Philosophie der Muster    Buch "Psychosomatik des Atems"

Klaus Neubeck

Psychosomatik des Atems

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Neubeck, Klaus:

Psychosomatik des Atems / Klaus Neubeck. -Frankfurt am Main : Haag und Herchen, 2000 ISBN 386137-977-5

ISBN 3-86137-977-5

© 2000 by HAAG + HERCHEN Verlag GmbH, Fichardstraße 30, 60322 Frankfurt am Main Alle Rechte Vorbehalten Produktion: Herchen KG, Frankfurt am Main Gesamtherstellung: W. Niederland, Königstein Printed in Germany

Verlagsnummer 2977

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Inhaltsverzeichnis

Inhalt....3

1. Einleitung: Kontakt als Phänomen des Atems....6

2 Die emotionalen Verbindungsfaden zur Umwelt....11

2.1 Physiologie der Emotionen....11

2.2 Die soziale Funktion der Emotionen....13

2.3 Das Konzept der Atemmembran....21

2.4 Wo ist der Sitz der Seele?....25

2.5 Die Rationalität der Gefühle....30

3 Das Denken des Körpers.....36

3.1 Denken als Bewegungsvorgang....36

3.2 Wer denkt?....41

3.3 Macht und Ohnmacht des Geistes....47

3.4 Zur historischen Entstehung von Seele und Geist....51

4 Die Selbstorganisation des Kontaktes....58

4.1 Lust und Freude am Kontakt....59

4.2 Kontakt herstellen - Liebe als die soziale Grundemotion....64

4.3 Warnsignale vor Kontaktstörung - Angst, Schuld und Scham....69

4.3.1 Furcht und Angst....69

4.3.2 Selbstkontrolle durch Schuld und Scham.....72

4.4 Kontakt wiederherstellen - Trauer und Wut....74

4.4.1 Mut zur Trauer....74

4.4.2 Die missverstandene Wut....76

4.5 Das Prinzip der Selbstorganisation...80

5 Ursachen des Kontaktverlustes....86

5.1 Autonomie und Symbiose....87

5.2 Der Prozess der Verdrängung....89

5.3 Der Handlungs- und Rückzugsreflex....96

6 Krankheit und Kontaktstörung....102

6.1 Muskuläre Fehlspannungen als Krankheitsursache....103

6.1.1 Folgen von Muskelkontraktionen....104

6.1.2 Folgen der verringerten Zwerchfelltätigkeit....106

6.1.3. Folgen des Sauerstoffdeßzits....107

6.1.4 Folgen von Disharmonien im Nervensystem....110

6.1.5. Folgen unzureichender Entgiftung....111

6.2 Die Entscheidung für die Krankheit....111

6.3 Zum Verhältnis von psychischen und somatischen Erkrankungen....116

7 Theorie der Selbstheilungskräfte....120

7.1 Atem und psychische Selbstheilungskräfte....121

7.2 Soziale und persönliche Selbstheilungskräfte....124

7.3 Die Fiktion des inneren Heilers....130

8 Der Prozess der Heilung....132

8.1 Heilung als Loslassen....133

8.2 Heilkraft der Emotionen.....137

8.2.1 Prinzip Hoffnung.....137

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8.2.2 Prinzip Glaube.....140

8.2.3 Prinzip Verantwortung....141

8.2.4 Prinzip Vergebung....143

8.2.5 Prinzip Akzeptanz....144

8.2.6 Prinzip Trauerarbeit....146

8.2.7 Das befreiende Weinen....147

8.2.8 Prinzip Lachen.....148

8.2.9 Prinzip Entspannung.....149

8.2.10 Lebenswille....151

8.3 Der Arzt im Selbstheilungsprozess....152

9 Aktivierung der Selbstheilungskräfte......155

9.1 Selbstaktivierung der Selbstheilungskräfte......156

9.2 Königsweg Atemtherapie......162

9.2.1 Der ganzheitliche Weg der Atembehandlung....163

9.2.2 Der symptomatische Weg der Atemübungen....170

10 Folgerungen: Die Notwendigkeit der kulturellen Aufwertung des Atems....174

10.1 Zur Überwindung des Dualismus von Körper und Geist....174

10.2 Zur Kritik der esoterischen Anatomie....177

10.3 Kritische Spiritualität und Selbstheilungskräfte....182

10.4 Prophylaktische Medizin....187

10.5 Auf dem Weg zur Atemkultur....191

Literaturverzeichnis....194

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1 Einleitung: Kontakt als Phänomen des Atems

«Was die Menschen zu Fall bringt, erhebt sie auch wieder.» (indisch)

Die Diskussion über Gesundheit und Krankheit ist in eine Sackgasse geraten, seit sich die naturwissenschaftliche und die esoterisch/alternative Medizin unversöhnlich voneinander abgrenzen. Die Kluft zwischen beiden Krankheitskonzepten scheint unüberbrückbar zu sein. Bisher ist es keiner der beiden Seiten gelungen, sich der anderen zu nähern. Weder die breite Kritik am mechanistischen, reduktionistischen Körperverständnis der Schulmedizin noch die partielle Bereitschaft, erfolgreiche Techniken der jeweils anderen Seite zu übernehmen, haben zu einer Bewegung der Standpunkte geführt.

Die tiefe Kluft zwischen den beiden Krankheitskonzepten geht primär darauf zurück, dass sie bei der Frage, welche Rolle die geistigen und psychischen Faktoren im Krank-heits- und Heilungsprozess spielen, diametral entgegengesetzte Auffassungen einnehmen. Die naturwissenschaftliche Medizin sieht den menschlichen Körper im Prinzip als eine mechanisch funktionierende Apparatur, die ausschließlich durch stoffliche Defizite, Gifte, eingedrungene Mikroorganismen, Überbeanspruchungen, Verletzungen, erbliche Faktoren und ähnliche Faktoren gestört werden kann. Gedanken und Gefühlen wird keine Bedeutung bei der Entstehung von Krankheiten beigemessen. Demgegenüber nehmen sie in der esoterischen Medizin eine Schlüsselrolle ein. Die mechanischen Faktoren werden dort zwar nicht verkannt, aber letztlich kommt es nur auf die geistige Einstellung zur Krankheit an.

