nachteil dieses Kompensationsmechanismus besteht darin, dass er grenzenlos ist. Ihm liegt ein Maßstab zu Grunde, der gefühllos dafür macht, was vernachlässigt oder aufgegeben wurde. Es geht die Sensibilität für die Auswirkungen der Mittel verloren, mit der das Leistungsziel angestrebt wird. Die Folgen können von Unachtsamkeit und Unhöflichkeit bis zu Unehrlichkeit und Betrug reichen. So kann mit dem an sich positiven Streben nach Anerkennung Unglück bei anderen Menschen hervorgerufen werden.

 Streben nach Macht

Aus der Analyse von machtsüchtigen Menschen ist bekannt, dass sie versuchen, ein tiefes Gefühl von Ohnmacht zu kompensieren. Ähnlich wie bei der Strategie der Anerkennung ist auch das Machtstreben grenzenlos. Allerdings ist bei ihm von vornherein die Verletzung der Bedürfnisse anderer ein Teil der Strategie. Dabei kann aber die Machtausübung so subtil sein, dass sie auf den ersten Blick gar nicht sichtbar ist, wie dies z. B. bei der Fachautorität oder der Beredsamkeit der Fall ist. Am Mechanismus der Macht wird deutlich, dass Menschen, die durch Gewalt gedemütigt wurden, dazu neigen, jede Beziehung zu anderen Menschen ausschließlich in der Perspektive von Macht und Ohnmacht zu sehen. Man könnte den Eindruck haben, dass sie sich für die erlittene Macht rächen wollen, aber wahrscheinlich ist es eher so, dass ihre dominante Interaktionserfahrung nicht Liebe und Anerkennung, sondern Macht war, so dass sie dazu neigen, alle Beziehungen nach dem Muster von Macht und Unterordnung zu strukturieren. Nur bei Anwendung von Gewalt können sie sicher sein, dass sie beachtet und ernst genommen werden.

 Rebellion

Bei Menschen, die ständig gegen erlittenes Unrecht ankämpfen oder sich für das Unrecht anderer einsetzen, lässt sich beobachten, dass ihr Widerstand gegen Verletzungen ihrer Bedürfnisse in der Kindheit mit Gewalt gebrochen wurde. Dieses Trauma führt dazu, dass sie ständig Situationen aufsuchen, in denen ihr altes Trauma erneut bearbeitet werden kann. Unter diesem inneren Zwang werden die eigenen Bedürfnisse und die Bedürfnisse der anderen, für die man sich einsetzt, vernachlässigt.

 Verbalisierung/ Schweigen

Viele Menschen lassen mit hoch entwickelter Beredsamkeit ihr Gegenüber kaum zu Wort kommen. Auch wenn sie von scheinbar privaten Dingen reden, hat der permanente Redefluss die Aufgabe, Fragen des Gegenübers abzuwehren, die alte Verletzungen berühren könnten. Mit dem Reden können sie ihre eigenen Emotionen abwehren und brauchen ihre Verletzbarkeit nicht zu zeigen. Solange sie reden, haben sie die Kontrolle über die Situation. Damit missachten sie aber zwangsläufig die Bedürfnisse des anderen.

 Sucht

Mit der emotionalen Kontrolle geht häufig süchtiges Verhalten einher. Sucht kann das Verhalten in kritischen Situationen stabilisieren, weil es von den ungelösten Problemen ablenkt und dem Leben einen scheinbaren Sinn gibt. Süchtiges Verhalten wird häufig als leidenschaftliches oder ehrgeiziges Verhalten verbrämt. Dies ändert aber nichts daran, dass sich das Verhalten des Süchtigen der bewussten Kontrolle entzieht. Die Aktivitäten stehen nicht mehr im Dienst der physiologischen und der von Basisemotionen bestimmten seelischen Bedürfnisse, sondern verfolgen Ziele, deren man sich selten bewusst ist. Insgeheim hoffen die Süchtigen, dass sie ihr wahres Ziel, Liebe zu finden, noch erreichen können. Wenn diese Hoffnung zusammenbricht, kann die Sucht in somatische Erkrankungen umkippen.

Die Fixierung auf die Bedürfnisse, die sich aus der Sucht ergeben, führt zu einer intensiven Beschäftigung mit den eigenen Impulsen, so dass kein Spielraum bleibt, die Bedürfnisse der anderen Menschen zur Kenntnis zu nehmen. In der Regel werden sie auch deshalb nicht beachtet, weil sie meist im Konflikt mit den eigenen Bedürfnissen stehen. Das Desinteresse am anderen führt zwangsläufig dazu, dass deren Bedürfnisse verletzt werden, so dass dadurch eine Dynamik entsteht, die Böses erzeugt.

Mit solchen Mechanismen verbreiten unglückliche Menschen um sich herum Unglück. Obwohl sie eigentlich das Gute wollen, erreichen sie bloß das Böse. Das Böse entsteht, weil sie auf verkehrte Weise nach der Liebe suchen. Das Böse ist demnach nicht in der Natur des Menschen begründet, sondern eine Folgewirkung chronischen Unglücks. Es entsteht durch die Verletzung des natürlichen Verlangens nach Zuwendung und Anerkennung. Wenn die herrschende Moral zielloses Leistungsstreben und rücksichtslose Machtausübung positiv besetzt, werden solche Strategien zu einer dauerhaften Charakterstruktur umgeformt. Es ist deshalb äußerst schwierig, solchen Menschen verständlich zu machen, dass ihr diffuses Unbehagen damit zusammenhängt, dass sie ihre seelischen Verletzungen relativ erfolgreich kompensiert haben und dass diese Strategien aber letztlich keinen Erfolg bringen können. Mit zunehmendem Alter spüren viele Menschen die Vergeblichkeit ihrer Bemühungen, so dass dann Verzweiflung durchbricht. Wahrscheinlich muss die Erfolglosigkeit dieses Strebens in einer persönlichen Krise deutlich erfahren werden, damit die kompensatorischen Strategien aufgeben werden und man sich mit Trauerarbeit den Wurzeln des Problems zuwendet. Eine solche Krise kann z. B. eine körperliche Krankheit sein.

5.4. Warum ist der Glückliche weniger krank?

»Alles, was Nähe fördert, führt zu mehr Glück und Heilung.« (Dean Ornish)
«Aber gegen Krankheit ist Glück die beste Waffe» (Alain)

Zwischen chronischem Unglück und Krankheit besteht ein fließender Übergang. Alle emotionalen Entscheidungen, die zum Unglücklichsein führen, stellen auch eine mögliche Ursache für Krankheiten dar. Dieser Zusammenhang wird von den Erfahrungen der psychosomatischen Medizin bestätigt, aber bisher gibt es keine rational nachvollziehbare Theorie, warum seelisches Unglück zu somatischen Erkrankungen führt. In meinem Buch »Psychosomatik des Atems« habe ich die These vorgeschlagen, dass die emotional bedingten Verspannungen der Atemmembran direkt oder indirekt zu Krankheiten führen können, weil sie tief in die physiologischen Prozesse eingreifen. So führen Verspannungen zu einer blockierten inneren Kommunikation, zu Sauerstoffdefiziten und beeinträchtigter Funktionsweise der inneren Organe, insbesondere zu einem geschwächten Blutkreislauf. Mit diesem Ansatz können Krankheiten unmittelbar aus einer gestörten Atmung abgeleitet werden und kann der Rückgriff auf metaphorische Konzepte wie die »Sprache der Organe« oder »die Sprache der Symptome« vermieden werden.

Im Gegensatz zur gängigen Lehrmeinung sind Krankheiten weder ein zufälliges Ereignis noch eine vom »Selbst« herbeigewünschte Funktionsstörung, um damit belastende Konflikte zu lösen. Vielmehr können die meisten Krankheiten, die nicht auf Unfälle oder auf eingenommene Gifte und Erreger zurückzuführen sind, als die unbeabsichtigte Nebenfolge von emotionalen Rückzugsreaktionen verstanden werden, die aufgrund der mit ihnen verbundenen muskulären Unter- oder Überspannungen zu Funktionsstörungen führen können. Fast immer ist im Hintergrund das Gefühl der Resignation zu finden, das mit Vorstellungen der Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit und mit der Verzweiflung, dass man nicht mehr zum ersehnten Kontakt zurückfinden wird, verbunden ist. Resignation bedeutet, dass man darauf verzichtet hat, sich für seine eigenen Bedürfnisse einzusetzen, weil man überzeugt ist, dass man dafür nicht genügend Kraft hat.

Die Krankheit wird auf einer tiefen Ebene vom Organismus angenommen, da sie ein inhärenter Bestandteil der Rückzugsreaktion ist. Die dadurch erreichbare größere Zuwendung ist nur ein oberflächlicher Krankheitsgewinn, der meistens nicht unmittelbar intendiert wird. Zugleich erfährt man an der Krankheit sehr schmerzhaft den Verlust der eigenen Autonomie. Im Bewusstsein der eigenen Schwäche schwingt die Angst vor dem sich möglicherweise ankündigenden Tod mit. Daraus erklärt sich die ambivalente Erfahrung von Krankheit, die einerseits akzeptiert und andererseits abgelehnt wird.

Der Zusammenhang von verletzten Emotionen und Krankheit wird verständlicher, wenn man sich das Atemmuster der Resignation vergegenwärtigt. Wenn man davon ausgeht, dass die Verspannungen, die mit dem Gefühl des Unglücklichseins verbunden sind, sehr vielfältig sein können, ist es klar, dass das Unglück kein eigenes Atemmuster haben kann. Aber längeres Unglücklichsein tendiert doch zu einem charakteristischen Atemmuster, dem Atemmuster der Resignation. Das Atemmuster der Resignation wird durch eine kurze, schwache Einatmung und durch eine längere, aber kraftlose Ausatmung charakterisiert. Das Zwerchfell weist nur wenig Bewegung auf. Ebenso bewegt sich der Brustkorb kaum. Im Bauchraum sind nur schwache Atembewegungen zu beobachten. Die reduzierte Atmung ist nicht nur auf das schwache Zwerchfell, sondern auf die erschlafften Muskeln in der Wirbelsäule, im Bauchraum und im Beckenboden zurückzuführen. Denn die Erfahrung zeigt, dass die Muskeln erschlaffen, wenn sie nicht mehr für das Handeln und den emotionalen Ausdruck benötigt werden. Wenn die Atmung dauerhaft erschlafft, entstehen daraus aufgrund des chronischen Sauerstoffdefizits und der unzureichenden Bewegtheit des Organismus zwangsläufig weitreichende körperliche Folgen.

Die Vorstufe des resignativen Atemmusters ist das symbiotische Atemmuster, das sich daraus ergibt, dass sich unglückliche Menschen regelmäßig in die emotionale Abhängigkeit von anderen Menschen begeben und ihre eigenen Emotionen zurückstellen. Damit unterwirft man sich unbewusst deren Atemrhythmus. Der eigene Atem wird kraftlos, weil er von der Klammer der zurückgehaltenen Emotionen eingeengt wird. Das Zwerchfell verspannt sich aufgrund der Angst vor Liebesverlust und verliert dadurch an Elastizität und Spannkraft. In Krisen hat es zu wenige Kraftreserven, so dass die Gefahr eines depressiven Zusammenbruchs oder einer psychosomatischen Erkrankung relativ groß ist.

Diesem Krankheitsverständnis entspricht ein Verständnis von Heilung, das primär an der Heilung von seelischen Verletzungen ansetzt. Die Heilung setzt voraus, dass gelernt wird, mit psychosozialen Spannungen kreativer und konstruktiver umzugehen. Deshalb kommen alle Maßnahmen, die der Heilung dienen, auch den Bedingungen des Glücks zu Gute. Wer für die nachhaltige Heilung seiner Krankheiten sorgt, bereitet auch den Boden für sein Glück vor. Daraus folgt, dass die individuellen Heilungskompetenzen identisch mit den Kompetenzen für das Glücklichsein sind.

Es wird allgemein angenommen, dass Gesundheit eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für das Glücklichsein sei. Wer sich gesund fühlt, muss also noch lange nicht glücklich sein, aber ohne Gesundheit gibt es kein volles Glück. Diese Auffassung hängt einerseits damit zusammen, dass Gesundheit meistens nur als körperliches Geschehen definiert wird und zudem die Anforderungen an das körperliche Wohlbefinden bescheiden sind. Andererseits wird Glück als eine rein seelische Angelegenheit begriffen. Die Einschränkung der Gesundheit auf das Körperliche vernachlässigt den wichtigen Aspekt, dass alle seelischen Probleme von körperlichen Veränderungen begleitet sind, so dass es eine rein körperliche Gesundheit nicht geben kann. Volle körperliche Gesundheit setzt voraus, dass auch seelische Gesundheit vorhanden ist.

Aus diesen Gründen ist Glück nicht bloß auf Gesundheit angewiesen, vielmehr ist sie selbst die wichtigste Ressource für die Gesundheit. Glück schafft optimale Bedingungen für die Krankheitsprophylaxe, da damit chronische Verspannungen als Entstehungsbedingung einer Erkrankung vermieden werden. Wer glücklich ist, wird auch mit unvermeidlichen Erkrankungen besser fertig, weil damit der Heilungsprozess gefördert wird. Schließlich wird er sich den »Seelenfrieden« auch nicht durch chronische Erkrankungen verdrießen lassen.

Aus diesen Überlegungen folgt ein neues Verständnis des Unglücks. In der Regel wird es als eine rein seelische Verletzung begriffen. Demgemäß wird angenommen, dass es mehr oder weniger eine Sache der Einbildung sei und dass man es mit richtigem Denken überwinden könne. Unglück muss aber als eine ernsthafte Krankheit des ganzen Körpers anerkannt werden, das genau so viel Beachtung wie körperliche Krankheiten braucht. Vor allem verlangt es die liebevolle Unterstützung durch das soziale Umfeld. Für den Betroffenen wäre schon viel gewonnen, wenn das Unglück nicht mehr als etwas Negatives, sondern als ein positives Signal gesehen würde, das verlangt, danach zu fragen, welche Aufgaben zur Überwindung der Trauer erledigt werden müssen, dass also jedes Unglücklichsein als ein Signal wahrgenommen wird, dass Veränderungen anstehen.

6. Die emotionalen Selbstheilungskräfte

»Wenn der Atem geht, werden alle Dinge des Lebens leicht.« (Zen)

Wenn Unglücklichsein dadurch entsteht, dass man sich dafür entscheidet, bestimmte Emotionen zurückzuhalten, dann wird Heilung darin bestehen, dass diese Entscheidung rückgängig gemacht wird. Weil die Heilung eine Entscheidung voraussetzt, kann Stephen Levine sagen, dass Heilung nie weiter von uns entfernt ist als der nächste Atemzug (Levine, Stephen 1992 S. 206). In diesem Sinne verstehe ich auch den oben bereits zitierten Spruch von Dostojewski, dass die Menschen unglücklich sind, weil sie nicht wissen, dass sie glücklich sind.

Im esoterischen Denken ist es selbstverständlich, dass Heilung immer ein ganzheitlicher, auch die seelischen Aspekte einbeziehender Prozess ist. So wird Heilung darin gesehen, dass die Übereinstimmung mit sich selbst oder der Einklang mit dem eigenen Wesen wiederhergestellt wird, oder dass man mit sich ins Reine kommt. Andere Definitionen fordern, dass Verhaftungen und Verklammerungen an Gedanken und Emotionen aufgelöst werden, eine innere Zwietracht überwunden wird oder man zur »inneren Wahrheit« findet. Heilung wird davon abhängig gemacht, dass man die Abwehrhaltung gegen die Krankheit aufgibt und sich mit dem Teil konfrontiert, der Getrenntsein, Isolierung und Schmerz aufrechterhalten will. Heilung wird immer also als ein ganzheitlicher Prozess der inneren seelischen Erneuerung verstanden. Als Voraussetzung dafür wird angeführt, dass man wieder mehr »auf seine Seele hört«, dass man »der Natur gemäß« handelt und seine Kompetenzen vervollkommnet.

Der gemeinsame Nenner aller erwähnten Definitionen der Heilung besteht darin, dass Heilung primär ein geistiger Prozess ist. Es wird angenommen, dass der Anstoß zur Heilung vom Geist bzw. vom Denken ausgeht. Dies ist ein Missverständnis des Heilungsprozesses. Es konnte entstehen, da der Heilungsprozess immer von Gedanken begleitet wurde und deshalb das Sichentscheiden als ein geistiger Prozess begriffen wurde. Aber Sichentscheiden ist in Wirklichkeit eine emotionale Angelegenheit. Der eigentliche Anstoß geht von einer veränderten Konstellation der Emotionen aus. So wurde z.B. der Schmerz eines Verlustes durch Trauern verarbeitet oder die Erfahrung von Liebe gibt die innere Kraft, die Angst zu überwinden. Diese These ergibt sich aus den oben angestellten Überlegungen, dass das Unglück durch ein emotionales Ungleichgewicht aufgrund von übermäßiger Angst entstanden ist. Was durch Emotionen verletzt worden ist, kann nur durch Emotionen wieder geheilt werden.

Aufgrund der heilenden Wirkung der Emotionen kann auch von emotionalen Selbstheilungskräften gesprochen werden. Zu den emotionalen Selbstheilungskräften zählen in erster Linie die Trauer und die Liebe, aber auch das Schuldgefühl. Diese drei Emotionen setzen bei einer seelischen Verletzung innere Prozesse in Gang, um das gestörte Gleichgewicht und die innere Ruhe und damit die Grundlagen des Glücks wiederherzustellen. Lachen und Wut zähle ich nicht zu den direkten emotionalen Selbstheilungskräften, da ihre Funktion darin besteht, in Spannungssituationen die Entstehung von seelischen Verletzungen zu vermeiden. Aber im Grunde wirken sie auch helfend für das Glücks.

In der abendländischen Geschichte ist das Vertrauen in die eigenen emotionalen Selbstheilungskräfte untergraben worden. Dazu haben die Glorifizierung des Denkens und die Individualisierung des Selbstverständnisses beigetragen. Es ist das Bewusstsein verloren gegangen, dass sich die emotionalen Selbstheilungskräfte nur unter bestimmten sozialen Voraussetzungen entfalten können.

6.1. Glück braucht Trauerarbeit

»Willig tun, was man kann und willig leiden, was man muss.« (Arthur Schopenhauer)
»Die Trauer ist das heilende Gefühl.« (John Bradshaw)

Die Geschichte des Odysseus beginnt bekanntlich damit, dass er sein Schiff und seine Mannschaft in einem Sturm verloren hatte und sich allein auf die Insel der Göttin Calypso retten konnte. Calypso bietet ihm an, ihr Mann zu werden. Damit würde er selbst göttlich werden und an der göttlichen Glückseligkeit teilhaben. Odysseus lehnte dieses verlockende Angebot ab. Er zieht es vor, in seine Heimat und zu seiner Frau Penelope zu ziehen, kann sich aber nicht der Göttin entziehen, weil er keine Mittel hat, um über das Meer in die Heimat zu gelangen.

Odysseus saß am Gestade des Meers und weinte beständig.

Ach! in Tränen verrann sein süßes Leben, voll Sehnsucht

Heimzukehren: denn lange nicht mehr gefiel ihm die Nymphe:

Sondern er ruhte des Nachts in ihrer gewölbeten Grotte

Ohne Liebe bei ihr; ihn zwang die liebende Göttin.

Aber des Tages saß er auf Felsen und sandigen Hügeln

Und zerquälte sein Herz mit Weinen und Seufzen und Jammern.

(Homer, V. Gesang, Zeile 151)

Odysseus trauerte nahezu sieben Jahre lang, bis Gott Zeus der Calypso durch den Götterboten Hermes den Befehl gab, Odysseus zu entlassen und ihn dabei zu unterstützen, dass er die Heimfahrt antreten kann. Diese überraschende Wendung der Geschichte bedeutet, dass die Trauer ein unkontrollierbarer Prozess ist, der letztlich nur durch das Eingreifen äußerer Mächte zu Ende gebracht werden kann. Er ist als Sterblicher gegenüber der Gewalt der Göttin hilflos, so dass ihm nur die Trauer bleibt. Im Gegensatz zu der früheren länger währenden Liebesbeziehung mit der Göttin Circe konnte er sich nicht auf eine Beziehung mit der Göttin Calypso einlassen, weil er von ihr nicht als ebenbürtiger Partner akzeptiert wurde. Letztlich trauerte Odysseus um den Verlust seiner Autonomie. Er musste solange in der Trauer verharren, bis sich neue Lebensmöglichkeiten zeigten.

Trauern setzt voraus, dass die Realität des Verlustes akzeptiert wird. Das bedeutet, dass man die Kraft hat, den Verlust anzunehmen, ohne die Schuld für die Trauer der Person zuzuschieben, um die man trauert, oder sie anonymen Mächten wie dem Schicksal oder dem Teufel anzulasten. Trauern heißt, dass akzeptiert wird, dann man künftig ohne das Verlorene leben muss.

Trauerarbeit ist aber mehr, als nur den Verlust zu akzeptieren, wie es oft dargestellt wird. Der Verlust bedeutet, dass die bisherige emotionale Balance, die man zwischen den eigenen Bedürfnissen und den Erwartungen der anderen Menschen aufgebaut hat, mehr oder minder zusammengebrochen ist. Da das Leben seine bisherige Struktur verloren hat, muss es neu organisiert werden. Denn man hatte sich bei der Bindung an eine andere Person dafür entschieden, ihr bestimmte Aktivitäten wie z. B. die Organisation von sozialen Kontakten oder die Initiative für den Gesprächsstoff zu überlassen. Dadurch hatte man auf einen Teil der eigenen Autonomie verzichtet. Die Trauer fordert dazu auf, die dadurch entstandenen Lücken zu schließen. Das bedeutet, dass man neue Vorstellungen und Fähigkeiten entwickeln muss. Auch wenn enttäuschte Hoffnungen betrauert werden, entsteht ein Vakuum, das durch neue Vorstellungen aufgefüllt werden muss. Die Narben der Verletzung können verheilen, wenn die Autonomie zurückgewonnen ist. Die Trauer hat überwunden, wer sich mit Dankbarkeit an das Verlorene erinnern kann.

Da jedes emotionale Gewohnheitsmuster die Entwicklung von bestimmten Fähigkeiten behindert, ist das Bewusstsein, dass man sich bisher von Gewohnheitsmustern leiten ließ, meist mit Gefühlen der Trauer verbunden. Jedes Gefühl der Schwäche und jede Angst zu versagen lösen Trauer aus. Wenn das Trauergefühl zugelassen werden kann, stellt es Kräfte zur Verfügung, sich für die Stärkung der eigenen Fähigkeiten einzusetzen. Die Trauer überwindet den Widerstand gegen Veränderungen und aktiviert einen intensiven Prozess des Nachdenkens, der am Ende zu neuen angepassteren Verhaltensmustern führt.

Wahrscheinlich gibt es kein Unglück, das nicht mit Trauerverbunden ist. Denn jedes Unglück ist mit Verlusten verbunden. Für das seelische Innenleben ann der Verlust von Erwartungen, Fähigkeiten, Hoffnungen oder Chancen genauso bedeutsam sein wie der Verlust von Personen, von körperlicher Unversehrtheit oder von Dingen. Unglück und Leiden fordern deshalb immer zur Trauerarbeit auf. Auch die Einsicht, dass man bestimmte Fähigkeiten nicht entwickelt hat und dass man es versäumt hat, bestimmte Chancen wahrzunehmen, kann Anlass zum Trauern sein.

Sehr wichtig ist die Trauerarbeit gegenüber gehassten Menschen. Jetzt steht die Aufgabe an, die negativen Identifikationen, die für die Abwehr des gehassten Menschen entwickelt wurden, aufzulösen. Denn die Entscheidungen, die ihm zuliebe oder zum Trotz und nicht aus den eigenen Bedürfnissen heraus getroffen worden sind, verlieren ihren Sinn. Die scheinbare Gefasstheit, vielleicht sogar die Erleichterung beim Tod von gehassten Menschen täuscht über die tiefe Unruhe hinweg, die der Tod ausgelöst hat. Der negativ Identifizierte verbleibt in der Phase der Lähmung, wenn er nicht die durch den Tod ausgebrochene Unruhe in der eigenen Lebensorientierung aktiv bewältigt.

Die Trauer ist ein sehr schmerzhaftes Gefühl. Oft schwingt dabei auch die Angst vor dem eigenen Tod mit. Deshalb ist die Neigung sehr stark, dem Trauerschmerz auszuweichen und die Trauer zu verdrängen. Meist wird die Trauer mit Wut, Aggression, Schuldzuweisung oder Selbstmitleid zugedeckt. Es ist die Aufgabe des sozialen Umfeldes, dem Trauernden so viel Zuwendung und Schutz zu geben, dass er sich der Trauerreaktion überlassen kann und nicht in Ersatzgefühle ausweicht. Wahrscheinlich ist die inhaltliche Seite der Aufmunterungen und Zuwendung gar nicht so wichtig. Vorrangig ist, dass das Unglück von den Mitmenschen akzeptiert wird und der Trauernde einen Raum vorfindet, in dem er seinen Schmerz über den Verlust artikulieren kann. Die Analyse von Trauerritualen älterer, stammesmäßig organisierter Völker zeigt, dass die Gemeinschaft ihre Verantwortung begriffen hatte, dass sie den Trauernden bei dem Weg über die Trauer hinweg aktiv unterstützen muss17.

Die liebevolle Zuwendung kann auch den Absturz in die Resignation vermeiden. Wenn der Schmerz zu stark ist, wird oft das Vertrauen aufgegeben, mit dem Unglück fertig zu werden. In der Resignation wird das Unglück chronisch, weil es sich zur Charakterstruktur verhärtet. Liebevolle Zuwendung ist auch erforderlich, um die Neigung abzufangen, mit der Trauer allein fertig werden zu wollen. Dies wird in der Regel mit chronischen Verspannungen bezahlt, die das Glücklichsein erschweren, wenn nicht sogar ganz ausschließen. Denn wenn der Organismus keine Chancen sieht, die Vorstellungen aufzulösen und der neuen Situation anzupassen, werden sie mit Wut und Schuldvorwürfen gegenüber denjenigen verbunden, von denen das Unglück angeblich ausgeht (Personen, Schicksal u. Ä.). Das bedeutet, dass überholte Vorstellungen fixiert werden und die Bereitschaft, sie zu verändern, aufgegeben wird. Unverarbeitete Trauer ist deshalb immer mit chronischer muskulärer Verpanzerung verbunden.

Trauerarbeit setzt eine gewisse seelische Stärke voraus. Wenn bei einem Verlust die eigenen Bearbeitungskompetenzen überfordert werden, müssen die fehlenden Kräfte gleichsam von anderen Menschen ausgeliehen werden. Daraus ergibt sich eine Verantwortung der sozialen Gemeinschaft gegenüber ihren trauernden Mitgliedern. Deshalb nimmt an den Trauerritualen älterer Völker immer das nähere Umfeld des Trauernden teil. Es ist bemerkenswert, dass in der hebräischen Sprache »trösten« mit dem Ausdruck »jemanden zum Aufatmen verhelfen« umschrieben wurde18. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass es beim Trost letztlich darum geht, dass sich der schwere Atem des Trauernden beruhigt, so dass er wieder frei durchatmen kann. Auch wird hervorhoben, dass der Trost von anderen Menschen kommen muss.

Der Trauerprozess hat also die doppelte Aufgabe, den Verlust zu verkraften und das Leben neu zu formieren. Dies spiegelt sich in den Eigentümlichkeiten des Atemmusters der Trauer. Die Trauer zeichnet sich durch unregelmäßige Atemstöße in der Einatmung aus. Dabei überwiegt die Einatmung gegenüber der Ausatmung. Die Atmung weist eine erhöhte Amplitude bei etwas verringerter Frequenz auf und es fehlt die Atempause. Es ist ein Charakteristikum der Trauer, dass die Stimme mit eingesetzt wird. Infolge des krampfartigen Zusammenziehens von Kehlkopf und Zwerchfell kommt es häufig zum Schluchzen. Beim Schluchzen wird nicht nur ausgiebig und verlängert ausgeatmet, sondern reaktiv darauf auch tief eingeatmet. Diese Atemreaktion der Trauer kann sich nur entfalten, wenn Einatmung und Ausatmung nicht durch Ängste blockiert werden.

Wahrscheinlich ist die heilende Wirkung der Trauer darauf zurückzuführen, dass das Schluchzen den ganzen Körper in Erschütterung versetzt, so dass sich die verhärteten Verspannungen lösen und damit der Boden bereitet wird, dass sich neue Vorstellungen und Reaktionsmuster bilden können. Deshalb wird empfohlen, dem Gefühl der Trauer im Ausatem Platz zu geben. Es kann durchaus nützlich sein, wenn das Schluchzen simuliert wird, um dadurch den natürlichen Heilungsmechanismus des Schluchzens zu aktivieren. Für diese Interpretation spricht die Beobachtung, dass Tiere nach überstandenen bedrohlichen Situationen längere Zeit zittern und sich schütteln, bevor sie in ihren normalen Zustand zurückkehren. Das Zittern hat wahrscheinlich den Sinn, dass dadurch die hohe muskuläre Anspannung, die die Bedrohungssituation im ganzen Körper ausgelöst hat und die die Atmung belastet, aufgelöst wird. Es hat damit eine ähnliche Funktion wie das Schluchzen.

Der bei den Tieren beobachtbare physiologische Befreiungsmechanismus des Zitterns gilt ohne Zweifel auch für die Menschen. So wird das Zittern von einigen körpertherapeutischen Schulen gezielt eingesetzt. Man kann auch an sich selbst beobachten, dass das Zittern manchmal spontan nach tiefer Meditation oder besonderer Belastung der Muskeln einsetzt. Levine sieht im Zittern eine wichtige angeborene natürliche Heilungsressource, die meist nicht zugelassen wird, weil sie nicht mit dem Selbstverständnis als geistigem Wesen in Einklang zu bringen sei. Es wäre deshalb erforderlich, dass dieser animalische Aspekt der Existenz akzeptiert wird19.

Man muss den Trauerprozess uneingeschränkt zulassen. Deshalb müssen alle Denkgewohnheiten aufgelöst werden, die den Trauerprozess behindern könnten. Dazu gehört z. B. der Glaube an die Kraft des positiven Denkens, der für die psychische Gesundheit sehr gefährlich ist, da er dazu verführt, sich über die Notwendigkeit der Trauerarbeit hinwegzusetzen. Ebenso muss die weit verbreitete Überzeugung aufgegeben werden, dass man sich nicht den tiefen Gefühlen der Trauer überlassen dürfe, sondern versuchen müsse, die Gefühle zu beherrschen. Insbesondere müssen die Denkgewohnheiten daraufhin überprüft werden, ob man noch Schuldvorwürfe gegenüber dem verlorenen Menschen hegt. Eventuell müssen die eigenen Glaubenssätze verändert werden. Ausschlaggebend ist, dass man sich immer wieder die Einsicht vergegenwärtigt, dass man sich entschieden hatte, sich an den verlorenen Partner bzw. an das verlorene Objekt zu binden. Wenn man die Verantwortung für die sich selbst auferlegten Einschränkungen annimmt, wird der Trauerprozess zu einem produktiven Ende führen.

Es zeigt sich, dass die Trauer eine mächtige Emotion ist, die gestörten Kontakt heilen kann. Heilung geschieht von selbst, wenn die Trauerreaktion vom Trauernden selbst und von der Gemeinschaft zugelassen wird. Wenn im Mythos erzählt wird, dass Odysseus von den Göttern aus der Gefangenschaft durch die Göttin Calypso befreit wurde, bedeutet das, dass Odysseus letztlich seine Trauer nicht allein überwinden konnte. Für die Theorie der emotionalen Selbstheilungskräfte ist daraus der Schluss zu ziehen, dass die emotionalen Selbstheilungskräfte nur aktiviert werden, wenn sie ein unterstützendes soziales Milieu vorfinden. Die emotionalen Selbstheilungskräfte versagen, wenn geglaubt wird, die Trauer aus eigener Kraft bewältigen zu können. In dieser Haltung kann es nicht zu der umfassenden Lösung der körperlichen Verspannungen kommen, die im Zusammenhang mit der Verlusterfahrung aufgebaut wurden.

Die im Abendland verbreitete Illusion, dass man kraft seines eigenen Denkens den Verlust betrauern kann, hat dazu geführt, dass alle traditionellen Trauerrituale aufgelöst wurden. Seitdem wird der Einzelne mit der Trauerarbeit völlig überfordert.

6.2. Abschied vom Ich

»Nur der Geist, der den Lehm behaucht, kann den Menschen erschaffen.« (Saint-Exupery)

Es widerstrebt mir, solche Sätze zu zitieren, weil sie eine Überwertigkeit des Geistes repräsentieren, die das Verständnis der menschlichen Probleme nicht nur erschweren, sondern unmöglich machen. Sie fixieren die Hoffnung auf Erlösung durch die Kraft des Geistes und verschleiern dadurch, dass die Erlösung nur von der Befreiung der Emotionen kommen kann.

Von Anfang der bürgerlichen Gesellschaft an hat die mit der Individualisierung verbundene chronische Existenzangst das Denken angeregt, die Gefühle der Unsicherheit und Ungeborgenheit mit philosophischen Denkgebäuden zu erklären und damit zu lindern. Die Philosophen haben für die Sehnsucht nach Verbundenheit neue Konzepte entwickelt, die sich um die Begriffe Natur, Kosmos, Seele, Geist, Vernunft u. Ä. drehten. Die Hoffnung, dass mit richtigem Denken eine neue Sicherheit gefunden werden könnte, hat zu der großen Wertschätzung der Philosophen geführt. Der schnelle Wechsel der Konzepte bedeutet, dass die Erwartungen der Menschen enttäuscht wurden. Denn keine gedankliche Weltanschauung kann die in der wechselseitigen Hilfe der Menschen begründete Verbundenheit und Solidarität ersetzen. Es steht deshalb an, auch den historischen Verlust der Geborgenheit in der sozialen Gemeinschaft zu betrauern und künftig allen Versprechungen auf Verbundenheit mit geistigen Mitteln zu misstrauen.

Zur Trauerarbeit gehört deshalb auch die Preisgabe der Illusion des selbständigen Geistes, des autonomen Ichs und des wahren Selbst. Oben wurde begründet, dass die Annahme eines selbständigen Geistes eine menschliche Konstruktion ist, die eine bestimmte politische Funktion hatte. Auch das Ich bzw. das Selbst sind keine festen Instanzen, sondern nichts mehr als menschliche Versuche, bestimmte Gewohnheiten und Fähigkeiten der Menschen mit einem Begriff zu bezeichnen. Diese Begriffe stehen für die Annahme, dass es ein inneres persönliches Zentrum gibt, mit dessen Hilfe alle Probleme aus eigener Kraft gelöst werden könnten. Es enthält den Glauben, dass man sich ohne äußere Hilfe befreien könne und dass man sich nicht den eigenen Ängsten stellen müsse. Wahrscheinlich werden der Geist, das Ich oder das Selbst so vehement verteidigt, weil man nicht bereit ist, diese Hoffnung auf Selbstbefreiung aufzugeben.

Die Lehre des Buddhismus, dass das Selbst eine Fiktion ist, geht in die gleiche Richtung, wie hier entwickelte Interpretation des Geistes. Aus der Einsicht, dass der Begriff Selbst die Trauerarbeit erschwert, vertritt der Buddhismus die Lehre, dass das Selbst keine natürliche Größe sei, sondern erst von den Menschen aufgebaut worden sei. Das Selbst begründe ein falsches Selbstgefühl, weil es dazu anhält, an Überzeugungen festzuhalten und weil es den Eindruck erweckt, man würde sich selbst verlieren, wenn man seine Überzeugungen aufgibt. Daraus wurde die Konsequenz gezogen, dass die eigentliche Ursache des Leidens im Festhalten am Selbstgefühl liegt. Der Buddhismus ist überzeugt, dass durch die Anerkennung der Selbstlosigkeit das Loslassen von behindernden Überzeugungen und damit die Trauerarbeit erleichtert wird. Man brauche dafür kein starkes Ich, sondern starkes Vertrauen.

Wenn die ganze Kultur auf den Dogmen des Geistes und des Ichs aufbaut, fällt der Abschied vom Ich erheblich schwerer, als wenn diese Aufgabe von herrschenden Lehren wie z. B. im Buddhismus ständig bekräftigt wird und Vertrauen in die Selbstheilungskräfte der Natur und in die Weisheit des Körpers gelehrt wird. Aber dennoch muss man sich dafür einsetzen, dass die Allmachtsphantasien des Ichs oder Selbst aufgegeben werden, damit normale Illusionen und Täuschungen, die die Befreiung von Ängsten behindern, losgelassen werden können.

6.3. Heilkraft der Liebe

»Liebe ist die beste Medizin.« (Paracelsus)

Seitdem durch die Placebo-Forschung nachgewiesen wurde, dass physiologisch neutrale Medikamente wirksam sein können, wenn sie vom Patienten mit positiven Erwartungen verbunden werden, gilt die subjektive Erwartung als ein Heilfaktor ersten Ranges. Das positive Denken hat auch in die Glücksbücher Eingang gefunden20. Es ist aber falsch anzunehmen, dass die heilende Wirkung der Hoffnung von den positiven Vorstellungen ausgeht und dass man sich beliebig umprogrammieren könne.

Bei der Empfehlung des positiven Denkens wird der Fehler gemacht, dass vom esoterischen Dogma ausgegangen wird, dass das Heilen primär ein geistiger Vorgang ist. »Geistige Heilung ist ein Prozess des Freiwerdens von Übeln, die wir selbst verursacht haben. Wir müssen die negativen Gedanken aus unserem Bewusstsein verbannen. Wir besitzen in uns die Quelle der Kraft und Gesundheit.« (Internet). Die Analyse des seelischen Leidens und des Unglücklichseins zeigt aber, dass am Anfang stets emotionale Konflikte stehen. Deshalb ist davon auszugehen, dass Heilung darin besteht, dass die emotionalen Konflikte aufgelöst werden. Wie oben dargestellt wurde, konnte das Missverständnis des geistigen Heilens dadurch entstehen, dass die emotionalen Prozesse, die bei der Krankheitsentstehung und der Heilung ablaufen, immer von Gedanken begleitet sind, und man leicht den Eindruck gewinnen kann, dass sie das Primäre sind.

Beim positiven Denken wird übersehen, dass die positiven Vorstellungen nur auf der Basis der festen inneren Überzeugung wirksam sein können, dass man sich selbst helfen und mit allen Schwierigkeiten aus eigener Kraft fertig werden kann. Wenn diese emotional verankerte Grundüberzeugung fehlt, weil die entsprechenden seelischen Kräfte nicht vorhanden sind, hilft auch die häufige Wiederholung von affirmativen Sätzen nichts. Das seelische Leiden ist ja gerade ein Beweis für den Mangel an inneren seelischen Kräften. Das positive Denken hilft deshalb wenig zum Verständnis der Frage, was die seelischen Selbstheilungskräfte stärkt und was sie schwächt.

Bei kleineren seelischen Verletzungen werden die emotionalen Selbstheilungskräfte nach kurzer Zeit wirksam, weil das Vertrauen in die eigenen Kräfte in dem Moment zurückkehrt, wie die ängstigende Ausgangssituation, die zur seelischen Verletzung Anlass gegeben hat, vorübergegangen ist. Der Organismus hat genügend seelische Kraft, um mit der seelischen Krise fertig zu werden, wenn die Angst nicht mehr nachwirkt. Voraussetzung ist, das man sich in einem relativ stabilen sozialen Netz befindet.

Wenn aber eine seelische Verletzung chronische Formen angenommen hat, ist das ein Signal, dass das Vertrauen in die eigene Fähigkeit, Liebe und Zuneigung zurückzugewinnen, nachhaltig verloren gegangen ist. Es bedeutet, dass man bei anderen Menschen um Hilfe bitten muss. Auch für das soziale Umfeld ist das Leiden ein Signal, dass der Leidende sich nicht selbst helfen kann und auf Hilfe angewiesen ist. Deshalb muss das soziale Umfeld den Erkrankten stützen und ihn durch Beweise von Liebe und Zuneigung in seinem Selbstheilungsprozess stärken. Der Verletzte muss praktisch in der liebevollen Geborgenheit Raum finden, seine Ängste loszulassen. Er muss die Erfahrung machen können, dass seine Ängste vor Liebesverlust unbegründet sind. Die Erfahrung zeigt, dass sich die inneren Vorstellungen gleichsam von selbst neu ordnen, wenn man sich der Zuwendung und Liebe anderer Menschen sicher ist. Zu Recht wird gesagt: »Vertrauen und Zuversicht bewirken Heilung, Zweifel das Gegenteil.«

Die emotionale Unterstützung durch andere Menschen ist besonders wichtig bei Verlusten von geliebten Menschen, bei traumatischen Verletzungen und bei der Zerstörung von zentralen Lebensillusionen. Denn wie oben dargestellt, kann die erforderliche Trauerarbeit nur gelingen, wenn die Gefühle der Schuld, Angst und Trauer gegenüber anderen Menschen artikuliert werden können. Die liebevolle Zuwendung von anderen Menschen gibt den Raum, dass sich die Emotionen neu ordnen können. Wenn die Trauerarbeit verleugnet wird, müssen chronische Erkrankungen in Kauf genommen werden. Es ist also nicht ausreichend, dass der Erkrankte sich bloß entspannt und alles loslässt. Entspannung und Loslassen sind nur dann die richtigen Strategien, wenn sie mit der Bereitschaft gekoppelt sind, dass auch die kompensatorischen Emotionen und die damit verbundenen Vorstellungen aufgegeben werden.

Die Heilkraft der Liebe zeigte sich bei einem Tierexperiment, bei dem ein neues Präparat gegen Stress getestet werden sollte, aber ein unerwartetes Ergebnis erzielt wurde. »Dazu wurde ein Affe in einen Käfig gesetzt, anschließend holte man einen Hund herein, der nun knurrend um den Käfig herumlief. Natürlich hatte der Affe Angst und die Stresshormonspiegel in seinem Blut schnellten in die Höhe. Dann holte man einen zweiten Affen, gab dem das Testpräparat, setzte ihn zu dem anderen, ließ wieder den Hund um den Käfig rennen, und der Affe, der das Präparat bekommen hatte, zeigte keinerlei Stressreaktion. Die Pille wirkt also, dachten die Forscher, aber nur bis sie auch die Stresshormonspiegel desjenigen Affen anschauten, der zuerst im Käfig gesessen und keine Beruhigungspille bekommen hatte. Bei dem war nämlich auch keine Stressreaktion mehr meßbar. Sie nahmen den zweiten Affen wieder heraus, holten den Hund, und die Stressreaktion war wieder da. Sie warteten einen Tag und machten das Ganze noch einmal. Diesmal bekam der zweite Affe keine Beruhigungspillen. Alles verlief wie am Tag zuvor. Sah einer der beiden Affen allein im Käfig sitzend den Hund, so stiegen seine Stresshormonspiegel mächtig an. Saßen die beiden Affen gemeinsam im Käfig, so konnte der Hund draußen knurren, so viel er wollte, sie hatten keine Angst mehr. Setzte man jedoch zwei Affen zusammen, die aus unterschiedlichen Kolonien stammten und sich deshalb nicht kannten, kam es zu keinerlei Unterdrückung der Stressreaktion. Das schaffte eben nur der alte Bekannte, der gute Freund, nicht irgendein Affe.« Damit brachte das Experiment den Beweis, dass Freundschaft und Liebe das beste Medikament gegen Angst sind. Es belegt die These, dass die Überwindung von Angst am leichtesten in der Gemeinschaft mit anderen Menschen gelingt.