Trotz des naturwissenschaftlichen Credos sind viele Ärzte auf Grund ihrer praktischen Erfahrung davon überzeugt, dass mehr als zwei Drittel alle Krankheiten rein psychisch bedingt sind. Auch die psychosomatische Medizin geht von dieser Grundüberzeugung aus, hat es aber bisher nicht geschafft, ihr zur Anerkennung zu verhelfen. Aber beim Versuch, diese Erfahrungstatsache zu erklären, versagen sowohl die psychosomatischen als auch die esoterischen Ansätze. Die psychosomatischen helfen nicht weiter, weil sie keine plausible Theorie besitzen, wie Gedanken und Emotionen mit der Physiologie Zusammenhängen. Die esoterischen Theorien enthalten zwar viele richtige Einsichten, aber ihre theoretischen Ansätze, mit denen die geistigen und psychischen Phänomene aus physiologischen Faktoren abgeleitet werden, sind dogmatisch erstarrt und halten einer rationalen, an den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen orientierten Kritik nicht stand.

Offensichtlich ist ein völlig neuer Lösungsansatz erforderlich, der ein besseres Verständnis der körperlichen Wirkungsweise der Emotionen und Gedanken im Gesamtorganismus bietet. Solange Denken und Fühlen als immaterielle Prozesse verstanden werden, wird es zwangsläufig ein Rätsel bleiben, wie sie den Körper beeinflussen. Wie können sie als körperliche Funktionen verstanden werden, ohne dass sie dabei - etwa durch ihre einseitige und unspezifische Reduzierung auf das Materielle - ihre geistige Qualität verlieren?

Als ich anfing, aus privaten Erfahrungen mehr auf meinen Atem zu achten, hatte ich die Eingebung, er könnte der Schlüssel zum Verständnis der physiologischen Bedingungen des Denkens und Fühlens und damit der krank machenden Wirkungen der Emotionen sein. Die Tatsache, dass der Atem in vielen alten Mythologien eine Sonderstellung einnahm und von alters her als Vermittler zwischen Körper und Geist angesehen wurde, schien meine Intuition zu bestätigen. Dafür sprach auch, dass sich in vielen Sprachen

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die Begriffe Geist und Seele direkt vom Atembegriff ableiten. Auch ältere Begriffe für die Lebenskraft wie das griechische <Pneuma> oder das hebräische <Ruah> verweisen auf den inneren Zusammenhang zwischen dem allgemeinen belebenden Prinzip der Natur und dem Atem. Diese Zusammenhänge werden meist als mythologische Kuriositäten dargestellt. Statt dessen stellte ich mir die Frage, welche Erfahrungen über das Wesen von Geist und Seele darin verborgen sein könnten. Könnte nicht der Atem das körperliche Prinzip sein, das sich direkt an der Nahtstelle zum Geistigen befindet und Geist und Körper miteinander verbindet? Damit stand die Aufgabe an, in eine genauere Analyse des Atems einzusteigen, um das Zusammenwirken von Körper und Geist besser zu verstehen.

In meinem 1992 erschienenen Buch <Atem-Ich> wurde die Bedeutung des Atems für das Fühlen und Denken aus der viel zu wenig beachteten Tatsache abgeleitet, dass alle menschlichen Kommunikationsmedien den Atem benutzen. Sowohl die Emotionen als auch die sprachlichen Begriffe basieren auf Gestaltungen des Atems, nämlich auf der Modulation seiner Schwingungen. Da die Menschen ihre Bedürfnisse mit Hilfe der Emotionen und der Sprache artikulieren und so mit den sozialen Anforderungen abstimmen, erwies sich der Atem als körperliche Bühne, auf der sozialer Kontakt organisiert wird. Ich entwickelte die Hypothese, dass der Atem der Ort ist, wo nicht nur Sprache und Emotionen ausgedrückt werden, sondern wo auch, darauf auf bauend, die soziale Kontrolle durch die Verinnerlichung von sozialen Erwartungen und die Verdrängung unangenehmer Erfahrungen stattfindet.

Wenn der Mensch - wie Nietzsche festgestellt hat - das einzige Tier ist, das sich selbst negieren kann, so ist zu vermuten, dass dies wahrscheinlich an der Besonderheit der neuen, eng an die physiologische Funktion der Atmung geknüpften Kommunikationsmittel liegt. Auffallend ist, dass beim erwachsenen Menschen der Kontakt zu anderen Menschen und zu sich selbst nicht mehr wie bei den Kindern und Tieren selbstverständlich, sondern sehr gefährdet ist. Dieselben Instrumente, die zwischenmenschliche Kommunikation wesentlich verbessern, können auch zum dauerhaften Rückzug, Kontaktabbruch und zur Selbstnegation verwendet werden. Das liegt daran, dass der Atem die einzige physiologische Funktion ist, die zwar vegetativ gesteuert wird, aber infolge von sozialen Erfahrungen mit Hilfe der verbalen Sprache direkt eingeschränkt werden kann.

So können sich die Menschen für eine Reduzierung oder sogar für einen totalen Abbruch des Kontaktes entscheiden.

Auf dieser Grundlage ergab sich ein neues Körperverständnis, das nicht mehr auf einer starren Grenze zwischen einem als Maschine gedachten Körper und einem davon völlig abgetrennten Geist basiert. Wenn geistige und seelische Funktionen als Ausdrucksformen des Atems verstanden werden, können sie als abgrenzbare physiologische Prozesse begriffen werden, die mit anderen physiologischen Prozessen interagieren. Es stellt sich nicht mehr die Frage nach der Einheit von Körper und Seele, weil deren Trennung als künstlich erkannt wird. Des Weiteren zeigte sich, dass Emotionen und Gedanken von vornherein auf die Umwelt bezogen sind und dass sie die Funktion haben, Kontakt aufrechtzuerhalten. Sie können deshalb als materielle Verbindungsfäden aufgefasst werden, die den Einzelnen auf untrennbare Weise mit seiner sozialen Umwelt verknüpfen.