Nach den bisherigen Überlegungen ist die Heilkraft der Liebe darauf zurückzuführen, dass sich der Organismus im Zustand der Liebe im Optimalzustand der inneren Kommunikation befindet (vgl. S. 167). Denn Liebe hat die Wirkung, dass innere Spannungen und Blockierungen aufgelöst werden, so dass die innere Kommunikation reibungslos ablaufen kann und der Atem in seine optimale Resonanzfähigkeit zurückfindet. Der Organismus verfügt dann über alle natürlichen Ressourcen, um psychische und somatische Ungleichgewichte aufzuheben. Weil Liebe die Kraft gibt, eine gute soziale Kommunikation aufzubauen, kann er sich für seine Bedürfnisse einsetzen, ohne dadurch den Kontakt zu anderen zu verlieren. Liebe gilt deshalb zu Recht als der stärkste Stimulator des Immunsystems.

Die Heilkraft der Liebe kann sich nur voll entfalten, wenn sie durch Trauerarbeit unterstützt wird. Nur wenn alle selbst gewählten Einschränkungen betrauert worden sind, findet die Liebe genügend Raum. Aber die Liebe unterstützt auch die Trauerarbeit. Letztlich ist Trauerarbeit ohne Liebe nicht möglich. Insofern ergänzen sich die Gefühle der Trauer und der Liebe wechselseitig.

Die Theorie der emotionalen Selbstheilungskräfte basiert darauf, dass sich die Emotionen spontan im zwischenmenschlichen Kontakt bilden. Sie gründet in der Erfahrung, dass der Kontakt von den Emotionen und nicht vom Denken bzw. dem bewussten Ich gestaltet wird. Deshalb ordnen sich auch die Emotionen neu, wenn die Faktoren wegfallen, die den Anlass gegeben hatten, bestimmte Emotionen zurückzuhalten und Ersatzgefühle zu bilden. So wie sich die Ersatzgefühle spontan bilden, wenn die Basisemotionen nicht gelebt werden können, so werden sie wieder aufgelöst, wenn die Basisemotionen ihre Lebenschancen zurückerhalten. Die emotionalen Selbstheilungskräfte setzen somit die Erfahrung von Liebe und Zuneigung voraus, weil sich nur dann die anderen Basisemotionen entfalten können. Wenn die emotionalen Selbstheilungskräfte aktiviert werden, stehen auch die somatischen Selbstheilungskräfte voll zur Verfügung.

Der Begriff der emotionalen Selbstheilungskräfte darf also nicht so verstanden werden, dass sich der Organismus unabhängig von den äußeren Lebensbedingungen heilen kann. Heilung tritt erst dann ein, wenn die äußeren emotionalen Belastungsfaktoren wegfallen, die den Atem einschnüren und damit die Funktionsfähigkeit aller Zellen beeinträchtigen bzw. man nicht mehr befürchten muss, dass sich die Verletzungen wiederholen. Die Heilung hängt also letztlich damit zusammen, dass der Organismus den Abwehrkampf gegen die Emotionen, die einen inneren Zwiespalt geschaffen haben, aufgeben kann, sich entspannt und dadurch die eigentliche Krankheitsdynamik unterbrochen wird.

Wenn man davon ausgehen kann, dass den meisten Heilungsprozessen eine Befreiung des Atems vorausgeht, kann auf Begriffe wie Spontanheilung, geistige Heilung, Wunderheilung u. Ä. verzichtet werden. Es wird die Wirksamkeit von Placebos, des Gebets, des Glaubens, der Energieübertragung und ähnlicher Heilverfahren erklärbar. Im Vertrauen auf deren Wirksamkeit lösen sich die körperlichen Verspannungen auf und beseitigen somit die Blockaden der Selbstheilungskräfte.

6.4. Die nützlichen Schuldgefühle

»Die große Schuld des Menschen ist, dass er in jedem Augenblick die Umkehr tun kann und es nicht tut.« (Martin Buber)

Schuld und Scham sind die psychischen Wachposten der Person, die über die Einhaltung der sozialen Normen und der selbst gesetzten Ziele wachen. Die Normen beziehen sich sowohl auf die Regeln des Zusammenlebens als auch auf die eigenen Ziele in der persönlichen Entwicklung. Sie entwickeln sich, wenn die sozialen Normen verinnerlicht werden und ein Ich-Ideal aufgebaut wird, und melden sich, wenn durch eigenes Handeln oder Vorstellen eine soziale Norm verletzt wurde. Sie werden also bei einem Zusammenbruch des sozialen Gleichgewichts aktiviert. Sie sind somit eine Reaktion auf Trennung, Desintegration oder Entfremdung.

Schuld und Scham unterscheiden sich darin, dass die Scham immer eine soziale Dimension enthält, während das bei der Schuld nicht unbedingt der Fall sein muss. Entscheidend bei der Scham ist die Vorstellung, dass andere von der Verfehlung wissen. In der Scham ist das Selbstbild verletzt und das Selbstwertgefühl beeinträchtigt. Man hat das Gefühl, von den anderen Menschen abgelehnt und missbilligt zu werden. Am Erröten spürt man die Diskrepanz zwischen dem realen Handeln und dem idealen Selbstbild und zeigt den anderen Menschen, dass man um die Verfehlung weiß. Beim Schuldgefühl gibt es diese äußerlich sichtbare Körperreaktion des Errötens nicht. Denn Schuldgefühle können sich auch einstellen, wenn man selbst gesetzte Normen verletzt, über deren Einhaltung die soziale Gruppe nicht wacht.

Das Besondere an den Gefühlen der Schuld und Scham ist, dass sie das Bewusstsein für die Folgen des eigenen Handelns schärfen. Sie stellen sich bereits ein, wenn das Handeln erwogen wird. Sie sollen dafür sorgen, dass das eigene Handeln, in das oft eine unkontrollierte Erregung der Wut hineinfließt, nicht über das Ziel hinausschießt und somit den Absichten der anderen Menschen verbunden bleibt. Sie bemessen das Handeln daran, ob es der Beziehung nützt oder schadet. Für Lifton hat Schuld die evolutionäre Funktion, sich für das physische und psychische Leiden anderer zur Verantwortung zu ziehen21. Schuld hat damit die Funktion, die wechselseitige Abhängigkeit der Mitglieder einer sozialen Gruppe in den Emotionen zu verankern.

Das Schuldgefühl ist offensichtlich eine besondere Ausprägung der Furcht. Als Furchtsignal zeigt es an, dass der Organismus beabsichtigt, Normen des Zusammenlebens zu verletzen und dass er damit aus dem Optimum seines Reagierens herauszufallen droht. Das trifft nicht nur zu, wenn man andere Menschen verletzt, sondern auch, wenn man sich selbst Schaden zufügt. Beides Mal wird die eigene Identität und Gesundheit bedroht. Man muss sich also einerseits mit der Wut des Verletzten, mit seiner Ablehnung und der möglichen Bestrafung auseinander setzen, aber andererseits auch mit Selbstbestrafung rechnen. Die Schuld wird letztlich von der Angst motiviert, die Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe zu verlieren. Das Schuldgefühl ist somit eine körperliche Reaktion, mit der die Wiederherstellung des früheren Gleichgewichts angestrebt wird.

Das Besondere am Schuldgefühl resultiert aus seiner Verbindung mit dem Einfühlungsvermögen. Nur auf der Basis eines entwickelten Einfühlungsvermögens kann die Wut und Empörung anderer antizipiert werden, wenn mit dem eigenen Handeln ihre Bedürfnisse verletzt werden. Daraus entstehen das Unrechtsbewusstsein und das Gefühl für die eigene Verantwortung. Deshalb wird alles, was der Beziehung schadet, als Schuld empfunden. Wenn man unfähig ist, sich in die verletzten Gefühle des Geschädigten hineinzuversetzen, versagt das Unrechtsbewusstsein als Regulator des eigenen Verhaltens. Deshalb wird es bei egozentrischem Verhalten brüchig (vgl. S. 123).

Je intensiver die soziale Bindung ist, umso intensiver wird Schuld bei der Verletzung anderer gespürt. Das entwickelte Schuldbewusstsein braucht aber nicht unbedingt Dritte, welche die Verfehlung beobachten. Das Schuldgefühl regt sich bereits, wenn man die Entfaltung der eigenen Fähigkeiten oder die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse behindert. Insofern ist das Postulat der existenzialistischen Theorie richtig, dass Schuldgefühle zwangsläufig erlebt werden, wenn man nicht seine vollen menschlichen Fähigkeiten entfaltet. Allgemein gesprochen, erhebt das Schuldgefühl seine warnende Stimme, wenn die eigene Lebendigkeit eingeschränkt wird. Das Schuldgefühl hat deshalb ursprünglich nichts mit sozialen Normen zu tun und ist auch nicht zwangsläufig mit Angst vor Strafe verbunden. Die sozialen Normen nutzen bloß den Regulationsmechanismus der Schuld aus, um die sozialen Normen zu verinnerlichen und damit die bestehenden Sozialverhältnisse zu stabilisieren.

Wenn die Angst übermächtig ist und die Wut dauerhaft zurückgehalten wird, verwandelt sich die Schuld in unbewusste neurotische Schuld. Neurotische Schuld ist virtuelle Schuld, da sie sich aus nicht bewusst eingestandenen aggressiven Gedanken speist. Neurotische Schuld reagiert also nicht auf aggressive Handlungen, sondern auf aggressive Vorstellungen. Der Organismus neigt dazu, die in der Einbildungskraft vollzogenen aggressiven Handlungen als wirklich anzunehmen. Deshalb schaffen sie die für die Wut typischen Verspannungsmuster. Das Schuldgefühl verliert seine Sensibilität und damit die konstruktive Kraft, das soziale Gleichgewicht zu bewahren. Es fällt dann schwer, für die tätige Reue einen angemessenen Ausdruck zu finden. Es besteht die Gefahr, dass das Schuldgefühl in ein unproduktives Versagensgefühl gegenüber Forderungen der Umwelt uminterpretiert wird. Damit verliert Schuld ihre produktive, schöpferische Kraft der Erneuerung und verstärkt die innere Zerstörung. Das führt nicht nur zu der tiefen Unzufriedenheit, die Sigmund Freud als Unbehagen an der Kultur diagnostiziert hat, sondern auch zu der Bereitschaft, die Aggression in Kanäle einfließen zu lassen, die von der Kultur in Form des Fremdenhasses, der Verfolgung Abweichender u.a. zur Verfügung gestellt werden.

Die Schuld gehört zu den heilenden Gefühlen, weil sie die Menschen dazu antreibt, die Schuld wieder gutzumachen. Sie stellt die Bereitschaft für Reue, Wiedergutmachung und Versöhnung her. Das Schuldgefühl lehrt, dass es bei größeren Verletzungen nicht ausreicht, sich bloß zu entschuldigen und Reue zu zeigen, sondern das man einerseits den verletzten Menschen zeigen muss, dass man bereit ist, sich zu verändern, so dass sich die Verletzung nicht wiederholen wird, und dass man andererseits bereit ist, das Unrecht durch eine eigene Leistung auszugleichen. Reue wirkt nur, wenn sie angenommen wird. Das soziale Umfeld wacht so mit ihren eigenen Emotionen darüber, dass das Schuldgefühl als eine heilende Kraft wirksam bleibt.

Der erste Schritt zur Beseitigung der eigenen Schuld besteht darin, sich selbst zu vergeben. Normalerweise neigt man dazu, das eigene Versagen mit irgendwelchen Gründen zu rationalisieren, um den Druck des Schuldgefühls nicht spüren zu müssen. Sich-selbst-Vergeben bedeutet aber zu akzeptieren, dass man andere verletzt hat, und dass man bereit ist, die Verletzung wieder gutzumachen. Für Selbstvorwürfe ist dann kein Raum mehr. Entscheidend ist, dass man in Situationen, in denen man andere verletzt, noch im Kontakt mit den eigenen Gefühlen bleibt, insbesondere mit dem Einfühlungsvermögen. Denn wenn die Kontaktfähigkeit unentwickelt bleibt oder zerstört worden ist, wird das Schuldgefühl erstickt.

Wenn der Verletzte spürt, dass der andere nicht fähig ist, Schritte zur Wiedergutmachung zu tun, stellt sich die Frage, ob er nicht die Initiative übernehmen soll. Die verbreitete Auffassung, dass die Wiedergutmachung immer vom Verletzer ausgehen muss, übersieht, dass die Verletzung stets aus psychischer Schwäche heraus erfolgt und dass es dem Verletzer deshalb in der Regel an seelischen Kräften mangelt, die Verantwortung für die Verletzung zu übernehmen. Insofern haben auch die Verletzten die Verantwortung, dass das soziale Gleichgewicht wiederhergestellt wird.

Schuld und Scham erweisen sich als körperliche Reaktionen, die die Funktion haben, ein gestörtes zwischenmenschliches Gleichgewicht wiederherzustellen. Das Schuldgefühl aktiviert das Handeln: Die Schuld soll durch versöhnendes Tun ausgeglichen werden. Allerdings wäre Sühne ein falscher Weg. Wer sich zum Ausgleich für den Schaden am anderen selbst schadet, vermeidet damit, die verletzte Beziehung zu verändern. Durch die Sühne wird vermieden, sich dem Schaden an der Beziehung zu stellen22.Das bedeutet, dass die soziale Bindung der Menschen untereinander im Prinzip ohne Angst vor Strafen möglich wäre, wenn sich das Schuldgefühl voll entwickeln könnte. Wenn sich die soziale Gemeinschaft nicht mehr auf das Schuldgefühl ihrer Mitglieder verlassen kann, muss sie es durch die Angst vor angedrohten Strafen ersetzen.

Für die Theorie der Selbstheilungskräfte folgt aus diesen Überlegungen, dass die emotionalen Selbstheilungskräfte die Erfahrung von Liebe und Zuwendung voraussetzen, da sich die Basisgefühle der Liebe, Trauer und Schuld, die für die emotionale Selbstheilung sorgen, nur in einem relativ entspannten Körper entfalten können. Es ist Aufgabe der sozialen Gemeinschaft, die Voraussetzungen zu schaffen, dass die emotionalen Selbstheilungskräfte wirksam werden können. Es muss vermieden werden, dass die Unglücklichen in ihrem Zustand des Unglücklichseins verharren, weil sie den Glauben aufgegeben haben, Liebe und Zuwendung zurückzufinden. Denn damit setzen sie ihre Selbstheilungskräfte außer Kraft.

7. Emotionale Selbstorganisation

»Meinung wird letztlich durch Gefühle und nicht durch den Intellekt bestimmt.« (Herbert Spencer)

Das vorhergehende Kapitel hat gezeigt, dass es emotionale Selbstheilungskräfte gibt, mit denen sich die menschliche Natur von emotionalen Verletzungen heilen kann. So wie davon ausgegangen werden kann, dass es eine innere Apotheke gibt, in der Medikamente für die somatische Selbstheilung produziert werden, so gibt es auch einen inneren Psychotherapeuten, der für die Heilung von seelischen Verletzungen sorgt.

Das Konzept der emotionalen Selbstheilungskräfte steht im Widerspruch zu dem mechanistischen Körperverständnis, das alle inneren Prozesse nach mechanistischen Gesetzen ablaufen lässt und die Bedeutung des sozialen Umfeldes negiert. Auch die seelischen Prozesse werden tendenziell als mechanistische Prozesse verstanden. Im Extremfall wurden die Gefühle nur als Epiphänomen vegetativer Prozesse verstanden (z. B. bei William James). Im mechanistischen Körperverständnis ist das rationale, zielgerichtete Verhalten des Körpers unverständlich. Im Folgenden soll dargestellt werden, dass sich aus dem Konzept der emotionalen Selbstheilungskräfte ein alternatives Körperverständnis ergibt, das als dialogisch bezeichnet werden könnte, weil es darauf aufbaut, dass die Selbstheilungskräfte optimal funktionieren, wenn die Kommunikation aller Teile des Organismus miteinander und im Austausch mit der sozialen Umwelt reibungslos abläuft.

Es wird sich zeigen, dass das dialogische Körperverständnis weitreichende Konsequenzen für das Verständnis der menschlichen Freiheit und der Problematik des ethischen Handelns hat. Das bisher ungelöste Problem, wie die so genannten ethischen Grundwerte begründet werden können, löst sich als falsche Fragestellung auf. Die Überzeugung von ethischen Grundwerten ist nichts Naturgegebenes, sondern entsteht erst, wenn die Orientierungsfunktion der Basisemotionen durch emotionale Verletzungen zerstört wird. Aus diesem Verständnis heraus kann gezeigt werden, dass die ethischen Grundwerte scheitern müssen, weil sie die beschädigte Orientierungsfunktion der Emotionen nicht kompensieren können.

7.1. Die Signale des Glücks

»Wer in sich selbst beruhigt ist, der beunruhigt auch andere nicht.« (Epikur)

Der menschliche Organismus legt höchsten Wert darauf, dass er in gutem Kontakt mit anderen Menschen ist. Denn nur dann ist ein gutes Überleben gesichert. Es ist deshalb nicht überraschend, dass die traditionellen Glückstheorien ihren gemeinsamen Nenner darin haben, dass sich das Glück einstellt, wenn ein verlorener Kontakt wiederhergestellt wird: Das kann der Kontakt mit sich selbst, mit der Seele, mit dem Ganzen, mit anderen Menschen, mit den Emotionen, mit Schwingungen oder mit der Gegenwart u. a. sein. Viele Menschen ahnen, dass ihr Unglück und Unbehagen damit zusammenhängt, dass der Kontakt zu den anderen Menschen und zu sich selbst geschwächt oder ganz abgerissen ist. Auch der Dichter Novalis wollte mit dem im Kap. 4.5 vorangestellten Zitat deutlich machen, dass die Hauptfunktion der Seele darin besteht, den Kontakt zur Außenwelt herzustellen.

Ist ein Kontakt gelungen, fühlt man sich eins mit der Welt. Man geht in der Aktivität auf und vergisst sich dabei. Man hat das Gefühl, dass die eigenen Bewegungen spontan, mühelos und wie von selbst ablaufen. Man fühlt sich im Vollbesitz seiner Kräfte und glaubt, die Situation kontrollieren zu können. Die Gefühle der Abgetrenntheit, Isolierung oder Übersehen-Werden, die vielleicht vorher da waren, verschwinden. Man vergisst auch die Zeit. Man hat das Gefühl, ganz in der Gegenwart zu sein. Es stellt sich ein lustvoller Körperzustand ein.

Am deutlichsten zeigt der Zustand des Atems, ob ein Kontakt gelungen ist. Der Atem ist dann mühelos, leicht, ruhig und tief. Das hängt damit zusammen, dass der ganze Organismus gelöst ist, so dass er sich im Optimum seines Funktionierens befindet und auch alle Atemmuskeln, insbesondere das Zwerchfell, sich im optimalen Muskelzustand (Eutonus) befinden. Das äußert sich im umfassenden Wohlgefühl und dem Gefühl der inneren Stärke, auch im leichten Lächeln des entspannten Gesichtes. Das ist genau der Körperzustand der inneren Ruhe und der inneren Ausgeglichenheit, der das Glück ausmacht. Er ist offensichtlich identisch mit der gelösten und freien Atmung. Wenn in der Antike die Seele als Quelle des Glücks angesehen wurde, war sicherlich damit der gelöste Atem gemeint, der den ganzen Körper in einen Zustand des Wohlbefindens und der inneren Stärke versetzt. Insofern erweist sich der gelöste Atem als die Quelle des Glücks.

Das Gefühl der inneren Kraft hängt damit zusammen, dass man sich im Zustand des gelösten Atems im Kontakt mit den Emotionen befindet. Auch das Denken wird aktiviert, so dass man mühelos und intuitiv gute Lösungen für bestehende Probleme finden kann. Das Gefühl der inneren Kraft ist auch mit dem Vertrauen verbunden, dass man künftig angstbedingten nach muskulären Verspannungen, die die Atmung eingeschränkt haben, wieder schnell in den Zustand des gelösten Atems zurückkehren kann. Der Glückliche ist in der Lage, die Signale des Atems optimal zu nutzen, um sich jederzeit wieder in sein inneres emotionales Gleichgewicht zurückzubringen.

Wie oben erwähnt, darf man nicht den Fehler machen, vom Glück erregende Gefühle der Lust zu erwarten. Wenn ein Kontakt gelingt oder wenn etwas passiert, wo man Glück gehabt hat, stellt sich wohl zunächst ein Gefühl der Freude oder der Erleichterung ein. Aber es hält nicht lange an, während das Gefühl der inneren Kraft, das das Glück ausmacht, etwas Beständiges ist. Wenn jemand von sich sagt, dass er glücklich sei, wird das so verstanden, dass es ein dauerhaftes Gefühl ist und nicht direkt von äußeren Ereignissen abhängig ist. Offensichtlich wird angenommen, dass der Glückliche nicht von den unvermeidlichen Widrigkeiten des Lebens aus der Bahn geworfen wird, weil er die Fähigkeit besitzt, sich rasch wieder in das emotionale Gleichgewicht zurückzuversetzen. Seine wichtigste Fähigkeit scheint darin zu bestehen, dass er den Atem von Störungen befreien und rasch wieder ins freie Fließen bringen kann.

Glück besteht deshalb nicht in der Unerschütterlichkeit, wie es einige Stoiker wie z. B. Seneca verstanden haben. Wer sich vor jeder seelischen Erschütterung schützen will, muss sich so stark muskulär verpanzern, dass er für das Glück des Kontakts nicht mehr fähig ist. Unerschütterlichkeit ist ein falsches Ziel, weil es die Sensibilität aufgibt, die für das Glück erforderlich ist und weil es gegen starke Traumata ohnehin nicht hilft.

7.2. Die Rationalität der Emotionen

»Was dem Herzen widerstrebt, lässt der Kopf nicht ein. « (Arthur Schopenhauer)

Das menschliche Leben ist dadurch gekennzeichnet, dass seine inneren Impulse nicht automatisch im Einklang mit den Anforderungen der sozialen Umwelt stehen. Je komplizierter die sozialen Verhältnisse sind und je mehr Fähigkeiten der Einzelne lernen muss, um sich behaupten zu können, umso schwieriger wird die Aufgabe, die inneren Impulse mit den sozialen Anforderungen abzugleichen. Diese Abstimmung wird von den Emotionen vorgenommen. Sie funktioniert offensichtlich auch unter komplexen Sozialstrukturen, und zwar umso besser, je mehr es dem Einzelnen ermöglicht wird, seine Basisemotionen gut anzueignen, d.h. einen sozial akzeptierten Gebrauch von ihnen zu erlernen. Die Emotionen übernehmen somit die wichtige Aufgabe, den Einzelnen in die soziale Gruppe einzufügen, in der er lebt. Dies ist eine nicht minder komplexe Aufgabe wie die Beschaffung von Nahrungsmitteln aus der Umwelt, um den inneren Stoffwechselprozess zu sichern.

Die Menschen erleben sich ständig in einem Spannungsfeld zwischen Sein und Sollen, zwischen tatsächlichem und wünschenswertem Verhalten. Dies beruht aber keineswegs darauf, dass es objektive Werte gibt, die vom konkreten Verhalten verfehlt werden, sondern darauf, dass die Emotionen bei allen Menschen mehr oder weniger beschädigt sind. Die Menschen wissen tief im Innersten um das, was ihnen ihre Basisemotionen anempfehlen; sie stehen aber unter dem Druck ihrer kompensatorischen Emotionen, die sie zu egoistischem Verhalten anleiten. Die innere Spannung ist also ein Zeichen dafür, dass die Basisemotionen durch Ersatzgefühle zurückgedrängt wurden.

Da die Einpassung des Einzelnen in die soziale Gruppe für das Überleben der Gruppe beinahe genauso wichtig ist wie das reibungslose Funktionieren des körperlich-stofflichen Stoffwechselprozesses, kann angenommen werden, dass die Natur hier ähnliche Formen der Selbstregulation entwickelt hat wie sie für den Stoffwechselprozess existieren. In der Biologie wurde die Beobachtung, dass sich die Natur im körperlich-stofflichen Bereich unabhängig vom Bewusstsein organisiert, mit dem Konzept der Selbstorganisation zu begreifen versucht. Demnach reguliert jeder Organismus nicht nur den inneren Stoffwechselprozess, sondern auch den Austausch mit der Umwelt nach inhärenten Gesetzmäßigkeiten auf eine Weise, dass der Gleichgewichtszustand mit der Umwelt gewahrt wird. Der Begriff Selbstorganisation soll hervorheben, dass Einwirkungen von außen nicht von sich aus zu bestimmten Veränderungen führen, sondern dass der Organismus mit seinen inhärenten Regeln darüber entscheidet, in welcher Art und Weise er diese Einwirkungen in sein Inneres aufnimmt. Grundgedanke der Selbstorganisation ist, dass die Selbstorganisation nicht von einem zentralen Prinzip gelenkt wird, sondern dass sie sich aus dem Zusammenwirken, d. h. der Kommunikation aller Teile des Organismus miteinander ergibt.

Lebewesen müssen von einem Augenblick zum nächsten entscheiden, wie sie sich verhalten sollen, um für ihre Bedürfnisse nach physiologischer und emotionaler Selbsterhaltung zu sorgen und in Gefahrensituationen muss das sehr schnell gehen. Leben besteht so aus zahllosen kleinen Entscheidungen. Sichentscheiden ist bei Wesen, die sich in Wechselwirkung mit der natürlichen und sozialen Umwelt entwickeln, von zentraler Bedeutung. Sie können sich deshalb nicht auf das sehr störanfällige bewusste Denken verlassen, sondern lassen sich von der natürlichen Selbstorganisation führen.

Aus den vorgelegten Überlegungen zur Bedeutung der Emotionen folgt die Hypothese, dass die menschlichen Emotionen ein wesentlicher Bestandteil der organismischen Selbstorganisation sind. Da sie die Funktion haben, dass sich die Menschen optimal in das soziale Gruppenleben einfügen, hat die Natur ein großes Interesse daran, dass dieser Prozess effizient abläuft. Wegen seiner großen Bedeutung für die Verhaltensregulation läuft dieser Prozess weitgehend unbewusst ab und wird den Emotionen ein Vorrang vor dem Denken gegeben. Das ergibt sich bereits daraus, dass sich die Emotionen in der individuellen Lebensgeschichte früher als das Denken entfalten und dass Menschen, deren emotionales Steuerzentrum im Gehirn zerstört ist, unfähig sind zu handeln und aus ihrem Handeln zu lernen. Die Priorität der Emotionen wird auch dadurch unterstrichen, dass die Menschen wenig Spielraum haben, ihre Emotionen bewusst zu gestalten.

Die emotionale Selbstorganisation stützt sich auf die innere Kommunikation, die darauf aufbaut, dass alle Zellen ständig mittels chemischer und elektrischer Signale miteinander im Austausch stehen. Wie die Forschungsarbeiten des Physikers Fritz Popp zeigen, gibt es darüber hinaus auch einen Informationsaustausch mithilfe von Lichtemissionen (Biophotonen)23. Popp verwendet den physikalischen Begriff Kohärenz, um die Eigenschaft der Zellen zu kennzeichnen, dass sie wechselseitig Informationen austauschen und damit ein inneres Gleichgewicht aufrechterhalten. Somit ist der Begriff der inneren Kommunikation keine bloße Metapher. Er ist der zentrale Begriff in einem Körperverständnis, das darauf aufbaut, dass alle Zellen in permanentem Informationsaustausch stehen, dass aber diese Kommunikation durch soziale Einflüsse empfindlich gestört werden kann. So können Krankheiten entstehen, wenn die innere Kommunikation aufgrund von emotionalen Konflikten unterbrochen wird (vgl. S. 134).

Die innere Kommunikation äußert sich darin, dass man im Grunde in jedem Augenblick genau weiß, in welcher Position sich der Körper und seine einzelnen Teile befinden. Jeder Bewegungsimpuls, jeder Spannungszustand aller Muskeln und jede Berührung des Körpers werden fortlaufend an das Gehirn gemeldet. Wenn man die Augen schließt, kann man nachprüfen, dass jede Bewegung vom Bewusstsein genauestens nachvollzogen wird. Diese exakte Kartierung des Körperzustandes ist eine Leistung des propriozeptiven Nervensystems, das so selbstverständlich ist, dass man es gar nicht weiter registriert, das aber von äußerst zentraler Bedeutung ist, da es die Voraussetzung dafür ist, dass man mit sich in Kontakt kommen und sich selbst in Besitz zu nehmen kann. Der Körper kann nur optimal funktionieren, wenn er die Chance hat, sich mit Hilfe der propriozeptiven Eigenwahrnehmung kennen zu lernen und in jedem Moment zu wissen, wie sein Befinden ist. Die innere Kommunikation muss erlernt und immer wieder erprobt werden, damit der Körper um seine Fähigkeiten und Möglichkeiten weiß. Was vom propriozeptiven Nervensystem ausgeblendet wird, existiert nicht, wie am Beispiel der Verdrängung gezeigt wurde. Daraus leitet sich die hohe Bedeutung der sensiblen Selbstwahrnehmung ab. Sie allein bestimmt, inwieweit man seine Emotionen wahrnehmen und damit für die Kommunikation mit der Umwelt nutzen kann.

Die innere Kommunikation funktioniert umso besser, je sensibler die vielfältigen, überwiegend emotionalen Signale wahrgenommen werden, die der Organismus auf seiner Oberfläche und in seinem Befinden äußert. Die Sensibilität für die eigenen Signale könnte als organismische Reflexion bezeichnet werden, da die körperlichen Veränderungen ins Bewusstsein gehoben und damit reflektiert werden können. Da sich die Emotionen in Zustandsveränderungen des Atems darstellen, steht der Atem im Mittelpunkt der organismischen Sensibilität. Deshalb sind die meisten Signale, die der Körper über den inneren Zustand ins Bewusstsein und nach außen sendet, Atemsignale. Es ist nicht zufällig, dass in den orientalischen Religionen das Bewusstsein für den Atem eine absolute Vorrangstellung hatte. So lehrte Buddha: »Das Erste, was zu lernen ist, ist der Atem.« Wenn empfohlen wurde, die Seele zu pflegen, so war damit immer auch gemeint, dass man sich um einen ruhigen, ausgeglichenen Atem sorgen soll. Denn die Emotionen können ihre Aufgabe am besten erfüllen, wenn der Atem von allen Einschränkungen befreit ist.

Verspannungen aber schränken die Fähigkeit des Organismus ein, die Signale auf der Körperoberfläche darzustellen. Sie können dann nicht mehr klar wahrgenommen werden. Außerdem werden sie oft falsch dechiffriert. Was für die physiologischen Signale wie z. B. den Hunger und den Durst gilt, ist auch bei den emotionalen Signalen zu beobachten. So wie der Durst z. B. als Hunger fehlinterpretiert werden kann, so können auch die emotionalen Signale nicht nur überhört, sondern auch missverstanden werden. Das Verhalten verliert dann die sichere Orientierung an den inneren Impulsen. Daraus entsteht eine Einbuße an Selbstsicherheit.

Bei der Analyse des inneren Dialoges wurde gezeigt, dass die innere Kommunikation durch das Erlernen der verbalen Sprache eine zusätzliche Dimension erhalten hat (vgl. S. Error: Reference source not found). Mithilfe des inneren verbalen Dialoges können die emotionalen Erfahrungen im Umgang mit anderen Menschen effektiver verarbeitet werden. Es wurde gezeigt, dass der innere Dialog dem Schutz vor den eigenen Emotionen dient, da mit seiner Hilfe die Emotionen blockiert werden können, die zu Liebesverlust führen könnten.

Das Körperverständnis, das auf dem Konzept der emotionalen Selbstorganisation aufbaut, stellt eine ganzheitliche Alternative zum mechanistischen Körperverständnis dar. Das Wesentliche am menschlichen Körper ist nicht seine materielle Stofflichkeit, sondern seine dialogische Struktur, in der ständig Informationen innerhalb des Körpers und mit der Umwelt ausgetauscht werden. Dieser Informationsaustausch läuft weitgehend selbsttätig ab. Es wird deshalb zu Recht von unbewusster Informationsverarbeitung gesprochen. Wenn Informationsaustausch als eine Grundfähigkeit der lebendigen Natur anerkannt wird, kann das mechanistische Körperverständnis als historischer Irrtum aufgegeben werden24.

Wenn der Begriff rational damit definiert wird, dass er sich auf alles bezieht, was gut für die Selbsterhaltung ist und dass heißt, was für eine gute Einfügung in die soziale und natürliche Umwelt sorgt, dann müssen die Emotionen als rational bewertet werden, auch wenn dies im Widerspruch zur Philosophie steht, die stets die Emotionen als irrational abgewertet hat. Dabei darf der Begriff Selbsterhaltung nicht zu eng gefasst werden. Die emotionale Rationalität bezieht sich immer auf den gesamten natürlichen und sozialen Kontext, in dem ein Mensch steht. Dieser Bezug ist beim abendländischen Rationalitätsbegriff getilgt worden. Es ist die Illusion entstanden, dass die Rationalität ihre Maßstäbe aus sich heraus schöpfen könnte. Als Vorbild galt das auf sich selbst beziehende Denken Gottes. In Wirklichkeit kann sich aber die Rationalität nur daran messen, inwieweit sie den inneren und zugleich den äußeren Lebensbedingungen gerecht wird. Offensichtlich läuft das Denken weitgehend selbsttätig und unbewusst ab. Deshalb wurde es oben als organismisches Denken bezeichnet. Wenn die innere Kommunikation dem praktischen Verhalten eine sichere Orientierung zur Verfügung stellt, bedeutet dies, dass die innere Selbstorganisation über eine inhärente Rationalität verfügt.

Diese Einschätzung des Denkens steht in Übereinstimmung mit der Erkenntnis vieler Denker. So hat Antonio Damasio mit seinen Forschungs­ergebnissen darauf hingewiesen, dass die Emotionen eine unentbehrliche Grundlage der Rationalität sind, weil dadurch die Entscheidungen präziser und sicherer werden (vgl. S. 67). Der Emotionsforscher Daniel Goleman betrachtet die emotionale Intelligenz als die Grundlage der praktischen Intelligenz25. Auch wenn von psychischen Selbstheilungskräften gesprochen wird, wird auf die emotionale Selbstorganisation Bezug genommen, mit deren Hilfe vorübergehende Ungleichgewichte ausgeglichen werden. Wenn im esoterischen Denken von der »Intelligenz des Atems« gesprochen wird oder empfohlen wird, sich von der »Weisheit des Atems« führen zu lassen, kann dies jetzt als Ausdruck der Erfahrung interpretiert werden, dass sich der Organismus mithilfe des Atems auf eine Weise reguliert, dass das Leben in Anpassung an die konkreten Lebensbedingungen erhalten wird. Da Denken und Emotionen Erscheinungsformen des Atems sind, haben sie an dessen Intelligenz teil. Somit kann die esoterische Formel von der »Weisheit des Körpers« übersetzt werden in die inhärente Intelligenz des sich selbst organisierenden Organismus.

Die Art und Weise, wie Homer über die Gefühle seiner Helden berichtete, zeigt, dass die Menschen früher ihre Gefühle als etwas Autonomes erlebten. Wenn die Menschen sich über ihre Gefühle verständigten, haben sie sich auf die körperlichen Empfindungen und Veränderungen bezogen, die mit ihnen verbunden sind. So wurden z. B. die Gefühle des Zorns, der Liebe, des Herrschens und des Freiseins in Veränderungen des Thymos, d. h. der Brust, oder des Herzens erfahren. Als z. B. die Gefährten von Odysseus ihm zuredeten, die Rückreise in die Heimat anzutreten, reagierte Odysseus wie folgt: »Also bewegten die Freunde mein edles Herz zum Gehorsam«. Offensichtlich war es früher selbstverständlich, dass man sich von den eigenen Emotionen führen ließ, weil man von ihrer inhärenten Rationalität überzeugt war.

Aus diesen Überlegungen folgt die wichtige Erkenntnis, dass an die Stelle des absoluten Vorrangs des Geistes, wie er im idealistischen Menschenbild behauptet wurde, der Vorrang der Emotionen gesetzt werden muss. Entsprach dem Vorrang des Denkens der Glaube, dass man sich beliebig steuern könne, so enthält das neue, den Emotionen zugewandte Körperverständnis die Einsicht, dass die Menschen primär gehandelt werden. Das Bewusstsein ist eher der Beobachter als der Steuermann des Handelns. Das scheinbar aktive, entschlossene Handeln erweist sich als Selbsttäuschung; es ist im Grunde ein Geschehenlassen, das sich dadurch auszeichnet, dass man völlig mit ihm einig ist (vgl. S. 174). Deshalb muss die Gewohnheit, Denken und Fühlen als polare Begriffe zu behandeln, aufgegeben werden. Die Emotionen sind die Grundlage des Denkens. Sie allein gewährleisten die Wahrhaftigkeit des Denkens. Daraus folgt, dass das Denken zu fehlerhaften Ergebnissen führt, wenn es nicht auf gutem Kontakt zu den Emotionen und damit zu anderen Menschen basiert. Die Denkfehler äußern sich in Rationalisierungen des Kontaktverlustes, in Schuldzuweisungen oder im Egoismus, auch in metaphysischen Spekulationen, Objektivierungen von Werten u. Ä.

Diese Überlegungen zur emotionalen Selbstorganisation bedeuten weiterhin, dass Anstöße zu Veränderungen des eigenen Verhaltens nicht von den Gedanken, sondern ausschließlich von den Emotionen kommen. Da die Emotionen ein Teil der unbewussten Selbstorganisation sind, können sie sich nur ändern, wenn Erfahrungen gemacht werden, die den Anlass geben, dass die Emotionen neu geordnet werden. Entscheidend sind Erfahrungen der Zuwendung und Nähe, die das Vertrauen wiederherstellen, dass die aus Angst vorgenommenen Kontakteinschränkungen rückgängig gemacht werden können. Wenn die Voraussetzungen dafür gegeben sind, stellen sich Veränderungen in Richtung auf mehr Liebes- und Kontaktfähigkeit von selbst ein. Ein Anstoß kann u.U. auch von Bedrohungen der körperlichen oder seelischen Integrität durch Schmerzen u. Ä. ausgehen, aber sie wirken nur verändernd, wenn sie in Erfahrungen der Zuwendung eingebettet sind.

Positive emotionale Erfahrungen werden dazu führen, dass man das eigene Unglück akzeptiert. Auf diesem Boden erwächst die Bereitschaft, sich um die Verbesserung der emotionalen Fähigkeiten zu kümmern, die aufgrund des Rückzugs vernachlässigt wurden. Man braucht die Verantwortung nicht mehr anderen Menschen oder Instanzen anzulasten. Die an andere Menschen gesendeten Signale des Unglücklichseins haben ihren Zweck erreicht.

Aus der bisherigen Analyse des Atems geht hervor, dass die emotionale Selbstorganisation dadurch möglich geworden ist, dass in der Evolution der Menschen die Atembewegungen zusätzlich zur Sauerstoffversorgung auch zur Darstellung der Emotionen genutzt wurden. Dadurch konnte die natürliche Selbstorganisation, die immer schon den Bezug zur Umwelt aufnimmt, um den emotionalen Kontakt erweitert werden. Dadurch wurde es möglich, dass sich die Menschen auch im Rahmen von komplexen sozialen Verhältnissen bewegen können. Zugleich wurde die Qualität des Denkens von der Qualität des emotionalen Kontaktes abhängig. Wenn man sich z. B. aufgrund von seelischen Verletzungen aus dem sozialen Kontakt zurückzieht, wird davon das ganze Denken infiziert. Wenn man sich aufgrund von Ängsten selbst negiert, verliert das Denken seine produktive Kraft, alle Probleme im Zusammenleben zu lösen. Wahrscheinlich haben diese Zusammenhänge dazu geführt, dass sich die Philosophie so schwer mit dem Problem der Freiheit getan hat, das im nächsten Abschnitt diskutiert werden soll.

Der Atem erweist sich als das Medium des Denkens und Fühlens, wie es immer schon im mystischen und esoterischen Danken begriffen wurde. Aber im Atem drückt sich nur die Kraft des menschlichen Organismus aus, seinen Kontakt zur Umwelt auch ohne das Bewusstsein zu organisieren. Der Atem ist nicht mehr als das stoffliche Medium der emotionalen und gedanklichen Selbstorganisation. Im Atem kann die Selbsttätigkeit der inneren Natur erfahren werden und diese Erfahrung kann eine zentrale Rolle in der persönlichen Veränderung spielen, weil es das Vertrauen in sich selbst stärken kann. Jeder Versuch aber, den Atem als eine eigenständige Kraft zu verstehen, der von sich aus Heilung, Transformation oder Beziehung will, wäre ein Rückfall in mystisches Denken, das letztlich immer einen rettenden Grund in transpersonalen Kräften annimmt. Wenn der Atem »nur« als stoffliches Medium des symbolischen Austauschs verstanden wird, der selbst von anderen Kräften organisiert wird, schmälert das keineswegs die zentrale Bedeutung des Atems. Denn der Atem ist und bleibt der einzige Zugang zur Erfahrung dieser inneren Kräfte der Selbstorganisation. Außerdem ist die seelische Innenwelt letztlich nur mittels des Atems erfahrbar.

Man muss davon ausgehen, dass der Begriff Selbstorganisation nicht die Realität beschreibt, wie sie ist, sondern dass er eine Metapher zur Verfügung stellt, wie man die Realität erfassen könnte. Er enthält das Bild, dass alles wie von selbst läuft, also mühelos und mit geringstem Energieaufwand geschieht. Dazu gehört auch die Vorstellung, dass man sich nicht anzustrengen braucht, um gute Ergebnisse zu erzielen und auch die Einsicht, dass Angst immer ein Zeichen dafür ist, dass Kenntnisse und Fähigkeiten fehlen, um sich der Selbstorganisation überlassen zu können. Man könnte meinen, dass der Begriff den Nachteil hat, dass ihm scheinbar etwas Mechanistisches anhaftet. Darin liegt aber gerade sein Vorzug. Er eignet sich besonders gut dafür, das mechanistische Bild vom menschlichen Körper, das alle Prozesse nach dem Muster einer Maschine ablaufen lässt, durch eine neue Metapher zu ersetzen. Denn das mechanistische Körperverständnis ist immer noch so mächtig, dass es wahrscheinlich leichter durch Bilder transformiert werden kann, die es aufgreifen und von innen heraus verändern.

7.3. Wer wahr handelt, fühlt sich frei

»Beglückt ist man nur, wenn man nichts anstrebt - und sich von diesem Nichts so durchdringen lässt, dass man ganz trunken davon wird.« (E.M. Cioran)

Aus dem Konzept der Selbstorganisation ergibt sich eine neue Sicht der Problematik des freien Willens. Aus Erfahrung weiß man, dass sich das Handeln frei anfühlt, wenn es von den inneren Impulsen getragen wird. Es fühlt sich mühelos an, als würde es von selbst ablaufen. Wenn man sich fragt, worin menschliche Freiheit besteht, kann nur dieses Gefühl des spontanen Handelns als eines Geschehenlassens gemeint sein. Umgekehrt merkt man meistens sehr deutlich, wenn man aus innerem Zwang oder aus Abhängigkeit heraus handelt. Dieses Gefühl kann allerdings in den Hintergrund des Bewusstseins gedrängt werden, so dass man sich leicht vormachen kann, man würde aus freien Stücken handeln.

Bei der Problematik der Freiheit steht man vor dem Dilemma, dass man zwar das Gefühl hat, frei zu sein, dass man aber bei jedem Versuch, das Handeln zu erklären, feststellen muss, dass es durch die persönliche Geschichte und die objektive Situation determiniert erscheint. In der Geschichte der Philosophie hat sich das Pendel immer wieder zwischen den beiden Polen der Freiheit und der Determination hin und her bewegt. Dabei ist auffällig, dass die Deterministen sich auf die Erfahrung berufen, während die Freiheitsverteidiger logische oder metaphysische Beweise bemühen. Offensichtlich herrscht gegenwärtig die Position vor, den Menschen prinzipielle Freiheit zuzusprechen und die Würde des Menschen davon abhängig zu machen. Aber das Dilemma ist im Grunde nach wie vor nicht aufgelöst.