Der Atem kann natürlich nur dann als Angelpunkt bei der Wirkung der Emotionen und Gedanken auf den Körper begriffen werden, wenn sein Verständnis auf eine völlig neue Basis gestellt wird. Es gilt, sowohl seine naturwissenschaftliche Reduzierung auf die

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reine Sauerstoffversorgung als auch seine esoterische Überbewertung als Zugang zur Transzendenz zu überwinden. Mein Ansatz geht davon aus, dass Emotionen und Gedanken an den Atem gebundene Bewegungsprozesse sind. Deshalb sind sie von dessen Schicksal abhängig. Die Wechselwirkung zwischen Emotionen/Gedanken und Atem ist schon immer beobachtet worden. So kann man nicht frei denken, wenn der Atem bedrückt ist. Wenn er leicht fließt, fühlt man sich glücklich. Es ist hingegen noch kaum die Frage behandelt worden, wie der Atem, der im Grunde über die Entwicklung der Sprache das Leben in gesellschaftlichen Großgruppen ermöglicht hat, von den gesellschaftlichen Lebensbedingungen bestimmt wird. Es fehlt eine Theorie, die erklärt, wie Atemqualität und Kontaktfähigkeit Zusammenhängen. Offensichtlich hat es weit reichende physiologische Auswirkungen, wenn geistige und emotionale Fähigkeiten zur Aufrechterhaltung des Kontaktes nicht hinreichend gut gelernt werden bzw. wieder verloren gehen, weil damit immer Reduzierungen der Atmung verbunden sind.

In dem vorliegenden Buch wird eine neue Theorie entwickelt, wie sich Emotionen und Gedanken auf den Prozess der Krankheitsentstehung einerseits und der Heilung andererseits auswirken. Es soll nachgewiesen werden, dass der Atem tatsächlich im Zentrum aller Krankheits- und Heilungsprozesse steht, weil er die Schnittstelle zwischen dem Körper und den geistig-seelischen Erfahrungen ist. Wenn jemand beschließt, Emotionen dauerhaft zurückzuhalten, bewirken dafür erforderliche Muskelfehlspannungen eine Einschränkung der Atemdynamik. Dies hat weit reichende physiologische Auswirkungen zur Folge wie z.B. Sauerstoffdefizite, mangelnde Blutversorgung und fehlende Unterstützung der Organfunktion durch die Muskeltätigkeit, insbesondere durch die vom Zwerchfell bewirkten rhythmischen Druckschwankungen u.a. Wenn solche Störungen länger anhalten, kommt es zu somatischen Anpassungsreaktionen. Die Versuche des Organismus, sich selbst zu reparieren, werden als Krankheit wahrgenommen. Damit steht der Atem an der Schwelle zwischen Psychologie und Physiologie.

So, wie Erkrankungen aus Fehlspannungen hervorgehen, kommt es zur Heilung, wenn sich die Fehlspannungen auf Grund von Einsichten, Therapie, emotionaler Zuwendung u.ä. auflösen und damit der Atem seine Versorgungsfunktion wieder voll übernehmen kann. Im Grunde war früher immer der Atem gemeint, wenn davon die Rede war, dass die Seele geheilt, gereinigt oder gepflegt werden müsse. Demgegenüber haben Medikamente und physikalische Heilverfahren nur eine unterstützende Bedeutung, um akute Schmerzen und Entzündungen zu behandeln. Sie sind hilfreich, weil sie stoffliche und energetische Defizite ausgleichen können, . können aber keine dauerhafte Heilung bewirken, da sie in der Regel nicht an die emotionalen Ursachen der Erkrankungen heranreichen. Unter Umständen erleichtern sie eine Beseitigung von Fehlspannungen. Meist erfolgt aber dann nach einiger Zeit die Verschiebung der Krankheit in eine andere Körperzone. Deshalb setzt jeder Heilungsprozess primär bei psychischen Faktoren an. Das betrifft natürlich nicht rein stofflich, etwa durch Vergiftungen, Verletzungen oder Überbeanspruchungen bedingte Erkrankungen. Aber auch für sie gilt, dass der Heilungsprozess beschleunigt wird, wenn der Organismus relativ frei von Fehlspannungen ist. Mit diesem Erklärungsansatz eröffnet sich die Perspektive einer gewaltfreien Medizin, die Krankheiten nicht unterdrückt, sondern die körpereigenen Selbstheilungskräfte unterstützt. Auch das bisher rätselhafte Phänomen der Spontanheilung wird so verständlich.

Im Mittelpunkt der Analyse stehen die Selbstheilungskräfte, die in früheren Krankheitskonzepten (z.B. Hippokrates) als die eigentliche Heilkraft der Natur galten. Die Zukunft der Medizin hängt davon ab, dass sie wieder in die therapeutische Arbeit integriert wer

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den. Hierzu ist es erforderlich zu wissen, was die Selbstheilungskräfte lähmt und was sie fördert. Relativ wenig ist darüber bekannt, weil dieses Thema bisher von der Schulmedizin vernachlässigt worden ist. Aus diesem Grund haben viele Menschen ein mangelndes Vertrauen in ihre Selbstheilungskräfte und wissen kaum noch, was sie tun können, um diese zu stärken. In diesem Sinn hat das mechanistische Körperverständnis mit dazu beigetragen, dass sich die Menschen von ihren Selbstheilungskräften entfremdet haben.

Das Wesen der psychischen Selbstheilungskräfte besteht darin, dass der Organismus Fähigkeiten entwickelt, mit denen Konflikte mit der Umwelt gelöst werden können, um einen harmonischen Bezug zur Umwelt herzustellen. Die Selbstheilungskräfte bestehen aus der Gesamtheit der emotionalen und sprachlichen Fähigkeiten, mit denen der Kontakt zur Umwelt im Gleichgewicht gehalten werden kann. Sie müssen im Zusammenhang mit der erfolgreichen Bewältigung von Konflikten erlernt werden und setzen ein günstiges soziales Milieu voraus, das die Ausbildung von emotionaler Autonomie erlaubt. In einem Klima, das von Angst, Selbsthass und Selbstverurteilung geprägt ist, schwinden sie. In Ermangelung solcher Kräfte können körperliche Erkrankungen entstehen, weil psychische Defizite durch muskuläre Verspannungen ausgeglichen werden müssen. Das Wesen der Selbstheilungskräfte kann also nur aus der Beziehung des Einzelnen zur sozialen Gemeinschaft begriffen werden.

Da die psychischen Selbstheilungskräfte aus dem Atem hervorgehen, kann von den Selbstheilungskräften des Atems gesprochen werden. Für das Verständnis der Selbstheilungskräfte ist damit eine neue Basis gewonnen: Sie brauchen nicht mehr mit mystischen Konzepten wie <Lebenskraft>, <Energie> oder <höheres Selbst> begründet werden. Stattdessen muss man davon ausgehen, dass sie ein integraler Bestandteil des Lebens sind und deshalb genauso wenig wie das Leben erklärbar sind. Die offene Frage besteht eher darin, warum die Menschen ihre eigenen Selbstheilungskräfte abtöten können.

Für die Plausibilität dieses Denkansatzes sprechen die Krankheitskonzepte des indischen Pranayama und des chinesischen Qigong. Beide beanspruchen, mit bloßen Bewegungsübungen die meisten Krankheiten heilen zu können. Untersuchungen, die in den letzten Jahren in China durchgeführt wurden, bestätigen das breite Heilungspotenzial des Qigong. Nach meiner Interpretation geht es bei beiden Konzepten letztlich um eine Wiederbelebung des gestörten Atems. Die Bewegungsübungen sind wirksam, weil mit ihrer Hilfe Einschränkungen des Atems beseitigt werden.

Meine Atemtheorie ist in ständiger Auseinandersetzung mit den esoterischen Atemtheorien des Qigong und des Pranayama entwickelt worden. Ich habe versucht, die esoterischen Einsichten aus ihrem mythologischen Korsett herauszulösen. Mein Verdacht ist, dass sich die esoterischen Erklärungen für abendländisch erzogene Menschen letztlich negativ auswirken und dass sich die richtigen Einsichten in ihr Gegenteil verkehren: Anstatt zu befreien, verstärken sie autoritäres, dogmatisches und individualistisches Denken und unterdrücken kritisches Denken und den spielerischen Umgang mit den Übungen. Dadurch werden sowohl die Aufnahme der Übungsrituale in den Alltag als auch die Integration ihrer richtigen Erkenntnisse in die Medizin erschwert. Man kann deshalb die vorliegende Untersuchung auch als eine Kritik der esoterischen Anatomie lesen.

Nach meiner Überzeugung besteht die eigentliche Botschaft des spirituellen Denkens darin, dass es die Hauptaufgabe des Menschen ist, soziale Fremdbestimmungen im Denken und Handeln zu überwinden, um wieder in der Gegenwart leben zu können. Das

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kann nur gelingen, wenn man sich auch dem Atem zuwendet. Spirituell zu leben besteht deshalb in der Bereitschaft, sich für die Erfahrungen des eigenen Atems zu öffnen und an dessen Befreiung zu arbeiten. Da der eigene Atem immer nur so gelöst ist, wie es die sozialen Kontakte, in denen man lebt, zulassen, verlangt spirituelles Leben, sich an der Lösung der herrschaftsbedingten Probleme der sozialen Gemeinschaft zu beteiligen. Nur so kann das Ziel verfolgt werden, im Einklang mit den inneren Impulsen zu leben.

Die Medizin macht sich mitschuldig an der Zunahme von chronischen Krankheiten, wenn sie weiterhin gesellschaftliche Lebensbedingungen akzeptiert, die emotionale Selbstbestimmung negieren und dazu führen, dass vom Einzelnen immer mehr Mechanismen der psychischen und somatischen Selbstabtötung eingesetzt werden müssen, um zu überleben. Die Medizin kommt nicht umhin, sich ihr Unvermögen einzugestehen, durch negative Lebensbedingungen geschwächte Selbstheilungskräfte mit pharmazeutischen Mitteln wiederherzustellen. Sie kann ihr Heilungsversprechen nur dann erfüllen, wenn sie das Leiden der Menschen in eine Kritik an den krank machenden Lebensverhältnissen übersetzt. Medizin muss auch Gesellschaftskritik sein.

Die Medizin steht vor der Aufgabe, den Atem in ihre Arbeit zu integrieren. Eine ganzheitliche Medizin, die das Zusammenwirken von Körper und Geist begreift, kommt nach meiner Auffassung nicht ohne ein Verständnis der tiefen Bedeutung des Atem für den Krankheits- und Heilungsprozess aus. Dies gilt insbesondere für die psychosomatische Medizin, die zwar die Ursache von vielen Erkrankungen in Kontaktstörungen sieht, die aber nach wie vor über keine plausible Theorie verfügt, wie Kontaktstörungen zu Krankheiten führen können. Das vorliegende Konzept begründet die Notwendigkeit, den Atem in die psychosomatische Theorie und Therapie zu integrieren und die Psychosomatik somit zu einer Psychosomatik des Atems weiter zu entwickeln.

In der Öffentlichkeit herrscht allerdings das Missverständnis vor, Reflexionen über den Atem seien esoterisches Denken. Das liegt zweifellos daran, dass einerseits bisher alle Versuche, die zentrale Bedeutung des Atems zu erfassen, vom esoterischen Denken ausgegangen sind und andererseits der Atem in der philosophischen und psychologischen Diskussion auf Grund der geistbetonten Kultur des Abendlandes kein Thema war. Die vorliegende Arbeit wird zeigen, dass die Abwertung des Atems auf einem Vorurteil basiert. Die Atemabwertung ist das Symptom einer Kultur, die von einer tiefen Sinnenfeindschaft geprägt ist. Die daraus resultierende Hochschätzung des Geistes schließt die Geringschätzung all dessen ein, was an das Sinnliche erinnert. Dazu gehört auch der Atem1. Letztlich gehen meine Überlegungen von der Überzeugung aus, dass die abendländische Abwertung des Atems überwunden werden muss, da die uralte Einsicht in die gesundheitliche Bedeutung des gelösten Atems nicht länger unterdrückt werden kann. Ich teile die Hoffnung des bekannten amerikanischen Arztes Andrew Weil, dass der Atem in der menschlichen Heilkunde des 21. Jahrhunderts eine herausragende Rolle spielen könnte (Grout 1996, S.96). 1

1 In der vorliegenden Arbeit wird bevorzugt der Begriff <Atem> verwendet, da er besser die ganze Bedeutungsbreite des Atemgeschehens vom Körperlichen bis zum Geistig-Psychischen abdeckt als der Begriff der Atmung, der auf die physiologischen Prozesse eingeschränkt wurde. Der hier verwendete Begriff <Atem> bezieht deshalb immer auch die stofflich-körperlichen Aspekte mit ein.

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2 Die emotionalen Verbindungsfaden zur Umwelt

«Der Sitz der Seele ist da, wo sich Innenwelt und Außenwelt berühren. Wo sie sich durchdringen, ist er in jedem Punkt der Durchdringung.» (Novalis)

Was ist eigentlich Kontakt, und wie kommt er zu Stande? Was scheinbar klar ist, erweist sich bei näherem Hinsehen nach wie vor als ein Rätsel. Ohne Zweifel übernehmen die Emotionen die Kontaktfunktion. Aber es ist völlig ungeklärt, auf welche Weise dies geschieht. Eine nachvollziehbare Antwort auf die Frage, warum Emotionen auf den Körper einwirken können, gibt es bisher nicht. Vermutlich liegt dies liegt daran, dass es bisher nicht gelungen ist, ihre physiologische Basis zu klären.