Aus der oben entwickelten Theorie der Emotionen ergibt sich, dass man aus diesem Dilemma nur herauskommt, wenn anerkannt wird, dass die entscheidende Frage, die hinter der Problematik der Freiheit steht, nicht die Frage nach der kausalen Determination ist, sondern ob man sich als frei oder als fremdbestimmt fühlt. Wie oben gezeigt, ist das Bestreben jeden Lebewesens, in Übereinstimmung mit den eigenen Emotionen zu handeln, dass aber seelische Verletzungen dazu führen, dass man sich von anderen Menschen abhängig macht und unter dieser selbst gewollten Fremdbestimmung leidet, weil sie mit Einschränkungen der eigenen Lebendigkeit verbunden ist. Das zentrale Problem ist somit, ob man im Einklang mit den eigenen Emotionen handelt oder nicht.

Darauf weist der Begriff »autonom« (auto = selbst, nomos = Gesetz) hin, der oft synonym für »frei« gewählt wird. Dieser Begriff hebt hervor, dass man sich gleichsam das Gesetz seines Handelns selbst gibt. Deshalb wird freies Handeln oft auch damit umschrieben, dass man sein eigener Herr sei. Bei diesen Umschreibungen des freien Handelns darf aber nie vergessen werden, dass der Begriff frei nur ausdrückt, dass man sich von seinen unbeschädigten Basisemotionen leiten lässt. Das Gefühl des freien Willens muss deshalb keine Täuschung sein, wie es oft behauptet wird, sondern ist real, wenn es auf der Abwesenheit von Fremdbestimmung basiert. Allerdings ist hier oft viel Selbsttäuschung im Spiel, weil meistens das Gespür fehlt, um zwischen Basis- und Ersatzemotionen unterscheiden zu können. Man identifiziert sich genauso mit seinen Ersatzgefühlen, so dass man sich auch frei fühlt, wenn man sich längst abhängig gemacht hat.

Die Erkenntnis, dass die freie Artikulation der Emotionen eine Bedingung freien Handelns ist, drückt sich in den Empfehlungen aus, »mit der Strömung zu schwimmen«, »dem Herzen zu gehorchen« oder »sich von den inneren Impulsen leiten zu lassen« u. Ä. Auch die Empfehlung, sich »vom Atem führen zu lassen«, geht in diese Richtung. Auch die z. B. von Erich Fromm verwendete Formel, dass die Verhärtung des Herzens zum Verlust der Freiheit führt, ist in diesem Sinne zu verstehen. All diese Formulierungen umschreiben das Prinzip des Zulassens und des Loslassens. Deshalb kann gesagt werden: Wer sich der Wahrheit der Emotionen öffnet, macht sich wirklich frei. Man darf dabei aber nie vergessen, dass Autonomie nicht dadurch erreicht werden kann, dass man sich einfach vornimmt loszulassen, sondern dass sie einen langen Erfahrungsprozess voraussetzt, in dem die eigenen Emotionen ausgebildet wurden und ein gutes Gespür entwickelt wird, ob man von Basisemotionen oder Ersatzemotionen geleitet wird.

In der Stoa und im Buddhismus wurde als Grundsatz empfohlen, dass man nicht blind den spontan auftauchenden Vorstellungen gehorchen, sondern ihnen bewusst zustimmen soll. Das bedeutet, dass man sie überprüfen soll, ob sie der inneren Natur entsprechen oder ob sie aus äußerer Fremdbestimmung stammen. Das Problem ist, dass diese Überprüfung im Grunde immer schon spontan abläuft. Wenn man sich in einer ausgeglichenen seelischen Verfassung befindet, dann entsprechen die Vorstellungen von selbst der inneren Natur und können damit akzeptiert werden. Wenn man dagegen unausgeglichen ist, wird man leicht die Signale der Diskrepanz übersehen.

Freiheit steht somit nicht im Widerspruch zu der Tatsache, dass man von anderen Menschen abhängig ist und auf ihre Anerkennung, ihre Zuneigung, Liebe und Hilfe angewiesen ist. Dies ist eine akzeptierte, weil nützliche Abhängigkeit und wird deshalb nicht als einschränkend erfahren. Wer aber erfährt, dass sich andere Menschen mit ihren Bedürfnissen gegenüber den eigenen durchzusetzen versuchen, wird im Interesse der eigenen Freiheit diesen Bestrebungen mithilfe der Wut Widerstand entgegensetzen und für seine Freiheit kämpfen. Er macht die Erfahrung, dass der persönliche Zugewinn an Freiheit nicht der Vernunft, wie es in der philosophischen Tradition immer behauptet wurde (z. B. Spinoza), sondern der Kraft seiner Emotionen zugeschrieben werden muss. Offensichtlich ist Willensfreiheit zwar von Natur aus gegeben, aber sie ist eine fortwährende subjektive Aufgabe, da sie gegenüber dem sozialen Druck zur Fremdbestimmung verteidigt werden muss.

Für Menschen, die sich illusionslos beobachten, ist die Frage nach der Existenz der Willensfreiheit eine überflüssige Frage. Sie fühlen sich nicht abgewertet oder in ihrer menschlichen Würde infrage gestellt, wenn sie bemerken, dass sich ihre Entscheidungen von selbst einstellen und dass sie von früheren Erfahrungen und dem aktuellen sozialen Kontext bestimmt werden. Im Gegenteil: sie können sich damit identifizieren, weil die Entscheidungen offensichtlich gelungene Abstimmungen der eigenen Bedürfnisse mit den Bedürfnissen der Gruppe repräsentieren. Sie hätten nicht anders gehandelt, wenn sie die Entscheidung bewusst herbeiführen müssten. Das Bewusstsein, das sich nicht die Macht der freien Entscheidung anmaßt, stellt sich nicht gegen den übrigen Organismus, sondern versteht sich eher als die Bühne, auf der der schwierige Abstimmungsprozess bewusst abläuft. In dieser Perspektive wird das Leben spannend und aufregend. Es ist die Quintessenz aller Weisheitslehren, dass das Leben leichter wird, wenn es mit all seinen Regungen und Entscheidungen akzeptiert wird.

Aus den bisherigen Überlegungen folgt, dass sich über Freiheit nur sinnvoll nachdenken lässt, wenn man sich auf die subjektiv erfahrbare Freiheit bezieht. Nur anhand der eigenen Erfahrung ist überprüfbar, ob das Handeln frei oder unfrei ist. Wenn aber nach dem Wesen der Freiheit gefragt wird, verlässt man die Ebene der Erfahrung. Wenn also die Frage so gestellt wird, ob das Verhalten des Menschen frei oder determiniert ist, begibt man sich in die Sphäre der Metaphysik, in der die Frage letztlich nicht zu beantworten ist. Man muss dann zu spekulativen Gedankensystemen Zuflucht nehmen, in denen aber das Ergebnis der Überlegungen bereits aufgrund von normativen Annahmen vorentschieden ist. Die Freiheit wird auch dann zur Wesensbestimmung des Mensch erhoben, wenn man wie z. B. Immanuel Kant von der skeptischen Position ausgeht, dass der Entschluss, gute oder böse Maximen zu befolgen, ein reiner Freiheitsakt ist, der nur zu konstatieren, aber nicht weiter zu begründen ist.

Die Verabsolutierung der Freiheit ist sehr problematisch, weil dann unmoralische und als böse geltende Handlungen als reine Akte der Freiheit erscheinen und die traumatischen Erfahrungen von Gewalt und Liebesverlust, die regelmäßig hinter solchen Handlungen stehen, ausgeblendet werden. So wird behauptet, dass die Pathologisierung der unmoralischen Handlungen eine Ignorierung der Freiheit bedeuten würde. Mit solcher Dogmatisierung der Freiheit wird man aber den Ursachen von moralischem Fehlverhalten nicht gerecht. Man neigt dann zur Bestrafung, wo eigentlich Resozialisierung angezeigt ist. Ein weiteres Problem der Verabsolutierung der Freiheit liegt darin, dass sie ein instrumentelles Verhältnis zu sich selbst unterstützt, so als hätte man es in der Hand, sich aus bloßem Willensentschluss zu verändern. Diese Illusion zu zerstören, ist das Ziel aller Überlegungen in diesem Buch.

Aus diesen Zusammenhängen erklärt sich die oft vorgenommene Gleichsetzung von Freiheit und Glück. Freiheit sei die elementare Voraussetzung für Glück. Glück sei deshalb kein eigenständiges Ziel, sondern Ausdruck freien Lebens. Deshalb sei nicht das Glück, sondern die Freiheit die zentrale Zielgröße in der persönlichen Entwicklung. Dies ist im Prinzip richtig. Aber Freiheit darf nicht als politische Freiheit, sondern muss als emotionale Freiheit verstanden werden, in dem Sinne, dass man im Einklang mit den eigenen Emotionen handelt und dabei das Gefühl hat, frei zu handeln.

Da das Glück von frei artikulierten Emotionen abhängt, folgt daraus, dass es sich der bewussten Verfügbarkeit entzieht. Wer Vertrauen in seine psychischen Selbstheilungskräfte hat, braucht sich um sein Glück nicht weiter zu kümmern. Wer sich aber für das Unglücklichsein entschieden hat, kann zwar den Wunsch fassen, für sein Glück zu arbeiten, aber die tiefe Entscheidung für das Unglücklichsein wird sich durchsetzen. Es ist deshalb rational, diese Entscheidung zu akzeptieren. Auch wenn diese Empfehlung nur schwierig umzusetzen ist, weil man sie nur ausführen kann, wenn die seelischen Kräfte dafür vorhanden sind, so kann die Einsicht, dass man sich selbst für das Unglück entschieden hat, einen Veränderungsprozess einleiten. Wahrscheinlich liegt die Ursache für die verbreitete Fixierung auf die Freiheit darin, dass man dadurch an der Hoffnung festzuhalten kann, dass man sein Unglück aus eigener Kraft überwinden und sich so vor der anstehenden Trauerarbeit drücken kann. Glückliche Menschen haben keine Probleme mit der Freiheit, da sie ihren inneren Impulsen absolut vertrauen und sich mit ihnen identifizieren.

 Selbstakzeptanz

Wenn sich alles, was man denkt und fühlt, aus der emotionalen Selbstorganisation ergibt, folgt daraus ein rezeptives Grundverständnis der menschlichen Natur. Dem neuen Selbstverständnis entspricht die Grundhaltung, dass man sich neugierig beobachtet, wie man sich verhält. Anstatt die eigenen Aktionen zu bewerten, fragt man sich, warum man so und nicht anderes gehandelt hat, obwohl es den eigenen Absichten widerspricht, oder man lacht über sich, wenn das Handeln ganz anders ausfällt, als man erwartet hatte. Für das Bewusstsein stellt sich das eigene Innere als etwas Fremdes dar. Es gibt die Illusion auf, den Organismus steuern zu können, und fühlt sich primär verantwortlich dafür, dass die optimalen Voraussetzungen für die emotionale Selbstorganisation geschaffen werden. An diese rezeptive Grundeinstellung wurde schon immer im esoterischen Denken gedacht, wenn empfohlen wurde, auf sich zu hören und den inneren Impulsen und Stimmen oder der »Weisheit des Körpers« zu vertrauen. Wenn man auf sich höre und sich empfänglich gegenüber den inneren Impulsen verhält, könne man im Grunde nichts falsch machen.

Die rezeptive Grundhaltung bedeutet also, dass den inneren Signalen mehr Gewicht gegeben wird als den Gedanken. Hohe Sensibilität gegenüber den inneren Impulsen ist wichtiger als hohe mentale Reflexionsfähigkeit. Es geht nicht darum, die Gefühle zu kontrollieren, sondern sie wahrzunehmen. In der rezeptiven Verfassung werden Gefühle und Gedanken automatisch aus einer gewissen Distanz betrachtet. Der Organismus vertraut ihnen, er weiß aber aus Erfahrung, dass sie oft fremdbestimmt werden. Es stellt sich eine skeptische Kontrollhaltung ein, die prüft, ob die Impulse wirklich nicht auf Anpassung ausgerichtet sind. Gefühle und Gedanken werden nur dann als legitim anerkannt, wenn sie auf den inneren Signalen basieren. Bei den inneren Impulsen stellt sich nie die moralische Frage nach Schuld und Verantwortung. Denn man weiß aus Erfahrung, dass ein moralisches Verhältnis gegenüber sich selbst immer ein Zeichen dafür ist, dass man sich in emotionaler Abhängigkeit von anderen Menschen befindet.

Die rezeptive Grundhaltung ist übrigens in der Atemerfahrung vorgezeichnet. Alle Versuche, den Atem zu kontrollieren und zu steuern, sind zum Scheitern verurteilt. Deshalb steht auch im Zentrum aller Weisheitslehren die Erfahrung, dass der angemessene Umgang mit dem Atem allein darin besteht, sich ihm achtsam zuzuwenden und seine unwillkürlichen Signale wahrzunehmen, d.h. ihn gleichsam als Ratgeber und Führer anzusehen. In isolierten Übungssituationen kann man zwar auf den Atem Einfluss nehmen, aber in realen Handlungssituationen geht der Atem seine eigenen Wege. Da alle emotionalen und mentalen Prozesse Erscheinungsformen des Atems sind, ist deren uneingeschränkte Akzeptanz das angemessene Verhältnis ihnen gegenüber.

Das Körpergefühl, das sich aus der rezeptiven Grundhaltung ergibt, kann als systemisch bezeichnet werden, weil es nicht mehr die Grenzen zur Umwelt akzentuiert, sondern vom Wissen geprägt wird, dass der Körper über die Atemmembran mit dem sozialen System, zunächst mit der Familie, später auch mit anderen Gruppen verbunden ist. Deshalb gehört mir meine Atemmembran nicht allein, sondern gehört genauso gut als Verbindungsmedium zum System der sozialen Umwelt. Zwar geht das systemische Gefühl im Alltag allzu leicht wieder verloren. Aber die Idee der Atemmembran hält die Erinnerung daran fest.

Die rezeptive Grundhaltung bedeutet bedingungslose Selbstakzeptanz. Selbstakzeptanz gehört zum Kanon antiker Weisheitslehren und stellt eine Grundüberzeugung des esoterischen Denkens dar. Aus dieser Haltung heraus wird empfohlen, seine Schmerzen zu akzeptieren und auf ihre Botschaften zu hören, oder von seinen Allmachtsphantasien Abschied zu nehmen, die eigene Schwäche einzugestehen, sich ins Schicksal zu fügen und darauf zu verzichten, andere erziehen zu wollen. Dies scheint ein überzeugendes Rezept zu sein, da dadurch mit einem Streich die innere Unzufriedenheit, Selbstverachtung, Zwietracht u. a. scheinbar ausgelöscht werden können.

Meist werden aber die Voraussetzungen verschwiegen, unter denen allein Selbstakzeptanz wirksam sein kann. Selbstakzeptanz setzt seelische Kraft voraus, sich mit seinen inneren Ängsten zu konfrontieren. Sie äußert sich als Fähigkeit, Störungen als Herausforderungen zu begreifen und als Botschaft anzunehmen, etwas Neues zu lernen, Situationen umzuinterpretieren und neue Fähigkeiten zu lernen. Selbstakzeptanz setzt also die Kraft voraus, Fixierungen und Identifikationen loslassen zu können. Wie oben dargestellt, wurzelt diese Kraft in gut entfalteten Basisemotionen.

Wenn man sich aber Selbstakzeptanz verordnet, ohne die dafür erforderlichen Kräfte zu besitzen, schlägt dies in Stress um, der den inneren Druck erhöht und damit das Unglück verstärkt. Glück folgt nur aus Selbstakzeptanz, die von selbst aus innerer Kraft heraus erfolgt. Selbstakzeptanz kann nicht angestrebt werden. Sie stellt sich von selbst ein, wenn eine ausreichende seelische Stärke vorhanden ist. Seelenstärke kann aber nicht gewollt werden.

Die gleichen Überlegungen gelten für die Aufforderung, sich selbst zu lieben. Viele Glücksbücher muntern dazu auf, sich selbst zu sagen: »Ich liebe mich selbst.« (Kirschner 2000, S. 165). Es wird aber dabei übersehen, dass die fehlende Selbstliebe ein Symptom dafür ist, dass das Unglücklichsein gebraucht wird, um mit Verletzungen fertig zu werden und dass die Selbstliebe spontan zurückkehrt, wenn das Unglücklichsein nicht mehr benötigt wird.

Die traditionelle Empfehlung, sich mit dem gegenwärtigen Zustand abzufinden, weil er von Gott, vom Schicksal o.ä. gewollt sei, wird deshalb der seelischen Problematik nur zur Hälfte gerecht. Es müsste unbedingt die seelische Kraft hinzukommen, dass man die eigene Entscheidung zum Unglücklichsein annehmen kann und nicht weiter verleugnet. Das Annehmen wird dann frei von Schuld und Selbstvorwürfen sein. Wenn man also an sich die Neigung beobachtet, dass man sich mit dem Willen des Schicksals u. Ä. zu trösten versucht, kann man daraus für sich selbst lernen, dass die inneren Kräfte noch nicht hinreichend stark sind, spontan alles ohne höhere Begründung annehmen zu können.

Daraus leitet sich ab, dass es zwecklos ist, sich selbst Vorsätze für besseres Verhalten zu machen. Wenn die emotionalen Voraussetzungen fehlen, führen die Vorsätze nur zu einer erhöhten Fremdbestimmung. Sie bestätigen bloß die schon vorhandene Neigung zur Anpassung an die Meinungen anderer. Der Wille zur Selbstveränderung ist also nicht ausreichend; er kann sogar irreführend sein, weil man sich dadurch unter Druck setzt. Allzu oft hat er die Funktion, sich selbst zu betrügen und die Verantwortung für sich selbst an andere Menschen zu delegieren. Besser wäre es, mit sich nachsichtig zu sein. Denn alles, was man negativ an sich bewertet, hat einen tieferen Sinn, den das Bewusstsein nicht bzw. noch nicht versteht. Zur Nachsicht gegenüber sich selbst gehört auch, dass dieses Verständnis nicht erzwungen werden kann.

Deshalb wirkt sich der bürgerliche Glaube an die persönliche Selbstveränderungskompetenz, die durch psychotherapeutische Theorien immer wieder bestätigt wird, äußerst negativ aus. Sie verstärkt den Druck auf den Einzelnen, sich von seinen persönlichen Problemen befreien zu müssen. Die Idee der persönlichen Selbstveränderbarkeit führt offensichtlich zu Allmachtsphantasien, die zur Verleugnung von Gefühlen der Schwäche, des Versagens und der Hilflosigkeit zwingen und damit die innere Dissonanz erhöhen.

Genauso wenig bringt es, andere ändern zu wollen oder ihnen Ratschläge zu geben. Diese Absicht weckt beim anderen spontan Abwehr und erreicht so das Gegenteil dessen, was man erreichen wollte. Aus Erfahrung weiß man, dass diese Strategie tatsächlich kontraproduktiv ist. Zu Recht wird gesagt, dass man gegen andere kämpfen muss, wenn man verhindern will, dass sich etwas verändert. Offensichtlich will man den anderen dafür verantwortlich machen, dass man selbst sich nicht verändern will. Wenn man dem anderen die Verantwortung für das eigene Leiden zuschiebt, kann man sich selbst davon entlasten.

Damit führen die Überlegungen zu der traditionellen Weisheit, dass sich Veränderungen einstellen, wenn man gerade keine Veränderung anstrebt. Das scheinbare Paradox in dieser Formulierung löst sich auf, wenn man es im Licht der Theorie der Selbstorganisation betrachtet. Veränderungen brauchen ein emotionales Milieu, das man nicht selbst aus eigener Kraft herbeiführen kann, sondern das man vorfinden muss. Darauf wollte wahrscheinlich die traditionelle Philosophie hinweisen, wenn sie sagte, dass das Glück ein Geschenk oder eine Gnade Gottes sei.

Die rezeptive Grundhaltung ist schwer zu akzeptieren, da sie diametral zu dem traditionellen Selbstverständnis des Ichs steht, das von seiner Selbstmächtigkeit überzeugt ist. Das naive Ich stellt ständig Anforderungen an sich selbst und ist über sich selbst verärgert, wenn es seine Ziele nicht erreicht. Es hat sich mit der philosophischen Metapher angefreundet, dass es den Körper bewohnt, aber nicht zu dieser Welt gehört. Es wurde gezeigt, dass dieses Selbstverständnis nichts natürlich Gegebenes, sondern ein Produkt der historischen Entwicklung ist (vgl. S. Error: Reference source not found und 256). Indem der Organismus sich gegen die emotionalen Signale immun macht, verliert das Ich gerade seine Selbstmächtigkeit und wird abhängig von Fremdbestimmung. Daraus ergibt sich, dass das Ich seinen Wunsch, frei zu sein, nur erfüllen kann, wenn es seine Abhängigkeit von den eigenen Emotionen und denen der anderen Menschen akzeptiert.

7.4. Der ethische Kompass

»Geht der große Sinn zu Ende, kommt Moral, Sittlichkeit und Pflicht.« (Laotse)
«Liebe, aber wahrhaft! Und es fallen dir alle anderen Tugenden von selbst zu.« (Ludwig Feuerbach)

Aus den bisherigen Überlegungen könnte der Eindruck entstehen, dass Moral überflüssig ist. Entweder handelt man spontan richtig, weil man sich an seinen Emotionen orientiert oder man handelt spontan falsch, weil man dazu von seinen Ersatzgefühlen gezwungen wird. Welchen Sinn hat die Rede von den moralischen Werten, wenn sich die Gefühle selbst steuern? Wozu wird Moral benötigt, wenn die Emotionen dem Denken und Handeln eine Orientierung geben und damit auch darüber entscheiden, was gut und was böse ist?

Die Philosophie hat viel Verwirrung in die Diskussion der Gefühle als Orientierungsgrößen des Handelns gebracht. Sie ging von dem Glaubenssatz aus, dass das Gute vom reflektierenden Geist erkannt und begründet werden könne. Sie war überzeugt, dass nur das moralisch richtige Leben auch glücklich sei. So hat die philosophische Ethik seit Kant ihren Grundpfeiler in der Forderung, den anderen Menschen nie als Mittel für die eigenen Bedürfnisse, sondern als Zweck an sich selbst, also als Selbstzweck zu betrachten. Diese ethische Grundforderung wird oft so formuliert, dass sich die Menschen wechselseitig als Person anerkennen und respektieren sollen. »Unbedingt und ohne Ansehung der Umstände gilt die Pflicht, die Sphäre der Freiheit des Anderen nicht aufzubrechen durch eine Einwirkung auf ihn als Natur, die ihn als Person ignoriert.« (Spaemann 1998, S. 233). Nach dieser Theorie verlangt Verantwortung, dass das Verhalten begründet werden kann. »Der archimedische Punkt der Moralbegründung ist die formale Forderung der wechselseitigen Verantwortung. Die Selbstzwecklichkeit oder die Würde oder das grundlegende, unverlierbare Recht eines jeden Menschen besteht darin, dass die Art und Weise, wie er behandelt wird, ihm gegenüber muss verantwortet werden können.« (Ricken 1998, S. 173)

Jedoch: das Ergebnis des ethischen Denkens in den letzten 2000 Jahren ist deprimierend. Die Begründung allgemeiner Normen ist der Ethik bisher nicht gelungen. Es ist eher unklar geworden, worin überhaupt solche allgemeinen Normen und Werte bestehen könnten. Die Ethik konnte allenfalls aufzeigen, welche Bedingungen für ein glückliches Leben erforderlich sind (z. B. Freiheit). Vermutlich hat die Philosophie bei der Frage nach den ethischen Grundlagen des Handelns einen rationalistischen Irrweg eingeschlagen, weil sie die Funktion der Emotionen im menschlichen Zusammenleben nicht begreifen konnte.

Es gibt viele Hinweise darauf, dass man tief im Inneren immer schon weiß, was das Richtige ist. So braucht Kleinkindern nicht beigebracht zu werden, dass es z. B. nicht in Ordnung ist, andere Kinder zu schlagen: Sie wissen aus eigener Erfahrung, dass es weh tut und sie traurig macht. Man ist immer wieder von ihrem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und ihrer Bereitschaft überrascht, anderen zu helfen. Diese Beispiele zeigen, dass offensichtlich ein Prinzip das Verhalten der Kinder steuert, das man nicht mit der Vernunft erklären kann. Auch bei den Erwachsenen ist ein spontanes Gefühl für sozialen Ausgleich und soziale Gerechtigkeit zu beobachten. Oft macht das Schuldgefühl darauf aufmerksam, dass man bei anderen etwas wieder gutmachen muss. Solche Impulse können nicht aus moralischen Bewertungsrichtlinien abgeleitet werden. Vielmehr müssen sie als Indizien dafür gewertet werden, dass es eine ethische Selbststeuerung gibt, die tief in den Emotionen wurzelt.

Die Idee der ethischen Selbststeuerung ist keineswegs neu. Sie taucht bei vielen Philosophen auf. Am klarsten ist sie von den schottischen Aufklärern wie Shaftesbury, Francis Hutcheson und David Hume mit der These des »moral sense« formuliert worden. Sie hatten die Vorstellung von einem jedem Menschen innewohnenden gefühlsmäßigen Entscheidungskriterium für das sittlich richtige oder falsche Urteilen, Streben und Handeln. Sie waren überzeugt, dass sich Ethik nicht auf Wissen und Fakten begründen lässt und dass sich das moralisch Gute auf elementare Weise mit dem »moral sense« fühlen lässt. Damit stellten sie sich gegen die vorherrschende religiöse Auffassung, dass der Maßstab für richtiges Handeln durch Gott verbürgt sei. Auch bei Blaise Pascal und Spinoza finden sich Gedanken, die die Existenz einer ethischen Selbststeuerung begründen.

Ich vermute, dass die Ideenlehre Platons letztlich von der Erfahrung der ethischen Selbststeuerung inspiriert wurde. Wenn man die absoluten Ideen aus der Perspektive der ethischen Selbststeuerung interpretiert, können sie als der mentale Ausdruck der emotionalen Reaktionsmuster verstanden werden, die sich in der frühen Kindheit unter Bedingungen uneingeschränkter Liebe entwickeln und zu den Grunderfahrungen von Liebe, Vertrauen, Respekt, Toleranz, Wahrheit, Gerechtigkeit, Freiheit u. a. führen. Meistens werden sie durch spätere emotionale Verletzungen verschüttet und durch solche der Selbstzentrierung ersetzt. Sie können sich dann nicht zu reifen Reaktionsmustern weiterentwickeln, auf die sich das Handeln stützen kann. Es bleibt aber möglich, durch Selbsterkenntnis oder Rituale seelischer Reinigung die Erinnerung an die ursprünglichen Reaktionsmuster zu beleben. Wenn man annimmt, dass die Ideen in den Basisemotionen wurzeln, wird es verständlich, warum Platon die Ideen inhaltlich nicht näher bestimmt hat. Es wäre reizvoll, die Platonische Philosophie aus dieser Perspektive neu zu interpretieren.

Eine sehr klare Formulierung hat die Idee der ethischen Selbststeuerung in der taoistischen Philosophie gefunden. Das emotional gesteuerte Handeln wird als Nicht-Handeln bezeichnet. Diese paradoxe Formulierung soll darauf hinweisen, dass das Handeln auf der Basis der voll entfalteten Emotionen aus innerer Notwendigkeit heraus erfolgt; man ist völlig einig damit und man fühlt sich als autonom. Es fühlt sich völlig anders an als das fremdbestimmte egoistische Handeln, das gewohnheitsmäßig und mehr oder weniger blind abläuft. Insbesondere braucht man nicht mehr darüber nachzudenken, es weder rechtfertigen noch bereuen. Wenn man sich dennoch mit vergangenen Handlungen beschäftigt, zeigt dies, dass noch Anteile von Fremdbestimmung beteiligt sind. Nicht-Handeln ist deshalb nicht gleichbedeutend mit Nichtstun und passiver Trägheit, sondern ein autonomes Handeln aus Verantwortung für die Mitmenschen und im Zustand uneingeschränkter Kontaktfähigkeit.

Alle philosophischen Theorien, die die Erkenntnis der ethischen Selbststeuerung artikuliert haben, gingen von der Erfahrung aus, dass immer dann, wenn in einem Milieu von Liebe, Achtung und Respekt ein guter Umgang mit den Emotionen gelernt wurde, zu beobachten ist, dass sich spontane Lust am Kontaktaufnehmen und Interesse am Glück der anderen entwickeln. Es ist nicht zu übersehen, dass mit Liebes- und Kontaktfähigkeit immer spontane Rücksichtnahme und Nichtverletzung des anderen verbunden sind. Tugendhaftes Verhalten kann deshalb nur von Menschen erwartet werden, die ihre emotionalen Fähigkeiten vollkommen entfaltet haben. Dann können sich die Emotionen im Sinne eines harmonischen Zusammenlebens ordnen, in dem die Liebe dominiert.

Die Erkenntnis des ethisch Richtigen ist demnach keine Frage der geistigen Fähigkeiten, sondern hängt von der Entfaltung der emotionalen Einfühlungsfähigkeit in die Emotionen der anderen Menschen ab. Daraus folgt, dass die Voraussetzungen für ethisches Verhalten primär in den sozialen Lebensbedingungen liegen, unter denen die Menschen aufwachsen und daß ethisches Verhalten nicht durch Gebote oder Einsicht erreicht werden kann. Wenn sich die emotionale Selbstorganisation in einem Milieu von Liebe und Achtung entwickelt, ergibt sich daraus ganz zwanglos ein Wissen um das ethisch Richtige, weil dann die Basisemotionen für einen guten Kontakt sorgen.

Gegen die ethische Orientierung an den Emotionen wird oft das Argument vorgebracht, dass die Gefühle nicht die Verbindlichkeit einer moralischen Norm beanspruchen können, da sie bloß subjektiv seien. Es wird gefordert, dass die Werturteile hinter den Gefühlen auf ihre Rechtmäßigkeit hin reflektiert werden müssten. Damit wird aber das Wesen der Emotionen verkannt. Wie oben herausgearbeitet wurde, nehmen die Emotionen eine spontane Bewertung der Handlungssituation vor, in die frühere Erfahrungen mit ähnlichen Situationen eingehen. Deshalb sind in den Emotionen immer schon reflexive Momente enthalten. Ausschlaggebend ist allerdings, dass es sich dabei um unbeschädigte Emotionen handeln muss. Wenn das Handeln von Basisemotionen geleitet wird, ist eine mentale Überprüfung überflüssig, weil die Emotionen »stimmen«. Wenn es aber aus kompensatorischen Emotionen hervorgeht, wäre eine mentale Überprüfung dringend erforderlich. Sie kann aber wegen der Zwanghaftigkeit des Verhaltens nicht durchgeführt werden.

In Wirklichkeit versucht jeder Mensch seine Emotionen so zu konfigurieren, dass dadurch ein gutes Zusammenleben mit anderen Menschen ermöglicht wird. Jeder Mensch will von seinen Mitmenschen anerkannt werden. Dazu muss er sie anerkennen. Das setzt voraus, dass er im ständigen Austausch mit anderen Menschen die Regeln der Interaktion überprüft und festlegt. Wenn dies möglich ist, ergibt sich daraus spontan ein Verhalten, dass die Möglichkeiten der anderen Menschen zur freien Selbstbestimmung ihres Lebens nicht beschneidet, d. h. ihre Bedürfnisse berücksichtigt, so wie von ihnen erwartet wird, dass sie seinen eigenen Gestaltungsspielraum respektieren. Das ist gewährleistet, wenn das Verhalten aller daran orientiert ist, dass es einen sinnvollen Beitrag zur Erhaltung und Verbesserung der Lebensverhältnisse leistet. Denn die konkreten Lebensbedingungen geben den Maßstab, welches Handeln sinnvoll ist.

In diesem Anpassungsprozess werden ständig die Ziele des eigenen Handelns umgeformt, falls die veränderten Lebensbedingungen Anlass dazu geben. Die Grundstrukturen der neuen Ziele ergeben sich aus den Emotionen, aber ihre konkrete Fassung ergibt sich aus der Auseinandersetzung mit der konkreten Situation. Insofern ist auch die Reflexion der Ziele keine reine Angelegenheit des Denkens, wie es in der Philosophie (z. B. Horkheimer und Adorno) dargestellt wird, sondern eine Reflexion der artikulierten Emotionen. Je freier die Emotionen geäußert werden können, umso mehr werden die Ziele den jeweiligen Bedingungen angepasst.

Die zentrale Frage ist demnach, unter welchen sozialen Lebensbedingungen die ethische Selbststeuerung versagt. Aus der bisherigen Analyse der Emotionen ergibt sich die Antwort, dass die ethische Selbststeuerung versagt, wenn die meisten Menschen von Ersatzgefühlen angeleitet werden und ihre Basisemotionen zu schwach geworden sind. Dies ist in der Regel in Herrschaftssystemen der Fall. Es ist deshalb nicht weiter verwunderlich, dass sich im Abendland die Idee der ethischen Selbststeuerung nicht durchgesetzt hat.

● Der Denkfehler der ethischen Grundwerte

Im Grunde folgt auch das Verhalten des Egoisten der ethischen Selbststeuerung. Allerdings ist hier der Entscheidungsmaßstab nicht die Liebe, sondern die Maximierung des individuellen Nutzens und Vorteils. Die soziale Gemeinschaft kann diese ethische Selbststeuerung nicht akzeptieren, weil sie den sozialen Zusammenhalt zerstört. Wenn aber die Abhängigkeit des ethischen Verhaltens von den Emotionen nicht begriffen wird, entsteht die Neigung, die Einhaltung der ethischen Werte aus Pflicht zu fordern.

Vermutlich begann die Diskussion um die Existenz objektiver moralischer Werte historisch erst, als sich einerseits das egoistische Verhalten zur dominanten sozialen Lebensform entwickelt hatte und andererseits die Legitimation moralischen Verhaltens durch Tradition und Religion immer schwächer wurde. Jetzt richtete sich die Erwartung an die Philosophen, die Gültigkeit der überlieferten moralischen Normen zu begründen. Wie gezeigt, war dies ein Irrtum, weil die »geistigen Grundwerte« wie Wahrheit, Gerechtigkeit, Freiheit, Liebe, Toleranz u. a. keine unabhängigen, in einem »Wertekosmos« verankerten mentalen Größen sind, sondern Aspekte der emotionalen Gesamtverfassung des menschlichen Körpers darstellen. Sie basieren auf angeborenen Verhaltensdispositionen, die aber mental überformt werden müssen. Sie können deshalb letztlich nicht mittels der Vernunft definiert werden, sondern müssen in einem von gelöstem Atem erfüllten Körper erfahren werden26.

Aus der hier entwickelten Sichtweise der Emotionen können die traditionellen Grundwerte im Einzelnen wie folgt verstanden werden:

 Wahrheit

»Die tiefste aller Sinnlichkeit ist der Sinn für Wahrheit.« (D. H. Lawrence)

Wahrheit bezieht sich nicht auf die Übereinstimmung von Urteilen mit ihren Gegenständen, sondern auf die Übereinstimmung des Handelns mit den Emotionen. Wahrheit ist wahrhaftiges Handeln. Sie setzt den Kontakt mit den emotionalen Impulsen voraus. Sie gründet damit in der Identität des Einzelnen mit sich selbst.

Wahrheit ist deshalb nicht primär eine Frage der Logik, sondern eine Erfahrung. Wahrheit ist keine Angelegenheit des begrifflichen Denkens, sondern bildet sich im Konsens gemeinsamen Fühlens und Empfindens. Sie kann nicht festgestellt, sondern muss gelebt werden. Zu Recht wird von »wahren« Gefühlen gesprochen, wenn sie in den Emotionen wurzeln.

Dieser Zusammenhang ist durch das patriarchale Gebot verschleiert worden, dass von jeder Erkenntnis verlangt wird, dass sie sich reflexiv objektivieren und objektiv überprüfen lassen müsse. Dieses Gebot pervertiert das Denken zur Reproduktion von isolierten Gedanken, zur Produktion von immer mehr Getrenntem.

Wahres Handeln setzt voraus, dass die inneren Impulse mit den Bedürfnissen der anderen Gruppenmitglieder abgestimmt werden. Dementsprechend ist die innere Übereinstimmung auch eine Übereinstimmung mit anderen Menschen. Wahrheit darf deshalb nicht auf eine innerseelische Relation reduziert werden. Wahrheit wurzelt im freiwillig erlangten Konsens mit der Gruppe. Ohne Resonanz gibt es keine Wahrheit.

 Freiheit

»Denke nicht, es sei unnatürlich, dass, wenn das Fleisch ruft, auch die Seele ruft. Das Fleisch ruft: nicht hungern, nicht dürsten, nicht frieren! Es ist schwer für die Seele, dem zu widerstehen, und es ist auch gefährlich für sie, den Ruf der Natur zu überhören, weil täglich ihre Freiheit davon abhängt.« (Epikur)

Wer wahr handelt, fühlt sich frei. Freiheit setzt somit Wahrheit im Sinne von wahrhaftigem Handeln voraus. Freiheit wird an ihrem Gegenteil der Unfreiheit erfahren, d. h. wenn wahres Handeln durch Fremdbestimmung verhindert wird. Wenn in verschiedenen philosophischen Ethiklehren die Freiheit als moralisches Entscheidungsprinzip dargestellt wird, wird es regelmäßig als ein ontologisches Prinzip dargestellt. Damit wird die Verankerung der Freiheit im wahren, den emotionalen Impulsen verpflichtetem Handeln geleugnet.

 Gerechtigkeit

Gerechtigkeit bezieht sich auf das Verhalten der Gruppenmitglieder untereinander. Es ist eine spontane Bewertung im Hinblick darauf, dass die eigenen Bedürfnisse als gleichwertig wie die Bedürfnisse der anderen beachtet werden. Vom Kleinkind werden die Handlungen der Bezugspersonen als gerecht empfunden, wenn seine Bedürfnisse respektiert werden. Gerecht ist, was den Bedürfnissen gerecht wird. Das Kind lernt zu akzeptieren, dass die Bezugspersonen nicht mehr zu geben brauchen, wie sie sich selbst geben, sofern sich seine Bedürfnisse nicht wesentlich von denen der anderen unterscheiden (z. B. stärkere Zuwendung aufgrund einer Erkrankung).

 Liebe»

Bei den kleinen Kindern ist eine ursprüngliche Bereitschaft zu beobachten, die eigenen Bedürfnisse mit denen der anderen Gruppenmitglieder abzustimmen. Diese Bereitschaft stützt sich auf die angeborene Resonanz mit den Bezugspersonen. Sie bleibt solange lebendig, wie die Emotionen und Bedürfnisse akzeptiert werden. Sie kann zu sozialen Verhaltensweisen ausgebaut werden, wenn Konflikte gewaltfrei gelöst werden können.

Aus den früheren Überlegungen geht hervor, dass aus der Erfahrung von bedingungsloser Liebe die Bereitschaft zur bedingungslosen Akzeptanz anderer Menschen erwächst. Liebe ist mit der Bereitschaft verbunden, sich in andere einzufühlen, und stellt die Kraft zur Verfügung, die eigenen Bedürfnisse mit denen der anderen Gruppenmitglieder in Harmonie zu bringen. Insofern ist die Erfahrung von Liebe die wichtigste Voraussetzung für die Entfaltung der Fähigkeiten, die für wahres, gerechtes und freies Handeln erforderlich sind.

 Mäßigung, Maßhalten, Selbstgenügsamkeit

Menschen mit entfalteter Liebes- und Kontaktfähigkeit haben keine Probleme mit dem Maßhalten. Sie kennen kein maßloses Verlangen nach Ruhm, Anerkennung, Eigentum oder Genuss; sie sind nur maßlos im Verschenken von Liebe. Sie müssen sich auch nicht durch Selbstdisziplin zur Mäßigung zwingen. Offensichtlich besteht ein enger Zusammenhang von frei entfalteter Emotionalität und Maßhalten. Da glückliche Menschen die Grenzen anderer Menschen respektieren, scheidet für sie Maßlosigkeit, die zwangsläufig mit der Verletzung der Bedürfnisse anderer verbunden ist, von vornherein aus. Im Genuss sind autonome Menschen maßvoll, da sie ihren individuellen Punkt genau kennen, ab dem der Genuss mit Unlust und Beeinträchtigung des Wohlbefindens verbunden ist.

Asketische Selbstgenügsamkeit wird von glücklichen Menschen abgelehnt. Man kann beobachten, dass nur in Kulturen mit repressiver Moral das traditionelle Lob des Maßhaltens in ein Lob der Askese pervertiert wird. Nur hier erscheint die Lust als eine Fessel der Freiheit. Emotionale Unterdrückung führt dazu, dass in den mannigfachen Formen der Sucht ein Ventil gesucht wird. Sucht stellt einen Versuch dar, die innere Leblosigkeit, die durch die Kontrolle der Emotionen entstanden ist, durch den Kitzel der Sucht zu kompensieren. Die hohe Wertschätzung der Askese ist im Grunde eine Abwehrmaßnahme, um sich vor der Maßlosigkeit der Sucht zu schützen. Insofern ist der Asket ein Süchtiger in der Kunst der Enthaltsamkeit.

Es zeigt sich, dass die sozialen Ideen der Wahrheit, Freiheit und Gerechtigkeit auf der Erfahrung der emotionalen Resonanz in wechselseitig harmonisch verschränkten Beziehungen basieren, wie sie zumindest in den Frühphasen der individuellen Entwicklung noch erlebt werden können. Wer sie nicht spürt, dem können sie durch keine noch so gute Begründung vermittelt werden. Wenn ihre Einhaltung durch Strafandrohung erzwungen wird, dann führt das zur Heuchelei und zu ständigen Versuchen, egoistisches Handeln als moralisch zu rationalisieren.

Aus diesen Überlegungen folgt, dass Moral tatsächlich überflüssig wäre, wenn die Menschen ihrem auf Liebe eingestellten ethischen Kompass folgen könnten. Wenn aber die Ausbildung eines auf Liebe basierenden ethischen Kompasses durch die erzwungene Zurückhaltung von Emotionen verwehrt wird, muss das moralisch richtige Verhalten durch Strafandrohungen erzwungen werden. Es ist eine Illusion zu glauben, dass das moralische Verhalten aus Einsicht erfolgt. Die emotionalen Grundlagen für richtiges Verhalten können nicht durch das Denken ersetzt werden, weil das Denken keine Macht über die Gefühle hat.

Wenn die ethische Selbststeuerung funktioniert, braucht man keine Moral. Die ethische Selbststeuerung ist eine Ethik der Liebe und eine Ethik der emotionalen Resonanz. Demgegenüber ist die vorherrschende außen gesteuerte Moral eine Moral der (relativen oder absoluten) Gefühllosigkeit, eine Moral der Gewalt. Während die Ethik der Liebe eine Tendenz zur Integration und emotionalen Bindung hat, enthält die außengeleitete Moral eine Tendenz zur Auflösung von Bindungen und eine Tendenz zu rein opportunistischen Kontakten. Da diese Moral im Gegensatz zur Ethik der Liebe keine immanente Legitimation hat und deshalb als äußere Kontrollinstanz erfahren wird, muss sie universelle Gültigkeit für sich beanspruchen. Aber die Begründung muss scheitern, weil ethische Verhaltensprinzipien grundsätzlich nicht zu begründen sind. Wenn sich die Gesellschaft von dem Vorrang des Glücks leiten ließe, würde sich jeder Diskurs über Moral erübrigen.

Die Ethik der Liebe würde z. B. zu einem völlig anderen Umgang mit Menschen führen, die »Böses« getan haben. Die herrschende Moral legitimiert die Bestrafung von solchen Menschen. Wenn aber das Böse als Ausdruck von seelischen Verletzungen begriffen wird, verbietet sich eine Bestrafung, weil sie die Verhärtung weiter verschärfen würde. Aus dieser Einsicht folgt, dass ein soziales Milieu erforderlich ist, das die Erfahrung von Liebe und Akzeptanz bietet und somit auch die Chance enthält, dass der Rückzug aufgegeben werden kann und die Bereitschaft unterstützt wird, sich wieder in die Gemeinschaft zu integrieren.