Im traditionellen Denken haben Gefühle ihren Ursprung in der Seele. Es wird angenommen, dass Emotionen eine Verkörperung der inneren seelischen Gefühle sind, dass sie also ein sichtbarer Ausdruck der Seele sind. Die Seele wird gleichsam als eine übergeordnete Steuerungsinstanz der Gefühle vorgestellt. Diese Vorstellung geht im Wesentlichen auf Aristoteles zurück, der die Seele als das zentrale Prinzip definierte, das dem Körper seine Form gibt und ihn bewegt (Aristoteles 1922). Er begriff die Seele als eine sich selbst verwirklichende Form. Deshalb nehmen alle Bewegungen - körperliche, emotionale und geistige — von hier ihren Ausgang. Damit wurde die Seele zum Wirkprinzip des geistigen und körperlichen Lebens erhoben, das jenseits des körperlichen Lebens existiert. Sie soll es sein, die dem einzelnen Lebewesen Leben gibt und die Einheit von Körper und Seele herstellt. Sie ist unsterblich und verläßt den Körper nach dem Tod.

Diese das Abendland prägende Definition hatte den Vorzug, dass die Seele als ein Prinzip verstanden wurde, das die Menschen mit allen anderen Lebewesen verbindet. Als Folge davon konnten aber Gefühle nur als flüchtige, schwer fassbare Phänomene verstanden werden. Insgesamt erscheint die Seele als eine mysteriöse Größe, mit der die Frage nach der Natur der Gefühle letztlich nicht beantwortet wird. Ihre Konzeption als eine immaterielle und spirituelle Kraft hat die Suche nach den materiellen Wurzeln der Gefühle lange Zeit erschwert. Schließlich ist der Begriff der Seele im 19. Jahrhundert von der Philosophie, Psychologie und Medizin ganz aufgegeben worden.

2.1 Physiologie der Emotionen

«Wahrheit ist nichts anderes als ein bewegliches Heer von Metaphern>.» (Friedrich Nietzsche)

Die älteste Theorie, die Gefühle als körperliches Geschehen erklärt, bezieht sich auf das Herz. In vielen alten Kulturen galt das Herz als der Sitz der Liebe und der anderen Gefühle. Offensichtlich sind Emotionen von spezifischen Erregungen des Herzens begleitet, sodass es nahe lag, sie jenem zuzuschreiben. In der naturwissenschaftlichen Psychologie spielt das Herz als Quelle von Emotionen keine Rolle mehr, ohne dass eine Erklärung für die frühere Zuweisung gegeben worden wäre. In Poesie und Alltagssprache jedoch hat das Bild des Herzens als die Quelle der Gefühle überlebt und ist weiterhin von großer Bedeutung.

In der Gegenwart hat sich die Auffassung der Hirnforschung durchgesetzt, dass Emotionen angeborene neuronale Erregungsmuster sind. Danach haben sie ihren Sitz im limbischen System des Gehirns und erfüllen die Funktion, aus der Flut der Umweltreize eine

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für das Überleben relevante Auswahl vorzunehmen. Zwar ist das autonome Nervensystem ohne Zweifel an der Organisation der Emotionen beteiligt. Die Nerventheorie bleibt aber die Antwort darauf schuldig, wie Emotionen sozial gestaltet und insbesondere warum sie unterdrückt werden können. Es bleibt also unklar, wie die Gehirnrinde (Neocortex), in der das Gehirn die Anforderungen der sozialen Gemeinschaft an den Einzelnen mit Hilfe von Vorstellungen und Bildern repräsentiert, mit dem limbischen System zusammenarbeitet.

Auch zwischen Hormonen und Emotionen konnte bisher kein direkter kausaler Zusammenhang bestimmt werden. Lediglich bei den Emotionen der Furcht (Adrenalin) und der Wut (Noradrenalin) konnten begleitende Hormonausschüttungen gemessen werden. Darüber hinaus scheint das Hormon Acethylcholin beteiligt zu sein, wenn Zufriedenheit, Wohlbefinden und Freude bestehen. «Es ist von allergrößter Wichtigkeit für diese Diskussion der Hormone, dass kein anderes Hormon und kein Wirkstoff bisher gefunden werden konnte, die eine so enge Verbindung zu ganz bestimmten Emotionen aufweisen.» (Kemper 1981, S. 147). Wie viel Noradrenalin und Adrenalin bei Wut und Furcht ausgeschüttet werden, hängt davon ab, mit welchen Einstellungen und Erwartungen die auslösende Situation bewertet wird. Hormone erhalten ihre Bedeutung allein durch die kulturelle Bewertung der Emotionen. Die Biologie der Emotionen ist somit abhängig von ihrer kulturellen Bewertung (vgl. Kap. 4.2.1). Die Aussage, dass die Emotionen eine instinktive Basis haben, hat deshalb beim Menschen fast keinen Erklärungswert.

Seit der Entdeckung der Neurotransmitter (Peptide) in den 70er Jahren scheint nun endlich eine Erklärung für den biologischen Zusammenhang zwischen Körper und Geist gefunden worden zu sein. Die winzigen Eiweißstoffe der Neurotransmitter sollen eine zentrale Vermittlerrolle zwischen dem Gehirn, den Gefühlen, dem Immunsystem und dem Hormonsystem einerseits und dem Körper andererseits einnehmen. Jeder Emotion und jedem Gedanken entspreche ein verändertes Gemisch an molekularen Botenstoffen, mit denen die Informationen des Gehirns an den Körper weitergegeben werden. So entstand die Vision, dass mit der weiteren Erforschung der Neurotransmitter die alte Trennung von Leib und Seele aufgehoben werden könnte. Denn jetzt schien verständlich zu werden, wie das Denken die materielle Realität formt.