Ob eine Ethik der Selbststeuerung überhaupt in komplexen Industriegesellschaften funktionieren kann, ist ein berechtigter Zweifel. Da der Grundpfeiler der Ökonomie auf dem Konkurrenzprinzip basiert, fehlt die grundsätzliche Voraussetzung für das Glück, nämlich Respekt und Vertrauen. Die Ethik der Selbststeuerung ist allenfalls in den Zonen des Privaten möglich, vorausgesetzt, dass es gelingt, sich im Privatbereich bewusst anders als im Berufsbereich zu verhalten.

Auch wenn unter den gegenwärtigen Lebensbedingungen die ethische Selbststeuerung nicht nach der Maxime der Liebe funktionieren kann, so ist es nicht zwecklos, sich über die emotionalen Grundlagen der Moral Klarheit zu verschaffen. Damit kann das Ziel für gesellschaftliche Reformen genauer bestimmt werden. Zumindest wird damit allen Illusionen der Boden entzogen, dass mit einem neuen Wertekonsens etwas zu erreichen wäre. Eine moralische Reform der Gesellschaft kann nur in einer Reform der emotionalen Interaktionsbedingungen der Menschen untereinander bestehen. Nur wenn die sozialen Bedingungen, die egozentrisches Verhalten erzwingen, verändert werden, kann die ethische Selbststeuerung auf der Basis der Liebe wirksam werden.

Aus der Ethik der Selbstorganisation folgt die Utopie der sozialen Selbstverwaltung. Selbstverwaltung bedeutet, dass die kollektiven Entscheidungen von allen Menschen getragen werden, weil sie an ihrer Entstehung beteiligt waren. Das bedeutet, dass Normen und Regeln des Zusammenlebens gemeinsam diskutiert und frei vereinbart werden. Das kann nur bei Abwesenheit von Autorität, Herrschaft und Hierarchie erfolgen. »Eine alternative und sozial selbstorganisierte Gesellschaftsformation ... benötigt selbstbestimmte autonom-altruistische Individuen, die sich ihre Normen aufgrund innerer Entscheidungen selbst wählen und ständig differenzieren. Passivität, Autoritätsglaube und Entmündigung stehen dem entgegen. Vorstellbar sind solidarische, sozial und vernünftig denkende rationale Menschen, die kollektive Interessen erkennen können und an ihrer Verwirklichung mitwirken wollen, also eine Art kollektives Pflicht- und Verantwortungsbewusstsein.« (Fuchs 2000, S. 228) Selbstverwaltung ist ohne Zweifel mit kontaktfähigen und einfühlsamen Menschen leichter zu realisieren. Sie ist aber dringend notwendig für Menschen, die ihre Kontaktfähigkeit und ihr Einfühlungsvermögen eingebüßt haben.

7.5. Sexuelles Glück

»Die Lust ist Anfang und Ende des glücklichen Lebens.» Epikur

Das sexuelle Verhalten ist der Prototyp des Verhaltens, das am besten funktioniert, wenn es von der emotionalen Selbststeuerung getragen wird. Zu Recht wird gesagt, das Sexualität voraussetzt, dass man jede Kontrolle aufgibt, nichts erreichen will und sich einfach den Wogen der sexuellen Impulse überlässt. Das sexuelle Glück scheint darauf zu basieren, das man nichts tut, sondern nur die Sexualität geschehen lässt.

So war Wilhelm Reich davon überzeugt, dass die Liebenden von sich aus das höchste Maß an se­xueller Lust anstreben, wenn sie zu sexueller Selbstbestimmung fähig sind. Er sah es als Ziel an, sexuelle Autonomie zu entwickeln, so dass man sich als Herr des sexuellen Geschehens und nicht als Getriebener empfindet. Das setzt einerseits die Freiheit zu spielerischem Verhalten und zum neugierigen Ausprobieren und andererseits die Existenz eines offenen kulturellen Diskurses über die Sexualität voraus. Wenn aber diese Bedingungen nicht gegeben sind, versagt die sexuelle Selbststeuerung und entsteht das Verlangen nach von außen vorgegebenen Verhaltensregeln. Wird die Sexualität in das Korsett von engen Verhal­tensregeln eingezwängt, werden die sexuellen Bewegungen mechanisch und gewohnheits­mäßig. Sie verlieren dadurch an Lust. So wird der Boden für Perversionen aller Art be­reitet.

In der Regel wird argumentiert, dass die Sexualität in einem starkem Spannungsverhältnis steht. Einerseits will die Gesellschaft sie in das Korsett moralischer Regeln zwän­gen, andererseits wissen aber die Liebenden, dass das sexuelle Glück umso größer ist, je mehr sie sich über die gesellschaftlichen Verhaltensregeln hinwegsetzen. Dabei liegt aber der Reiz keineswegs in der Übertretung der Normen, sondern darin, dass lustvolle Sexua­lität Gestaltungsfreiheit braucht. Denn die Sexualität läuft nicht nach natürlichen Gesetzen ab, sondern muss von je­dem Einzelnen erlernt und immer wieder neu gestaltet werden, damit sie nicht in der Routine des Immergleichen erstickt. Es ist überraschend festzustellen, dass heute die sexuellen Tabus weitgehend aufgelöst sind, die die freie Aneignung der Sexualität behindern könnten, dass aber dennoch die sexuelle Zufriedenheit nicht zugenommen hat.

Aus der oben entwickelten Theorie der Emotionen folgt, dass Sexualität keine isolierte körperliche Funktion ist, sondern sehr stark vom Schicksal des seelischen Innenlebens abhängig ist. Wenn wenig Emotionen zurückgehalten werden, wird auch das Verhältnis zur Sexualität relativ freizügig sein. Wenn dagegen stärkere emotionale Zurückhaltungen vorherrschen, insbesondere die Wut kontrolliert wird, wird auch die sexuelle Kraft geschwächt und das Verhältnis zur Sexualität sehr ambivalent sein. Das hängt damit zusammen, dass unter dem Einfluss chronischer Angst sich der ganzer Körper, insbesondere der Beckenraum dauerhaft verspannt, so dass sich die sexuellen Impulse nicht entfalten können. Die Erfahrung zeigt, dass die Sexualität als umso befriedigender erlebt wird, je gelöster der Körper ist. Die Tatsache, dass emotionale Zurückhaltung lähmend auf die sexuelle Aktivität und Lustfähigkeit ausstrahlt, erklärt das merkwürdige Phänomen, dass trotz allgemeiner sexueller Freizügigkeit zunehmend mehr Menschen unter sexueller Lustlosigkeit leiden.

Sexuelle Befreiung ist deshalb mit der Beseitigung von sexuellen Einschränkungen allein nicht zu erreichen, sondern setzt auf jeden Fall emotionale Freiheit voraus. Nur dann können sich die Fähigkeiten entwickeln, die für glückliche Sexualität erforderlich sind. Denn sexuelles Glück verlangt die Kombination von verschiedenen Fähigkeiten: man muss einen offenen Dialog mit dem anderen führen, sich in dessen Bedürfnisse einfühlen und sie respek­tieren, sich sensibel den eigenen sinnlichen Empfindungen zuwenden und die Reaktionen des anderen wahrnehmen, einen hohen Grad an Erregung ertragen können, sich den Strömen der Lust hingeben und die Kontrolle aufgeben können. Es ist auffallend, dass die meisten Fähig­keiten auch für normale Kontakte erforderlich sind. Das ist nicht zufällig, weil sich wie in al­lem auch im sexuellen Verhalten die ganze Person mit ihren Fähigkeiten und Schwächen spiegelt. Wenn man unfähig ist, im normalen sozialen Kontakt den anderen zu respektieren und auf seine Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen, so wird dies auch im sexuellen Kontakt nicht gelingen, mit der Folge, dass das ersehnte sexuelle Glück nicht erreicht wird. Deshalb kann man die Thesen aufstellen, dass sexuelles Glück soziale Harmonie verlangt und dass sexuelles Unglück eine unglückliche Beziehung spiegelt. Es ist deshalb nicht zufällig, dass die Sexua­lität bei Verliebten stets besser ist als nach der Phase der Verliebtheit.

Wie bei der Sexualitätslehre des Tantrismus, bei der das Bewusstsein für den Atem auch im sexuellen Kontakt eine große Rolle spielt, darf bei der freien Aneignung der Sexualität die Beachtung des eigenen Atems nicht fehlen. So wie bei jeder Bewegung der Atem ein we­sentlicher Aspekt für sein Gelingen ist, spielt auch der Atem bei der sexuellen Bewegung eine extrem große Rolle. Mit gemeinsamen Atemritualen können sich beide Partner von Verspan­nungen befreien. Der Atem kann als Hilfsmittel benutzt werden, um sich in die sexuelle Lust zu versenken; er kann als Mittel zur Stimulierung oder als Mittel zur Zurückhaltung von zu starker Erregung eingesetzt werden. Die sexuelle Bewegung wird umso lustvoller, je mehr es gelingt, sie mit dem Atem zu verbinden. Es ist ein Irrtum, dass die sexuelle Lust allein aus dem Kontakt der Geschlechtsorgane kommt. Wenn die Lust aus der gelösten Atmung hinzukommt, erfährt die sexuelle Lust eine wesentliche Steigerung.

Ganz offensichtlich ist es ein Missverständnis, wenn sexuelles Glück mit reinem Geschehenlassen gleichgesetzt wird. Der sexuelle Kontakt verlangt, dass Rituale entwickelt werden, um die Verspannungen des Alltags aufzulösen. Er braucht Phantasie und die Bereitschaft, sich auf den Partner einzulassen. Er verlangt Abwarten und das Bemühen, sich auf den Einklang von Atem und sexuellen Bewegungen einzustimmen. Erst auf diesem Boden von mehr oder weniger zielgerichtetem Verhalten wird sich die sexuelle Bewegung in der Schlussphase von jeder bewussten Beteiligung lösen. Das bedeutet, dass es wie beim emotionalen Glück auch beim sexuellen Glück darauf ankommt, den Kontakt zu den eigenen sexuellen Impulsen immer wieder neu herzustellen. Das Glück aus der Gelöstheit der Körpers ist die Frucht von bewussten Bemühungen, sich von unvermeidbaren emotionalen Blockierungen zu befreien.

8. Die Verantwortung der anderen

»Vor allem scheint mir klar, dass man unmöglich glücklich sein kann, wenn man es nicht sein will; man muss sein Glück wollen und es machen.« (Alain)

Das Glück scheint eine schwierige Aufgabe zu sein, weil man von allen Seiten dazu aufgefordert wird, sich darum zu bemühen. Es wird immer wieder gefordert, dass man die Verantwortung für die eigenen Emotionen übernehmen müsse. In vielen Glückstheorien wird die Verantwortung für sich selbst wie eine Zauberformel benutzt, mit der alle Probleme zu lösen seien. Aus den bisherigen Überlegungen ergibt sich die These, dass diese Einstellung gegenüber dem Glück falsch ist.

Die vorliegende Analyse der Emotionen ging davon aus, dass die Emotionen eine motivierende Kraft haben, da sie dem Handeln eine bestimmte Richtung weisen. Daraus folgt, dass die menschlichen Entscheidungen nicht aus einem bewussten Abwägen der möglichen Alternativen hervorgehen, sondern sich spontan aufgrund der Emotionen bilden. Das abwägende Denken kann die Richtung nicht mehr ändern, es hat allenfalls die Aufgabe, Details am Verhalten festzulegen und eine geeignete Begründung zu finden. Das Wesentliche an der Entscheidung ist deshalb nicht ihre kognitive Seite, sondern ihr emotionaler Gehalt. Oder anders ausgedrückt: Inhalt und Begründung sind sekundär und können beliebig ausgetauscht werden. Man identifiziert sich rückhaltlos mit der Entscheidung, weil die Gewissheit besteht, dass sich darin die ganze Person ausdrückt. Sichentscheiden ist somit die subjektive Gewissheit, mit dem einig zu sein, was als Impuls zum Ausdruck oder zum Handeln drängt. Darauf basiert authentisches Verhalten.

Wie oben ausgeführt wurde, sind aus der Sicht des Organismus alle Entscheidungen rational (vgl. S. Error: Reference source not found und 167). Dies gilt auch für Entscheidungen, die auf negativen Glaubenssätzen basieren und die sich gegen die eigenen Emotionen richten. Das gilt natürlich auch für die Weigerung, die Verantwortung für die Entscheidung zum eigenen Unglück zu übernehmen, Denn der Organismus hat die Tendenz, stets das Maximum an Lust herauszuholen, das nach seiner Einschätzung in einer bestimmten Situation möglich ist. Vorrangig ist, dass die Selbstachtung erhalten bleibt. Das Problem ist nur, dass man in der Regel dazu neigt, die selbstgewollte Fremdbestimmung nicht zu akzeptieren, weil man sich an kulturell akzeptierten Normen wie Gesundheit, Glück, Schönheit u. Ä. misst. Die innere Unzufriedenheit wird dann auf Abweichungen von diesen Normen zurückgeführt.

Nach den bisherigen Überlegungen besteht Verantwortung einzig und allein in der sensiblen Wahrnehmung und angemessenen Interpretation der Signale der Empfindungen und Emotionen, die der Organismus dem Bewusstsein bezüglich der von ihm getroffenen Entscheidungen mitteilt. Genau darauf macht der Begriff der Verantwortung aufmerksam, nämlich dass man sich selbst antworten soll. Verantwortung ist deshalb nicht die Verpflichtung gegenüber allgemeinen Werten, wie es in der Regel interpretiert wird, sondern eine Verpflichtung gegenüber sich selbst, sich mit den eigenen Impulsen zu identifizieren. Wenn die Menschen also das Gefühl haben, dass sie für die Art und Weise, wie sie leben, Verantwortung haben, dann liegt das daran, dass sie sensibel die körperlichen Impulse wahrnehmen und sie uneingeschränkt akzeptieren. Dagegen hat das Pflichtgefühl gegenüber den Erwartungen der anderen Menschen nichts mit Verantwortung zu tun, sondern ist Ausdruck der Bereitschaft, sich zu unterwerfen und sich fremd bestimmen zu lassen.

Verantwortung für die eigenen Emotionen zu übernehmen, bedeutet also, dass ihre Signale, so schwach sie auch sein mögen, ernst genommen und anerkannt werden. Das Problem ist nur, dass die Sensibilität in dem Maße schwindet, wie man sich aus Abwehr gegenüber den eigenen Emotionen verspannt. Demnach stellt sich Verantwortung für sich selbst erst ein, wenn man einen gewissen Grad an emotionaler Autonomie leben kann. Wenn Ralph Strauch feststellt, dass die größte Barriere für das Wachstum die Verweigerung ist, die Verantwortung für sich zu übernehmen27, so ist das zwar richtig, darf aber nicht als Schuldvorwurf verstanden werden. Verantwortung kann nicht ohne weiteres durch einen Willensentschluss übernommen werden. Sie stellt sich erst ein, wenn die Bedingungen für die sensible Wahrnehmung der körperlichen Signale wiederhergestellt worden sind. Verantwortung ist deshalb keine Leistung des bewussten Ichs, sondern ein Merkmal der emotionalen Selbstorganisation, die sich auf eine gut funktionierende innere Kommunikation und ein soziales Milieu stützen kann, das von Liebe und Achtung geprägt ist. Autonomie kann nur gelebt werden, wenn sie von den anderen Menschen zugelassen wird.

Die entscheidende Frage ist deshalb, wie die seelische Kraft erworben werden kann, die für die Verantwortung für die eigenen Emotionen erforderlich ist. Aus den bisherigen Überlegung ergibt sich die These, dass alle Behauptungen, dass die seelische Kraft sozusagen aus eigenen Potenzialen erworben werden könne, falsch sind, da sie an einem individualistischen Selbstverständnis festhalten, das dem Glück nicht gerecht wird.

8.1. Das Glück lebt vom Glück der anderen

»Nicht an den anderen denken, alles strengstens um seiner selbst willen tun, ist auch eine hohe Moralität.« (Friedrich Nietzsche)
«Glück ist ein Wunderding: je mehr man gibt, desto mehr hat man.» (Madame de Stael)

Offensichtlich ist die übliche Rede von der Verantwortung für das Glück irreführend, da sie mit einem falschen Verständnis von der Natur des Menschen verbunden ist. Es wurde oben gezeigt, das die Verantwortung für sich selbst eine Fähigkeit ist, die sich spontan einstellt, wenn ausreichend seelische Kräfte vorhanden sind, alle inneren Impulse zu akzeptieren (vgl. S. Error: Reference source not found). Wenn aber die seelischen Kräfte fehlen, müssen Appelle von außen und noch mehr Appelle an sich selbst wirkungslos bleiben. Deshalb ist es falsch anzunehmen, man könne sich für das Glück entscheiden oder die Verantwortung für das eigene Glück übernehmen. Dadurch werden diejenigen, die sich selbst aus inneren Gründen dem Glück verweigern, unter Druck gesetzt und die Voraussetzungen für das subjektive Glück noch weiter verschlechtert.

Die Menschen können sich deshalb so wenig aus eigener Kraft verändern, weil die Ängste, die bei seelischen Verletzungen erlebt werden, dazu führen, dass man sich an die Emotionen anderer Menschen anlehnt. Dabei entstehen Ersatzgefühle, die die Atemvitalität einschränken und das Potenzial an seelischer Kraft reduzieren. Die fehlenden seelischen Kräfte schließen eine Selbstveränderung aus. Die emotionale Verstrickung mit den Emotionen anderer Menschen bleibt ohnehin in der Regel unbewusst und kann von Dritten leichter erkannt werden. Wenn man also glaubt, sich aus eigener Kraft verändern zu können, wird man von Illusionen beherrscht, die das Gegenteil von dem bewirken, was man erreichen möchte.

Dass die Menschen keine unmittelbare Verantwortung für ihr Glück übernehmen können, wurde in den Glückstheorien auf unterschiedliche Weise ausgeführt. Der allgemeine Tenor ist, dass das Glück ein Geschenk sei. So begriff Seneca das Glück als eine willkommene Zugabe. Für ihn war deshalb Glück nicht das Ziel des Lebens, sondern es zeigt an, dass das Leben gelungen ist. Dieser Haltung entspricht die Mahnung Arthur Schopenhauers, nicht nach Glück zu streben: »Denn eben das Streben und Ringen nach Glück zieht die großen Unglücksfälle herbei. Jenes ist aber schon darum weise und ratsam, weil sehr unglücklich sein gar leicht ist; sehr glücklich zu sein hingegen nicht etwa schwer, sondern ganz unmöglich.« (Schopenhauer 1999, S. 72) Für die christlichen Philosophen Augustinus und Thomas von Aquin hing das Glück von der Gnade Gottes ab. Sie machten das Glück allein vom Glauben abhängig und waren überzeugt, dass Glück im irdischen Leben nur unvollkommen und wahres Glück nur im Jenseits und in der Anschauung Gottes möglich sei.

Wenn man keine direkte Verantwortung für das eigene Glück übernehmen kann, dann folgt daraus, dass die traditionelle individualistische Perspektive gegenüber dem Glück, die davon ausgeht, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied ist und sich selbst helfen kann und muss, überwunden werden muss. Das ist zweifellos nicht einfach, da man gerade deshalb an der Illusion der Selbstrettung festhält, um sich vor dem Eingeständnis der eigenen Schwäche zu schützen. Aber es ist keineswegs so, dass man gegenüber dem individuellen Glück ohnmächtig ist. Die stoische Haltung, das Glück als Geschenk zu betrachten, übersieht, dass das eigene Glück primär von dem emotionalen Klima des Lebensmilieus abhängig ist, in dem man lebt, und dass jeder die Chance hat, darauf gestaltend Einfluß zu nehmen.

Für die Liebenden ist es selbstverständlich, sich ganz spontan und d.h. ganz ohne Anstrengung um das Glück des anderen zu sorgen. Sie wissen, dass ihr gemeinsames Glück nur Bestand hat, wenn auch der Partner glücklich ist und dass der andere leichter sein Glück findet, wenn er von seinem Partner darin unterstützt wird. Oft erkennt der Partner besser, wo man sich selbst blockiert. Was für die Liebenden gilt, ist im Grunde ein Grundgesetz jeder Interaktion: Die Kommunikation gelingt besser, wenn wechselseitig dafür die Verantwortung übernommen wird. Dabei geht es primär darum, dass die Emotionen des anderen wahrgenommen und beachtet werden. Was den anderen glücklich macht, kann man nicht wissen, da Glück eine subjektive Erfahrung ist. Sich am Glück des anderen zu orientieren, kann nur so viel bedeuten, dass einerseits die Emotionen des anderen sehr sensibel wahrgenommen und beachtet werden und andererseits im Dialog die eigenen Bedürfnisse dem Partner mitgeteilt werden.

Auch bei den Kindern ist zu beobachten, dass sie ganz spontan versuchen, ihren Eltern zu helfen, wenn sie spüren, dass sie unglücklich sind. So wird z. B. das Kind seine Neugierde und sein Drang nach »Eroberung der Welt« zurückhalten, wenn es merkt, dass die Mutter traurig wird, wenn es sie auch nur vorübergehend verlässt. Oder es wird spontan »Probleme« durch Schulschwierigkeiten, Krankheiten u.ä. produzieren, wenn es hofft, dass es dadurch die Eltern davon abhalten kann, sich zu trennen, In der Regel sind die Mittel des Kindes für die eigene Entwicklung kontraproduktiv, aber für das Kind ist es wichtiger, dass das soziale Milieu erhalten bleibt, in dem es lebt.

Das selbstlose Verhalten wird häufig damit umschrieben, dass man »etwas um seiner selbst willen tut« und dass man alles in Hingabe, d. h. ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse anderer tut. Eine andere beliebte Formulierung lautet, dass man alles »mit Leib und Seele« tut. Das bedeutet, dass man sich selbstvergessen der anstehenden Aufgabe überlässt. Die Erfahrung zeigt, dass man in dieser offenen Grundhaltung automatisch das Beste erreicht und auch die Bedürfnisse des anderen im Auge behält bzw. nichts tut, was sie verletzen könnte. Das bedeutet aber nicht, dass man dabei die Orientierung an den eigenen Gefühlen aufgibt und sich gleichsam selbst verleugnet. Vielmehr verschmilzt man gerade vollkommen mit seinen Gefühlen. Offensichtlich setzt sich im Zustand der selbstvergessenen Hingabe die Neigung der menschlichen Natur durch, den liebevollen Kontakt zum anderen über alles andere zu setzen. Dann werden nur solche Problemlösungen akzeptiert, die die Bedürfnisse anderer Menschen nicht verletzen. Man hilft dem anderen spontan, weil es ein tiefes emotionales Grundbedürfnis ist, anderen zu helfen. Daraus erklärt sich das scheinbare Paradox in dem eingangs aufgeführten Zitat von Friedrich Nietzsche.

Wenn man sich also im Vollbesitz der seelischen Kraft befindet, wird sich die Verantwortung für das eigene Glück primär darin äußern, dass man spontan die Verantwortung für das Glück der anderen übernimmt. Der Glückliche weiß intuitiv, dass der Unglückliche Hilfe braucht und dass er damit auch dem eigenen Glück dient, weil dadurch ein intensiverer Kontakt zum anderen hergestellt werden kann und weil die Spannungen, unter denen der andere leidet, auch ihn direkt oder indirekt betreffen. Er hat ein sicheres Gespür für Missstimmung, Spannungen und Konflikten unter den Menschen, mit denen er zusammenlebt und er hat ein spontanes Bedürfnis, die Missstimmungen zu beseitigen. Allerdings verkümmert in der Regel dieser Impuls in Lebensverhältnissen, die nach sozialen Über- und Unterordnungsverhältnissen organisiert sind, weil die dominanten Gruppen die Kritik an Benachteiligungen mit physischer und seelischer Gewalt unterdrücken.

Bei der Kindererziehung ist die Verantwortung für das Glück der anderen unmittelbar einsichtig. Liebevolle Eltern wissen, dass die Art und Weise, wie sie miteinander umgehen, einen direkten Einfluss auf ihre Kinder hat. Es ist deshalb für sie selbstverständlich, dass sie Streitereien nicht vor den Kindern austragen und dass sie die Kinder nicht als Bündnispartner mit einbeziehen. Liebevolle Eltern wissen auch, dass Kinder z. B. zwangsläufig misstrauisch werden, wenn sie wiederholt verlassen werden. Andererseits werden sie das Leben bejahen, wenn ihre Bedürfnisse akzeptiert werden. So loben kluge Eltern ihre Kinder, wissend, dass sie dadurch zu weiteren Leistungssteigerungen animiert werden und setzen Kritik nur dann ein, wenn sie spüren, dass sie von den Kindern als Herausforderung angenommen werden kann. Es kommt also darauf an, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse kritisch befragen, ob sie damit ihren Kindern nützen oder eher schaden.

Die wechselseitige Verantwortung füreinander war in den Stammesgesellschaften ganz selbstverständlich. Denn das Unglück des Einzelnen wurde als eine Aufforderung an alle Mitmenschen erlebt, ihm bei der Überwindung seines Unglücks zu helfen. Es wurde auch als ein Signal wahrgenommen, dass möglicherweise etwas an der gesellschaftlichen Ordnung nicht stimmt. Auch egozentrisches Verhalten eines Einzelnen stellt ein Warnsignal dar, auf das die übrigen Mitglieder der sozialen Gemeinschaft reagieren müssen, um eine möglicherweise davon ausgehende Zerstörung der sozialen Harmonie zu verhindern.

Dass sich die Menschen primär am Glück der anderen orientieren müssen, erklärt sich daraus, der seelische Zustand des Einzelnen voll und ganz durch das emotionale Milieu geprägt wird, in dem er lebt. Der Atem passt sich automatisch dem emotionalen Milieu an. Dementsprechend werden die Gefühle automatisch auf das emotionale Klima eingestellt. So wie Kinder einen harmonischen Kontakt und bedingungslose Liebe erfahren müssen, damit sie als Erwachsene einen liebevollen und harmonischen Kontakt leben können, so sind auch Erwachsene auf ein emotionales Milieu angewiesen, in dem sie ihre Emotionen entfalten können. Auch erwachsende Menschen können sich einem belastenden emotionalen Klima in einer Gruppe nur sehr eingeschränkt entziehen. Sie haben nur die Wahl, sich für die Beseitigung der Spannungen in der Gruppe einzusetzen, oder die Gruppe zu verlassen. Es ist eine Fiktion zu glauben, dass man sich dem sozialen Klima dadurch entziehen könnte, indem man die Bedingungen anders interpretiert.

Wenn der Einzelne so stark vom emotionalen Klima seines Lebensmilieus geprägt wird und er sich ihm nicht entziehen kann, bleibt nur die Chance, seinen Gefühlszustand dadurch zu verändern, dass er versucht, das Milieu zu verändern. Tief im Inneren weiß er, wie harmonische Beziehungen beschaffen sein müssen. Auch wenn seine Basisemotionen verletzt sind und nicht voll gelebt werden können, geben sie ihm einen Maßstab für die Kritik an den bestehenden Verhältnissen. Jeder spürt, wenn etwas an den sozialen Beziehungen in einer Gruppe nicht in Ordnung ist und hat den Impuls, etwas für die Verbesserung der sozialen Beziehungen zu tun. Auch wenn die Einflusschancen des Einzelnen in der Regel sehr beschränkt sind, es wäre fatal, wenn das als Ausrede benutzt wird, um diese Impulse zurückzuhalten. Es wäre falsch zu glauben, dass die Einwirkungen zu direkten, sofort greifbaren Erfolgen führen. Es ist ein langfristiger Prozess, dessen Ergebnis in keiner Weise vorweggenommen werden kann.

Anderen dabei zu helfen, dass sie ihre seelischen Verlusterfahrungen verarbeiten können, muss natürlich von dem Gefühl kontrolliert werden, dass die Hilfe den anderen darin unterstützt, seine emotionale Autonomie zurückzufinden. Oftmals bewirkt Hilfe das Gegenteil. Die emotionale Abhängigkeit, die ja die seelischen Probleme verursacht hat, wird weiter verstärkt, wenn der Helfer selbst das Bedürfnis hat, sich an den Hilfesuchenden anzulehnen. Hilfe wird auch häufig in Anspruch genommen, um sich gerade nicht ändern zu müssen, weil dadurch die Verantwortung für den eigenen Zustand an andere delegiert werden kann.

Jeder ist für Appelle - wie z. B. die Bedürfnisse anderer Menschen zu respektieren – ansprechbar. Aber seine vorherrschenden Ersatzgefühle hindern ihn daran, diesen Appellen zu folgen. Deshalb ist es wichtig, dass die Umwelt nicht nur Appelle ausspricht, sondern ihm gutes Zusammenleben vorlebt. So wie des Genesungsprozess eines körperlich kranken Mensch in einer Umwelt mit guter Luft schneller abläuft, so werden psychisch kranke Menschen unter »glücklichen« Menschen wie von selbst geheilt, vorausgesetzt natürlich, dass ihre Anlehnungsbedürfnisse zurückgewiesen werden. Von neurotischen Hunden ist bekannt, dass sie ohne weitere Hilfe wieder gesund werden, wenn sie in einem Rudel von gesunden Hunden leben. Diese Erfahrung kann ohne Zweifel auch auf die Menschen übertragen werden.

Auch wenn die Verantwortung für die individuelle Glücksfähigkeit primär bei der Gemeinschaft liegt, kann sich der Einzelne damit nicht von der Verantwortung für seinen eigenen Glückszustand freisprechen. Letztlich geht die eigene seelische Verfassung auf frühere Entscheidungen zurück, seelische Verletzungen so und nicht anderes zu verarbeiten. Deshalb steht die Aufgabe an, diese Entscheidungen zu überprüfen, ein Prozess, der eigentlich ständig abläuft, aber durch individuelle Bemühungen unterstützt werden kann.

 Bei jeder Entscheidungsunsicherheit lohnt es sich zu fragen, zwischen welchen beiden Alternativen der innere Konflikt abläuft, welche Alternative man selbst eigentlich will und wer hinter der anderen Forderung steht. Dann wird man ziemlich schnell spüren, dass man sich mit Forderungen anderer Menschen identifiziert hat und dass man sich selbst von anderen Menschen abhängig gemacht hat. Daraus leitet sich ab, dass man grundsätzlich nichts von sich selbst abverlangen sollte, auch nicht, dass man anderen helfen muss. So falsch es ist, von anderen ein bestimmtes Verhalten zu verlangen, so wenig nützt es, sich selbst unter Druck zu setzen. Dieses Verhalten führt nicht zu innerer Stärke, sondern es schwächt im Gegenteil, weil es an der selbst gewählten Abhängigkeit von anderen Menschen festhält und somit den Kontakt zu den eigenen Emotionen, aus denen allein innere Stärke kommt, verhindert.

Wenn man erkennt, dass man sich von den Emotionen anderer Menschen abhängig gemacht hat, stellt sich die Frage, ob diese Abhängigkeit heute noch sinnvoll ist. Vor welchen Ängsten schütze ich mich damit? Habe ich genügend Kraft, um diese Ängste auszuhalten und mich mit ihnen anzufreunden. Wenn ich mich früher einmal für diese Ängste entschieden habe, kann ich sie heute auch als Teil von mir akzeptieren, ohne unter dem Druck zu stehen, sie beseitigen zu müssen. Denn es ist ein problematisches Vorurteil, dass man alle Ängste auflösen müsse. Die Ängste werden sich von allein auflösen, wenn sie wirklich nicht mehr benötigt werden. Wie viele Ängste noch gebraucht werden, sollte man der Entscheidung des Körpers überlassen.

Man sollte sich auch fragen, auf welche Weise die eigenen Emotionen dem Partner nutzen. Denn regelmäßig machen sich auch die Partner vom anderen abhängig. Diese wechselseitige emotionale Verstrickung macht es so schwierig, die eigenen Emotionen zu verändern. Verantwortung für die eigenen Emotionen zu übernehmen, kann also nur soviel bedeuten, das man sich bewusst macht, was man mit seinen Emotionen direkt oder indirekt erreichen möchte. Man muss sie aber deswegen noch lange nicht gleich verändern!

 Alle Tendenzen, sich selbst abzuwerten oder zu bedauern, sollten freundlich zur Kenntnis genommen werden. Es schließt sich die Frage an, was diese Selbstnegation bedeutet und was man daraus über sich selbst lernen kann. Wenn man sich die eigene Ohnmacht eingesteht, die Selbstabwertung abzustellen, wird ein innerer Trauerprozess ausgelöst, bei dem es, wie oben dargestellt wurde, primär darum geht, die Abhängigkeiten von anderen Menschen und Mächten aufzulösen (vgl. S. Error: Reference source not found). Den Schmerzen dieses Prozesses kann man sich leichter stellen, wenn man weiß, dass es nur darum geht, die Selbstschwächung, die früher einmal sinnvoll war, heute abzubauen.

 Insbesondere ist es wichtig, sich gegenüber der Neigung zu sensibilisieren, die Verantwortung für das eigene Unglücklichsein anderen Menschen oder anonymen Mächten zuzuschieben. Meist sperrt man sich gegen die Einsicht, dass man sich letztlich selbst für das Unglück entschieden hat. Das liegt daran, dass man aufgrund der Verspannungen blind wird für die Folgewirkungen der eigenen Vorstellungen. Es geht das Einfühlungsvermögen verloren, wie andere Menschen reagieren, wenn man ihnen explizit oder implizit Schuldvorwürfe macht. Deshalb kann die kurzfristig sinnvoll erscheinende Strategie, anderen Menschen Vorwürfe für das eigene Unglück zu machen, in eine langfristig selbstschädigende Gewohnheit umkippen. Dieser Falle der Schuldzuweisung kann man offensichtlich kaum aus eigener Kraft entkommen.

Weil man sich der Schuldzuweisungen selten bewusst ist, wäre hier die Unterstützung durch andere Menschen dringend erforderlich. Es ist auch wichtig, dass die beliebten Strategien der Schuldzuweisungen nicht weiterhin durch Religion, Psychologie und Weltanschauungen unterstützt werden und dass jeder die Menschen kritisiert, die sich mit Schuldzuweisungen zu entlasten versuchen. Jeder muss die Verantwortung dafür übernehmen, dass das soziale und kulturelle Klima nicht durch Schuldzuweisungen vergiftet wird und damit die allgemeinen Bedingungen der Glücksfähigkeit zerstört werden. Wenn man durch die Hilfe des sozialen Umfeldes gestärkt wird, die Verantwortung für die eigene Entscheidung zum Unglücklichsein zu übernehmen, kann dies die Wirkung haben, dass sich alle Verspannungen, die mit den Schuldzuweisungen verbunden sind, auflösen und die innere Ruhe des Glücks gefunden wird.

 Das Unglücklichsein ist als ein Signal zu verstehen, dass man die Beziehung zu anderen Menschen vernachlässigt hat und unachtsam war. Aber wenn man schon so weit gegangen ist, dass der Kontakt zu anderen Menschen eingeschränkt wurde, muss die Hilfe, die von außen angeboten wird, um den Rückzug zu revidieren, angenommen werden, statt sie wie gewohnt abzulehnen. Denn glücklichere Menschen spüren das Unglück der anderen und haben den spontanen Impuls, nach Kräften zu helfen. Sie ziehen sich aber in der Regel zurück, wenn ihre Angebote zurückgewiesen werden.

 Die Einsicht, dass es zwecklos ist, sich verändern zu wollen, kann bereits eine Veränderung einleiten. Denn solange man sich verändern will, versetzt man sich unter Druck. Wenn man bewusst auf eine Selbstveränderung verzichtet, fallen die mit der Angst verbundenen inneren Verspannungen weg, so dass man sich mehr für die Impulse der verletzten Basisemotionen öffnen kann.

Verantwortung für das eigene Glück übernehmen heißt also, dass man achtsam beobachtet, wie man mit sich selbst umgeht. Sie schließt vor allem das Bewusstsein ein, von welchen Menschen man sich emotional abhängig gemacht hat. Es ist schon viel gewonnen, wenn man die Gewohnheiten des eigenen inneren Dialoges kennen lernt und sich nicht mehr unter Druck setzt. Verantwortung darf aber nicht mit dem Anspruch verbunden werden, dass man sich auf Grund dieses Wissen auf der Stelle verändern muss.

Wenn der Einzelne erkennen muss, dass seine stillen Hilferufe nicht wahrgenommen werden und er keine Hilfe findet, wäre es sinnlos, sich über die mangelnde Hilfsbereitschaft des sozialen Umfeldes zu beklagen. Es kann daraus nur die einzige Folgerung gezogen werden, dass man die Verantwortung für das eigene Unglücklichsein selbst übernehmen muss. Schließlich hat man sich selbst für das Unglücklichsein entschieden. Die Art, wie man auf die Verletzung reagiert hat, war eine individuelle Entscheidung. Zum Zeitpunkt der Verletzung hatte man zwar vielleicht keine andere Wahl gesehen, als so zu reagieren, wie man reagiert hat, weil man nicht über die seelische Kraft verfügt hatte, um gelassener reagieren zu können. Aber man kann nicht leugnen, dass man selbst die Entscheidung getroffen hat. Heute kann man erkennen, dass die Aufgabe ansteht, diese Kräfte endlich zu erlernen. Außerdem kann man heute erkennen, dass Rückzug immer auch eine Entscheidung ist, sich von anderen Menschen abhängig zu machen. Es steht deshalb die Entscheidung an zu überprüfen, ob diese Anpassung an andere Menschen noch sinnvoll ist. »Ich überlege mir oft, was ich wäre, was wir alle wären, wenn wir unsere Mängel und Nöte nicht mehr als schicksalhaft-verhängnisvolle Realitäten betrachteten, als etwas, das uns von einem feindlichen Universum her zugefallen ist, sondern wenn wir in ihnen die Zeichen unserer Abwendung vom Leben, unserer Untreue ihm gegenüber sähen - und ich bin verblüfft.« (Lusseyran 1996, S. 101)

In dieser Entscheidung, die Verantwortung für das eigene Unglücklichsein zu übernehmen, steckt immer auch ein Stück Verzweiflung. Man muss zur Kenntnis nehmen, dass die Hoffnung auf Wiedergutmachung für die erlittenen Verletzungen aufgegeben werden muss und dass man unter Lebensbedingungen lebt, die sich letztlich nicht für das Glück des Einzelnen interessieren. Ein intensiver Trauerprozess ist unvermeidlich.

Eine andere Alternative, wie man auf das schweigende soziale Umfeld reagieren könnte, besteht darin, einen Therapeuten aufzusuchen. Therapeuten sind sozusagen die Notbremse, wenn das soziale Umfeld versagt, die in seelisches Unglück geratenen Menschen wieder zu integrieren. Die Vorgänger der Therapeuten, die Schamanen, hatten deshalb ihre Heilungsrituale immer so organisiert, dass das gesamte soziale Umfeld des Erkrankten mit einbezogen wurde28. Die Therapeuten haben lange Zeit diesen zentralen Aspekt übersehen und geglaubt, dass die alleinige Arbeit mit dem Erkrankten zur Heilung führen könnte. Wenn dies misslang, wurde die Schuld dem Patienten gegeben, weil er angeblich nicht mitarbeitet. Erst in der jüngsten Zeit hat die systemische Familientherapie die Bedeutung des sozialen Umfeldes für den Heilungsprozess wieder entdeckt und bezieht die anderen Familienmitglieder mit in die Therapie ein. Nur dadurch können die wechselseitigen emotionalen Verstrickungen offen gelegt werden. Wenn jetzt der Patient nicht mitarbeitet, wird das nicht als mangelnde Bereitschaft interpretiert, sondern als ein Zeichen, dass es dem Therapeuten noch nicht gelungen ist, die wechselseitigen emotionalen Anpassungen im Familiensystem zu identifizieren. Auf jedem Fall wird es nicht dem Erkrankten angelastet, wenn keine Lösung gelingt, sondern als Ausdruck dafür genommen, dass das System noch nicht für eine Veränderung bereit ist. Insofern können Therapeuten wirksam das schweigende soziale Umfeld ersetzen. Die Therapeuten müssen aber ihre Arbeit im Bewusstsein ausüben, dass sie die Aufgabe haben, dem sozialen System des Erkrankten die Kompetenz zurückzugeben, ihre Kommunikationsprobleme selber zu lösen und dass sie scheitern müssen, wenn der Erkrankte »tief im Inneren« im Interesse seines Systems eine Veränderung verhindern will.

Die beiden Positionen, dass die Verantwortung für das Glück primär bei der Gemeinschaft liegt und dass dennoch der Einzelne die Verantwortung für seine Emotionen übernehmen muss, stehen nicht im Widerspruch zueinander. Der scheinbare Widerspruch ergibt sich aus der Dialektik der Verantwortung. Da der Einzelne primär ein Gemeinschaftswesen ist, wird er durch und durch von den Lebensbedingungen geprägt. Seine Individualität ist ein Ergebnis dessen, wie das emotionale Klima des eigenen Lebensmilieus beschaffen ist und wie er seine seelischen Verletzungen verarbeitet hat. Da jeder aber auch ein Teil der Gemeinschaft ist, muss es sich fragen, wie sein Verhalten die Gemeinschaft mitbestimmt und was er tun kann, um die Lebensbedingungen zu verbessern. Wenn man sein Selbstbild auf dieser Sicht aufbaut, ist man gegenüber allen glücksfeindlichen Überschätzungen des Denkens gefeit und kann dem eigenen Atem mehr Raum geben und die angstbedingten Blockierungen sich auflösen lassen.

 Glück durch Meditation?

Wenn es stimmt, dass die Menschen nur im Kontakt mit anderen glücklich sind, dürfte es eigentlich nicht sein, dass man sich auch glücklich fühlen kann, wenn man nur im Kontakt mit sich selbst ist. Die hohe Wertschätzung des Kontaktes zu sich selbst geht auf Aristoteles zurück, der, wie oben erwähnt, im kontemplativen Denken die wertvollste Fähigkeit des Menschen gesehen hat. Das theoretische Denken gleiche am meisten dem Denken Gottes, das im reinen erkennenden Bei-sich-Sein, im reinen Selbstbezug besteht und keinen Bezug zu äußeren Dingen hat. Aristoteles nahm an, dass der Mensch im Denken über die Ordnung der Welt und über Gott Göttliches berührt und dann selbst göttlich wird. Gott implizierte im griechischen Denken immer »Glückseligkeit«. Aristoteles findet diese Glückseligkeit da, wo der Mensch nach langer Anstrengung ganz im erkennenden Schauen des Geistes aufgeht, ganz bei der zu erkennenden Sache ist und die Freude über das Erkennen sein Schauen vertieft und verlängert.

Diese Vorstellungen von Aristoteles haben viele Philosophen beeinflusst, insbesondere Thomas von Aquin und Spinoza. Für beide bestand Glück in der unmittelbaren Anschauung Gottes oder in der Liebe zu Gott. Höchstes Glück sei die Verbindung mit Gott. Da diese aber nicht dauerhaft möglich sei, ist kein vollendetes Glück möglich. Diese Formulierungen lassen erkennen, dass das in der Verbindung mit Gott erreichbare Glück offensichtlich damit zusammenhängt, dass ein meditatives Verhältnis zur Idee des Göttlichen eingenommen wird. Durch die Ausschaltung aller übrigen emotionalen und kognitiven Prozesse wird so eine große innere Ruhe erreicht, in der sich alle Zwietracht und Unruhe, die vorher das Glück verhindert haben, verflüchtigen. Diese innere Ruhe ist aber künstlich, da sie sich der Isolation der meditativen Kontemplation verdankt; sie wird im Kontakt mit dem realen Leben sofort wieder zusammenbrechen. Insofern ist das im meditativen Selbstkontakt erreichbare Glück kein wirkliches Glück, sondern allenfalls eine Vorahnung davon.

Außerdem ist durch die Idee, dass man im Kontakt mit sich glücklich sein könnte, der Glücksbegriff privatisiert worden. Es wurde die Illusion aufgebaut, als könnte man mit sich selbst allein glücklich sein. Dadurch wurde die Abhängigkeit des eigenen Glücks vom Glück der anderen Menschen verleugnet. Es darf nicht vergessen werden, dass man nur mit sich selbst in Kontakt sein kann, wenn der Kontakt zu anderen gelingt. Nur im lebendigen Kontakt mit anderen erfährt man sich selbst, weil man hier seine eigenen Reaktionsweisen kennen lernen kann. Im Rückzug kann zwar darüber nachgedacht und evtl. Korrekturen vorgenommen werden. Aber ohne den persönlichen Kontakt steckt der Selbstkontakt voller Selbsttäuschungen. So kann allzu leicht das ekstatische Gefühl in der meditativen Selbstversenkung missverstanden werden, als sei man im Kontakt mit sich selbst.

Die Formulierung »mit sich in Kontakt sein« darf also nicht wörtlich verstanden werden. Sie ist im Grunde nur eine Metapher für den authentischen und harmonischen Zustand des zu anderen Menschen hingewandten Kontaktes. Im-Kontakt-mit-sich-selbst-Sein heißt, dass alle Empfindungen und Emotionen, die sich spontan einstellen, spürend bejaht werden; sie müssen aber nicht in jedem Fall ausgelebt werden. Man berührt gleichsam die inneren Regungen, weil sie sich vollständig ins Handeln umsetzen können. Zugleich nimmt man aber auch einen uneigennützigen Kontakt mit anderen auf. Wirklicher Kontakt mit sich selbst und guter Kontakt mit anderen sind identisch. Der Kontakt zu sich selbst und der Kontakt zu anderen Menschen sind also miteinander verschränkt. Der Kontakt zu sich selbst kann nie besser sein als der Kontakt zu anderen Menschen. Deshalb lebt das Glück vom Glück der anderen.

Diese Überlegungen sollten zeigen, dass man dem Glück nur gerecht wird, wenn man es als ein Beziehungsgefühl versteht. Es wäre falsches individualistisches Denken, das Glück als eine alleinige Angelegenheit des Individuums anzusehen - nach dem Motto: »Das Glück beginnt bei uns selbst.« (Kirschner 2000, S. 29) Glück gibt es nur in harmonischen Beziehungen. Es kann nur in der Gemeinschaft von glücklichen Menschen gefunden werden. Der Einzelnen kann seinen Beitrag dazu leisten, indem er Verantwortung für das Glück der anderen übernimmt. Insofern ist die Redewendung, dass jeder seines eigenen Glücks Schmied ist, nur richtig, wenn man es auf beruflichen und materiellen Erfolg bezieht, aber falsch, wenn das dauerhafte persönliche Wohlbefinden gemeint ist.

Wie gezeigt, schließt das natürlich nicht aus, dass der Einzelne vieles für sich tun kann, um seine eigene Glücksfähigkeit zu verbessern. Im Vordergrund steht die bewusste Achtsamkeit gegenüber dem eigenen inneren Dialog. Aber man darf darin nicht mehr als eine Ersatzstrategie sehen. Denn kurzfristig kann man nichts daran ändern, dass man die anderen Menschen nicht erreicht und dass die anderen Menschen nicht bereit sind, selbst die Verantwortung für das Glück der anderen wahrzunehmen. Wenn man weiß, worauf es beim Glück letztlich ankommt, wird man nicht den Fehler der Überbewertung der Ersatzstrategien machen und der Neigung widerstehen, die Verantwortung für das Glück der anderen lächerlich zu machen. Denn im Grunde will jeder Unglückliche, dass auch die anderen unglücklich sind, weil dadurch das Bewusstsein für das eigene Unglück besser verdrängt werden kann.

8.2. Das Glück der Individualität

»Egoismus besteht nicht darin, dass man sein leben nach seinen Wünschen lebt, sondern darin, dass man von anderen verlangt, dass sie leben, wie man es wünscht.« (Oscar Wilde)

Da der Egoismus nicht angeboren ist, sondern als ein Versuch anzusehen ist, mit einem Defizit an Liebe auszukommen, ist er insofern eine kreative Lösung. Er hilft, einen emotionalen Engpass zu bewältigen. Die breite kulturelle Abwertung des Egoismus ist deshalb nicht nur falsch, sondern auch gefährlich. Dadurch werden die egoistischen Menschen unter Druck gesetzt, ohne dass ihnen Kraft gegeben wird, sich weniger egoistisch zu verhalten. Sie werden so zu heuchlerischem Verhalten gezwungen. Die Diffamierung des Egoismus verschlimmert die Probleme, die durch den Egoismus entstehen, da dadurch die Kommunikation mit anderen Menschen erschwert wird.

Wenn der Egoismus als ein Produkt der emotionalen Selbstorganisation anzusehen ist, dann wäre es konsequent, dass der Egoist sein Selbstverständnis daran ausrichten würde. So wie der Glückliche sich von seinen Impulsen leiten lässt, so kann auch der egoistische Mensch sein Vertrauen darauf richten, dass seine Impulse für ihn richtig sind. Er hat dasselbe Recht, sich von der emotionalen Selbstorganisation führen zu lassen, wie der Glückliche. Warum soll er sich mit seiner Abwertung durch die Umwelt identifizieren und deswegen ein schlechtes Gewissen haben? Das schlechte Gewissen führt nur zu Verspannungen und setzt die emotionale Resonanzfähigkeit weiter herab. Wenn er sich gegen seine inneren Impulse stellt, würde er nur seine innere Entzweiung verstärken. Was er will, das ist für ihn stimmig. So wie er jetzt lebt, ist für ihn das aktuell erreichbare Optimum.

Die philosophische Ethik konnte bisher die moralische Abwertung des Egoismus nicht schlüssig begründen, da sie bisher nicht den Nachweis führen konnte, dass es einen objektiven Beurteilungsmaßstab für das richtige Verhalten gibt, aber auch nicht eingestehen konnte, dass diese Suche vergeblich ist. Aus der Sicht der entwickelten Emotionstheorie führt kein Weg daran vorbei, dass der Beurteilungsmaßstab allein in dem subjektiven ethischen Kompass jedes einzelnen Menschen liegt. Was gut oder böse ist, kann nur aus der Perspektive des Einzelnen entschieden werden. Während sich die traditionelle Ethik leicht damit tat, abweichendes Verhalten als böse abzuwerten, ist das subjektive Urteil, dass sich nicht mehr mit objektiven Beurteilungsmaßstäben rechtfertigen kann, genötigt zu prüfen, ob das scheinbar abweichende Verhalten des anderen nicht Ausdruck eines anderen Lebensentwurfs ist. Das subjektive Verständnis der Ethik verlangt deshalb, zunächst davon auszugehen, dass die Reaktion des anderen Menschen aus dessen Sicht emotional berechtigt ist und dass es deshalb ansteht, im Gespräch mit dem anderen dessen Reaktion zu verstehen. Damit fällt die traditionelle Unterscheidung zwischen »gut« und »böse« in sich zusammen. Böse ist für den Einzelnen, was ihm schadet; ob es aber auch aus der Sicht des anderen böse ist, kann nicht ohne weiteres entschieden werden. Denn das Böse kann nicht objektiv begründet werden. Aus der Sicht der emotionalen Selbstorganisation ist es demnach nicht mehr legitim, das egoistische Verhalten zu disqualifizieren.

Die naive Art und Weise, wie im Allgemeinen mit dem Egoismus umgegangen wird, ist Folge des verbreiteten moralistischen Denkens, das sich seiner Beurteilungsmaßstäbe gewiss ist, und davon ausgeht, dass jeder aus eigener Kraft sein Verhalten ändern könne, wenn man ihm zur richtigen Einsicht verhelfen würde. Das moralistische Denken erschöpft sich in Appellen (»Übe Dich in Liebe und Mitgefühl«, »Unterlasse Handlungen, die anderen schaden«, »Wenn jemand Ihnen gegenüber zornig ist, sollten Sie darauf nicht zornig reagieren«), Vorwürfen (»Du hast die guten Ratschläge schon wieder nicht beachtet!«) und Schuldgefühlen (»Ich habe die guten Einsichten schon wieder nicht befolgt!«). Das moralistische Denken bleibt wirkungslos, weil es die Emotionen der anderen Menschen nicht erreicht. Jeder weiß, dass die guten Ratschläge der anderen völlig überflüssig sind, wenn es um das richtige Verhalten geht. Wie wenig das moralistische Denken nützt, zeigen die Glücksbücher, mit denen wahrscheinlich noch niemand dauerhaft glücklicher geworden ist.

Dementsprechend ist es auch nicht richtig, anderen Menschen gegenüber als Erzieher aufzutreten. Der ethischen Selbststeuerung angemessen wäre allein der Versuch, andere Menschen zu verstehen und durch einen guten Kontakt darin zu unterstützen, dass sie ihre Kontaktblockierungen überwinden können. Dafür sind Ethiktheorien eher hinderlich als förderlich. Sie haben nicht dazu beigetragen, dass man sich für den Kontakt zu Menschen mit abweichenden Verhaltensweisen öffnet und auf diese Weise dazu beiträgt, dass sie ihre Kontaktverweigerung aufgeben.

Aus der Sicht der Theorie der Selbstorganisation folgt, dass ist es notwendig ist, sich selbst zu akzeptieren, egal wie viel bzw. wie wenig emotionale Resonanzfähigkeit man leben kann. Das bedeutet, dass man sich auch akzeptieren muss, wenn man sich selbst in bestimmten Punkten ablehnt oder wenn man sich selbst gerade nicht akzeptieren kann. Wenn sich der Egoist auf seine Selbstorganisation verlässt, dann wird sich so viel Einfühlungsvermögen einstellen, wie ihm aktuell möglich ist. Wer sich selbst akzeptiert, ist bereit, sich weiter zu entwickeln. Insofern wird der sich selbst bejahende Egoist weniger der Gemeinschaft schaden als der naive und verbohrte Egoist, der sich ständig nur in Verteidigungs- und Rechtsfertigungshaltung befindet. Er öffnet sich mehr dem Kontakt mit anderen Menschen und steht damit unter dem Zwang, sein Verhalten, das potentiell andere Menschen verletzt, begründen zu können. Dabei kann er sich aber nicht damit rechtfertigen, dass er nur seinen Impulsen gefolgt ist. Die ständige Erfahrung, dass man sein Verhalten begründen muss, wird dazu führen, dass man bei der Entscheidung für bestimmte Handlungen stärker als vorher von vornherein die Perspektive der anderen Menschen einnimmt und deren mögliche Verletzungen antizipiert. Es spricht deshalb einiges dafür, dass der Egoist, der nicht unter dem Zwang steht, sich selbst zu verleugnen, in eine Dynamik hineingerät, in der sich der Egoismus abschwächt.

Aber, so könnte man fragend einwenden: Hat der Egoist genügend seelische Kraft, um seine defizitäre Charakterstruktur zu akzeptieren? Da sich der Egoist nicht als defizitär begreift, braucht er keine zusätzlichen Kräfte, um sich zu akzeptieren. Vermutlich reicht die Bestätigung der Richtigkeit seiner Impulse aus, um eine Veränderung des inneren Dialoges herbeizuführen. Wo er vorher immer wieder Selbstzweifel und Unsicherheiten hatte, kann er diese Signale jetzt als Hinweis darauf wahrnehmen, dass er noch nicht fähig ist, sich ganz zu öffnen, und dass sich neue Möglichkeiten von selbst einstellen werden, wenn sich die objektiven Bedingungen verändern. Er lehnt es ab, sich am Maßstab vollkommener Rücksicht und Anteilnahme zu messen.

Die Ethik muss davon ausgehen, dass in einer individualistischen Gesellschaft, in der jeder auf sich selbst gestellt ist und kaum noch Orientierung und Schutz von den Sozialgruppen, in denen er lebt, zu erwarten ist, egoistisches Verhalten »normal« ist. Denn jeder muss dafür sorgen, dass sein Sicherheitsvorrat maximal ist, um sich in Krisen behaupten zu können. Da die Stärke der Krise nicht voraussehbar ist, ist jeder bestrebt, seinen Sicherheitsvorrat nach Kräften – abhängig von seinem Sicherheitsbedürfnis - zu steigern. Dabei ist es oft schwierig zu bestimmen, ob bei diesem Bestreben die Bedürfnisse der anderen Menschen verletzt werden. Das kann nur in offener wechselseitiger Kommunikation gelingen, in der der Egoismus des anderen respektiert wird und die anderen sich zu ihrem Egoismus bekennen.

9. Der Beitrag des Atems zum Glück

»Leben heißt nicht atmen, sondern - handeln.« (Jean-Jacques Rousseau)

Es erwies sich als ein Fehler der meisten bisherigen Glückstheorien, dass sie direkt an den mentalen Fähigkeiten ansetzen, die angeblich für das Glück entwickelt werden müssten – Geist, Vernunft, Einsicht, Freiheit oder Wahrheit. Es sind meistens Empfehlungen damit verbunden, die unerfüllbar sind, weil sie insgesamt stillschweigend einen anderen Umgang mit den Emotionen voraussetzen. Wenn die bisherige Analyse zutrifft, dann kann das Glück nur dadurch erlangt werden, dass die Ängste bewältigt werden, die die innere Unruhe verursachen. Damit werden zugleich die früheren Entscheidungen aufgehoben, Emotionen zurückzuhalten und den Atem einzuschränken.

In den antiken Begriffen Seelenruhe, Seelenfrieden, Seelenstärke klingt an, dass das eigentliche Ziel darin besteht, den Zustand des ganzen Menschen, seine Emotionen, seine Sensibilität, seine Wachheit u. Ä. zu verändern, wenn die Voraussetzungen für das Glück geschaffen werden sollen. Die Analyse hat gezeigt, dass mit »Seele« letztlich immer der Gesamtzustand des Körpers gemeint war und dass dieser vorrangig am Zustand des Atems abgelesen werden kann. Wenn z. B. gesagt wird, dass die Seele aus den Sorgen des Alltags zu den einfachen Freuden zurückgeführt werden soll, wird damit ausgedrückt, dass der Atem von allen beunruhigenden Gedanken befreit werden muss. Deshalb ist die Bewältigung von Ängsten immer identisch mit der Befreiung des Atems.

Wegen der dominanten Stellung des Atems im gesamten seelischen Haushalt bieten Atemübungen die Chance, nicht bloß einzelne seelische oder mentale Fähigkeiten zu verbessern, sondern die seelische Gesamtverfassung insgesamt zu verändern. Dieser Vorzug des Atems ist darin begründet, dass alle wesentlichen Funktionen der seelischen Innenwelt - wie Fühlen, Denken, Achtsamkeit, Sensibilität - mit dem Atem zusammenhängen, ja letztlich im Atem wurzeln. Wenn eine Funktion im Zusammenhang mit dem Atem verbessert wird, strahlt dies auf alle anderen Funktionen aus. Deshalb ist der Atem der ideale Ansatzpunkt für eine Neuorientierung des gesamten Organismus in Richtung Glück. Die Weg zum Glück ist aussichtsreicher, wenn man den indirekten Weg wählt und versucht, den Kontakt zu den Gefühlen und Empfindungen zu verbessern.

Der Atem wird oft als Zaubermittel der Selbstveränderung glorifiziert. Es wird angenommen, dass sich die emotionalen Veränderungen gleichsam von selbst einstellen. Es wird dabei übersehen, dass der Atem die psychischen Veränderungen nicht aus eigener Kraft herbeiführt, sondern dass bestimmte Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit die emotionalen Selbstheilungskräfte aktiviert werden. Dazu gehört z.B., dass zwischen Therapeut und Patient ein guter Kontakt aufgebaut wurde, in dem alle Gefühle artikuliert werden können und der Therapeut es wagen kann, den Patienten mit seinen Schwächen zu konfrontieren. Dann können die inneren Signale des Patienten so klar und deutlich werden, dass ein bewusster innerer Dialog ausgelöst wird, in dem spontan frühere Entscheidungen korrigiert werden. In diesem Prozess ist der Atem des Patienten nur ein Lehrmeister für den Therapeuten, der ihm die Stärken und Schwächen des Patienten deutlich macht. Später ist er auch ein Lehrmeister für den Patienten, weil er an seinen Atemsignalen seinen aktuellen Zustand spürt, so dass er sich daran orientieren kann. Wenn aber der Patient spürt, dass der Therapeut kein Interesse an seinen Emotionen oder sogar Angst davor hat, wird die Atembehandlung zur Vertiefung der emotionalen Abspaltungen führen.

Da der Atem die Kontaktzone für alle sinnlichen, emotionalen und geistigen Kontakte ist, wird man übend dem Atem nur gerecht, wenn die im Atem mitschwingenden Emotionen beachtet und in den Mittelpunkt des Dialoges zwischen Therapeut und Patient gestellt werden. Die Hinwendung zu den Emotionen bedeutet immer auch, dass über die Beziehung zu anderen Menschen nachgedacht wird. Denn der Atem ist stets ein Reflex auf die emotionalen Beziehungen, in denen man steht. Man könnte deshalb die Atemtherapie, die die explizite Arbeit an den Emotionen mit einbezieht, auch als systemische Atemtherapie bezeichnen. Analog zur systemischen Familientherapie, die das individuelle Verhalten als abhängig vom familiären System begreift, sieht die systemische Atemtherapie das Verhalten als vom emotionalen Kontext abhängig, in den der Einzelne steht bzw. als Kind gestanden hat. Alle Emotionen haben den Sinn, einen ehrlichen Kontakt mit den anderen Mitgliedern der Familie herzustellen. Wie oben gezeigt wurde, werden Ersatzgefühle gebildet, wenn die Bezugspersonen einen guten Kontakt verwehren.

Der systemische Ansatz macht darauf aufmerksam, dass frühere Entscheidungen der emotionalen Zurückhaltung rückgängig gemacht werden müssen, die im Hinblick auf die Emotionen anderer Menschen getroffen wurden, und dass neue Entscheidungen an ihre Stelle zu setzen sind. Letztlich geht es bei der Heilung immer darum, die inneren Blockaden aufzuheben, die aufgebaut wurden, um sich vor der Überwältigung durch die eigenen Emotionen zu schützen. Dabei ist es nicht unbedingt erforderlich, dass man sich bewusst macht, welche Verhaltensweisen der Bezugspersonen den Anlass gegeben hatten, den Kontakt zu vermeiden. Der Fokus liegt vielmehr darauf, dass die Gewohnheitsmuster, wie die Emotionen anderer Menschen wahrgenommen und verarbeitet werden, in den eigenen emotionalen Reaktionsweisen erkannt werden und dass man sich bewusst wird, wovor man sich damit schützt.

Die Atemarbeit kann leichter eine Veränderung der seelischen Gesamtverfassung herbeiführen, wenn sie in einer direkten Arbeit an der emotionalen Kompetenz besteht. Das Ziel der Atemtherapie ist weniger die Entfaltung von einzelnen seelischen Fähigkeiten, sondern vielmehr die Wiederherstellung der grundsätzlichen Bereitschaft zum offenen emotionalen Ausdruck und der Fähigkeit, sich in der Trauerarbeit von dysfunktional gewordenen Vorstellungen zu verabschieden. Deshalb muss die Distanz der traditionellen Atemtherapie gegenüber den Gefühlen überwunden und den Gefühlen ein breiterer Raum gegeben werden.

Ob das Ziel der persönlichen Veränderung erreicht wird, bleibt stets ungewiss. Denn es ist von der Bereitschaft abhängig, die früher aufgebauten Schutzmechanismen aufzugeben. Es liegt nicht in der Entscheidungsmacht des bewussten Denkens, darüber zu befinden, wie sehr man sich noch schützen muss. Das Selbstschutzbedürfnis ergibt sich aus der inneren Selbstorganisation. Sein aktueller Stand kann am besten am konkreten Verhalten abgelesen werden. Man darf also nicht mehr von sich fordern, als wozu der Organismus von sich aus bereit ist. Wer sich verändern will, muss nachsichtig mit sich sein und die kleinen Veränderungen dankbar annehmen, die sich von selbst als Produkt der Atemarbeit einstellen.

Im Folgenden werden einige ausgewählte Atemübungen dargestellt. Es wird versucht, den Fehler der meisten Atemübungen zu vermeiden, dass sie mit geschlossenen Augen ausgeübt werden. Das erhöht zwar einerseits die Sensibilität für die körperlichen Empfindungen, aber andererseits wird dadurch die Aktivierung von unangenehmen Emotionen eher verhindert als gefördert. Meine Erfahrungen weisen darauf hin, dass die Chance relativ gering ist, mit den verdrängten Gefühlen in Kontakt zu kommen, wenn die Atemübungen isoliert und ohne Kontakt mit anderen Menschen ausführt werden. Auch in der traditionellen Atembehandlung, bei der der Patient mit geschlossenen Augen auf der Liege liegt, werden die verdrängten Gefühle mehr oder weniger ausgesperrt. Solche Methoden können sogar kontraproduktiv sein, weil dadurch der Atem von den Emotionen bewusstseinsmäßig isoliert wird. Bei vielen Menschen können sich die Gefühle erst regen, wenn der Augenkontakt zugelassen wird. Deshalb folgt aus meiner Analyse des Atems, dass die Atemübungen so strukturiert sein müssen, dass sie immer in einen unmittelbaren zwischenmenschlichen Kontakt eingebettet werden, so dass damit das Bewusstsein für die Abhängigkeit des eigenen Atems und der eigenen Emotionen von den äußeren Bedingungen geschärft werden kann.

Die vorliegenden Überlegungen haben die alte Weisheit bestätigt, dass alles Bewegung ist. Emotionen, Vorstellungen, Empfindungen und Erregungen stellen sich als unterschiedliche Aspekte von Bewegungen heraus. Sie dürfen deshalb nicht voneinander isoliert werden. Wenn in den folgenden Übungen jeweils einzelne Aspekte herausgehoben werden, geschieht dies, um ihre differenzierte Wahrnehmung zu schulen. Die Übungen sind aber so aufgebaut, dass sukzessive die einzelnen Aspekte der Bewegung wieder in eine ganzheitliche Betrachtung integriert werden. Außerdem soll das Problem der traditionellen Atemübungen vermieden werden, dass sie ähnlich wie die Meditation in einem sozial isolierten Raum betrieben werden. Die transformierende Kraft von Atemübungen ist größer, wenn sie auch in den Alltag übernommen werden können. Deshalb wird auf einfache Übungen Wert gelegt, die überall ausgeführt und in die normalen Alltagsaktivitäten eingebaut werden können.

9.1. Sammlungsfähigkeit und Achtsamkeit verbessern

»Wenn Du dich entschieden hast, glücklich zu sein, brauchst du nicht zu meditieren.« (Osho, Das orangene Buch)

Für den ausgeglichenen Menschen ist alles Tun zugleich Meditation. Denn Meditation ist nichts anderes als die natürliche Einstellung, sich stets tief ins eigene Tun einzulassen und sich darin zu versenken. Meditation ist keine Technik, sondern eine Lebensweise. Wenn jedoch die Hingabe- und Konzentrationsfähigkeit verloren gegangen ist, muss versucht werden, sie mit sinnvollen Konzentrationstechniken wiederherzustellen, mit dem Ziel, nicht mehr meditieren zu müssen. »Wenn du das tägliche Leben nicht zur Meditation nutzt, dann wird deine Meditation unweigerlich zu einer Art Weltflucht.« (Osho, Das orangene Buch).

In den meisten östlichen Meditationsritualen nimmt der Atem eine Sonderstellung ein. Das beruht auf der Erfahrung, dass der Atem die herausragende Fähigkeit hat, das freiflutende Denken zu kontrollieren. Wenn man die Aufmerksamkeit auf den Atem lenkt, wird man sich sofort des gegenwärtigen Momentes bewusst. Immer wenn das Bewusstsein beim Atem ist, lebt man automatisch in der Gegenwart. Der Atem eignet sich deshalb dafür, weil er dem Denken keine neue Nahrung gibt, so dass es nicht von Vergangenem oder Zukünftigen abgelenkt wird. Das Denken geht in der Wahrnehmung des Atems völlig auf und lässt keine Gedanken zu, die nichts mit der aktuellen Aufgabe im Augenblick zu tun haben. »Das einzig Reale ist der Atem.«29

Als Objekt der Meditation können auch Begriffe, Bilder, Gegenstände o.A. gewählt werden. Sie haben aber den Nachteil, dass sie keinen Bezug zur eigenen persönlichen Realität haben. Außerdem verlangen sie, dass man sich zurückzieht und das Bewusstsein von allen aufkreuzenden Gedanken und Vorstellungen abwendet. Das Trancegefühl, das sich dabei einstellt, kann sehr intensiv sein; aber es ist eher künstlich, weil es sich einer künstlichen Situation verdankt. Es kann die Meditation zur Sucht machen.

Die Meditation wird häufig als ein Weg angepriesen, sich selbst zu finden. So wird der Meditation die Kraft zugeschrieben zu erkennen, was man eigentlich will. Dies ist ein Missverständnis der Meditation. Die Mystiker meinten mit dem Selbst nie das individuelle Ich, das mit seinen Problemen und Konflikten in einer bestimmten Situation steht, sondern die allgemeine Seele, wie sie vor der Individuation beschaffen ist. Es war also nicht intendiert, in der Meditation eine Lösung konkreter seelischer Probleme zu finden, sondern die Seele sollte in ihren Ursprung zurücksinken und sich aus der Erfahrung der Einheit stärken. Man darf deshalb die Meditation nicht mit Problemen der Alltagsbewältigung überfordern. Ob die Meditation zur Selbstveränderung beiträgt, hängt letztlich davon ab, ob man bereit ist, einschränkende Glaubenssätze aufzugeben (vgl. S. 122).

Der Atem ist eindeutig das wirksamste Meditationsobjekt. Einmal steht er jedem unmittelbar und jederzeit zur Verfügung. Zum anderen verlangt er nicht unbedingt die Isolation und kann deshalb leichter in den Alltag integriert werden. Denn letztlich kommt es darauf an, dass alle alltäglichen Bewegungen mit mehr Bewusstsein ausgeübt werden, so dass sie eine intensive Verbindung mit dem Atem eingehen. Außerdem soll das Trancegefühl nicht nur in der Ausnahmesituation der isolierten Meditation erlebt werden, sondern so weit wie möglich zum Bestandteil des Alltagslebens werden. Im Folgenden sollen mehrere Varianten der Atemmeditation vorgestellt werden, die dem Ansatz der systemischen Atemarbeit entsprechen.

 Den Atem wahrnehmen

Bei der Atemmeditation ist das Bewusstsein an den beiden Nasenflügeln und nimmt wahr, wie sie sich bei der Einatmung weiten und bei der Ausatmung in die Ausgangsstellung zurückschwingen. Es nimmt wahr, wie der Atem in die Nase einströmt und wie er wieder die Nase verlässt. Vielleicht spürt es die Kühle des einströmenden und die Wärme des ausströmenden Atems. Das Bewusstsein lässt den Atem so kommen und gehen, wie er will. Es nimmt nicht den geringsten Einfluss auf ihn. Ist es möglich, den Ausatem noch mehr loszulassen und den Einatem zuzulassen? Kann der Atem mit einem leichten Lächeln verbunden werden?

Zunächst werden die Augen geschlossen, um sich durch nichts ablenken zu lassen. Das Gesicht wird entspannt: die Stirn, Augen, Lippen weiten sich, der Kiefer lässt locker u. Ä. Auch das Hinterhaupt am Übergang zur Halswirbelsäule wird entspannt. Bei jedem Einatemzug soll man achten, ob die einzelnen Gesichtspartien noch entspannt sind bzw. noch mehr entspannt werden können. Die Wirksamkeit der Entspannung kann sich in spontanem Gähnen oder zunehmendem Wohlgefühl zeigen.

Man wird schnell feststellen, wie schwer es ist, ununterbrochen mit der Aufmerksamkeit dem Atem zu folgen. Trotz besten Willens entweicht das Bewusstsein immer wieder in den inneren Dialog, ohne dass man es merkt. »Als Meditierende sollten wir gelassen bleiben und uns nicht deprimieren oder entmutigen lassen, wenn wir diesen Schwierigkeiten begegnen. Stattdessen sollten wir verstehen, dass eine Veränderung der über Jahre hinweg tief in uns eingegrabenen geistigen Gewohnheiten viel Zeit braucht. Sie kann nur durch wiederholtes, kontinuierliches, geduldiges und beständiges Üben erreicht werden.« (Hart 1999, S. 97).

Nach einigen Minuten der Atemmeditation soll man in sich hinein lauschen und sich fragen, welche Gefühle momentan im Atem mitschwingen. Meist melden sich die Gefühle zunächst eher atmosphärisch. Später werden sie deutlicher, wenn man direkt nach ihnen fragt. Welche Emotionen würde der Atem artikulieren, wenn er frei wäre? Welche Botschaften enthalten die Emotionen? Welche Bedürfnisse drücken sich darin aus? Was haben die Gefühle mit meiner aktuellen Situation zu tun? Stellen sie eine Reaktion auf Erwartungen anderer Menschen dar? Bei solchen Fragen beobachtet das Bewusstsein immer wieder den Atem. Dabei kann man die Vorstellung zu Hilfe nehmen, dass man in die Gefühle hinein atmet oder das der Einatem über das Zwerchfell in den Bauchraum als Zentrum der Gefühle einströmt.

Später kann man die Konzentrationsübung mit geöffneten Augen fortsetzen, z. B. beim Gehen, wenn man sich nicht auf etwas Bestimmtes konzentrieren muss. Man kann beobachten, wie die Atemkonzentration dem Bewusstsein für die Bewegung beim Gehen nicht abträglich ist, sondern es vielmehr steigert. Wenn man merkt, dass die Achtsamkeit auf den Meditationspunkt verloren gegangen ist, geht man einfach wieder dorthin zurück.

Diese Form der Atemmeditation hat den großen Vorteil, dass man sie mit allen Aktivitäten kombinieren kann. Sie bewirkt, dass man sich selbst als Bewegender im Hier und Jetzt bewusst wird. Der Atem bleibt in Kontakt mit der Situation, in der man sich gerade befindet und kann sich auf sie einschwingen. So können alle Aktivitäten zur Meditation werden und wird die Isolation der traditionellen Meditation vermieden.

 Über den Rücken einatmen

Ergänzend zu der Meditation auf die Nasenflügel stellt man sich bei dieser Übung vor, als ob man durch den Rücken einatmen würde. Die Achtsamkeit nimmt wahr, wie sich der Rücken in der Phase der Einatmung weitet und wie sich die ganze Wirbelsäule etwas nach hinten wölbt. Dabei kann man sich abwechselnd auf verschiedene Punkte der Wirbelsäule konzentrieren: das Kreuzbein, die Lendenwirbelsäule auf der Höhe der Nieren, die Brustwirbelsäule auf der Höhe des Herzens, der Übergang von der Brustwirbelsäule in die Halswirbelsäule oder dem Übergang von der Wirbelsäule zum Schädel. Dabei wird im Grunde die natürliche Körperbewegung in der Wirbelsäule nachvollzogen, wie sie durch den gelösten Atem bewirkt wird.

Nach einigen Atemzügen soll man sich eine konkrete Situation vergegenwärtigen, die man kürzlich erlebt hat, und - wie oben dargelegt - nach den Gefühlen fragen, die im Atem mitschwingen.

Diese Übung verbindet den Atem mit einem ganzkörperlichen Bewusstsein. Sie verstärkt die Fähigkeit, gleichzeitig Vorstellungen, Emotionen, den Atem und den Zustand des Körpers wahrzunehmen.

 Die Gefühle des anderen wahrnehmen

Es wird empfohlen, im Zustand der Atemmeditation andere Menschen oder Gegenstände zu beobachten und sich zu fragen, welche Gefühle wahrgenommen werden. Welche Gefühle löst der andere Mensch oder der Gegenstand bei mir aus? Was haben diese Gefühle mit meiner Vergangenheit zu tun?

 In Schmerzen hinein atmen

Es wird immer wieder empfohlen, die Schmerzen nicht zu bekämpfen, sondern sich mit ihnen anzufreunden, auf sie zu hören und sie zu respektieren. In die Schmerzen hinein zu hören, gelingt eigentlich nur, wenn man in die Schmerzen hineinatmet. Das Bewusstsein sammelt sich dabei im Mittelpunkt des Schmerzes und schickt den ganzen Einatem in diese Zone. Der Schmerz wird sozusagen mit dem Atem durchdrungen. In der Vorstellung transportiert der Ausatem die durch die Verletzung entstandenen Schlackenstoffe aus den verletzten Muskeln fort. Es gehört ohne Zweifel viel Mut dazu, sich auf diese Weise dem Schmerz zu stellen, aber es ist ein sehr wirksamer Weg, um ihn zu lindern.

Die Wirkung dieser Meditation beruht darauf, dass einerseits die Konzentration auf die Atembewegung in der Schmerzzone zu einer verstärkten Beweglichkeit in dem schmerzhaften Bereich führt, der aufgrund des Schmerzes gerade dazu neigt, sich zu verkrampfen und zu erstarren, und dass sich andererseits dadurch der Atem vertieft.

Diese Meditation überwindet die normale Einstellung gegenüber dem Schmerz, die durch Angst und Abwehr gekennzeichnet ist. Im Grunde gilt die Empfehlung des französischen Essayisten Alain auch für das Verhältnis zum eigenen Schmerz: »Auf Schmerzen anderer nicht mit Mitleid, sondern mit freundschaftlicher Fröhlichkeit reagieren. Hoffnung verbreiten, nicht Furcht, man sollte gemeinsam die Freude hegen, die unseren wirklichen Reichtum ausmacht. Die Leidenschaften sind traurig. Der Hass ist traurig. Die Freude wird die Leidenschaften und den Hass töten.« (Alain 1982, S. 145) Wenn der Schmerz als Botschaft des verspannten Körpers verstanden wird, der sich mit körperlichen Mitteln vor seelischen Schmerzen schützt, kann man vielleicht über sich selber lachen.

9.2. Die inneren Rhythmen spüren

»Wenn Sie nach innen hören, hören Sie ihren Atem. Sie stellen dabei fest, wie wunderbar es ist, den eigenen Atem zu hören, und dass es ein Geschenk ist, den eigenen Atem zu hören. Sie kommen auf die Welt und atmen bis zu Ihrem Tode. Das ist wundervoll! Freunden Sie sich mit ihrem Atem an!« (Goldie Hawn, Schauspielerin)

Wenn man im Einklang mit den inneren Impulsen lebt, kann man erfahren, dass sich die verschiedenen natürlichen Rhythmen des Atems, des Herzens, der Gehirnflüssigkeit und der Eigenschwingungen der einzelnen Organe in Harmonie befinden. Unter dem Einfluss von körperlichen Verspannungen entsteht innere Disharmonie, weil der Einklang der verschiedenen Schwingungen nicht mehr möglich ist. Hat es dann überhaupt Sinn, sich bewusst mit den natürlichen Rhythmen zu beschäftigen? Viele Therapien haben daraus den Schluss gezogen, dass es möglich sein könnte, dass Leben dadurch wieder in Ordnung zu bringen, indem man die gestörten Rhythmen durch bewusste Interventionen harmonisiert.

Ohne Zweifel basiert die Wirkung der Meditation darauf, dass die Harmonie der natürlichen Rhythmen wiederhergestellt wird, wenn man sich auf einen Fokus konzentriert. Wenn man z. B. voll und ganz in seinem individuellen Atemrhythmus aufgeht und ihn bewusst wahrnimmt, wird das Bewusstsein eins mit dem Atem. Das Bewusstsein wird vollständig von der lebendigen Realität der Atemschwingungen ausgefüllt, so dass kein Platz mehr für das Denken an andere Dinge ist. Dann können sich auch die anderen natürlichen Rhythmen darauf einschwingen. Das würde die regenerative Kraft der Meditation erklären.

Der Buddhismus hat aus der Erfahrung, dass sich in der Meditation nach einiger Zeit alle seelischen Phänomene in Schwingungen, Pulsationen, Vibrationen u. a. aufzulösen scheinen, den Schluss gezogen, dass die wahre Realität von Materie und Geist aus Schwingungen und deren ständiger Veränderung besteht. Die Meditation sei deshalb im Grunde eine Rückkehr in den ursprünglichen Wesenszustand. Auf dem Boden der buddhistischen Schwingungstheorie wurden mehrere Therapiemethoden entwickelt, die ihren Fokus in den inneren Schwingungen haben. Von der biodynamischen Körpertherapie wurde das bewusst herbeigeführte ganzkörperliche Zittern eingeführt. Im Tibetan Pulsing Yoga werden schnelle Beckenbewegungen über die Beine auf den ruhenden Partner übertragen. Beim Holistic Pulsing versetzt der Therapeut einzelne Körperteile des Patienten in pulsierende Bewegungen. In der cranio-sakralen Therapie wird versucht, den Rhythmus, mit dem die Gehirnflüssigkeit durch das Gehirn und die Wirbelsäule fließt, auszugleichen. Der Sinn all dieser Übungen besteht darin, den verlorenen Kontakt zu den inneren Rhythmen wiederherzustellen.

Aus den Forschungsarbeiten, wie Tiere traumatische Situationen bewältigen, ist bekannt geworden, dass sie dazu Schütteln, Zittern u. Ä. benutzen. Daraus wurde geschlossen, dass dies eine physiologische Strategie darstellt, um die übermäßige Erregung, die bei Traumata aufgebaut wurde, abzubauen30. Die Menschen haben diese animalischen Heilungsressourcen verschüttet, weil sie sich für die unkontrollierten Reaktionen schämen und sie unterdrücken. Es wird empfohlen, die tierischen Aspekte zu bejahen und sich mithilfe des inneren Empfindens mit ihnen zu verbinden (vgl. S. 146). Im Folgenden werden Übungen vorgeschlagen, mit denen die Atemmeditation mit der Erfahrung der inneren Pulsation verbunden werden kann.

 Wellenbewegung im Sitzen

Im aufrechten Sitz wird das Becken über die Sitzhöcker langsam nach vorn und hinten gekippt, so dass eine Schaukelbewegung entsteht. Das Bewusstsein konzentriert sich auf die Pendelbewegung der Wirbelsäule, wobei der Fokus zunächst beim Steißbein liegen sollte. Später soll er sich auch dem Kreuzbein und anderen Abschnitten der Wirbelsäule zuwenden und dort die Bewegung der Wirbelsäule verfolgen. Die Pendelbewegung ist langsam, sanft und weich. Dass Bewusstsein gibt sich dieser Bewegung hin und fragt, wie es sie noch müheloser machen kann. Die Bewegung soll so langsam ausgeführt werden, dass sie mit dem Rhythmus des Atems übereinstimmt.

Wenn die Schaukelbewegung nach einigen Minuten ganz flüssig abläuft, nimmt das Bewusstsein zusätzlich die Nasenwurzel mit in seine Achtsamkeit hinein, um den ein- und ausströmenden Atem zu beobachten. Es wird feststellen, dass der Atem ganz eng mit der Bewegung der Wirbelsäule gekoppelt ist. Es beobachtet, wie der Einatem spontan kommt, wenn die Rückwärtsbewegung des Kreuzbeins neu einsetzt. Je flüssiger die Bewegung gelingt und je besser sie mit dem Atem synchronisiert ist, umso mehr sind Lustempfindungen mit ihr verbunden. Die Bewegung kann weiter verlangsamt werden. Da langsame Bewegungen mehr Konzentration verlangen, wird dadurch der Atem noch stärker beruhigt und die Lust vergrößert.

Im Idealfall strömt der Atem in die Nase ein, wenn das Kreuzbein nach hinten kippt. Dies entspricht der physiologisch richtigen Einatmung, bei der die Bauchorgane, die durch das in den Baumraum drängende Zwerchfell nach unten gedrückt werden, von dem kontrahierten Beckenboden abgestützt werden. Beim Ausatmen bewegt sich das Kreuzbein nach vorn. Dabei entspannen sich Zwerchfell und Beckenboden. Die bewusste Beckenschaukel ahmt somit den physiologischen Atemablauf nach.

Wenn man sich für die inneren Rhythmen öffnet, wird der Pulsschlag des Herzens, der im ganzen Körper zu spüren ist, in die Achtsamkeit treten. Gleichzeitig werden sich das innere Strömen und die innere Pulsation der Muskeln bemerkbar machen, die nicht mit dem Pulsschlag identisch sind, sondern eine wesentlich höhere Schwingungsfrequenz haben. Die Erfahrung der lustvollen Erregung gelingt leichter, wenn man die Beckenbodenmuskeln beim Einatmen kontrahiert und den Einatem einige Sekunden anhält (vgl. unten).

 Wellenbewegung im Liegen

Die Empfindungen der Atemlust werden verstärkt, wenn sich das Bewusstsein auf den Pulsschlag im Becken einschwingt. Dazu liegt man mit angewinkelten Beinen auf dem Rücken, die Hände liegen seitlich auf dem Beckenkamm, die Handkanten in den Leisten und die Finger auf dem Schambein. Den Pulsschlag kann man leichter spüren, wenn man zunächst den Pulsschlag in den Händen oder in den Lippen sucht und sich vorstellt, dass sich die Pulsation auf den ganzen Körper ausbreitet. Nach dieser Vorübung wird man den Pulsschlag in den Leisten unter den Fingern spüren. Das gelingt erfahrungsgemäß leichter, wenn man den Druck der Finger auf das Schambein bei der Einatmung etwas erhöht. Dann kann man sich vorstellen, dass die im Becken beginnenden Pulsationen und Vibrationen auf den ganzen Körper überströmen. Auch der Darm kann als Kanal der Erregungsströme imaginiert werden. Man kann sich bewusst auf die Schwingungen der Pulsation einschwingen.

Wenn das Bewusstsein in der Bewegung aufgeht, kann es geschehen, dass sich spontan die Frequenz der Beckenbewegungen erhöht. Die immer schneller werdenden unwillkürlichen Bewegungsrhythmen können umso länger durchgehalten werden, je entspannter das Becken ist und je kräftiger die Beinmuskulatur ist. Schließlich bricht die Bewegung spontan ab. Es folgen unwillkürliche Kontraktionen im Becken und in den Geschlechtsteilen und eine tiefe, befreiende Atmung mit ausgeprägter Bewegung des Beckens. Während vorher die Atmung ruhig oder auch beschleunigt ist, ohne das sie direkt an die Beckenbewegung gekoppelt ist, ist jetzt eine absolute Synchronisation der Einatmung mit dem Rückwärtsschwung und der Ausatmung mit dem Vorwärtsschwung des Beckens zu beobachten.

Der Bewegungsvorgang hat mit seinen unwillkürlichen Beckenbewegungen und den Muskelkontraktionen eine große Ähnlichkeit mit dem sexuellen Orgasmus. Das gilt auch für die dabei auftretenden Empfindungen. Es stellt sich der gleiche Trancezustand ein, in dem man völlig von den Empfindungen des Körpers eingenommen wird, so dass man an nichts anderes denken kann. Es kann ebenso eine Erotisierung des Beckens und des ganzen Körpers stattfinden. Die Atemlust kann durch die schnellen Beckenbewegungen ins Ekstatische und Orgasmische gesteigert werden. Daraus kann der Schluss gezogen werden, dass dieser Bewegungsablauf ein Grundmuster ist, das der Organismus immer dann anwendet, wenn er völlig mit sich im Kontakt ist. Norretranders hat deshalb zu Recht vom Atemorgasmus gesprochen. Der Orgasmusreflex (Reich) sei nicht ein genitaler Orgasmus, sondern eine Art Atemorgasmus. Die totale, ungebremste Hingabe an die unwillkürliche Atmung führe dazu, den ganzen Körper in eine unwillkürliche Wellenbewegung mitzureißen, dieselbe, die beim totalen Orgasmus stattfindet. (Norretranders 1986, S. 118). Es ist ein Orgasmus ohne sexuelle Stimulation.