In der Theorie der Neurotransmitter bleibt jedoch nach wie vor die Frage offen, wie Gedanken und Gefühle in biochemische Prozesse übersetzt werden. Es bleibt ungeklärt, wie es imaginäre Gefühle und Gedanken fertig bringen, in biochemische Prozesse einzugreifen. Wenn ein Zusammenhang zwischen Gefühlen und chemischen Botenstoffen festgestellt wird, kennt man deswegen noch nicht den Mechanismus, der dafür verantwortlich ist. Ebenso wenig weiß man, warum man sich glücklich oder traurig fühlt. Wahrscheinlich stellen die Neurotransmitter nur einen Teilaspekt in der innerorganismischen Kommunikation dar. Der Verdacht liegt nahe, dass die Neurotransmitter von vornherein mit dem fragwürdigen Konzept von Körper und Geist interpretiert wurden, sodass sie ungeeignet sind, den Dualismus zu überwinden.

Die bisherigen Erklärungsansätze für die Emotionen sind auch deshalb wenig befriedigend, da der bewegungsmäßige Aspekt der Emotionen, der sie wesentlich charakterisiert und von dem sie ihren Namen haben (lat. movere = bewegen), überhaupt nicht berücksichtigt wird. Emotionen zeigen sich wesentlich in typischen Bewegungsformen der Gesichtsmuskeln, des Rachenraumes, des Brustkorbs und vor allem des Zwerchfells, unterstützt durch die Muskeln der Gliedmaßen. Auf die große Bedeutung der Muskelbewe

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gungen beim Gefühlsausdruck hat bereits 1920 William James hingewiesen: «Wenn wir uns ein starkes Gefühl vorstellen und dann versuchen, in unserem Bewusstsein jegliches Empfinden für seine Körpersymptome zu eliminieren, stellen wir fest, dass wir nichts zurückbehalten, keinen <Seelenstoff>, aus dem sich das Gefühl zusammensetzen ließe, und dass ein kalter und neutraler Zustand intellektueller Wahrnehmung alles ist, was bleibt. Was vom Gefühl der Furcht übrigbleibt, wenn ich weder das Empfinden von beschleunigtem Herzschlag noch von flacher Atmung, weder von zitternden Lippen noch von weichen Knien, weder von Gänsehaut noch von revoltierenden Eingeweiden hätte, vermag ich mir beim besten Willen nicht vorzustellen» (James 1920). William James konnte sich allerdings mit dieser Auffassung nicht durchsetzen.

Die vorliegenden Untersuchungen über die biologischen Wurzeln der Gefühle zeigen, dass es auch heute noch keine Klarheit darüber gibt. Alle Bemühungen, die Emotionen im Herzkreislaufsystem, im Darm, in den Muskeln, in Gehirnzentren, im Gesichtsausdruck oder in inneren Organen zu lokalisieren, sind gescheitert. So, wie sich das Herz in Bezug auf die Emotionen nur als eine Metapher erweist, so sind auch die naturwissenschaftlichen Antworten kaum mehr als Metaphern. Es drängt sich mir der Eindruck auf, dass die Physiologie der Emotionen bisher deshalb ungeklärt geblieben ist, weil die falschen Fragen gestellt worden sind. Wenn Körperbewegungen für Emotionen konstitutiv sind, ist zu fragen, welche Rolle der Atem, der maßgeblich für Bewegung verantwortlich ist, dabei spielt. Deshalb wird im Folgenden die These untersucht, inwiefern die Psychologie der Emotionen in der Anatomie des Atems wurzelt.

2.2 Die soziale Funktion der Emotionen

«Wer nur halb atmet, lebt nur halb.» (altes Sprichwort)

Wenn man sich Emotionen der Wut, Angst, Freude oder Trauer vergegenwärtigt, fällt auf, dass sie spontane Antworten auf äußere Vorkommnisse darstellen. Diese Emotionen teilen mit, ob das Verhalten des anderen als nützlich oder schädlich eingeschätzt wird. So signalisiert Wut die Ablehnung dessen Verhaltens, weil es die eigene Autonomie verletzt. Alle Emotionen teilen dem Bewusstsein mit, wie der Organismus als Ganzer die gegenwärtige Situation erfährt und wie er sie bewertet. Sie stellen spontan einen wertgetönten Bezug zur Umwelt her. «Fühlen heißt, in etwas involviert zu sein» (Heller 1981, S.19). Es gibt keinen Kontakt, der nicht mit Emotionen wie Neugier, Freude, Angst, Schuldgefühl u.a. verbunden ist.

Emotionen gelten deshalb allgemein als zielgerichtete Aktivitäten, bei der jede wahrgenommene Situation und jedes Objekt immer schon unter der Perspektive betrachtet wird, welchen Wert sie für das eigene Wohlergehen haben. Mit jeder emotionalen Reaktion ist unvermeidlich eine Wertung (z.B. nützlich/schädlich, gut/schlecht, vernünftig/unvernünftig, lustvoll/schmerzhaft) verbunden. «Eine Emotion zu haben heißt ein Werturteil (normative judgement) abgeben über die Situation, in der man sich befindet» (Solomon 1980, S.258). Neville Symington charakterisiert deshalb Emotionen als moralische, d.h. wertende Urteile1. Emotionen sind offensichtlich gleichsam Antennen für die Qualitäten der Umwelt, und ihre Bewertungen veranlassen entsprechendes Handeln. Insofern zeichnen sich Emotionen durch eine motivierende und orientierende Kraft aus. 1

1 Symington 1997, S.265

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Das zweite Charakteristikum der Emotionen besteht darin, dass Emotionen jeweils mit einer charakteristischen Körperhaltung und einem typischen Gesichtsausdruck einhergehen: Man schnaubt vor Wut, stöhnt vor Lust, seufzt im Schmerz, prustet vor Lachen, hält vor Furcht den Atem an, verstummt vor Entsetzen. Alle Emotionen sind zudem mit einem körperlichen Stimmungs- und Erregungszustand verbunden, der mit Veränderungen des Blutkreislaufs, der Atmung, des Gesichtsausdrucks, der Körperhaltung, des Tonus der Muskulatur, der Hautleitfähigkeit, des Hormonsystems u.a. verbunden ist und damit den ganzen Körpers umfasst. Emotionale Betroffenheit ist deshalb kein isoliertes Ereignis, sondern immer eine Reaktion, die mit ihren körperlichen Empfindungen in die Physiologie des ganzen Körper eingreift.