Aus dieser Sicht wäre der sexuelle Orgasmus nur ein Anwendungsfall eines allgemeinen Reaktionsmusters. Daraus ergibt sich ein neues Verständnis des Orgasmus. Man kann folgern, dass es beim sexuellen Orgasmus nicht primär auf die Reibung der Geschlechtsorgane ankommt, sondern auf die Beckenbewegungen. Wenn Alexander Lowen behauptet, dass Frauen in der Lage sind, allein durch Bewegungen ohne sexuelle Stimulation zum Orgasmus zu kommen, so ist das damit zu erklären (Lowen 1993, S. 255). Es ist auch fraglich, ob der Orgasmus seine Funktion in der Entladung von überschüssiger Energie hat, wie seit Wilhelm Reich angenommen wird. Es spricht vieles für die These, dass die tiefen unwillkürlichen Beckenbewegungen beim Orgasmus die Prostata bei der Beförderung des Ejakulats unterstützen. Gleichzeitig haben die rhythmischen Beckenbewegungen den Sinn, die Wirbelsäule in einen guten Tonus zurückzuversetzen und einen tiefen, ruhigen Atem zu ermöglichen. Es wird also weder Energie aufgestaut noch entladen. Die Erregung ist nicht Zeichen von gesteigerter Energieansammlung, sondern ein Zeichen dafür, dass alle Rhythmen von der kleinen Pulsation der Zellen bis zu der großen Wellenbewegung der Wirbelsäule miteinander in Harmonie schwingen. Wenn die Blockierungen aller Körperrhythmen beseitigt werden, kann sich dies wie ein Zuwachs an Energie anfühlen, ohne dass deshalb von Energie gesprochen werden muss.

 Kontraktion des PC-Muskels

In allen orientalischen Sexualitätslehren nimmt die Stärkung des Beckenbodenmuskels, insbesondere der Partie, mit deren Kontraktion der Harnstrahl unterbrochen werden kann, eine prominente Stellung ein. Dies beruht auf der Erfahrung, dass die sexuelle Lustempfindungsfähigkeit direkt von der Kontraktionskraft des Beckenbodenmuskels abhängig ist. Deshalb wurden die Beckenbodenübungen auch in die neueren westlichen Sexualitätslehren aufgenommen.

Diese Atemübung besteht darin, dass der PC-Muskel während der Einatmung kontrahiert und während der Ausatmung entspannt wird. Der Spürsinn geht in die Empfindungen hinein, die bei der Ausatmung in diesem Bereich wahrzunehmen sind. Kann der Puls und die Pulsation der Muskeln gespürt werden? Nach einiger Zeit soll die Kontraktion auch bei der Ausatmung festgehalten und die Pulsation in diesem Bereich gespürt werden. Hieran kann sich ein innerer Dialog über die eigenen sexuellen Bedürfnisse und die sexuelle Beziehung zu anderen Menschen anschließen.

Vermutlich können die Einheits- und Verbundenheitsgefühle, die sich bei ekstatischen Gefühlen einstellen und die oft als spirituelles Einssein bezeichnet werden, auf das synchrone Zusammenschwingen des Atems mit allen anderen Rhythmen (insbesondere der Gehirnflüssigkeit) zurückgeführt werden. Wahrscheinlich ist dies auch die Ursache für die Empfindung, als würde die Energie in der Wirbelsäule hochsteigen. Insofern ist die meditativ durchgeführte Beckenschaukel ein Weg, um die im Atem angelegte Lust jederzeit herbeizuholen, auch wenn die tiefe Verbundenheit mit der sozialen Gemeinschaft fehlt, die für eine dauerhafte Synchronizität der natürlichen Rhythmen erforderlich wäre. Die dabei erreichbaren ekstatischen Erfahrungen begründen die Utopie der Einheit mit dem Kosmos und motivieren, sich verstärkt um den Zustand des Atems zu kümmern.

9.3. Die Botschaften des Organismus wahrnehmen

»Das jedenfalls scheint mir eines der wichtigsten Kapitel der wahren Moral zu sein, dass man sich sowohl von begangenen Fehlern wie der Reue darüber, kurz, dem ganzen Elend der Reflexion frei macht.« (Alain)

Oben wurde gezeigt, dass man sich das Glück durch innere Glaubenssätze verbauen kann. Wenn man z. B. den Glaubenssatz befolgt »Ich habe kein Recht zu leben«, wird man sich nicht ausreichend für seine eigenen Bedürfnisse einsetzen und deshalb das Glück verfehlen. Häufig wird aus der blockierenden Wirkung von Glaubenssätzen die Folgerung abgeleitet, dass alle Glaubenssätze aufgelöst werden müssten. »In der Stille jenseits aller Glaubenssätze ist alles klar und eindeutig: Was zu tun ist, wohin man zu gehen hat, wann, wo.« (Boerner 1999, S. 294) Dies ist ein Irrtum, da man ohne Glaubenssätze nicht auskommt. Lediglich die destruktiven Glaubenssätze, die den Kontakt behindern, müssen in förderliche Glaubenssätze umgewandelt werden.

Im blockierten inneren Dialog ist die Fähigkeit verloren gegangen, die verschiedenen Signale des Organismus wahrzunehmen und für das eigene Denken und Handeln zu nutzen. Da die negativen Glaubenssätze dem inneren Dialog die Kraft nehmen, kreative Lösungen für auftretende Konflikte zu finden, kommt es darauf an, den inneren Dialog zu verflüssigen und ihn wieder in seine ursprüngliche Funktion der Problemlösung auf der Basis sensibel wahrgenommener Signale zurückzuversetzen. Wenn dies gelingt, kann der innere Dialog zu bestimmten Problemen, der durch die Wahl von negativen Glaubenssätzen unterbrochen wurde, zu Ende geführt werden und dadurch die Freiheit für neue positive Glaubenssätze zurückerlangt werden.

Im Folgenden wird eine Methode dargestellt, wie man den inneren Dialog von inneren Blockaden befreien kann.

1. Mit welchen Glaubenssätzen identifiziere ich mich?

Zunächst gilt es herauszufinden, von welchen Glaubenssätzen man sich leiten lässt. Dazu muss man sich eine vergangene Situation - ein Gespräch, ein Telefonat, eine Handlung - vergegenwärtigen, die eine innere Spannung erzeugt hat. Dabei muss man sich ganz in die frühere Situation mit ihren Gedanken, Gefühlen, Empfindungen und Wahrnehmungen hineinversetzen. Was hat mich aus dem Gleichgewicht gebracht? Was hat mich in der Situation besonders geärgert? Mit solchen Fragen kommt man sehr schnell darauf, welche Emotionen angesprochen worden sind. Jetzt muss man sich fragen, welchen Glaubenssatz man in solchen Situationen anwendet. Meist stellt er sich spontan ein. Wenn dies nicht der Fall sein sollte, muss man sich weiter in die Situation hineinversetzen und die Fragen wiederholen.

Man sollte mehrere aktuelle und frühere Situationen auf die darin verborgenen Glaubenssätze hin untersuchen. Es sollte versucht werden, für die Glaubenssätze einfache Formulierungen zu wählen. Sie sollen aufgeschrieben werden, um immer wieder den inneren Dialog mit bestimmten Glaubenssätzen aufnehmen zu können und den eigenen Entwicklungsprozess später nachvollziehen zu können.

2. Wie fühlen sich meine Glaubenssätze an?

Um nachempfinden zu können, was die Glaubenssätze innerlich bewirken, sollten sie innerlich mehrmals wiederholt werden. Wenn man einen Glaubenssatz innerlich verbalisiert, also nicht nur denkt, sondern stumm spricht, wird man feststellen, dass sich schlagartig das Befinden verändert. Man fühlt sich traurig, schuldig, wird wütend oder trotzig. Meist kommen auch spontan Erinnerungen an frühere Bezugspersonen. Solange die emotionale Antwort undeutlich ist, sollte man den Glaubenssatz öfters wiederholen. Es ist empfehlenswert, die Glaubenssätze nur in der Einatemphase zu verbalisieren, um in der Ausatemphase auf die körperlichen Reaktionen achten zu können. Das fortlaufende Wiederholen des Glaubenssatzes hat auch den Vorteil, dass der innere Dialog keine Chance hat, von den unangenehmen Emotionen abzulenken.

Wenn das Gefühl eindeutig ist, sollte man zusätzlich darauf achten, wie sich der Atem anfühlt. Der Einatem kann beengt und angestrengt empfunden werden, so als müsste man einen inneren Widerstand überwinden. Oder er kann stockend sein. Der Ausatem kann schwach sein, so als würde er versacken oder stoßartig ablaufen. Vielfältige Formen sind möglich. Es kommt darauf an, die unterschiedlichen Formen des Atems bewusst zu empfinden und die Entsprechung zwischen Atemform und Emotionen wahrzunehmen. Mit der Zeit wird man dann auch in alltäglichen Situationen den aktuellen Atem und damit die in ihm enthaltenen Signale spüren. Dadurch wird die Fähigkeit verbessert, den Riss im eigenen Inneren besser zu spüren.

3. Den emotionalen Zustand ausgleichen!

In der dritten Phase soll man sich deshalb fragen: Wie würde es mir ohne den Glaubenssatz gehen? Man wird feststellen, wie sich der emotionale Zustand abrupt verändert. Meistens fühlt man sich erleichtert, frei, heiter oder gelöst. Der Atem wird ruhig, tief und ausgeglichen.

Der Sinn dieser Phase besteht darin, dass der emotionale Zustand beruhigt und ausgeglichen wird. Dann besteht eher die Chance, dass einschränkende Glaubenssätze aufgelöst werden.

4. Neue Glaubenssätze finden!

Jetzt kann man sich fragen, welcher Glaubenssatz für die untersuchte Situation den eigenen Bedürfnissen besser entsprechen würde. Der neue Glaubenssatz stellt sich meist ganz spontan ein. Man sollte dem ersten Einfall vertrauen und nicht nach anderen Sätzen suchen, die vielleicht rationaler klingen. Oft stellt sich der neue Glaubenssatz bereits spontan in der dritten Phase ein. Wie würde ich reagieren, wenn ich mich frei entscheiden könnte?

Damit wird der negative Glaubenssatz, der als störend und behindernd empfunden wird, durch einen neuen Glaubenssatz ersetzt, der die Selbstachtung mehr unterstützt und der hilft, sich besser zur Wehr zu setzen.

Der neue Glaubenssatz wird gefestigt, wenn man in einen bewussten Dialog mit den Personen eintritt, von denen man sich misshandelt und verletzt fühlt. Ihr Verhalten soll infrage gestellt werden. Man kann von ihnen eine Begründung ihrer Forderungen verlangen. Ihre Forderungen können kritisch zurückgewiesen werden. Dabei kommt es darauf an, dass man die Personen mit ihren eigenen Stimmen sprechen lässt, ihnen zuhört und darauf achtet, wie man spontan darauf reagiert. Es genügt also nicht, sich bloß vorzustellen, was sie sagen würden. Die Erfahrung zeigt, dass das Denken umso intensiver wird, je lebhafter das Gespräch mit einer bekannten Person simuliert wird, die Fragen stellt, kritisiert oder auffordert, sich auf bestimmte Weise zu verhalten. Indem die eigenen Ansprüche formuliert und gegenüber den Bezugspersonen vertreten werden, wird gelernt, sich zu den eigenen Bedürfnissen zu bekennen und dafür einzutreten. Damit wird der abgebrochene Dialog bewusst zu Ende geführt.

Man darf sich nicht von dem buddhistischen Dogma irritieren lassen, dass das Glück sich erst einstellen würde, wenn man alle Glaubenssätze aufgelöst hat. Soziales Zusammenleben kommt nicht ohne Glaubenssätze aus; es kommt nur darauf an, solche auszulöschen, die eine gute Balance zwischen den sozialen Regeln und den persönlichen Bedürfnissen behindern. Es ist ein Irrtum anzunehmen, dass jeder Glaubenssatz destruktiv ist.

5. Wie reagiere ich auf den neuen Glaubenssatz?

Wie fühlt sich der Atem bei dem neuen Glaubenssatz an? Wenn der Glaubenssatz stimmig ist, ist der Atem ausgeglichen und ruhig. Es wird kein innerer Dialog angeregt, der dazu Stellung nimmt. Das ist ein Zeichen dafür, dass der ehemals blockierte Dialog zu diesem Thema zu Ende geführt werden konnte.

Therapeuten, die mit Glaubenssätzen arbeiten, sind verblüfft, wie sich das Gesamtbefinden der Patienten dadurch nachhaltig verändert, und wissen keine Antwort darauf. Aus der hier entwickelten Theorie der Emotionen ergibt sich, dass diese Methode einen inneren Dialog auslöst, der sowohl die körperliche als auch die mentale Seite der Glaubenssätze berücksichtigt. Die Erfahrung, dass man sich mit den Glaubenssätzen selbst in einen Stresszustand versetzt, führt zu der Einsicht, dass man fragen muss, ob der Schutz durch die überkommenen Glaubenssätze noch erforderlich ist und dass man versuchen muss, die überholten Glaubenssätze durch angemessene Glaubenssätze zu ersetzen. Das Denken gewinnt seine Funktion zurück, die körperlichen Signale der Emotionen und Empfindungen sensibler wahrzunehmen und die darin enthaltenen Botschaften zu entschlüsseln. Es erhält die verlorene Fähigkeit zurück, den emotionalen Gehalt aus mentalen Sätzen heraus zu spüren.

Man muss sich nicht bewusst vornehmen, die Glaubenssätze loszulassen. Sie verschwinden von selbst, wenn die Fähigkeiten zurückerworben wurden, mit den Emotionen anders umzugehen. »Glaubenssätze und Gedanken loslassen zu wollen, ist ein überholtes Konzept, das bei vielen Menschen nicht funktioniert«. (Boerner 1999, S. 47)

Die Arbeit mit inneren Vorstellungen wurde erstmals von der griechischen Philosophenschule der Stoa entwickelt. Sie konnte große Wirksamkeit entfalten, da sie in den Glauben an einen vernünftig geordneten Kosmos eingebunden war. Alle Veränderungen fanden im Rahmen einer emotionalen Gesamtsituation des Vertrauens und der Geborgenheit statt. Dadurch wurden Gefühle des Abgetrenntseins und Verlustes in den Hintergrund gedrängt. Wenn heute der kosmologische Rahmen fehlt, ist dies eher ein Vorteil, weil die Methode ihre Wirkung primär aus der sensiblen Wahrnehmung der Atemreaktion bezieht.

6. Was haben die negativen Glaubenssätze mit meiner Vergangenheit zu tun?

Mit dieser Frage wird der Zyklus des inneren Dialoges mit früher gebildeten Glaubenssätzen abgeschlossen. Wenn sich nicht spontan eine Antwort einstellt, kann man »den Atem antworten lassen« oder »das Selbst um Rat fragen«.

Die Arbeit mit den inneren Vorstellungen ist im Grunde Trauerarbeit. Vorstellungen, die sich als einschränkend erweisen, werden durch neue Vorstellungen ersetzt, von denen man sich mehr Freude verspricht. Es ist wichtig, dass die alten Vorstellungen nicht nachträglich verurteilt werden, sondern dass man sich von ihnen wie von Freunden dankbar verabschiedet, die einige Zeit Schutz gegeben haben.

9.4. Rezeptive Grundhaltung einüben

»Solange du nach dem Glücke jagst, bist du nicht reif zum Glücklichsein, und wären alle Dinge dein.« (Hermann Hesse)

Oben wurde begründet, dass das rezeptive Verhältnis zu sich selbst der Natur des Menschen entspricht. Die rezeptive Grundeinstellung ist die radikale Gegenposition zur Kontrollhaltung, bei der alle Impulse überprüft und aus Angst vor möglichen Folgen unterdrückt werden. Sie besteht aus dem Vertrauen in die Richtigkeit der sich spontan einstellenden Emotionen und Gedanken. Da das Denken in Bezug auf das Verhalten zu anderen Menschen und zu sich selbst primär darin besteht, die spontanen Signale des Organismus wahrzunehmen und zu interpretieren, kommt es darauf an, ein starkes Vertrauen in die eigenen Gedanken wiederherzustellen.

Die folgenden Übungen setzen daran an, dass die rezeptive Grundhaltung am besten im Zusammenhang mit den Erfahrungen des eigenen Atems gelernt werden kann. Denn der Atem bietet von sich aus die Erfahrung an, dass er am besten funktioniert, wenn man sich von ihm leiten lässt. Man fühlt sich sofort unbehaglich, wenn man ihn - meist unbewusst - kontrolliert.

Im mythologischen Zeitalter dachte man, dass die Luft, die die Menschen einatmen, der Ausatem eines transpersonalen Wesens ist. Es wurde angenommen, dass der kosmische Atem mit göttlicher Kraft in den Menschen eingeblasen wird und als Ausatem wieder herausgesaugt wird. Wahrscheinlich hatte man sich so das Gefühl erklärt, dass der Atem wie von selbst kommt und geht, wenn man sich wohlfühlt oder glücklich ist.

Die folgenden Übungen experimentieren mit solchen traditionellen mythologischen Vorstellungen. Auch wenn diese mythologischen Vorstellungen heute ihre frühere Geltung verloren haben, kann man so tun, als ob eine Weltseele existieren würde. Bereits wenn man so tut, als ob man von einer äußeren Kraft (z. B. der fiktiven Weltseele »Gaia«) beatmet werden würde, kann man spüren, dass solche Vorstellungen die Kraft haben, der unbewussten Kontrollhaltung den Boden zu entziehen. Der Atem kann sich so leichter in seinen Eigenrhythmus einschwingen. Man spürt an der inneren Erregung, dass damit ein fundamental anderes Selbstempfinden verbunden sein kann. Solche Übungen können die Erfahrung vermitteln, dass praktisch mit jedem gelösten Atemzug die Entspannung hergestellt werden kann. Es kann damit gelernt werden, die unbewusste Kontrolle des Atems aufzugeben und die Bereitschaft zu vergrößern, die im spontanen Atem auftauchenden Impulse und Erinnerungen anzunehmen.

1. »Kosmischer Atem im Stehen/Sitzen«

Man nimmt die Grundposition der oben dargestellten Atemmeditation ein und bildet die Vorstellung, dass der kosmische Atem der »Weltseele« aus eigener Kraft in den Körper einströmt. Der Atem erfüllt den eigenen Körper. Es entsteht das Gefühl, dass man beatmet wird. Man sollte auf jedes eigene Tun verzichten und nur beobachten, wie der Atem in den Körper einströmt und ihn verändert. Zur Verbesserung des Gewahrseins kann man wiederholt den Satz sagen: »Der kosmische Atem strömt in mich hinein.« Die Vorstellung kann nützlich sein dass der einströmende Atem mit den Botschaften von Liebe, Ruhe oder Gelassenheit verbunden ist.

Der Ausatem strömt die Wirbelsäule herunter und verlässt den Körper über die Füße. Alternativ verlässt der Atem den Körper über die gesamte Körperoberfläche.

2. »Kosmischer Atem im Liegen«

Auf dem Rücken liegend wird mit der Vorstellung gearbeitet, dass der kosmische Atem großflächig über die Brust und den Bauch aus eigener Kraft in den Körper wie von selbst einströmt und ihn über die Rückseite wieder verlässt und im Boden versinkt.

3. »Embryonale Atmung«

Bei dieser Übung wird mit der Vorstellung gearbeitet, dass der eigene personale Kern tief im Unterbauch liegt. Die Einbildungskraft richtet sich darauf, dass der Sauerstoff wie beim Fötus direkt über den Nabel einströmt und dass deshalb Nase und Lunge überflüssig sind. Man braucht sich also um die Atmung überhaupt nicht zu kümmern. Es kann die Vorstellung hinzugenommen werden, als ob man im Mutterbauch schwimmen würde. Das Bewusstsein beobachtet von innen die Empfindungen im Bauchraum. Es nimmt den Atemrhythmus und den Pulsschlag wahr, der um den personalen Kern herum zu spüren ist. Kann der aktuelle emotionale Zustand des Körpers gespürt werden?

4. »Botschaften des Atems«

Man kann mit der Vorstellung experimentieren, dass die »Weltseele« oder die »kosmische Intelligenz« mit dem Atem auch inhaltliche Botschaften sendet. Es können Botschaften der Liebe, der inneren Ausgeglichenheit, der Ruhe, der Heilung u.ä. sein.

9.5. Systemische Atemtherapie

»Mensch wird im Du zum Ich.« (Martin Buber)

Die Atemtherapie neigt dazu, bei Ihren Übungsempfehlungen vom einzelnen Individuum auszugehen. Es ist nicht so, das Paar- und Gruppenübungen ausgeschlossen werden, aber der Akzent liegt eindeutig auf Einzelübungen. Diese Grundhaltung basiert auf einem problematischen Verständnis des Menschen als isolierten, selbstverantwortlichen Einzelwesen, das dem Atem nicht gerecht wird, dessen Wesen gerade darin besteht, die Kommunikation mit anderen Menschen herzustellen. Deshalb ergibt sich aus der vorliegenden Analyse die Forderung, den Partnerübungen ein größeres Gewicht zu geben.

In meiner persönlichen Entwicklung habe ich beobachtet, dass ich bei den Atemübungen erst wirklich in Kontakt mit meinen Emotionen gekommen bin, seitdem ich bevorzugt Partnerübungen durchführe. Es war für mich überraschend, dass dabei die innere Achtsamkeit nicht durch die geöffneten Augen geschmälert wird und dass ich jetzt an persönliche Schichten herankomme, die vorher verschlossen waren. Das Üben mit geschlossenen Augen hat ohne Zweifel einen großen Wert, weil dadurch die sensible Wahrnehmung des Körpers geschult wird. Da aber das verbesserte Atem- und Empfindungsbewusstsein im alltäglichen Leben wirksam sein soll, ist es nützlich, es auch bei geöffneten Augen zu üben.

Die größere therapeutische Wirkung von Partnerübungen ist aus der Sicht der Atemmembran leicht zu erklären. Schließlich bilden sich alle emotionalen Probleme im Kontakt mit anderen Menschen. Deshalb ist es zweckmäßig, auch bei den Atemübungen mit geöffneten Sinnen einen Kontakt zum Gegenüber herzustellen. Dann kann man leichter erfahren will, welche emotionalen Reaktionsmuster das eigene Verhalten steuern. Man kann dann viel leichter mit den eigenen Gefühlen in Kontakt kommen, die den Kontakt erschweren und die den Ausdruck von Wut und Zuneigung im Kontakt behindern. In dem geschützten Raum der Atemübungen kann man lernen, die eigenen Emotionen wahrzunehmen und verbal zu artikulieren.

In den Partnerübungen werden alle Formen des emotionalen Kontaktes auf der körperlichen Ebene durchgespielt, wobei der aktive Partner die Impulse setzt, während der andere Partner mehr auf seine inneren Reaktionen achtet. So erfährt der passive Partner Widerstand, Abwendung, Nachgeben, Rückzug, Gleichgültigkeit, Zuwendung u.Ä. in ihrer körperlichen Gestalt und spürt, was das jeweils für ihn bedeutet.

Auch wenn der passive Partner spontan den Augenkontakt verliert, versucht er, ihn immer wiederherzustellen. Dagegen kann der aktive Partner damit spielen, dass er den Blickkontakt verändert oder ganz abbricht.

Der aktive Partner berichtet freimütig, was er am anderen beobachtet und welche Gefühle der andere in ihm selbst ausgelöst hat. An diesen emotionalen Reaktionen kann der passive Partner lernen, sich intensiver seinen eigenen Gefühlen zuzuwenden. Der aktive Partner fragt auch, welche Gefühle der andere gerade hat, um dessen Fähigkeiten zu fördern, sich um das achtsame Bewusstsein seiner Gefühle zu kümmern und sich in zunächst diffuse Gefühlsstimmungen zu versenken, um sie zur Artikulation zu verhelfen, anstatt sie zu übergehen.

Der zunächst als passiv agierende Partner erhält bald die Freiheit, die Struktur der Beziehung mit Hilfe seiner spontanen Impulse zu verändern. Denn er weiß selbst am Besten, welche Konstellation geeignet ist, um seinen destruktiven Reaktionsmuster auf die Spur zu kommen. Die Beziehung zwischen Therapeut und Patient wandelt sich von einem Abhängigkeitsverhältnis in ein partnerschaftliches Verhältnis um, das von der Verantwortung für die eigene Entwicklung getragen wird.

10. Die Seele als Quelle des Glücks?

»Der Seele Grenzen kannst du nicht ausfinden, und ob du jeglichen Weg abschreiten würdest: so tiefen Grund hat sie.« (Heraklit)
»Diejenigen, die nicht mit Aufmerksamkeit den Bewegungen ihrer eigenen Seele folgen, geraten notwendig ins Unglück.« (Marc Aurel)

Die bisherigen Überlegungen sollten einen Einblick in den tiefen Zusammenhang von Atem und Glück geben. Dabei wurde herausgearbeitet, dass der Atem verschiedene Funktionen hat, die alle für das Glück bedeutsam sind:

● Es wurde gezeigt, dass der Atem das Medium des Glücks ist. Da die Emotionen im Atem wurzeln, die Emotionen den Kontakt herstellen und Glück mit uneingeschränktem Kontakt identisch ist, kann man sagen, dass der Atem das Wesen des Glücks ausmacht. Wenn der Atem gelöst ist, wird dies als Glück empfunden. Da sich dann der Körper in einem optimalen Tonus befindet, also er weder überspannt noch unterspannt ist, entspricht dem Glück immer ein körperliches Wohlgefühl. Alles was für die Lösung des Atems getan wird, trägt so zum Glück bei.

● Der Atem hat die zweite Funktion, die Konzentration zu erhöhen. Wenn sich das Bewusstsein im Atem sammelt, geht das Denken leichter in der anstehenden Aufgabe auf und wird sich weniger zerstreuen. Der Atem bietet sich so in jeder Lebenslage als Mittel an, das Bewusstsein in die Wahrnehmung des gegenwärtigen Augenblicks zurückzubringen. Da dies identisch damit ist, dass man in Kontakt mit dem gelangt, was man gerade tut, trägt auch diese Funktion des Atems zum Glück bei. Der Wunsch des Geistes, sich zu beruhigen oder zu aktivieren, kann nicht unmittelbar umgesetzt werden, sondern braucht die bewusste Hinwendung zum Atem.

● Der Atem hat weiterhin die Funktion, ein Medium der Selbsterkenntnis zu sein. Alles, was im Geist und in den Emotionen stattfindet, spiegelt sich im Atem. Bei bewusster Hinwendung zum Atem kann man viel über den eigenen emotionalen Zustand erfahren. Je sensibler der Atem wahrgenommen wird, umso klarer treten die eigenen Emotionen ins Bewusstsein. Der Atem wird deshalb oft als ein Lehrmeister bezeichnet. Andere geben ihm die Qualität eines empfindlichen Seismographen, der alle Bewegungen im Innenleben anzeigt. Es wird deshalb empfohlen, die Sensibilität für den Atem zu verbessern. Dadurch wird zugleich das Empfindungsvermögen für die anderen körperlichen Empfindungen verbessert. Auch in dieser Funktion kann der Atem zum Glück beitragen, da er den Kontakt mit sich selbst verbessern hilft.

● Der Atem hat die vierte Funktion, eine Brücke zum Unbewussten zu sein. In der meditativen Selbstbesinnung können bisher im Unbewussten verborgene Gefühle auf die Bühne des Bewusstseins aufsteigen. Wie gezeigt wurde, hängt diese Funktion des Atems damit zusammen, dass mit dem gelösten Atem ein Loslassen von Verspannungen verbunden ist, die kompensatorische Emotionen festgehalten haben.

Wie im nächsten Kapitel gezeigt werden soll, kann der Atem schließlich auch als ein Schlüssel begriffen werden, um das Wesen des Menschen und des Kosmos zu verstehen. Im antiken Denken stand die Seele ganz eindeutig im Zentrum der Überlegungen über das Glück. Die Seele war der Bezugspunkt für alle Begriffe und Metaphern, mit denen das Glück zu begreifen versucht wurde. Eine ruhige und ausgeglichene Seele war der Garant für das Glück. »So ist es denn klar, dass ein hoher Grad von Lust oder Unlust der Seele für ein glückliches oder unglückliches Leben von größerer Bedeutung ist, als eine körperliche Empfindung, wenn sie gleich lange dauert.« (Epikur) Da die Philosophie für das Verständnis der Seele zuständig ist, wurde von vielen Denkern die Philosophie als eine Philosophie des Glücks verstanden. An der Geschichte des Begriffs Seele kann gezeigt werden, dass der Atem gemeint war, wenn von der Seele die Rede war. Die große Bedeutung der Seele wird erst verständlich, wenn man ihre Beziehung zum Atem berücksichtigt.

Wenn die Philosophie nicht in der Lage war, sich auf eine Definition der »Seele« zu einigen, zeigt das die Schwierigkeit, das Glück über die »Seele« zu erfassen. Viele Philosophen waren sich bewusst, dass sich die Seele grundsätzlich einer endgültigen Definition entzieht und dass man bei der Erkenntnis der Seele an die Grenzen des Denkens stößt. Aber die Schwierigkeiten liegen nicht darin, weil in der Seele alles ineinander fließt und deshalb keine klaren Abgrenzungen wie bei den Gegenständen der Außenwelt vorgenommen werden können, sondern die Definitionsschwierigkeiten entstehen letztlich daraus, dass alles, was über die »Seele« gesagt werden kann, aus Erfahrungen des Atems hervorgeht, der in seiner körperlichen Dynamik prinzipiell nur körperlich erfahren, aber nicht geistig begriffen werden kann.

Wegen der großen Bedeutung der Seele für das Glücksthema sollen im Folgenden einige Anmerkungen zur Geschichte der Seele gemacht werden. Damit kann gezeigt werden, dass die im Rahmen dieses Buches entwickelte Theorie der Atemmembran eine neue Antwort auf die Frage nach der Seele anbietet. Sie gibt der Sensibilität für die körperlichen Empfindungen und Emotionen bei der Erfahrung des psychischen Innenlebens ein größeres Gewicht als die traditionellen Seelentheorien und überwindet damit deren Körperfeindschaft. Noch wichtiger ist, dass sie eine Alternative zum vorherrschenden mechanistischen Körperverständnis anbietet, das sich verhängnisvoll auf die Glücksfähigkeit der Menschen ausgewirkt hat, weil es die Verantwortung für den eigenen psychischen Zustand negiert und damit das Unglück zu etwas Fremden macht, das man bekämpfen müsse. Das mechanistische Körperverständnis erschwert deshalb einen guten Umgang mit sich selbst.

10.1. Der Verlust der Seele

»Was der Mensch nicht aus sich selbst erkennt, das erkennt er gar nicht.« (Ludwig Feuerbach)

Es wird meistens vergessen, dass der Begriff Seele historisch entstanden ist. Er stammt begriffsgeschichtlich eindeutig vom Atembegriff ab. Alle Begriffe für Seele wie die griechischen Worte psyche und pneuma und das lateinische Wort animus (anima) bedeuteten ursprünglich Atem, Hauch oder Wind31. Dies ist auch in anderen Kulturen zu beobachten: So haben das indische atman, das chinesische Chi, das hebräische ruach als ursprüngliche Bedeutung den Atem. Vielfach verweisen auch die Namen der Götter auf den Atem: Amun bei den Ägyptern, Jahwe bei den Israeli. So wird z. B. im Sufismus gesagt, dass der Atem die Seele Gottes sei.

Obgleich es über die Herkunft des Begriffes Seele aus dem des Atems keine Zweifel gibt, ist es merkwürdig, dass es bisher keine ausreichende Erklärung für die inhaltliche Verwandtschaft der Seele mit dem Atem gibt32. Die Verwandtschaft ist keine mythologische Kuriosität und kein Zufall. Sie gründet darin, dass bei aufmerksamer Selbstbeobachtung nicht zu übersehen ist, dass alle emotionalen und geistigen Regungen mit unterschiedlichen Qualitäten des Atems zusammengehen. Man kann erfahren, dass aufgewühlte Emotionen stets mit einem unruhigen Atem einhergehen und dass mit einem ausgeglichenen Atem nicht nur die Emotionen beruhigt, sondern auch die Störungen des Kontaktes beseitigt werden. In der begrifflichen Verwandtschaft spiegelt sich also die Erfahrung, dass alle inneren Regungen, die die Lebendigkeit des Menschen ausmachen, mit dem Atem verknüpft sind und von seiner Vitalität abhängen. Wenn diese offensichtliche Abhängigkeit bisher nicht theoretisch aufgearbeitet wurde, liegt das wahrscheinlich daran, dass die Seele von Anfang als etwas Göttliches oder als das Tor zum Göttlichen angesehen wurde, so dass deshalb alle außerreligiösen Erklärungsversuche diskriminiert wurden.

Die ersten Philosophen der Antike gingen dementsprechend davon aus, dass man die Welt nur erkennen kann, wenn man die eigene Innenwelt versteht. »Was wir alle kennen, ist der Mensch. Der Mensch ist die kleine Welt.« (Demokrit). Es bestand die Hoffnung, dass aus der Erkenntnis der im Inneren wirkenden Kräfte die Erkenntnis der Lebenskräfte der Natur insgesamt abgeleitet werden kann. Schließlich ist der Mensch ein Teil der allumfassenden Natur. Die Philosophie stand so von Anfang an im Spannungsverhältnis zwischen der Erkenntnis der äußeren objektiven Welt und der subjektiven Innenwelt. Können die aus der Analyse der Innenwelt gewonnenen Erkenntnisse auf die Außenwelt übertragen werden? Können die Methoden, die bei der Analyse der objektiven Welt tauglich sind, wie z. B. das kausale Denken, auch für die Analyse der Innenwelt benutzt werden?

Deshalb ist die Frage von zentraler Bedeutung, welche Erfahrungen sich beim Blick nach innen aufdrängen und wie diese interpretiert werden. Es wäre aber ein Fehler, bei der Selbstbeobachtung auszublenden, dass das eigene Selbstverständnis durch und durch von der historischen und sozialen Situation abhängig ist, in der man aktuell steht. Wie jede Theorie ist auch die Theorie der Seele eine Antwort auf eine historische Situation, die Angst ausgelöst hat. Wie ich in meinem Buch »Psychosomatik des Atems« in Anlehnung an die Thesen von Julian Jaynes ausgeführt habe, stand am Anfang der Theorie der Seele der Verlust der inneren göttlichen Stimmen, die bisher Orientierung und Sicherheit gegeben hatten33. Wie Homer in der Ilias dargestellt hatte, erlebten sich die Menschen früher so, als würden ihre inneren Handlungsimpulse und Gedanken von den Göttern stammen. Wie oben dargestellt, erhält Odysseus Warnungen und Ratschläge von den Göttern. Da die Gefühle und Gedanken als von den Göttern geschickt erlebt wurden, lag es völlig fern, sich für sie verantwortlich zu fühlen.

Die oben beschriebenen Veränderungen in der Organisation der Gesellschaft im Zuge der Durchsetzung der Geldwirtschaft, der Ausbreitung des Warenhandels, des Aufbaus von großen Herrschaftssystemen und der Zerstörung der Stammesgruppen haben dazu geführt, dass das Vertrauen in die göttlichen Stimmen verloren ging, weil sie keine zuverlässige Orientierung mehr geben konnten. Hervorzuheben ist die Herausbildung der neuen einflussreichen Sozialgruppe der Kaufleute, die neue Formen der sozialen Kommunikation und damit auch das neue Selbstverständnis der individuellen Selbstverantwortlichkeit eingeführt haben. Angesichts der zunehmenden Abhängigkeit von den politischen und wirtschaftlichen Machthabern wurde es gefährlich, sich an den inneren Stimmen zu orientieren.

Als man nicht mehr bereit war, den Stimmen der Götter zu folgen und die Götter für alles verantwortlich zu machen, musste man versuchen, die Lebenskräfte der Natur, die im eigenen Inneren gespürt werden können, mit einer neuen Theorie zu verstehen. Wenn das Leben nicht mehr aus der Perspektive der Götter betrachtet werden kann, müssen die Erfahrungen und Impulse, die aus dem Inneren des eigenen Körpers kommen, neu interpretiert werden. Beim Blick nach innen gerät sofort die zentrale Bedeutung des Atems ins Blickfeld. Es drängen sich die verschiedenen Zustandsformen des Atems und seiner Veränderungen in Abhängigkeit von äußeren Erfahrungen auf. So beginnt das Leben mit dem ersten Atemzug des Säuglings und endet mit dem letzten Atemzug vor dem Tod. Während des Lebens spiegeln sich die unterschiedlichen Grade an Lebendigkeit in der Ruhe oder Heftigkeit des Atems. Man kann den Atem zwar in Grenzen beeinflussen, er entzieht sich aber letztlich jeder Kontrolle. Solche Erfahrungen können von jedem gemacht werden. Der Atem schien deshalb eine plausible Antwort auf die Frage nach dem Wesen des Innenlebens zu sein. Es lag deshalb nahe, das Lebensprinzip mit dem Atem zu identifizieren. So steht z. B. im Alten Testament, das wahrscheinlich nur geringfügig vor den ersten griechischen Philosophen entstand:: »Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden, blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen.« (Genesis 2/7)

Die Seelentheorien waren Versuche, das Wesen der Realität neu zu bestimmen. Sie stützten sich dabei auf Erfahrungen, die im Zusammenhang mit den inneren Regungen der Emotionen und Gedanken gemacht werden können. Wie oben dargelegt wurde, sind die Gedanken und Emotionen untrennbar mit dem Atem verbunden. Ohne den Atem gäbe es sie wahrscheinlich gar nicht. Da bei der Erfahrung der emotionalen und mentalen Regungen immer auch der Atem anwesend ist, lag es nahe, dass die antiken Philosophen für das gefühlsmäßige und gedankliche Innenleben den Begriff der Seele übernommen haben, der sich – wie oben gezeigt - unmittelbar vom Atem ableitet. Die Seele wurde als eine eigenständige Kraft verstanden, die im Inneren die Gefühle und Gedanken organisiert. Sie wurde als ein Teil der alles umfassenden und durchdringenden Weltseele aufgefasst. Die Einheit der Welt, die ursprünglich als Einheit der Natur erlebt wurde und nur durch die Götter gestört werden konnte, war jetzt mit der Seele erklärbar. Auch die Erklärungs­systeme, die später mit den Begriffen Logos oder Geist operierten, basierten letztlich auf dem Seelenkonzept. Wenn meistens die Seele als etwas Göttliches begriffen wurde, war das sicherlich bewusst oder unbewusst ein Zugeständnis an die Volksreligion, die fest von der Existenz der göttlichen Seele überzeugt ist.

Nach dem neuen Seelenverständnis setzten Seelenruhe und Seelenstärke voraus, dass man sich um den Zustand der eigenen Seele kümmert. Im antiken Denken lag das Schwergewicht der Selbstsorge auf dem Bemühen um richtiges Denken. Die wichtigste Methode war die Kontemplation der zentralen philosophischen Begriffe. In diesem Licht kann der eingangs zitierte Spruch von Marc Aurel gedeutet werden: »Diejenigen, die nicht mit Aufmerksamkeit den Bewegungen ihrer eigenen Seele folgen, geraten notwendig ins Unglück.«

Vermutlich war mit der Verfassung der Seele immer die Verfassung des Atems gemeint. Wenn von der Pflege der Seele gesprochen wurde, war im Grunde damit gemeint, dass der Atem beruhigt werden soll. So können die zentralen Begriffe Seelenfrieden, Seelenruhe, Seelenstärke oder Seelengröße nur verstanden werden, wenn sie auf den ruhigen, ausgeglichenen und belastbaren Atem bezogen werden. Auch wenn in den Seelentheorien nie vom Atem die Rede ist, so können sie doch als Versuch verstanden werden, die Bedeutung des Atems für das menschliche Glück zu bestimmen. Die Empfehlungen der Seelentheorien gingen also dahin, für den Zustand des Atems mithilfe von geistigen Übungen und Meditationen Verantwortung zu übernehmen.

Dieser äußerst knappe Abriss der Geschichte der Seele sollte zeigen, dass die Seelentheorien Rettungsversuche waren, das tradierte rezeptive Lebensgefühl gegenüber Veränderungen zu bewahren, das durch das Lebensgefühl der neuen Sozialgruppe der Kaufleute, das auf Eigenverantwortlichkeit aufbaut, infrage gestellt wurde. Sie sollten die mit der neu entstandenen Sozialordnung des Privateigentums verbundenen Unsicherheitsgefühle und Ängste klären und zeigen, wie die neue Situation bewältigt werden kann. Sie sollten die neue Erfahrung verarbeiten, dass man durch verletzte Emotionen den Kontakt zu den Mitmenschen verlieren kann.

Im Verlauf des Aufklärungsprozesses in der Neuzeit ist der Begriff Seele als Relikt mythologischen Denkens denunziert worden. In der wissenschaftlichen Diskussion von Philosophie und Psychologie wird er inzwischen nur noch von Außenseitern benutzt. Es ist schwer zu bestimmen, welche Argumente letztlich dem Begriff Seele den Todesstoß gegeben haben. War es die Lokalisation der Seele in der Zirbeldrüse durch Descartes oder war es das Argument von Immanuel Kant, dass die Seele nicht mehr als eine regulative Idee des menschlichen Geistes ist? Wahrscheinlich waren primär die Veränderungen des Lebensgefühls ausschlaggebend. Seit Beginn der Industrialisierung sind die gesellschaftlichen Veränderungen, die in der Antike zur Entstehung des eigenverantwortlichen Individuums geführt haben, in alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens eingedrungen, so dass das Gefühl, dass der Einzelne auf sich selbst gestellt ist und von niemandem Unterstützung erwarten kann, zum vorherrschenden Lebensgefühl geworden ist. Wenn aber der Einzelne sich für seine Gedanken und Emotionen selbstverantwortlich fühlen muss, hat der Begriff Seele keinen Platz mehr. Damit ist aber auch der indirekte Bezug zu den körperlichen Signalen des Atems verloren gegangen. Die seit Anfang des letzten Jahrhunderts wiederentdeckte Atemtherapie hat sich zum Ziel gesetzt, die Einsicht in die Bedeutung der Atemsignale wieder in das kulturelle Gedächtnis zurückzubringen.

Der Niedergang der Seele ermöglichte den Aufstieg des mechanistischen Körperverständnisses, das die Wirkung hatte, dass die Menschen von ihrem seelischen Innenleben entfremdet wurden. Die Einheit der Welt wird seitdem mit ewigen Naturgesetzen erklärt. Dies wird aber den seelischen Prozessen nicht gerecht, weil es das zentrale Thema des seelischen Innenlebens nicht begreifen kann, dass der Einzelne ständig Entscheidungen über die Art seines Kontaktes zur Umwelt trifft. Die Dimension der Entscheidung kann in die Theorie des mechanistischen Weltverständnisses nicht eingebaut werden. Sie wird entweder negiert oder an einen exterritorialen Geist oder an die Gene delegiert. Sie kann auch nicht integriert werden, weil das nur gelingen könnte, wenn der emotionale Kontakt zur Umwelt berücksichtigt werden würde. Deshalb kann das Glück, das aus gelungener Kommunikation besteht, nicht im Rahmen des mechanistischen Körperverständnisses angemessen analysiert werden.

Die Geschichte der Seele kann in diesem Buch nicht weiter vertieft werden. Diese Aufgabe möchte ich in einem späteren Buch leisten. Die theoretischen Bausteine, die hier für die Theorie des Glücks entwickelt wurden, sollen dann im Rahmen einer Atemphilosophie zusammengefügt werden. Mit dem Begriff Atemphilosophie wird beansprucht, dass die Philosophie von den lebensfremden geistzentrierten Spekulationen Abschied nehmen kann, wenn sie sich ihrer eigentlichen Erkenntnisquelle zuwendet, den unmittelbaren Erfahrungen »am eigenen Leibe«. Wie die Philosophin Annegret Stopczyk in ihrem Buch »Sophias Leib« nachgewiesen hat34, gab es in der Philosophiegeschichte viele Versuche, zum »leiblichen Denken« zurückzufinden. Diese Versuche mussten scheitern, weil sie nicht fähig waren, den vorherrschenden Dualismus von Körper und Geist zu überwinden. Vermutlich kann dies im Rahmen einer Atemphilosophie geleistet werden. Vielleicht kann dann die Philosophie ihre frühere Bedeutung für eine glückliche Lebensführung zurückgewinnen.

10.2. Das Glück des ganzen Körpers

»Der Gehorsam des Geistes gegen die Schwingungen der Seele ist menschliche Kultur im höchsten Sinne des Wortes« (Rama Prasad)
»Unser Wissen ist begrenzt. In allen wichtigen Fragen sind wir auf das Erraten und Vermutungen angewiesen.« (Karl R. Popper)

Nach dem Verschwinden der Seele wurde es schwierig, das mentale und emotionale Innenleben zu begreifen. Das mechanistische Körperverständnis kann psychische Veränderungen nur nach dem Modell der mechanischen Reparatur verstehen. Dieser Ansatz hatte zwar fruchtbare Wirkungen auf die Entwicklung der Medizin, aber für das Verständnis des emotionalen Innenlebens ist er ungeeignet. Alle Versuche, die Mechanismen des Innenlebens nach dem Modell der Maschine zu verstehen, müssen als gescheitert angesehen werden. So trägt das Wissen, welche Gehirnareale an welchen seelischen Prozessen beteiligt sind, überhaupt nichts dazu bei, sich selbst besser zu verstehen. Aus dem geringen Erkenntniswert der Gehirnphysiologie für die Erkenntnis des seelischen Innenlebens ist zu schließen, dass das mechanistische Körperverständnis sich in eine Sackgasse verrannt hat, aus der es mit einem neuen Körperverständnis befreit werden muss. Es steht die Aufgabe an, den falschen Gegensatz von Körper und Geist zu überwinden.

Es war ein Vorzug der antiken Seelentheorien, dass sie das Verständnis für die weitgehende Selbsttätigkeit des Lebens wach hielten. Alles was der Einzelne macht und was ihm passiert, konnte als Ausfluss eines kosmischen Urprinzips verstanden werden. Der Begriff Seele begründete so das Vertrauen, sich von den eigenen Impulsen und Intuitionen führen zu lassen. Man sollte deshalb den Göttern danken und das Leben nur als geliehen betrachten. Dementsprechend war Seelenstärke z. B. für Seneca nur mithilfe der Götter zu erlangen. In den Seelentheorien wurde so das noch vorherrschende, aber bereits bedrohte rezeptive Lebensgefühl begründet und abgesichert.

Als die Seele in der Neuzeit an Glaubwürdigkeit verloren hatte, weil man sich nicht mehr an ihr orientieren konnte, ist ein großes inneres Defizit entstanden. Denn die Menschen können nur dann ein als sinnvoll erlebtes Leben führen, wenn sie allem einen Sinn geben können. Dazu müssen sie alles, was für sie von Bedeutung ist, symbolisieren, d. h. mit sinnvollen Interpretationen versehen. Dies gilt insbesondere für die Erfahrungen des seelischen Innenlebens. Wenn die alten Interpretationssysteme zerstört sind, werden dringend neue Begriffe und Bilder benötigt.

Gegenwärtig wird dem schöpferischen Prinzip der Natur häufig der Name Selbst gegeben. Aber dieser Begriff ist für das Verständnis der seelischen Innenwelt problematisch, da er nicht in eine umfassende Theorie des Menschen eingebettet ist und esoterische Beimischungen enthält. Er kann nicht die inneren Erfahrungen strukturieren. Ebenso wenig kann er verständlich machen, warum die Menschen unglücklich werden und wie Informationen gesammelt, innerlich verarbeitet und weitergegeben werden. Das Richtige am Selbstbegriff ist, dass er von der Selbstorganisation der seelischen Prozesse ausgeht.

Eine aktuelle Alternative zum Begriff Selbst ist der Begriff Energie. Er ist gegenwärtig im esoterischen Denken absolut dominierend, wenn es um die Erklärung von seelischen Prozessen geht. Da die Physik erfolgreich mit diesem Begriff operiert, wird angenommen, dass er auch für das Verständnis des seelischen Innenlebens gültig sei. In meinem Buch »Psychosomatik des Atems« habe ich nachzuweisen versucht, dass der Energiebegriff im Grunde nur eine Metapher ist. Es führt mehr zur Verdunkelung des seelischen Innenlebens, als dass er zu seiner Aufhellung beiträgt. Das liegt daran, dass er dazu tendiert, ein mechanistisches Verständnis des menschlichen Körpers zu unterstützen. Er verschleiert die zentrale Bedeutung des Atems und macht anfällig für esoterische Erklärungen des Geistes. Er hält an der Fiktion des selbstverantwortlichen Geistes fest. Es kann deshalb nicht verständlich machen, warum Verspannungen Selbstheilungsversuche darstellen und warum der Heilungsprozess nur gelingen kann, wenn die Verantwortung für die selbst herbeiführten Verspannungen übernommen wird.

Ebenso wenig stellen die morphogenetischen Felder (Sheldrake) einen vollgültigen Ersatz der Seele dar. Zwar behauptet Sheldrake: »Was früher die Seele tat, leistet jetzt das Feld.« (Sheldrake 1996 S. 29), aber auch hier gilt die Kritik, dass der Begriff Feld vielleicht zum Verständnis von materiellen Entwicklungsphänomenen nützlich ist, dass er aber für das Verständnis der seelischen Innenwelt keinen Erkenntniswert hat.

Kann der oben entwickelte Begriff Atemmembran an die Stelle der traditionalen Seele treten? Die oben dargestellten Aspekte der Atemmembran sprechen dafür, dass er genau das leistet, was früher der Seele zugesprochen wurde. Es wurde dargestellt, dass die Atemmembran die körperliche Kontaktzone ist, an der äußere Reize auf das Innere einwirken. Die Atemmembran kann sowohl von äußeren Reizen als auch von inneren Impulsen in Schwingung versetzt werden. Da sich hier die Emotionen und Gedanken abspielen, kann gesagt werden, dass sie das Medium der Kommunikation und der Träger des sozialen Kontaktes ist. Die Atemmembran gestaltet so das seelische Innenleben. Gleichzeitig formt sie die Gestalt des ganzen Körpers, weil mit den Emotionen der körperliche Ausdruck bestimmt wird. Sie ist Teil des Körpers, aber auch Zentrum des seelischen Erlebens. Wenn früher die Seele z. B. von Novalis als die Nahtstelle zwischen innen und außen charakterisiert wurde, dann kann die Atemmembran diese Funktion viel plausibler erklären.

Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die Probleme, die mit dem Begriff Seele geklärt werden sollten, mit dem Konzept der Atemmembran überzeugender gelöst werden können:

 »Seelenstärke«

Die in der Antike geprägten Begriffe Seelenruhe, Seelenkraft und Seelenstärke haben einen magischen Zauber. Das hängt damit zusammen, dass sie bisher nicht definiert zu werden brauchten, weil sie ihre Bedeutung auf magische Weise auszustrahlen scheinen, und jeder unmittelbar versteht, was damit gemeint ist. Aus der Perspektive der Atemtheorie können die Begriffe relativ leicht bestimmt werden. So bedeutet Seelenruhe, dass der Atem so viel Widerstandskraft hat, dass der sich der Mensch durch nichts aus der Ruhe bringen lässt. Jemand verfügt über Seelenstärke, wenn er die Zuversicht hat, auch in kritischen Situationen über genügend Atemreserven zu verfügen, um seine Bedürfnisse zur Geltung zu bringen. Die Begriffe beziehen sich offensichtlich auf die Anpassungsfähigkeit, Reagibilität, Spannkraft und Widerstandskraft des Atems und auf die Fähigkeit, Vorstellungen und Bilder aufzugeben, die sich als dysfunktional erweisen. All diese Fähigkeiten basieren auf einer gut ausgebildeten Kompetenz, autonom mit den Emotionen umgehen zu können.

Im esoterischen Denken wird gesagt, dass sich die seelischen Fähigkeiten im Atem spiegeln und dass man aus dem Zustand des Atems auf den Zustand der Seele schließen könne. Die Spiegelmetapher ist nicht ganz korrekt. Es wurde nachgewiesen, dass die seelische Kraft unmittelbar mit der Atemkraft identisch ist. Kontaktfähige Emotionen basieren auf einem ausgeglichenen Atem und beziehen ihre Kraft unmittelbar aus dem Atem. Emotionale Autonomie zeichnet sich dadurch aus, dass der Atem nicht durch chronische Angst eingeschnürt ist, so dass er über genügend Reserven verfügt. Wenn in der Antike gesagt wurde, dass das Glück vom Zustand der Seele abhängig ist, so drückte sich darin die Erfahrung aus, dass es letztlich auf die Spannkraft des Atems ankommt. Da der freie Atem kontaktbereit, neugierig und entscheidungsfreudig macht, ist er der Garant des Glücks.

Die antiken Seelentheorien führten zu einer einseitigen Bevorzugung des Denkens. Körperliche Methoden zur Beruhigung des Atems wurden im Gegensatz zum orientalischen Denken ausgeblendet. Das Konzept der Atemmembran überwindet die Fixierung auf das Denken und gibt der Sensibilität für die körperlichen Regungen der Emotionen und Empfindungen einen gleichwertigen Rang. Es zeigt, dass die seelische Stärke in dem Maße wächst, wie Ängste vermieden bzw. überwunden werden.

 Bewusstsein der sozialen Abhängigkeit

Der Begriff Seele hatte seine eigentliche Bedeutung darin, darauf hinzuweisen, dass die seelische Innenwelt vom umfassenden Ganzen der Welt abhängig ist und dass deshalb die eigene Seele nicht von der Seele anderer Menschen getrennt werden kann, wie es im Neuplatonismus formuliert wurde. Es ist zu vermuten, dass der These von der Abhängigkeit der Seele vom Ganzen die konkrete Erfahrung zugrunde liegt, dass jeder Mensch in seinem Denken und Verhalten total von dem sozialen Milieu geprägt wird, in dem er aufwächst, auch wenn ihm dies meistens nicht bewusst ist und er sich als unabhängig glaubt.

Die Abhängigkeit des Einzelnen von der sozialen Gemeinschaft drückt sich in einem ständigen Fluss von Informationen zwischen Organismus und Umwelt aus. Der Organismus sammelt Informationen über den Zustand der Umwelt, gibt diese Informationen an andere Gruppenmitglieder weiter und erwartet von ihnen Informationen zurück. Ohne die ständige Abstimmung der inneren Vorstellungen im persönlichen Dialog wäre das Zusammenleben nicht möglich. Das systemische Denken der Psychotherapie hat bestätigt, dass sich der Einzelne nur richtig verstehen kann, wenn er seine Funktion versteht, die er für das System (Paar, Familien, Gruppe) hat, in dem er lebt. Es ist unbestritten, dass man sich als Individuum nur richtig verstehen kann, wenn man die Abhängigkeit des eigenen Charakters vom gesellschaftlichen System begreift.

Jeder Mensch übernimmt schon früh in seiner seelischen Entwicklung Verantwortung für andere Menschen. So wie er die tägliche Hilfe seiner Eltern erfährt, ist er daran interessiert, anderen im Rahmen seiner Möglichkeiten und Fähigkeiten zu helfen. Wie oben dargestellt, ist die Hilfsbereitschaft normalerweise spontan und ohne Erwartung von Gegenleistungen. Sie kann aber neurotische Züge annehmen, wenn die Hilfe von anderen erzwungen wird und wenn sie auf Kosten der eigenen Bedürfnisse geht und die Entwicklung zur Autonomie behindert.

Indem die traditionellen Seelentheorien die Erfahrung der sozialen Abhängigkeit als Abhängigkeit der Einzelseele von der Weltseele interpretiert haben, wurde die entscheidende Dimension der wechselseitigen sozialen Abhängigkeit von anderen Menschen verschleiert. Es wurde vergessen, dass es zur Förderung des eigenen Glücks primär darauf ankommt, den Kontakt mit den anderen Menschen zu verbessern.

Der Begriff Atemmembran kann die emotionalen Bedingungen des Kontakts besser erfassen, weil er deutlich macht, dass ein Einklang mit dem »Ganzen« nur darin bestehen kann, dass man im Einklang mit sich selbst ist. Dies ist aber nur erreichbar, wenn man im Einklang mit den Menschen ist, mit denen man zusammenlebt. Der Begriff Atemmembran vermeidet die Spiritualisierung der Abhängigkeit. Er macht deutlich, dass es nur eine innere Kohärenz gibt und dass diese nicht als Einklang mit etwas Transpersonalem interpretiert werden darf.

Es wird jetzt verständlich, warum früher einige Philosophen wie z. B. Demokrit behauptet haben, dass die Seele über den ganzen Körper verstreut sei. Offensichtlich haben sie die Erfahrung ernst genommen, dass der ganze Körper an den seelischen Regungen beteiligt ist und dass es unangemessen ist, das Zentrum der seelischen Regungen in einem bestimmten Organ anzusiedeln. Die These, dass die Seele über den ganzen Körper verteilt ist, bekommt mit dem Konzept der Atemmembran einen nachvollziehbaren Sinn.

Der Begriff Atemmembran unterstreicht die zentrale Bedeutung des Atems, der als Medium der Emotionen und der Sprache das eigentliche menschliche Kontaktorgan ist. Es wurde gezeigt, dass das Atemsystem hochgradig auf menschliche Interaktion reagiert. Am Zustand des Atems wird erfahren, ob man glücklich oder unglücklich ist. Mit den emotionalen Atemschwingungen zeigt man anderen Menschen, in welchem seelischen Zustand man sich befindet. Der Atem ist deshalb das zentrale Kommunikationssystem. Als Kern der persönlichen Identität verlangt er, sorgfältig beobachtet zu werden.

 Rezeptive Grundhaltung

Wie gesagt, drückte die Idee der Seele die Erfahrung aus, dass die Menschen eine innere Orientierungskraft haben und dass es vernünftig sei, sich davon leiten zu lassen. So forderte z. B. Seneca, dass sich die Seele sich selbst vertrauen soll und sich nur von Eigenem abhängig machen soll35.

Die Seele erwies sich als ein Hilfsmittel, um die rezeptive Lebensauffassung, die als die naturgemäße Lebensweise erfahren wurde, begründen zu können. Sie macht deutlich, dass die Menschen in einer Polarität zwischen Zulassen und Kontrolle existieren. Überwiegend befinden sie sich im Modus des Zulassens; nur in Situationen der Gefahr und Unsicherheit wird scheinbar der Kontrolle mehr Raum gegeben. Die Dimension der Kontrolle trat wahrscheinlich historisch erst ins Bewusstsein, als der von außen gesetzte Zwang zur Selbstkontrolle verschärft wurde und das Zulassen nicht mehr ohne weiteres gelebt werden konnte.

Nach der Theorie der Atemmembran wurzelt die rezeptive Lebens- und Denkweise in einer möglichst wenig gestörten emotionalen Entwicklung. Dann kann sich ein Gespür dafür entwickeln, wie die Umwelt auf das eigene Innenleben einwirkt und welche Auswirkungen die eigenen Emotionen auf die anderen nehmen. Es entwickelt sich ein klares Gefühl dafür, was man für seine soziale Umwelt tun kann. Dieses Gespür ist eine emotionale Angelegenheit und kann nicht durch das Denken ersetzt werden. Wie oben dargestellt wurde, ist auch die Bereitschaft, Verantwortung für andere Menschen zu übernehmen, eine innerlich tief verwurzelte emotionale Fähigkeit. Wenn der Einzelne spontan Verantwortung für seine soziale Umwelt übernimmt, schafft er Beziehungen zum größeren »Ganzen«. Er schafft Inseln der Ordnung im Meer des Unverstandenen.

Wenn man die rezeptive Grundhaltung leben kann, verändert sich das Verhältnis zu sich selbst radikal. Anstatt sich erziehen zu wollen und ein bestimmtes Ideal anzustreben, wird man primär zum Beobachter seiner selbst. Man beobachtet sich neugierig, wie man sich in bestimmten Situationen verhält, achtet auf die körperlichen Signale und fragt nach ihrer Bedeutung. Man nimmt die aktuelle Qualität des Atems wahr und vertraut den intuitiven Entscheidungen. Wenn man entsprechend den inneren Impulsen handelt, ist man mit sich einig. Allem liegt eine spontane, nicht willkürlich herbeigeführte Akzeptanz von sich selbst zu Grunde.

Wenn hingegen der Einzelne durch emotionale Verletzungen daran gehindert wird, sich mit seinen Emotionen anzufreunden und sie zu entwickeln, werden innere Barrieren der Selbstkontrolle aufgebaut, so dass das Vertrauen in die inneren Kräfte verloren geht. Da sich das auf der Basis der Selbstkontrolle entwickelnde Selbstverständnis mit der von der Gesellschaft verlangten Eigenverantwortlichkeit deckt, erscheint es als selbstverständlich und zwingend. Der Preis an emotionaler Abstumpfung wird vergessen.

 Bescheidenheit

Nach der oben dargestellten Theorie von Julian Jaynes ist die Seele ist aus dem Versuch entstanden, die Welt unabhängig von den Göttern zu erklären. Mit der Theorie der Seele war der Anspruch verbunden, dass damit das universale Prinzip ausgedrückt werden kann, das die Welt organisiert. Für viele Philosophen war es selbstverständlich, dass sich dieses universale Prinzip einer begrifflichen Fixierung entzieht. Denn bei jedem Versuch, das universale Prinzip begrifflich zu erkennen, stößt das Denken an seine Grenzen. Wenn dennoch Theorien über das Wesen des universalen Prinzips aufgestellt werden, müssen sie sehr selbstkritisch behandelt werden. Zu Recht haben viele Denker darauf hingewiesen, dass solche Theorien von der Realität entfremden können. Sie haben erfahren, dass Theorien einen Filter über die Realität legen und die Wahrnehmung verändern. Sie haben deshalb gefordert, die Welt vorurteilsfrei wahrzunehmen. Nach der Überzeugung von Parmenides kann die Seele nur frei sein, wenn sie die eigenen Anschauungen immer wieder infrage stellt und sich von ihnen befreit, um ein unmittelbares Verhältnis zum Ganzen zu finden. Die Theorie der Seele muss sich deshalb immer mit der Frage auseinandersetzen, inwieweit die Realität überhaupt erkennbar ist.

Es wird oft übersehen, dass Theorien auch die Funktion haben, die Ängste vor Verlorenheit, Ungeborgenheit, Kontaktverlust u. Ä. aufzufangen. Aus der Sicht der Emotionen haben Theorien keinen Erkenntniswert, aber sie können einen Sicherheitsgewinn bringen. Sie haben eine gewisse Berechtigung, insbesondere wenn die sozialen Verhältnisse nicht wiederhergestellt werden können, die ein Leben ohne solche Theorien ermöglichen würden. Der spekulative Charakter der Theorien darf aber nicht vergessen werden. Insbesondere dürfen die Theorien nicht mit der Realität gleichgesetzt werden. Ihre Wahrheit kann nicht überprüft werden. Sie kann allein daran gemessen werden, ob sie ein glückliches Verhalten ermöglichen. Wenn sie dies leisten, ist die Frage nach der Wahrheit überflüssig.

Sicherlich können einzelne Teilzusammenhänge der Realität verstanden werden, aber der Entwicklungsprozess als ganzer wird sich immer dem menschlichen Verständnis entziehen. Auch das Wesen des zugrundeliegenden Bewegungsprinzips wird immer verborgen bleiben. Nur wenn man davon ausgeht, dass es einen weisen Weltenschöpfer gibt, kann man annehmen, dass der menschliche Verstand für kosmologische Erkenntnis geschaffen ist. Für diejenigen, die diesen Glauben nicht haben, bedeutet das, sich mit den beschränkten Erkenntnisfunktionen bescheiden zu müssen, die sich im individuellen Überlebenskampf entwickelt haben. Man kann z. B. allenfalls so weit gehen, dass die Idee des Kosmos als eines Lebewesens ein sinnvolles heuristisches Denkprinzip ist und dass es zweckmäßig erscheint, sich gegenüber der Welt so zu verhalten, als ob es ein lebendiges Wesen wäre.

Es hat deshalb auch wenig Sinn, das Konzept der Weltseele in Gestalt von naturwissenschaftlichen Theorien neu zu beleben. So hat z. B. James Lovelock mit seinem Gaia-Konzept gezeigt, dass die Erde aus naturwissenschaftlicher Sicht als ein komplexes, sich entwickelndes Lebewesen begriffen werden kann. Er hat deutlich gemacht, dass der Sauerstoff, der heute eingeatmet wird, das Produkt von Mikroorganismen in den ersten Phasen der Lebensgeschichte der Erde ist und dass sich heute der Anteil des Sauerstoffs in der Atmosphäre aufgrund von noch ungeklärten Mechanismen konstant hält. Danach wäre der Sauerstoff als der wichtigste Lebensstoff für die Menschen mehr als nur ein toter chemischer Stoff, sondern etwas von Leben Erfülltes. Naturwissenschaftliche Erkenntnisse können aber niemals eine letzte Gewissheit geben, weil das aus den menschlichen Erfahrungen hervorgegangene Denken unvermeidlich metaphorisch strukturiert ist. Da die Metaphern aus der alltäglichen Lebenswelt entnommen werden, können sie niemals in die kosmische Dimension hineinreichen. Im Bewusstsein der Grenzen des menschlichen Denkens muss man sich dessen eingedenk sein, dass man eine Als-ob-Haltung einnimmt, wenn man das kosmische Ganze personalisiert und annimmt, dass es die Menschen liebt und für sie sorgt.

Da sich das menschliche Wissen immer nur auf die kleinen Inseln beziehen kann, in denen der Mensch mit seinen Vorstellungen eine gewisse Ordnung geschaffen hat, muss auf die Vorstellung eines vernünftigen Ganzen verzichtet werden. Jeder steht vor der Aufgabe, seine eigene Insel in Ordnung zu bringen. Die allen Menschen gemeinsame Atemluft kann als Garant dafür verstanden werden, dass es gelingen könnte, die vielen kleinen individuellen Welten über die gemeinsame Kommunikation miteinander zu einer größeren Ordnung zu vernetzen.

Die Vorstellung der Atemmembran verhindert, dass sich das Denken die göttliche Fähigkeit anmaßt, alles erkennen zu können. Wenn man akzeptiert, dass das Denken von der Atemmembran geprägt ist, die sich spontan im emotional geprägten Wechselspiel von innen und außen gestaltet, wird sich das Denken mit seinen begrenzten Fähigkeiten bescheiden. Es wird z. B. auch den Anspruch aufgeben, das Glück positiv fassen zu können. Da das Glück in der uneingeschränkten Selbstbejahung begründet ist und diese Selbstbejahung der Naturzustand des Körpers ist, lässt sich dieser Zustand nicht anders als mit »gut«, »angenehm«, »frei« bezeichnen, aber nicht begreifen. Es lässt sich nur negativ als Abwesenheit von Angst und innerer Zerrissenheit begreifen und setzt damit die Erfahrung des Unglücklichseins voraus. Die Erfahrung zeigt, dass man sich glücklicher fühlt, wenn man den Geist in seine Schranken verweist und sich von seinen Gefühlen leiten lässt.

Wie oben dargestellt, ist die Frage sinnlos, ob es hinter der Atemmembran eine übergeordnete Entscheidungsinstanz gibt. Man muss sich mit der Erkenntnis bescheiden, dass die emotionalen Entscheidungen, die sich in den Erscheinungsformen der Atemmembran artikulieren, ein Werk der Selbstregulation des ganzen Organismus sind. Alle Theorien, die dahinter eine universale geistige Kraft oder kosmische Energie vermuten, sind spekulatives Denken.

Damit erscheint die Streitfrage, ob die Seele vom Gehirn abhängig ist oder eine eigene Existenz hat, als irrelevant. Beide Doktrinen sind theoretisch unzureichend, weil sie die zentrale Dimension zum Verständnis des Seelischen, nämlich die Beziehung zur sozialen Umwelt, vernachlässigen. Was das Gehirn und die Seele ausmacht, hängt ausschließlich vom sozialen Kontext und von der Qualität des Kontaktes ab. Die fehlende Berücksichtigung der Beziehung zur Umwelt ist das schwarze Loch der Kenntnis von der menschlichen Seele und des menschlichen Gehirns, die bisher mit keiner Theorie erfasst werden konnte. Es besteht die Erwartung, dass diese Lücke mit dem Konzept der Atem­­membran geschlossen werden kann.

 Verzicht auf Transzendenz

In traditioneller Sicht gilt der Atem als Tor zur Transzendenz. Damit ist die Vorstellung verbunden, dass mit jedem wirklich vollständigen Atemzug Gott berührt wird. Wie oben erwähnt, wird im Sufismus der Atem als der Geist Gottes begriffen. Aus solchen Vorstellungen wurde abgeleitet, dass der Atem das wichtigste Entwicklungsziel der Seele sei. Der Einzelne hat die Aufgabe zu erkennen, dass der Atem imstande ist, Zugang zu Gott zu finden.

Im Verlauf der Geschichte hat die Seele ihre intensive Bindung an das Göttliche verloren. Nachdem sie nicht mehr als eine Manifestation des Göttlichen begriffen wurde, wurde sie zu einer höheren Kraft vergeistigt. Die Spiritualisierung der Seele trug so dazu bei, dass das dualistische Menschenbild mit der reinen Seele auf der einen Seite und der seelenlosen Körpermaschine auf der anderen Seite entstand, das es den Menschen schwer macht, Glück zu finden.

Das Konzept der Atemmembran ist gegen jede Verabsolutierung gefeit, da es die seelischen Funktionen an die physiologischen Prozesse der Atmung bindet. Man kann nicht mehr davon absehen, dass das seelische Innenleben untrennbar mit physiologischen Prozessen verbunden ist. Wer diesem Konzept den Vorwurf macht, dass es materialistisch sei, übersieht, dass die seelischen Prozesse keineswegs auf materielle Prozesse reduziert werden. Denn es wird davon ausgegangen, dass alle körperlichen Bewegungen den doppelten Aspekt haben, dass sie einerseits körperlich sind und dass sie andererseits mit Informationen und Bedeutungen verbunden sind. Je subtiler die Bewegungen sind, umso mehr Informationen können sie aufnehmen. So können z. B. die emotionalen Schwingungen des Lächelns die einfache Information der Akzeptanz des anderen transportieren, während die hochkomplexen Schwingungen der sprachlichen Laute sehr differenzierte Informationen übertragen können. Da Emotionen und Gedanken mithilfe von körperlichen Bewegungen organisiert werden, kommt auch ihnen der Doppelaspekt von Bewegung und Bedeutung zu. Damit überwindet die Theorie der Atemmembran die traditionelle Abwertung des Körperlichen.

Dieses Konzept eröffnet eine neue Sichtweise, mit der das oft geforderte »leibliche Denken« besser begründet werden kann. Leibliches Denken erschöpfte sich bisher in der bloßen, aber nicht weiter begründeten Empfehlung, auf die körperlichen Empfindungen zu achten. Das Konzept der Atemmembran zeigt, warum das Denken darauf angewiesen ist, dass es auf die körperlichen Emotionen achtet und dafür sorgt, dass sie sich frei artikulieren können. Der Grund liegt darin, dass sich die Emotionen im realen Austausch mit der physischen und sozialen Realität bilden und festlegen, wie die innere und äußere Realität erfahren wird.

Übrigens gibt der Begriff Atemmembran der alten Metapher vom Menschen als Klangkörper einen nachvollziehbaren Sinn. Es ist bemerkenswert, dass die meisten Metaphern, die zur Beschreibung des Zustandes der Seele verwendet wurden, auch für die Charakterisierung der Atemmembran nützlich sind: weich - hart, durchlässig - verhärtet, gelöst - verspannt, harmonisch - zerrissen; gewollt - spontan; leicht - schwer. Diese Begriffe sind offensichtlich metaphorische Ausdrücke für verschiedene Muskelempfindungen. Es liegt deshalb nahe anzunehmen, dass sich die traditionellen Beschreibungen der Seele unmittelbar aus körperlichen Erfahrungen mit den Atemmuskeln abgeleitet haben.

 Den inneren Riss spüren

Wie gezeigt wurde, waren die Seelentheorien eine Reaktion auf den »Bruch mit der Natur«, der beim Übergang von den Stammesgesellschaften zur bürgerlichen Tauschgesellschaft passiert ist. Die Seelentheorien boten zur Heilung die Idee an, dass sich der Einzelne mit der Weltseele (Kosmos u. Ä.) verbinden soll. Damit wird natürlich nichts an den sozialen Verhältnissen geändert, die den inneren Riss verursacht haben, wenngleich man sich damit leichter mit ihnen arrangieren kann und rückwirkend dadurch auch das Leiden etwas gelindert wird.

Wie jedes Körperorgan kann auch die Atemmembran durch chronische Verspannungen verletzt und dadurch in ihrer Funktionsfähigkeit beeinträchtigt werden. Es wurde gezeigt, dass die Abspaltung von bestimmten Körperregionen aus der inneren Kommunikation zu einem inneren Riss führt. Der Organismus hat sich für die Unterwerfung entschieden, weil die seelischen Kräfte fehlten, sich mit seinen Bedürfnissen durchzusetzen. Im Konzept der Atemmembran bleibt der innere Riss eine Wunde, die nach vollständiger Heilung verlangt. Es steht die Trauerarbeit über die dadurch blockierte emotionale Entwicklung an. Jedes Unglücklichsein ist ein Signal, dass die Trauerarbeit noch nicht erledigt wurde und dass man es bisher vorgezogen hat, die Erfahrung des Unglücks durch Strategien wie rastlose Geschäftigkeit, Sucht oder Krankheit zu verdrängen.

Man muss sich damit abfinden, dass die aus sozialen Gründen verlorene Harmonie nicht mit dem Denken wiederhergestellt werden kann. Es gibt nur so viel Verbundenheit, wie man selbst herstellt bzw. zulässt. Dazu müssen alle Verhaltensweisen verändert werden, die bei anderen Menschen Angst auslösen.

 Autonomie

Solange man sich als ein Werkzeug der Götter begriff, bestand kein Bedarf an dem Begriff Autonomie. Auch die Seelentheorien gingen zunächst von der Abhängigkeit der Seele von etwas Übergreifendem (Kosmos, Logos, Weltseele u. Ä.) aus. Da aber jeder Einzelne deren Gebote erkennen muss, nachdem sie sich nicht mehr über die inneren Stimmen der Götter mitteilten, konnte die Idee der Selbstmächtigkeit des Individuums entstehen. Es entstand die Überzeugung, dass jeder aus eigener Kraft sich nach seinen eigenen Vorstellungen verhalten kann. Seit der Stoa wird deshalb gefordert, dass man sein eigenes Urteil finden soll und dass man sich nicht von der Meinung anderer abhängig machen soll. Darin wird von vielen Philosophen eine Grundbedingung des Glücks gesehen. Die Entstehung der Seele begründete so die Möglichkeit, die Autonomie des einzelnen Individuums zu denken, obwohl sie ursprünglich das Gegenteil von Autonomie begründen sollte.

In der historischen Entwicklung, die durch einen Trend zur Individualisierung charakterisiert ist, ist die wichtige Dimension des Zulassens in den Hintergrund getreten. Autonomie wurde als emotionale Unabhängigkeit missverstanden, so als könnte jeder autonom über seine Emotionen verfügen. Dieser Irrtum führte zu der Illusion, dass der Geist die Wirklichkeit bestimmt. Der Begriff Atemmembran kann die alte Erkenntnis des Zulassens neu beleben, da er der Fiktion der subjektiven Autonomie den Boden entzieht. Nach der Theorie der Atemmembran besteht Autonomie darin, dass man in Übereinstimmung mit den eigenen spontanen Emotionen handelt. Man fühlt sich frei, weil man im Einklang mit den Emotionen handelt (vgl. S. 174). Wenn sich das Subjekt über die inneren Impulse hinwegsetzt, ist dies keine Autonomie, sondern Anpassung an von außen vorgegebene Anforderungen, also das Gegenteil von Autonomie.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass viele Argumente für die These sprechen, dass der Begriff Atemmembran den Begriff Seele vollständig ersetzen kann. Das Nachdenken über die seelische Innenwelt wird damit von allem metaphysischen Ballast befreit, in den sich die Seelentheorien verstrickt hatten. Der neue Begriff ermöglicht eine ganzheitliche Sicht auf die seelische Innenwelt, da alle emotionalen und mentalen Prozesse als subtile körperliche Bewegungsprozesse verstanden werden können. Damit kann das Ineinander von Körperlichem und Seelischem im emotionalen Erleben und im Denken besser begriffen werden.

Die Theorie der Atemmembran ist ein direkter Angriff auf das mechanistische Körperverständnis. Sie liefert eine neue Metapher, die das mechanistische Körperverständnis von innen heraus aushöhlt und bewusst macht, dass die größte Schwäche des mechanistischen Körperverständnisses darin besteht, dass es seine Herkunft aus der Übertragung der Maschinenmetapher auf den menschlichen Körper verleugnet.

Auch an das Konzept der Atemmembran ist die skeptische Frage zu richten, ob es nicht wie alle Theorien vom Leben entfremdet. Dem ist entgegenzuhalten, dass es dem Leben hilft, solange man sich dessen bewusst ist, dass es eine menschliche Konstruktion ist, die zwangsläufig metaphorisch geprägt ist. Dem metaphorischen Denken darf nicht die Berechtigung abgesprochen werden, da es das einzige Mittel der Erkenntnis ist. Es ist nachgewiesen worden, dass selbst noch abstrakte Begriffe, die scheinbar metaphernfrei sind, letztlich auch ihre Bedeutung von Metaphern erhalten36. Es kommt deshalb darauf an, ständig zu überprüfen, ob die Metaphern noch angemessen sind und die Erfahrungen einigermaßen korrekt abbilden. Der Maßstab kann nur darin bestehen, ob sie dem konkreten Verhalten eine sinnvolle Orientierung geben können. Wenn sie sich darin bewähren, dass sie z. B. die Suche nach dem Glück erleichtern, sind sie legitime Gedanken.

Auch der Begriff Atemmembran ist im Grunde eine Metapher, obwohl er sich auf das konkrete Muskelsystem der Atmung bezieht. Das Metaphorische besteht darin, dass er unterstellt, dass alle Muskeln über ein bindegewebiges Netzwerk miteinander verbunden sind und dass sie als Ganzes die Gedanken und Emotionen formieren. Er kann zwar mit sinnlicher Erfahrung angefüllt werden, aber letztlich wird er durch die Metapher der alles umschließenden Hülle geprägt.

Für die Theorie des Glücks folgt aus diesen Überlegungen, dass man sich beim Denken über die seelischen Bedingungen des Glücks immer bewusst sein muss, dass man sich stets im metaphorischen Rahmen bewegt. Bei den Begriffen wie Herz, Erleuchtung, Seele u. a. ist dies inzwischen offenkundig. Aber auch bei Attributen wie leicht, gelöst, flüssig, hart u. Ä. darf dies nicht vergessen werden. Übrigens ist auch der Begriff Glück von Metaphern geprägt. Historisch ist in ihn die Vorstellung der gelungenen Fertigstellung eines Bauwerkes eingegangen.

Die Theorie der Atemmembran verankert das Glück im sinnlichen Körper. Sie gibt den sinnlichen Empfindungen, Emotionen und Impulsen einen absoluten Vorrang vor dem Denken, und macht klar, dass ohne Befreiung der Emotionen kein Glück erreicht werden kann. Sie überwindet den glücksfeindlichen Dualismus, der die falsche Hoffnung aufgebaut hat, mithilfe des Geistes Glück finden zu können. Sie eröffnet einen Weg, der möglicherweise dem Anspruch, Denken und Fühlen ganzheitlich zu betrachten, etwas näher kommt, so schwierig das auch immer ist. Denn was das Ganze ist, weiß man zwar aus Erfahrung, wenn man es aber in Begriffe fassen will, geht es zwangsläufig verloren.

10.3. Falsche Mythen

»Es gibt nur ein Anzeichen für Weisheit: gute Laune, die anhält.« (Michel Montaigne)

Seit Platon herrscht das Dogma vor, dass der Geist oder die Seele den Körper bzw. den Leib beherrschen muss. Der Geist soll insbesondere die Herrschaft über die Emotionen, Leidenschaften und Begierden übernehmen. So ließ Platon Sokrates im Dialog »Phaidon« sagen: »dass, solange Leib und Seele zusammen sind, die Natur ihm zu gebieten, zu dienen und sich beherrschen zu lassen, ihr aber, zu herrschen und zu regieren.« (Platon, Phaidon, 79e – 80a). Auch wenn die eigene Erfahrung den inneren Widerstreit zwischen Geist und Körper zu bestätigen scheint, kann man nach den bisherigen Überlegungen davon ausgehen, dass es sich hier um eine Selbsttäuschung handelt. Wenn die Kontrolle der Emotionen gelingt, dann liegt das allein daran, dass sich das seelische Innenleben längst vor jedem bewussten Denken für die emotionale Zurückhaltung entschieden hat. Aber eine vorsätzliche Kontrolle der Emotionen muss misslingen, weil ihr eine falsche Theorie von der Macht des Geistes zugrunde liegt.

Man kann davon ausgehen, dass das Körperliche auf allen Stufen des Lebens die Fähigkeit zum Informationsaustausch enthält. Jeder Teil des Körpers kann Informationen an andere Teile des Körpers senden und von ihnen empfangen. Lebewesen können auf vielfältige Weise Informationen mit anderen Lebewesen austauschen. Sie benutzen dazu die Möglichkeit, dass Bewegungen (z. B. Gesten, Lauten) eine bestimmte Bedeutung gegeben werden kann, die die anderen Gruppenmitglieder verstehen. So können die Emotionen aufgrund ihrer spezifischen Bewegungsstruktur Bedeutungen transportieren. Auch das Denken besteht aus subtilen körperlichen Bewegungen der Atemorgane, die jeweils eine bestimmte Bedeutung annehmen können (vgl. S. Error: Reference source not found). So wie die Gefühle als subjektiv erfahrene emotionale Bewegungen begriffen werden können, so können auch die Gedanken als mental erfahrene Bewegungsprozesse der sprachlichen Artikulation verstanden werden. Beide Bewegungsprozesse sind durchaus miteinander vergleichbar. In beiden Fällen handelt es sich um Spiegelungen von unbewussten Bewegungsprozessen im Bewusstsein, die eine bestimmte Bedeutung haben. Beim Phänomen der Intuition ist erfahrbar, dass der größte Teil des Denkens tatsächlich der Reflex tieferer unbewusster Prozesse ist. Es ist deshalb einseitig, wenn Neurobiologen behaupten, dass die Gedanken nichts anderes als ihr neuronales Substrat seien. Entscheidend ist, dass sie Bewegungsprozesse sind und deshalb subjektiv erfahrbar sind, so wie jede grobmotorische Bewegung in ihrer spezifischen Qualität auch innerlich erlebt wird.

Wenn Informationen mit Hilfe körperlicher Schwingungen weiter gegeben werden, bedeutet das aber keineswegs, dass eine außerkörperliche Instanz den Körper benutzt, sondern man kann das so begreifen, dass der Körper denkt, indem er sich bewegt. Aus der Sicht der oben entwickelten Theorie der Emotionen sind alle Prozesse im menschlichen Körper immer eine Einheit von körperlichen und symbolischen Prozessen. Jede körperliche Bewegung hat eine symbolische Bedeutung für den Kontext, in dem sie sich bewegt. So senden z. B. die Gesichtsmuskeln, die die Emotion der Freude ausdrücken, ein Signal des Wohlbefindens an andere Menschen. Ebenso geben die Bewegungen der Atemmuskeln bei der Artikulation eines inneren Dialoges dem Bewusstsein eine Botschaft, dass der Organismus ein Problem erkannt hat. Auch auf der rein körperlichen Ebene ist zu beobachten, dass jede körperliche Bewegung auf der Kommunikation einer Vielzahl von Zellen basiert, die sich im Informationsaustausch befinden. Umgekehrt bestimmt die Struktur einer Situation und die individuellen Vorerfahrungen, wie und was man denkt.

Es wurde gezeigt, dass die Emotionen und Gedanken nicht einer imaginären Welt angehören, sondern ein fester Bestandteil in der körperlichen Dynamik sind und von der Verfassung des ganzen Körpers abhängig sind. Die Idee der Kontrolle der Emotionen ist historisch erst entstanden, als die Menschen massenhaft zum egozentrischen Verhalten gezwungen wurden. Es entstand deshalb die Notwendigkeit, eine Theorie zu entwickeln, mit der der Egoismus diskriminiert und die Hoffnung begründet werden kann, dass das individuelle Unglück mit subjektiven Anstrengungen überwunden werden könne. Die Idee der Kontrolle hatte so offensichtlich die Funktion, die Hoffnung zu verbreiten, dass das Unglücklichsein durch richtiges Denken verarbeitet werden kann. Damit wird der Einzelne, der sich ohnehin schon durch den Zwang zur Anpassung an die lebensfeindlichen Verhältnisse überfordert fühlt, noch zusätzlich innerlich entzweit, weil die Emotionen, die die einzige Quelle der Verhaltens- und Denkorientierung darstellen, bekämpft werden müssen.

Mit diesem Denkansatz wird der Dualismus von Körper und Geist hinfällig. Es ist unmöglich, zwischen den körperlichen und symbolischen Aspekten einer Bewegung eine scharfe Trennlinie zu ziehen. Es handelt sich nur um verschiedene Betrachtungsweisen eines identischen Prozesses. Man kann allenfalls noch von körperlichen, geistigen oder seelischen Prozessen sprechen, um die gewählte Betrachtungsperspektive herauszustellen, aber es darf nicht mehr vom »Geist« oder der »Seele« geredet werden, so als wären dies eigenständige Substanzen oder Systeme. Der »Geist« ist nicht mehr als ein Sammelbegriff, mit dem man sich auf Prozesse des Denkens und Sprechens bezieht.

Aus dieser Perspektive wird deutlich, dass es ein Grundfehler des Denkens ist, dass es seine Abhängigkeit von den Emotionen verleugnet. Das hat die verhängnisvolle Konsequenz, dass nicht bemerkt wird, wie sich die Konflikte mit anderen Menschen im Körper in Form von muskulären Verspannungen wie Sedimente ablagern und damit das reibungslose Funktionieren des Organismus stören. Beim theoretischen Denken wirkt sich die Verabsolutierung des Denkens darin aus, dass die inneren Konflikte harmonisiert und damit scheinbar zum Verschwinden gebracht werden. Es wird die Erfahrung verdrängt, dass das Denken am produktivsten ist, wenn es die Leitfunktion der Emotionen anerkennt, aber dennoch auf der Basis der emotionalen Vorentscheidungen die soziale Situation genau prüft, um zu richtigem Handeln zu gelangen. Wie oben dargestellt, führt die Zurückhaltung von Emotionen zum partiellen Rückzug aus dem sozialen Kontakt und zur Bildung von Ersatzgefühlen.

Die verbreiteten Überzeugungen, dass der Verstand sich über die Gefühle hinwegsetzen könne und dass die Gefühle den Verstand überwältigen können, werden der seelischen Dynamik nicht gerecht. Zwischen Verstand und Gefühlen findet weder eine Interaktion noch ein Wettstreit wie zwischen zwei unabhängigen Kräften statt. Wenn der Eindruck entsteht, dass das Denken die Emotionen abschwächen und kontrollieren könnte, so ist dies eine falsche Interpretation dessen, was emotional abläuft. Wie oben gezeigt wurde, gehen innere Konflikte nicht auf einen Widerstreit zwischen Denken und Gefühlen zurück, sondern liegt ihnen ein Widerstreit zwischen den Emotionen selbst zugrunde. In der Regel lösen zu hohe Anforderungen anderer Menschen eine Reaktion der Furcht aus, die ihrerseits u.U. die Zurückhaltung von Emotionen einleitet und gleichzeitig das Denken anstößt, um mithilfe des inneren Dialoges die innere Unruhe zu bekämpfen.