Das Ausdrücken von Emotionen gibt dem Gegenüber zu erkennen, wie dessen Handeln, das selbst ein emotionaler Ausdruck ist, aufgenommen wurde. Sie übermitteln stets eine bestimmte Botschaft und signalisieren damit dem sozialen Umfeld den eigenen inneren Zustand. So hat etwa Wut als Reaktion auf eine Verletzung einen unverkennbaren Ausdruck. Am emotionalen Ausdruck kann so mit einem Blick erkannt werden, in welcher Grundstimmung sich das Gegenüber gerade befindet, d.h. wie es das eigene Verhalten aufgenommen hat.

Emotionen zeichnen sich weiterhin dadurch aus, dass man sich der körperlichen Veränderungen, die durch sie ausgelöst werden, meist mehr oder weniger deutlich bewusst ist. Alle körperlichen Veränderungen werden fortwährend im Gehirn registriert und in entsprechenden Vorstellungen repräsentiert. Auf diese Weise wird die Außenwelt im Körper nicht nur durch die sinnlichen Wahrnehmungen, sondern auch durch die Veränderungen repräsentiert, die sie im Körper hervorrufen2. Wie der amerikanische Neurologe Antonio Damasio es ausdrückt, nimmt das Gehirn unablässig eine Kartierung der Körperlandschaft vornimmt. Deshalb ist man ständig der Zeuge seines eigenen emotionalen Zustandes.

Das Schwierige an einer Untersuchung von Emotionen ist, dass sie einerseits ihrer körperlichen Empfindungen und ihres körperlichen Ausdrucks wegen als zum Körper gehörend gelten können, dass sie aber andererseits auf Grund ihrer bewertenden und ihrer dialogischen Funktion einen mentalen Charakter haben, sodass sie von einigen Emotionsforschern sogar als rational bezeichnet wurden (z.B. Robert C. Solomon und Ronald De Sousa). Einerseits ist man Emotionen ausgeliefert und wird von ihnen ergriffen, andererseits können sie vom Denken korrigiert werden. Diese Zwischenstellung der Emotionen zwischen Körper und Geist konnte meiner Meinung nach bisher nicht befriedigend theoretisch geklärt werden. Im Verlauf der Untersuchung möchte ich darlegen, dass die körperlichen Empfindungen von Emotionen für die mentale Bewertung unentbehrlich sind. Im Folgenden soll zunächst die These entwickelt werden, dass bei der Analyse der körperlichen Verankerung der Emotionen der Atem eine Schlüsselstellung einnimmt. Darauf aufbauend läßt sich das Verhältnis der Emotionen zum Denken neu bestimmen.

Susana Bloch hat mit ihren Messungen der physiologischen Parameter von Emotionen gezeigt, dass jedes Gefühl ein spezielles Atemmuster hat. Jede der von ihr untersuchten Emotionen hat bei der Atemfrequenz, also dem Verhältnis zwischen der Länge von Ein-und Ausatmung, bei der Amplitude der Atembewegung und bei der Länge der Atempause nach der Ausatmung ein charakteristisches Profil (siehe Tabelle 1) (Bloch 1991,

2 Vgl. Damasio 1995, S.306

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S.141). Aus diesen Messungen geht hervor, dass Emotionen Charakteristika von Schwingungen aufweisen. So bildet sich z.B. das Lachen aus einer vertieften Atmung mit verlängerter, unregelmäßiger Ausatmung. So kann für jede Emotion gezeigt werden, dass ihr ein spezifisches Atemmuster entspricht. Daraus kann die Hypothese abgeleitet werden, dass die Emotionen selbst Schwingungen sind.

Tab. 1 Atemmuster der Emotionen

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(Stöße,

Sprunge)

Verhältnis

von

Einatmung

und

Ausatmung

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regelmäßige Stöße in der Ausatmung

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gelöst

weich

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unregelmäßige Stöße in der Einatmung

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regelmäßige Stöße in der Einatmung

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regelmäßige Stöße in der Ausatmung

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Ausatmung

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niedrig

anstei

gend

-

Verlängerte

Einatmung

Nieder-

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schnürte

Kehle

bedrückt

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Aus dieser Perspektive wird die große Vielgestaltigkeit der Emotionen verständlich, die bei den Kindern noch in ihrer reinen Gestalt zu beobachten sind, bei den Erwachsenen jedoch in der Regel gedämpft und vermischt sind. So können sich nicht nur mehrere Emotionen miteinander vermischen (z.B. Liebe und Angst in der Eifersucht), sondern auch widersprüchliche Emotionen wie Neugier und Angst gleichzeitig auftreten. Emotionen können von der Situation abgespalten werden und als Dauerhaltung fixiert werden (z.B. Hass). Viele Menschen schwanken je nach Situation zwischen zwei Gefühlen (z.B. anklammernde Abhängigkeit und zornige Manipulation). Emotionen können vorgetäuscht werden (z.B. Freundlichkeit mit Lächeln) oder durch die Blockierung von bestimmten Körperbewegungen im Ausdruck abgeschwächt und ganz unterdrückt werden. All diese Phänomene können besser verstanden werden, wenn man Emotionen als Schwingungsmuster begreift, die vermischt, überlagert und unterdrückt werden können.

Auch die Differenz zwischen den primären (Angst, Liebe, Freude, Trauer, Wut u.a.) und den sekundären Emotionen (Depression, Hass, Eifersucht, Neid u.a.) kann aus dem Blickwinkel der Schwingungstheorie besser verstanden werden. Werden Emotionen nicht angemessen ausgedrückt und über den Anlass hinaus festgehalten, verändern sie ihren Charakter und werden chronische Reaktionsmuster. Aus der Trauer wird Depression, aus der Wut Hass, aus der Liebe Eifersucht. Sekundäre Emotionen entstehen demnach, wenn die Artikulation der Grundemotionen eingeschränkt und ihr Schwingungsmuster dadurch verändert wird. Wegen ihrer lähmenden Wirkung werden unerledigte Trauer, unterdrückte Wut oder anhaltender Arger oft als negative Emotion behandelt3. Eine solche Etikettierung wird ihnen aber nicht gerecht, da sie ebenfalls eine Orientierungsfunktion haben.

Offensichtlich werden Atembewegungen dafür benutzt, um einen emotionalen Ausdruck nach außen hin darzustellen. Menschen, die den Atem aufmerksam beobachtet haben, war schon immer klar, dass sich die Art und Weise, wie man sich zur Umwelt verhält, direkt im Atem spiegelt. Daraus folgt, dass Emotionen sich deshalb so unterschiedlich anfühlen, weil sie mit verschiedenartigen Atemrhythmen verbunden sind. Gefühle sind demnach nicht allein im Nervensystem, sondern auch im Atemsystem angesiedelt.