Welche Gestalt auch immer die Emotionen annehmen, man kann davon ausgehen, dass das organismische Denken letztlich damit einverstanden ist. Das schließt nicht aus, dass das bewusste Denken nach außen hin etwas anderes denkt oder sich selbst gegenüber bzw. nach außen vorgibt, dass es sich überwältigt fühlt. Denn wenn man sich als Opfer darstellt, findet man eher Verständnis für abweichendes Verhalten. Auch wenn sich die Emotionen in Krisenfällen zu chronischen Haltungen verfestigen, hat hier das Denken eingewilligt, weil es erkannt hat, dass dies ein Weg darstellen könnte, um sich vor weiteren Verletzungen zu schützen. So kann Aggression in chronischer Feindseligkeit erstarren oder Enttäuschung zu chronischem Misstrauen führen. Es wäre deshalb falsch, solche Charakterfehlhaltungen als unbeabsichtigte Entgleisungen zu bezeichnen.

Damit erweist sich der traditionelle Glaube an die Macht des Denkens als ein Mythos. Er die Folge des individualistischen Weltbildes, das die tiefe Einbindung des Einzelnen in die soziale Umwelt ignoriert und das die Fähigkeiten und Kräfte des Einzelnen zum Selbstdenken und zur Selbstveränderung radikal überschätzt. Der Mythos des Denkens verhindert das Vertrauen in die Orientierungskraft der eigenen Gefühle. Ohne Übertreibung kann man sagen, dass der Mythos des Denkens der größte Feind des Glücks ist.

Es ist deshalb eine vorrangige kulturelle Aufgabe, die Bedingungen dafür zu schaffen, dass sich Denken und Fühlen optimal entfalten können. Das traditionelle Lob der Muße und Ruhe verdankt sich der Einsicht, dass das Wohlbefinden und Glück nur unter günstigen äußeren Bedingungen einstellen. Auch das Angebot von Ritualen (wie z. B. Trauerrituale), die es erleichtern, dass man sich mit seinen Gefühlen konfrontieren kann, gehört dazu.

Das vorgeschlagene Konzept, wie der Dualismus von Körper und Geist überwunden werden könnte, entzieht sich den gängigen Schubladen, in die bisher die vielfältigen Konstruktionen des Verhältnisses von Körper und Geist eingeordnet werden. Er ist weder reduktionistisch noch materialistisch oder idealistisch. Weder wird der »Geist« aus dem Körper abgeleitet, noch wird der »Körper« als Manifestation des Geistes dargestellt. »Körper« und »Geist« sind keine selbständigen Seinsbereiche oder Systeme, die in einem Verhältnis der Konkurrenz zueinander stehen. Die Begriffe Geist und Körper erweisen sich vielmehr als historische Begriffskonstruktionen, die die menschliche Natur falsch interpretiert haben. Sie hatten offensichtlich die ideologische Funktion, dass die Menschen ihre sozialen Lebensbedingungen akzeptieren sollen, die ihre Emotionen unterdrücken und damit ihre innere Selbststeuerung zerstören und ihren Glücksanspruch verwirken.

Das Glück wird häufig mit der Wiederherstellung des verlorenen Paradieses gleichgesetzt. Wahrscheinlich war die Vorstellung des Paradieses, die am Übergang von der Stammesgesellschaft zur bürgerlichen Gesellschaft der Privateigentümer entstanden ist, von Anfang an eine Projektion, um das Leiden an der neuen Gesellschaftsform besser ertragen zu können. Die vergangene Lebensform erschien als Paradies, weil es hier den Dualismus von Körper und Geist noch nicht gab und sich die Menschen von ihren Emotionen leiten lassen konnten. Aber der Dualismus ist so tief in die abendländische Kultur eingedrungen, dass es viel mehr braucht als nur seine gedankliche Überwindung. Die Wiederherstellung des Paradieses ist ein Traum. Wahrscheinlich trägt es mehr zum Glück bei, wenn in der anstehenden Trauerarbeit die infantile Wunschvorstellung aufgegeben wird, dass das Paradies wiederhergestellt werden könnte.

10.4. Glück und Tod

»Nicht der Tod, sondern das Sterben beunruhigt mich.« (Montaigne)
»Nicht der Tod tötet, es tötet uns das Leben, das Leben, das wir nicht leben.« (Werner Sprenger)

Das Verschwinden der Seele hat dazu geführt, dass es für die grundsätzlichen Fragen nach der Herkunft und dem Ziel der Menschen, nach dem Sinn des Lebens, nach der Möglichkeit von Glück und nach dem Sinn des Todes keine befriedigende Antworten mehr gibt. Dadurch wird die Chance des Glücklichseins gefährdet, da diese Fragen Ausdruck von Angst sind. Und da Angst immer auch die Angst vor dem Tod enthält, sind diese Fragen hauptsächlich Fragen nach dem Tod. Sie sind keine rein theoretischen Fragen, sondern sie drängen sich auf, wenn die Einheitlichkeit des Lebens zerstört ist. Es entsteht der Wunsch, die Einheit durch eigene Denkbemühungen wiederherzustellen. Denn die Menschen stehen unter dem Zwang, ihr bedrohtes Leben mithilfe von gedanklichen Deutungen zu bewältigen.

Die Angst ist der Feind des Glücks. Ohne eine sinnvolle gedankliche Deutung des Todes kann es deshalb kein wirkliches Glück geben. Im Interesse des Glücks muss versucht werden, dem Tod einen Sinn zu geben. Darin bestand die Hauptaufgabe der Religion. Auch die Philosophie hatte früher den Anspruch, die Menschen von der Todesangst zu befreien. Nach dem Zerfall der theologischen und philosophischen Sinngebungen seit der Aufklärung ist aber ein großes Defizit an verbindlichen Interpretationen für die großen Lebensfragen entstanden. Das Leben wird erheblich erschwert, wenn man ohne verbindliche und plausible gedankliche Deutungen zu leben gezwungen ist, weil damit das Leben durch ein Übermaß an Angst überschattet wird. So kann man sich z. B. kaum noch mit der Vorstellung von der Unsterblichkeit der Seele über den Mangel an Glück hinwegtrösten.

Nachdem die philosophischen und religiösen Antworten gescheitert sind, stellt sich die Frage, aus welchen Ressourcen neue Antworten geschöpft werden können. Können die mythologischen Antworten, als deren Wahrheitskern oben die Erfahrung des eigenen Atems aufgezeigt wurde, im Rahmen einer rationalen Atemtheorie erneuert werden?

Die Angst vor dem Tod wird meist als das Wesensmerkmal des Menschen begriffen, das den Menschen im Wesentlichen vor dem übrigen Tierreich unterscheidet. Es wird davon ausgegangen, dass die Angst vor dem Tod die Menschen gezwungen hat, die Fähigkeiten zu gedanklichen Deutungen zu entwickeln. Es darf aber nicht übersehen werden, dass die Qualität der Todeserfahrung entscheidend von den Lebensumständen geprägt wird. Wenn das Leben gesichert ist, kann der Gedanke an den Tod lange Zeit in den Hintergrund treten. Die Angst vor dem Tod wird erst wirklich präsent, wenn Leib und Leben unmittelbar durch einen Unfall oder durch Krankheit bedroht sind. Andererseits hängt die Todeserfahrung davon ab, wie viel Tod alltäglich durch die Unterdrückung von Lebensimpulsen stattfindet. Jede Abspaltung, jede Trennung, jede Unterdrückung von Gedanken und Gefühlen ist ein kleines Stück Tod, da dadurch die Lebendigkeit eingeschränkt wird. Leben ist so meist aus Liebe und Tod gemischt. In der Alltagserfahrung ist der eigentliche Gegenpol zum Leben nicht der Tod, sondern der partielle Verlust an Lebendigkeit. Der Todesbegriff erhält deshalb seine Bedeutung mehr aus der Erfahrung der verminderten Lebendigkeit, hinter der immer die Angst vor der vollständigen Vernichtung steht, als aus dem Wissen von der Endlichkeit des Lebens. Da das Maß der emotionalen Verdrängung je nach den sozialen Lebensumständen sehr unterschiedlich sein kann, muss angenommen werden, dass auch der Umgang mit dem Tod sehr unterschiedlich ist.

Sigmund Freuds dualistische Triebtheorie von Eros und Todestrieb reflektiert diese Erfahrung vom Tod-im-Leben. Denn in seiner späteren Triebtheorie sind Lebens- und Todestrieb in ständigem Kampf miteinander. Freud hat allerdings diesen Antagonismus in einen ontologischen Konflikt zwischen Leben und Tod transformiert. »Das Ziel des Lebens ist der Tod.«. Die Neurose scheint damit in der Biologie angelegt zu sein. An dieser Theorie ist zu kritisieren, dass die angstbedingte Selbstunterdrückung als Todestrieb mystifiziert wird und dadurch die menschliche Verantwortung für die Selbstlähmung verleugnet wird. Wie oben gezeigt wurde, dient die Negativität im menschlichen Leben dem Selbstschutz und ist damit letztlich Ausdruck des Eros, der das Leben partiell abtötet, um es zu bewahren. Der Begriff des Todestriebes darf deshalb nur als ein Symbol für die Selbstnegativität des Lebens, also als ein Symbol für die ständige Anwesenheit des Todes in einem Leben der unbewussten Selbsteinschränkung verstanden werden.

Der Psychoanalytiker N.O. Brown hat erkannt, dass es nicht das Bewusstsein vom Tode ist, sondern die Flucht vor dem Tode, was den Menschen vom Tier unterscheidet37. Der ständige Kampf gegen die eigenen körperlichen Impulse und deren Abtötung führt zu dem Gefühl, nicht wirklich lebendig zu sein. Jeder Gedanke an den Tod erinnert an den Verlust der Lebendigkeit und stellt die Illusion, dass man in Zukunft Kompensation für die Einschränkungen und Versäumnisse finden könnte, infrage. Er wird abgewehrt, um den Schrecken und die Schuld verminderter Lebendigkeit nicht spüren zu müssen. Die Todesangst verdeckt so die Angst vor dem Leben. Sie verdeckt die Angst, im Augenblick intensiven Lebens die Kontrolle über das Leben zu verlieren. Der menschliche Organismus schützt sich gegen die Bedrohungen des Lebens, indem er »eine aktivere Art des Sterbens zuwege bringt, und diese aktivere Art des Sterbens ist die Negation, die Verneinung«38.

Die Verdrängung des Todes bedeutet zwangsläufig auch eine Verdrängung der Sexualität. Die Sexualität berührt am tiefsten die Sehnsucht nach ungebändigter Vitalität und weckt damit auch tiefe Angst vor Trennung und Verlust. In der Angst vor dem Orgasmus steckt Todesangst. Wenn im Französischen der Orgasmus als »kleiner Tod« bezeichnet wird, schwingen darin nicht bloß die Auflösung des Ichs, sondern auch Trennungsängste mit. An den verhärteten Grenzen kann kein Kontakt und keine Lust zugelassen werden, weil sie die Angst vor der Auflösung weckt. Im indischen Tantrismus wurde der Todesaspekt der erotischen Hingabe so symbolisiert, dass der Mann in der Frau nicht nur die »Göttin der Schöpfung« liebt, die Leben und Wachstum fördert, sondern auch die »Göttin der Zerstörung«, nämlich Kali mit heraushängender Zunge und bluttropfendem, mit Fangzähnen besetztem Mund. Erst wenn die Todesangst nicht mehr verdrängt wird, können sich die Menschen in der Liebe wirklich loslassen und sich selbst transzendieren.

Die Angst vor dem Tode ist deshalb kein ontologischer Zustand, wie die existentialistischen Theologen behaupten, sondern wird sehr stark durch die historisch entstandenen Lebensbedingungen bestimmt, die die Verdrängung von Emotionen erzwingen. Der Schrecken des Todes ist der des Sterbens in Unreife39. Die Todesangst ist zum größten Teil die zwangsläufige Folge von Verhärtungen der Atemmembran, die die Vitalität einschränken.

Aus den bisherigen Überlegungen kann geschlossen werden, dass Menschen, die sich als eingebunden in den Kreislauf des Lebens erleben und die dementsprechend im Einklang mit ihren inneren Impulsen und Emotionen leben, weniger Todesangst haben, als die Menschen, die ihre Identität aus dem Machen, Herstellen und der rastlosen Aktivität ableiten. Da sie mit dem Leben einig sind, können sie auch den Tod als Bestandteil des Lebens integrieren. Wenn das rezeptive Grundverständnis gelebt werden kann, verliert der Tod den größten Teil seines Schreckens, weil es im Leben wenig Ungelebtes gibt. Der Tod kann eher akzeptiert werden, wenn das Leben wenig Tod enthält. Wer sich dagegen aus dem sozialen Kontakt zurückzieht, um sich vor Zurückweisung, Ablehnung und Demütigung zu schützen, entwickelt größere Angst vor dem Tod, da der Tod die Illusion, die verlorenen Beziehungen irgendwie und irgendwann zurückzufinden, infrage stellt. Das Wissen um den Tod lässt keine Lebenslügen mehr zu.

Wie oben gezeigt wurde, kann sich das Gefühl des Eingebundenseins in die soziale Gemeinschaft nur auf der Basis einer sozialen Organisation entwickeln, die auf den Prinzipien der Liebe und des wechselseitigen Respekts gegenüber den Bedürfnissen des anderen basiert. Aber die beste soziale Gemeinschaft kann nicht auf unterstützende gedankliche Deutungen des Todes verzichten. Da sie aber mit relativ wenig Angst auskommt, gelingen auch die Symbolisierungen leichter.

Die Menschen müssen dazu Theorien entwickeln, die auf Metaphern basieren, die aus ihrer Erfahrungswelt gewonnen werden. Beim Rückblick auf die entsprechenden philosophischen Bemühungen seit der Antike muss man feststellen, dass sie keiner kritischen Reflexion standhalten. So sind alle philosophischen Bemühungen, die Todesangst mit dem Postulat der Unsterblichkeit der Seele zu bewältigen, gescheitert. Auch die Begründung von Kant, dass wegen der Unmöglichkeit der Glückseligkeit in diesem Leben die Unsterblichkeit der Seele postuliert werden müsse, weil sonst die Unbedingtheit der Forderungen des Gewissens infrage gestellt werden müssten, kann nicht befriedigen. Solche Ableitungen begründen eine fragwürdige Todesmetaphysik. Sie lenken davon ab, dass die Menschen ihre vielseitigen Fähigkeiten, im Rahmen einer vernünftigen sozialen Ordnung den Tod zu assimilieren, nicht ausnutzen. Letztlich muss der Mangel an Liebe beseitigt werden, damit der Tod seinen Schrecken verliert.

Viele mythologische Symbolisierungen des Todes drehten sich um den Atem. Bis in die Neuzeit begann das Leben mit dem ersten Atemzug und trat der Tod ein, wenn der Atem verlöscht. Aus diesen Beobachtungen wurde die Theorie abgeleitet, dass der einzelne Mensch aus dem universellen Atem, der als Weltseele, Allseele oder ähnliches gefasst wurde, hervorgeht und dass er nach dem Tode dorthin zurückkehrt. Im Tod trennt sich die individuelle Seele vom Leib und vereinigt sich wieder mit der Weltseele. Wahrscheinlich wurde ursprünglich angenommen, dass die Seele als der Wesenskern des Menschen etwas Unpersönliches ist, da auch die Weltseele keinen personalen Charakter hatte. Solcher Bilder verbürgten die Kontinuität des Lebens über den Tod hinweg.

Auch im alltäglichen Leben vermittelt der Atem ständig Erfahrungen vom Tod. Während der Organismus in der Einatmung Lebenskraft aufnimmt und sich mit dem Leben verbindet, zieht er sich während der Ausatmung zurück und nimmt in der Atempause kurzfristig von der Welt gleichsam Abschied40. In der Atempause scheint das Leben zu Ende gekommen zu sein und ist von einem Neuanfang noch nichts zu spüren. »Im Ausatmen wird der Körper, der Geist und die Seele in die Leere entlassen.« »Wer ganz und gar im Augenblick lebt, hat das beglückende Gefühl, immer wieder aus dem Nichts in die Existenz gerufen zu werden. Alles ... bekommt in der Gestimmtheit intensiver Gegenwart die Morgenfrische einer Neuschöpfung. Das Nichts als Hintergrund des Lebens ist die Ursprungserfahrung der Schöpfung.«. »Bei jedem Ausatmen bedingungslos dem Tod nachgeben heißt, mit jedem Einatmen wiedergeboren zu werden.«41. Das tiefe Ausatmen vermittelt so das Lebensgefühl, die Welt mit jedem Atemzug neu zu erfahren. Diese Erfahrung begründet eine körperliche Identität, die sich von dem Rhythmus des Atems tragen lässt. In jedem Atemzyklus sind somit Geburt und Tod enthalten. Am Atem kann so in jedem Moment der Kreislauf der Natur, das Werden und Vergehen, erfahren werden.

Offensichtlich haben sich die frühen Symbolisierungen des Todes auf empirische Erfahrungen des Atems gestützt. Wie aus den oben dargestellten Überlegungen hervorgeht, war das Konzept der Seele das Ergebnis dieser erfahrungsbezogenen Symbolisierungen. Wenn aber die Atemerfahrungen keine Beachtung mehr finden, verlieren die atembezogenen Deutungen ihre Verbindlichkeit. Es entsteht ein Teufelskreis von zunehmender Todesangst und der Negierung von Körpererfahrungen, der zur Verdrängung des Todes führt.

Kann auf der Basis der Atemerfahrungen der Tod auf eine Weise symbolisiert werden, die den Anforderungen kritischen Denkens gerecht wird? Bislang stand der traditionelle Dualismus von Körper und Geist einer Symbolisierung des Todes in Analogie zu den mythologischen Vorstellungen absolut entgegen. Wenn die Materie als das Geistlose begriffen wird, ist eine Einbettung des Einzelnen in die großen Kreisläufe des Lebens ausgeschlossen. Dann muss der Übergang vom Geistigen ins Materielle als unmöglich erscheinen. Aus der kritischen Atemanalyse ging aber hervor, dass das Geistige und Seelische als subtile Bewegungen in Reaktion auf die Umwelt und damit als eine Eigenschaft der lebensfähigen Materie verstanden werden können. Damit gilt der esoterische Grundsatz, dass alles Bewegung ist, auch für die geistigen und psychischen Lebensäußerungen.

Wenn die traditionelle Kluft zwischen Körper und Geist aufgelöst ist, kann die alte mythologische Vorstellung vom Kreislauf des Lebens wieder aktiviert werden. Ihr Wahrheitskern besteht darin, dass mit dem Tod die Rückverwandlung der menschlichen Lebendigkeit in den materiellen Lebensstoff beginnt. Der Tod ist im Grunde eine Auflösung der biologischen Verbindungen, die mithilfe des Sauerstoffs möglich geworden sind. So gesehen fließt der Sauerstoff, der in dem einzelnen Individuum gebunden war und das Leben ermöglicht hat, wieder in die globale unvergängliche Sauerstoffressource zurück, aus der neues Leben hervorgehen kann.

Die Vorstellung, dass der Einzelne eine vorübergehende Erscheinung in dem unvergänglichen Kreislauf der Lebenselemente ist, ist insofern falsch, da sie die zentrale soziale Erfahrung ausgeklammert, dass beim Menschen der Kreislauf durch die Fortpflanzung in Gang gekommen ist. Wenn früher der Gattung der absolute Vorrang vor dem Individuum eingeräumt wurde, kam darin die Überzeugung zum Ausdruck, dass die Gruppe nur langfristig überleben kann, wenn nicht nur der Einzelne seine Bedürfnisse der Gruppe unterordnet, sondern dass auch der Geburt und der Erziehung von Nachwuchs eine absolute Priorität gegeben wird. Kinder zu wollen ist mit der Unsterblichkeit des individuellen Lebens unvereinbar, da sonst die natürlichen Lebensmittelressourcen schnell erschöpft sein würden. Die knappen Ressourcen an Lebensmitteln erzwingen, dass jeder für sein eigenes Leben eine begrenzte Lebenszeit akzeptiert. Das individuelle Leben erhält so seinen Sinn daraus, dass den Kindern ein guter Start ins Leben ermöglicht wird und dass sie Lebensbedingungen vorfinden, die ein glückliches Leben ermöglichen. Aus der Perspektive des guten Überlebens der Kinder kann der eigene Tod leichter akzeptiert werden. Die einzige Chance, den eigenen Tod zu überleben, besteht darin, dass man in der dankbaren Erinnerung der Kinder weiterlebt.

Lebenskunst schließt somit die Fähigkeit mit ein, sich von der Sterblichkeit berühren zu lassen und daraus Folgerungen für die Gestaltung des eigenen Lebens zu ziehen. Vor allem müssen sich die Konsequenzen darauf beziehen, dass den Kindern gute Startbedingungen für ihr Leben geschaffen werden. Aber es wäre falsches moralistisches Denken, von sich abzuverlangen, sich ständig des Todes bewusst zu sein und der Realität des Todes in die Augen zu schauen. So wenig wie das Glück nicht erzwungen werden kann, weil es das Ergebnis emotionaler Befreiung ist, so wenig kann das Verhältnis zum Tod durch bewusste Entscheidung gestaltet werden. Es wird sich erst ändern, wenn mehr emotionale Freiheit zugelassen werden kann. Wer ausreichend viel Liebe gegenüber dem Leben hat, wird auch die Kraft haben, das Bewusstsein der von der Endlichkeit des Lebens gesetzten Grenzen der Liebe zuzulassen. Es gibt keine Verantwortung gegenüber dem Tod, sondern nur gegenüber dem eigenen Leben und dem Leben der anderen Menschen.

10.5. Die Sprache des Atems

»Glück ist das Einzige, das wir schenken können, ohne es zu besitzen.« (Halen)
»Wir glauben, die Erfahrungen zu machen, aber die Erfahrungen machen uns.« (Eugene Ionesco)

Das vorliegende Buch stellt ein Plädoyer dafür dar, dass beim Nachdenken über die Bedingungen des menschlichen Glücks der Atem mit einbezogen werden sollte. Wenn dem Atem im mythologischen Denken eine zentraler Stellenwert eingeräumt wurde, so basierte dies auf der tiefen Erfahrung, dass der Atem nicht nur im Zentrum der körperlichen Existenz, sondern auch des seelischen Innenlebens steht. Es gibt kein Gefühl, an dem nicht der Atem beteiligt ist. Die seelische Verfassung wird ganz entscheidend von der Verfassung des Atems bestimmt. Auch das Denken ist in seiner Qualität vom Atem abhängig. Solche Erfahrungen können immer wieder neu gemacht werden, aber da im abendländischen Denken der Atem völlig ausgeblendet wird, bleiben die alltäglichen Erfahrungen über den Zusammenhang des seelischen Innenlebens und des Denkens mit dem Atem unbeachtet.

Da die Frage nach dem Glück eine Frage nach der Natur der menschlichen Gefühle ist, muss sich das Interesse auf den Zustand des Atems richten, da alle Gefühle von ihm abhängig sind. An nichts anderem lässt sich so klar und eindeutig ablesen, ob man im Kontakt mit seinen Emotionen ist oder ob man sich von den Gefühlen anderer Menschen abhängig gemacht hat. Die Redewendung, dass man bei Unsicherheit den »Atem befragen« soll, ist also keine bloße Metapher, sondern basiert auf der Erfahrung, dass man die Antwort am besten erfahren kann, wenn man sich im Atem sammelt. Der Atem ist aber auch deshalb von überragender Bedeutung für das Glück, weil die Menschen mit ihm über ein Instrument verfügen, wie sie ihren eigenen Gefühlszustand aktiv beeinflussen können. Sobald man sich im Atem sammelt, ohne ihn beeinflussen zu wollen, beruhigt sich der Gefühlszustand, Deshalb nimmt die Atemmeditation in den orientalischen Kulturen einen breiten Raum ein. Ich neige sogar zu der Auffassung, dass letztlich jede Meditation eine Atemmeditation ist, da jede Meditation ihre Wirkung daraus bezieht, dass sich der Atem durch die Hinwendung des Bewusstseins auf den eigenen Körper beruhigt.

Auf dem Hintergrund der vorliegenden Überlegungen zum Zusammenhang von Atem und Glück lassen sich die traditionellen Glücksdefinition einordnen und ihre Grenzen aufzeigen. Bei dieser Gelegenheit können die zentralen Thesen kurz zusammengefasst werden.

1. »Man ist glücklich, wenn man alles geschehen und loslassen kann«

Ohne Zweifel ist derjenige glücklicher, der entspannt ist. Das Problem ist nur, dass man diesen Zustand zwar bewusst herbeiführen kann, dass er aber meistens nicht anhält, wenn man aus der meditativen Einkehr in die rauhe Realität zurückkehrt. Entspannung allein kann deshalb kein ausreichendes Konzept sein, um zu einem dauerhaften Glück zu gelangen. Es enthält keine klare Theorie, warum die ausgeglichene Spannung immer wieder verloren geht.

2. »Glück ist, wenn alles schwingt und durchlässig ist «

Diese Glücksdefinition stellt darauf ab, dass alle natürlichen Rhythmen synchron miteinander schwingen und dass der Körper für alle Schwingungen durchlässig ist, weil keine Verspannungen die Resonanzfähigkeit des Körpers einschränken. Diese Definition hebt zu Recht hervor, dass zum Glück eine maximale Öffnung des Körpers für die Reize und Schwingungen der Umwelt erforderlich ist. Sie kann aber nicht erklären, warum sich die Menschen häufig einem offenen Kontakt verweigern.

3. »Glück ist Freiheit«

Freiheit gehört ohne Zweifel zum Glück. Aber es ist weniger die äußere politische Freiheit als die innere Freiheit gegenüber den eigenen Emotionen. Wer sich seinen Gefühlen überlassen und sich zu seinen Gefühlen bekennen kann, fühlt sich frei. Es wurde gezeigt, dass das Problem bei der Freiheit darin besteht, dass man sich sozusagen freiwillig dazu entscheidet, sich von anderen Menschen abhängig zu machen und dass dieser Zustand der freiwilligen Unfreiheit meistens verleugnet wird. Deshalb ist das Gefühl der Freiheit sehr trügerisch, zumal in einer Kultur, in der dem Einzelnen die Kraft zugesprochen wird, sich selbst ändern zu können.

4. »Glück ist Freiheit von Angst«

Vielen Glücksdefinitionen enthalten den Kernsatz, dass das Glück in der Abwesenheit von Schmerzen und Leiden besteht. Es wurde gezeigt, dass es dabei letztlich immer um die Abwesenheit von Angst geht. Es ist die Eigenart von Angst, dass sie unfrei macht. Aus Angst vor den Folgen der eigenen Emotionen bindet man sich an die Emotionen anderer Menschen und macht sich damit von ihnen abhängig. Man gibt die eigene Freiheit auf, weil es sicherer zu sein scheint, emotional mehr für andere Menschen als für sich selbst zu leben. Es entstehen Ersatzgefühle, die als unfrei und negativ erlebt werden. Gleichzeitig wird ein offener Kontakt zu anderen Menschen vermieden, um sich vor den eigenen Emotionen zu schützen. Es wäre aber sinnlos, daraus die Empfehlung abzuleiten, dass man sich seinen Ängsten stellen müsse. Die Tatsache, dass man sich von den eigenen Ängsten leiten lässt, spricht dafür, dass die seelische Kraft dazu gerade fehlt.

5. »Glück ist Sich-führen-Lassen«

Wenn davon die Rede ist, dass man »seinen inneren Stimmen folgen« , »auf sein Herz hören«, »den Atem befragen« oder »einen guten Dämonen haben« (Marc Aurel) soll, bedeutet das nach den obigen Analyse nichts anderes, als dass man sich von seinen Emotionen leiten lassen soll. Es darf aber nicht übersehen werden, dass gar nichts anderes möglich ist, als dass man den eigenen Gefühlen entsprechend handelt. Es kommt vielmehr darauf an, dass man sich von denjenigen Gefühlen leiten läßt, die das Gefühl vermitteln, dass man richtig handelt. Das ist nur bei den relativ unverletzten Basisemotionen der Liebe, Freude, Wut, Trauer und Schuld der Fall. Es steht aber keineswegs zur freien Disposition, von welchen Gefühlen man sich leiten lässt, sondern es ergibt sich zwangsläufig aus der erworbenen Struktur des seelischen Innenlebens. Insofern täuschen die Empfehlungen über die Realität des psychischen Innenlebens hinweg.

6. »Glück ist, wenn man mit sich identisch ist«

Das Gefühl, mit sich identisch zu sein, kann nicht bewusst herbeigeführt werden, sondern stellt sich wie von selbst ein, wenn man von relativ unverletzten Basisemotionen geführt wird. Wenn man hingegen von Ersatzgefühlen beherrscht wird, spürt man an den begleitenden Gefühlen der Unsicherheit und Selbstzweifel ganz genau, dass man nicht aus dem Kontakt mit den unverletzten Basisemotionen heraus handelt. Zu Recht wird auch Glück damit definiert, dass man im Kontakt mit sich selbst ist. Das ist aber nur in dem Sinne zu interpretieren, dass das eigene Handeln von den Basisemotionen geprägt wird.

7. »Glück finden, wenn man sich um das Glück der anderen sorgt.«

Es stellt sich die Frage, wie man aus den Automatismen der emotionalen Selbststeuerung herauskommen kann. Eine nach wie vor tragfähige traditionelle Antwort besteht darin, dass die Gemeinschaft die Verantwortung für das Glück ihrer Mitglieder übernehmen, dass also jeder Einzelne sich um das Glück der anderen kümmern muss. Aus der Sicht der Atemtheorie der Emotionen trifft diese Auffassung in das Zentrum des Glücks. Sie kann damit begründet werden, dass der Atem das Medium aller Formen des emotionalen und mentalen Kontaktes ist. Da der Atem von den Erfahrungen im Umgang mit anderen Menschen und damit vom sozialen Milieu geprägt wird, sind auch die Emotionen davon abhängig. Wenn der individuelle Gefühlszustand vom emotionalen Klima seiner Bezugsgruppe bestimmt wird, hat der Einzelne keine andere Wahl, das dass er die Verantwortung für das emotionale Klima seines Lebensmilieus übernimmt. Spannungen, Konflikte, Feindschaften, ungerechte Verteilungen u. A. stellen eine Aufforderung dar, die Ursachen für emotionale Klimaverschlechterungen zu bekämpfen. Wenn die anderen glücklich sind, werden sich auch die Bedingungen für das Glücklichsein des Einzelnen verbessern.

Offensichtlich treffen alle traditionellen Glücksdefinitionen etwas Richtiges. Sie müssen aber beschränkt bleiben, da sie letztlich nicht bereit sind, den Führungsanspruch der Vernunft bzw. des Geistes infrage zu stellen. Die vorliegenden Überlegungen haben zu dem Ergebnis geführt, dass das seelische Innenleben einer immanenten Selbstorganisation und Selbststeuerung folgt, die davon abhängig ist, wie die soziale Umwelt erfahren wird. Das bedeutet, dass die soziale Umwelt auf eine tiefe Weise gestaltend in die seelische Struktur des Einzelnen eingreift, die meist nicht bewusst wird. So führt sowohl die Erfahrung von Gewalt in Form von Demütigungen, Bestrafung durch Liebesentzug oder körperliche Verletzungen oder Nichtachtung der eigenen Bedürfnisse als auch die Erfahrung von Liebe und Zuwendung zu seelischen Anpassungsprozessen, die unabhängig vom bewussten Denken ablaufen. Das bewusst Ich kann die Veränderungen zur Kenntnis nehmen, aber nicht darauf Einfluss nehmen.

Die Theorie der Selbststeuerung stellt das moralistische Postulat radikal infrage, dass jeder in sich ein Potenzial an autonomer Selbstveränderung hat, Die Erfahrung lehrt, dass die Veränderungsmöglichkeiten aus eigener Kraft relativ beschränkt sind. Das moralistische Denken hat viel Unglück gebracht, weil es den Einzelnen unter Druck setzt, ohne ihm die Kraft zu geben, die Anforderungen zu erfüllen. Es gibt die Berechtigung, anderen die Verantwortung für den eigenen Gefühlszustand zuzuschieben. Das moralistische Denken lässt auch Selbstabwertung und Selbstverurteilung zu, die die Kehrseite der moralischen Abwertung anderer Menschen ist. Es hat dadurch das Gegenteil von dem erreicht, was angestrebt wurde. Daraus leitet sich die Überzeugung ab, dass das moralistische Denken dem Glück absolut im Wege steht und dass der einzige Weg für seine Überwindung darin besteht, von der Selbststeuerung der eigenen Gedanken und Emotionen auszugehen.

Die Theorie der Selbststeuerung liegt implizit den meisten traditionellen Atemlehren zugrunde. Der Weg zum Glück wurde stets darin gesehen, dass man sich immer wieder im Atem sammelt und sich von seinen inneren Impulsen leiten lässt. Die Arbeit am Glück wurde also in der recht allgemeinen Aufgabe angesehen, den Kontakt zu sich selbst herzustellen, in der Hoffnung, dass sich die Antworten auf die anstehenden konkreten Aufgaben von selbst einstellen, so wie sich die Gedanken intuitiv einstellen, wenn man sich in eine ruhige Lage eingefunden hat. Das begründet das traditionelle Lob der Muße.

Bei aller Skepsis der Philosophen gegenüber der Möglichkeit, die Natur des Menschen zu bestimmen, haben die vorstehenden Überlegungen gezeigt, das es durchaus möglich ist, einige zentrale Prägekräfte der menschlichen Natur zu bestimmen. Ganz allgemein gesprochen, befindet sich ein Organismus dann im Zustand des Glücks, wenn er frei von Blockierungen und Fremdbestimmungen handeln kann, wenn er sich also im Optimalpunkt seines Funktionierens befindet. Dann können die Emotionen für einen harmonischen Kontakt sorgen. Das bedeutet, dass der Atem die freie Entfaltung der Basisemotionen zulässt. Ein zentraler Baustein der vorliegenden Theorie ist die These, dass für alles, was das Glück beeinträchtigt, sich der Organismus selbst entschieden hat. Deshalb kann er sich rein theoretisch auch in jedem Moment entscheiden, diese Selbsteinschränkungen aufzuheben. Allerdings wird er es in der Praxis nur dann tun, wenn er absolut sicher ist, dass er sich nicht mehr schützen muss.

Offensichtlich haben die Menschen ein unabweisbares Bedürfnis nach einer Theorie über ihre innere Natur. Wenn sich die Philosophen weigern, eine Antwort darauf zu geben, greifen die Menschen auf den religiösen und weltanschaulichen Traditionsbestand zurück. Das erklärt den großen Erfolg der Esoterik. Die Überlegungen dieses Buches haben zu dem Ergebnis geführt, dass bei den Bemühungen, die menschliche Natur zu bestimmen, vom Atem auszugehen ist, da er alle Formen des Kontaktes mit sich selbst und mit anderen Menschen ermöglicht. Deshalb kann auf dieser Basis ein neues Menschenbild entwickelt werden. Bei solchen Theorien geht aber der Anspruch auf allgemeingültige Wahrheit in die Irre. Letztlich geht es gar nicht um die Wahrheit von Theorien über die menschliche Natur, weil sie prinzipiell nicht zu beweisen ist, sondern darum, ob diese Theorien einen Wegweiser darstellen, in welcher Richtung das Glück gesucht werden soll, ob sie also das Glück fördern können oder nicht.

Wenn man davon ausgehen kann, dass die menschliche Natur darauf angelegt ist, im harmonischen Kontakt mit anderen Menschen zu leben, dann hängt das Glück entscheidend von der Fähigkeit ab, Störungen des Kontaktes durch seelische Verletzungen zu vermeiden. Da aber die Menschen in ihren jungen Jahren seelischen Verletzungen relativ hilflos ausgeliefert sind, liegt die Verantwortung primär bei der Gemeinschaft, dafür zu sorgen, dass die Lebensbedingungen so gestaltet sind, dass dem Einzelnen wenig seelische Verletzungen zugemutet werden bzw. er in der Erziehung so viel Widerstandskraft erwirbt, dass er sich gegenüber Verletzungen schützen kann. Wenn jemand offensichtlich mit Verlusten oder Verletzungen nicht fertig wird, muss die Gemeinschaft dies als ein Zeichen dafür erkennen, dass ihm die seelischen Kräfte dafür fehlen und dass er Hilfe benötigt.

Auch wenn die Verantwortung für die individuelle Glücksfähigkeit primär bei der Gemeinschaft liegt, kann sich der Einzelne nicht von der Verantwortung für seinen eigenen Glückszustand freisprechen. Jeder hat sich letztlich für seine eigene innere Verfassung selbst entschieden. Es kann davon ausgegangen werden, dass jeder fähig ist, sich mit sich selbst zu versöhnen, d.h. die innere Feindschaft gegenüber sich selbst, die sich in Selbstabwertung und Selbstverrat äußert, zu überwinden. Man kann sich zwar nicht von seinen Ängsten befreien, aber man kann sich mit ihnen arrangieren und sogar sich mit ihnen anfreunden. Der berühmte Satz von Epiktet: »Nicht die Dinge an sich beunruhigen die Menschen, sondern ihre Meinung über die Dinge« gilt mehr für die seelische Innenwelt als für die Außenwelt. In der Neubewertung der eigenen Ängste liegt ein großes Glückspotenzial. Allerdings muss er dabei auch von anderen Menschen und von der vorherrschenden Theorie über die menschliche Natur unterstützt werden, damit er nicht in die menschliche Neigung zurückfällt, die Schuld für das eigene Unglück und Unbehagen fremden Kräften zuzuschieben.

Bei der Selbstgestaltung geht es also nicht darum, dass »neue Möglichkeiten erschlossen«42 werden, sondern dass die in der menschlichen Natur angelegten Potenziale an sinnlicher Selbstreflexivität, Emotionalität und Gewahrsein erkannt und erprobt werden. Im Prinzip geht es darum, die Fähigkeiten der sensibeln Selbstwahrnehmung wiederzubeleben, die durch soziale Kontrolle und emotionale Zurückhaltung verloren gegangen sind. Wenn z.B. der Atem in das körperliche Gewahrsein einbezogen wird, stellt dies keine Neugestaltung der menschlichen Natur dar, die von außen eingesetzt wird, sondern bloß eine Wiederherstellung von natürlichen Fähigkeiten. Oder wenn die emotionale Selbstdistanzierungsfähigkeit geschult wird, werden natürliche Möglichkeiten ausgeschöpft, die bisher vernachlässigt wurden.

Bei der Entfaltung der Kulturtechniken sind die motorischen Fähigkeiten (z. B. Kunsthandwerk oder die Bedienung von Musikinstrumenten) und die Sinneswahrnehmung von äußeren Phänomenen eindeutig zu Lasten der Wahrnehmung der inneren Prozesse bevorzugt worden. Wenn die Glücksfähigkeit als das höchste kulturelle Entwicklungsziel angesetzt wird, muss diese Vernachlässigung der inneren Regungen und Empfindungen korrigiert werden. Aus den Überlegungen ergibt sich, dass eine große Achtsamkeit für die inneren Regungen gleichbedeutend mit der Entwicklung von Atembewusstsein ist. Die Sprache des Atems muss genauso in einem langen Bildungsprozess angeeignet werden wie dies bei der Erlernung der Lautsprache selbstverständlich ist. So wie das Kleinkind geduldig auf die Sprache seiner Eltern hört, so muss immer ein Teil des Bewusstseins auf den Atem lauschen.

Da jeder Einzelne auch Teil der Gemeinschaft ist, muss er sich mit der gleichen Energie um den Zustand des Glücks der anderen Menschen kümmern. Er wird das völlig selbstlos tun, weil er weiß, dass sein eigenes Glück vom Glück der anderen Menschen abhängig ist. Die vorherrschende Individualisierung des Glücks hat diese Dimension des Glücks ausgeblendet. Wenn jeder seines eigenen Glückes Schmied sein soll, wird er letztlich nur Unglück ernten, da seine Gleichgültigkeit gegenüber dem Unglück der anderen die Lebensbedingungen insgesamt verschlechtert. Wenn jeder so denkt, ist das Ergebnis kollektives Unbehagen und kollektive Gleichgültigkeit gegenüber dem anderen.

Ich vermute, dass die Philosophie ihre gegenwärtige skeptische Haltung gegenüber der Bestimmbarkeit des menschlichen Wesens überwinden könnte, wenn sie auf der Basis von Atemerfahrungen eine neue Theorie vom Wesen des Menschen entwickeln würde. Die Überlegungen in diesem Buch stellen viele Bausteine für eine Wiederbelebung der philosophischen Anthropologie (Theorie vom Wesen des Menschen) zur Verfügung, die im Kern eine Atemphilosophie sein wird. Die neue Atemphilosophie wird von einer Neubewertung der eigenen subjektiven Erfahrungen ausgehen, die von der traditionellen Theorie aus dem Bedürfnis nach Sicherheit durch fixierte Gedankensysteme diskriminiert wurden. Letztlich haben die traditionellen Theorien die Unsicherheit weiter verschärft, weil sie die zu Grunde liegende Entfremdung gegenüber dem eigenen Körper nicht aufgedeckt haben. Die Ausblendung des Atems aus dem alltäglichen Bewusstsein hat den Körper verdunkelt und ihn zu etwas Fremdem gemacht. Die Philosophie hat zur Glücksunfähigkeit der Menschen beigetragen, weil sie mit falschen Körperdefinitionen den negativen Zustand der Körperentfremdung legitimiert hat. Sicherheit kann aber nur aus den eigenen Erfahrungen kommen. Insofern ist das Festklammern an Theorien ein Zeichen verlorener Sensibilität für die eigenen Empfindungen.

Im Rahmen einer Atemphilosophie muss insbesondere die verhängnisvolle menschliche Neigung zur Hypostasierung der zentralen Begriffe überwunden werden, die im Zusammenhang mit dem Nachdenken über das Glück verwendet werden. Die Begriffe Seele, Geist, Freiheit und Wahrheit dürfen nicht wie existierende Dinge behandelt werden. Sie sind menschliche Abstraktionen, die sich auf bestimmte Aspekte des Handelns beziehen. Es kann gezeigt werden, dass das Denken durch und durch metaphorisch geprägt ist. Alle Begriffe stammen aus der unmittelbaren sinnlichen Anschauung. In der langen Kulturgeschichte ist bei vielen Begriffen dieser sinnliche Bezug vergessen worden. Dies gilt insbesondere für die Begriffe, die für die Strukturierung des seelischen Innenlebens verwendet werden. Begriffe wie Stärke, Ruhe, Ausgeglichenheit, Tiefe, Festigkeit u. A, die zur Charakterisierung von unterschiedlichen Seelenzuständen verwendet werden, entstammen ganz offensichtlich der sinnlichen Anschauung der Außenwelt und wurden nur auf die Innenwelt übertragen. Solche Analogien sind zum Scheitern verurteilte Versuche, das Unanschaubare und Unbegreifbare des menschlichen Innenlebens dennoch zu erfassen. Man muss sich damit bescheiden, dass über das seelische Innenleben nur mit Analogien, Gleichnissen und Bildern geredet werden kann. Es ist unerlässlich, dass man sich immer wieder des metaphorischen Ursprungs aller Begriffe vergewissert. Wenn das Glück primär eine Sache des ganzen Körpers ist, kann es nur dauerhaft gesichert werden, wenn es von einem Denken unterstützt wird, das den lebendigen Fluss des seelischen Innenlebens nicht fixiert und eingrenzt.