Emotionen zeichnen sich dadurch aus, dass man von denjenigen anderer Menschen berührt und angesprochen wird; mitunter werden sie spontan übernommen. Starken Gefühlen anderer kann man sich kaum entziehen, und selbst Schuldgefühle werden oft unbewusst von nahe stehenden Menschen übernommen. Je deutlicher Emotionen artikuliert werden, umso mehr antwortet das Gegenüber spontan mit korrespondierenden Emotionen. Dieses Phänomen der emotionalen Ansteckung beruht auf dem Naturgesetz der Resonanz. Resonanz bedeutet, dass ein schwingender Körper gleichartige Schwingungen in einem anderen Körper auslöst. Der Vorgang der Resonanz kann an zwei Stimmgabeln veranschaulicht werden. Wenn auf der einen Stimmgabel ein Ton angeschlagen wird, überträgt sich die deren Schwingung auf die andere, auf den gleichen Ton eingestimmte Stimmgabel, sodass sie gleichsam wie von selbst erklingt. Wenn

3 Vgl. Chia 1996, S.491

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Emotionen Schwingungen sind, können ihre Erscheinungsformen als Folge oder als Fehlen von Resonanz erklärt werden. Insofern ist das Phänomen der emotionalen Sug-gestibilität die Auswirkung von Resonanz.

Emotionale Resonanzfähigkeit wirkt sich als Empfänglichkeit aus, die im Grunde die wichtigste menschliche Fähigkeit ist. Sie ermöglicht es dem Organismus, sich vom äußeren Reiz voll und ganz berühren zu lassen. Ihr Grad bestimmt die Qualität des Kontaktes im Aufnehmen und Erleben. Ohne Resonanz gibt es keine Konzentration, keine Hingabe, keine intensive innere Beteiligung, kein Leben im Augenblick. Empfänglichkeit für die emotionalen Schwingungen anderer begründet auch die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen und sie zu verstehen. Ihre emotionalen Äußerungen können verstanden werden, weil sie durch das somatische Mitschwingen innerlich reproduziert werden.

Die häufig im Zusammenhang mit geistigen und seelischen Fähigkeiten verwendete Metapher des Sichöffnens drückt sehr treffend aus, was geschieht, wenn sich der Organismus allen Reizen der Umwelt stellt. Der Organismus nimmt Kontakt mit der Umwelt auf, indem er allen Reizen, die von den Sinnesorganen wie Auge, Ohr, Nase wahrgenommen werden, uneingeschränkten Zugang gewährt. Die Vielzahl der Reize kann dann vom Nervensystem in situationsbezogene Empfindungen, Gefühle und Gedanken umgesetzt werden. Wenn sich der Organismus zur Umwelt hin öffnet, wird er vorübergehend scheinbar eins mit dem Objekt seines Bedürfnisses. «Die Vollendung des Kontaktprozesses ist ein Zustand gesunder Konfluenz von Organismus und Umwelt: Das Du meines Gegenübers erfüllt mein ganzes Erleben oder ich gehe in der Aufgabe meines Engagements ganz und gar auf, oder ich bin im ästhetischen Erleben, wie wir sagen, <ganz Auge> oder <ganz Ohr>.. Der Organismus läßt jedes absichtsvolle und planvolle Handeln hinter sich, Wahrnehmung, Gefühl und Motorik wirken spontan und unkontrolliert zusammen und lassen die Grenzen des Organismus gegenüber dem anderen verschwimmen» (Dreitzel 1992, S.44). Wie unten gezeigt wird, stellt die Begegnung mit dem Neuen nur eine Öffnung dar, bei der aber die eigenen physiologischen Grenzen nie überschritten werden. Deshalb ist die Metapher des Verschmelzens irreführend (vgl. Kap. 4.1.2).

Resonanz wird als Begeisterung erfahren. Im Zustand der Begeisterung ist man völlig vom Erleben dessen, was die Begeisterung weckt, in Anspruch genommen; es wird eindeutig positiv wahrgenommen; man ist leidenschaftlich erregt und häufig sogar verzückt. Begeisterung füllt alle Aufgaben mit positiver Kraft und erzeugt Leichtigkeit bei ihrer Bewältigung. Sie gibt die Gewissheit, dass man auf dem richtigen Weg ist. Begeisterung wird als lustvoll, als ein Zustand des Hochgefühls und des Glücks erlebt. Sie wird deshalb als ein außergewöhnlicher Zustand wahrgenommen. Dies klingt deutlich im griechischen Wort Enthusiasmus an, das übersetzt <Gotterfülltheit> bedeutet. Der deutsche Begriff weist auf die subjektive Erfahrung hin, völlig vom Geist erfüllt zu sein .

Die menschliche Bereitschaft, sich für politische Ideen, künstlerische Ziele, wissenschaftliche Entdeckungen oder sportliche Ziele zu engagieren, ist darin begründet, dass Menschen begeisterungsfähige und -bereite Wesen sind. «Für das vorbehaltlose Engagement in der Begeisterung ist es bezeichnend, dass es sowohl als Zugreifen als auch als Bestimmtwerden erfahren wird» (Meyer 1994, S.286). Heinz Meyer sieht in der Begeis

4 Wie sich weiter unten zeigen wird, heißt dies nicht anderes, als vom Atem erfüllt zu sein.

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terung eine wichtige biologische Technik bei der Lösung komplexer Aufgaben. Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz betrachtete sie sogar als einen «echten, autonomen Instinkt». Allerdings kann sie ihre nützliche Funktion verlieren, wenn der Gegenstand der Begeisterung idealisiert oder das Engagement übersteigert wird, sodass Selbstkritik unterbleibt.

Legt man das Konzept der Resonanz zu Grunde, so entsteht Kontakt, wenn sich ein Schwingungskörper auf die wahrgenommene, von außen kommende Schwingung einschwingt. Bereits bei den einfachsten Lebewesen wie den Einzellern basiert der Kontakt mit ihrem Milieu auf Resonanz. Auf allen Ebenen der tierischen Entwicklung wird Fremdes nur aufgenommen, wenn es in seinem Schwingungsverhalten als etwas Assimilierbares erkannt wird. Deshalb besteht Leben im Mitschwingen mit allem sich Bewegenden, im Sicheinfühlen, im Zusammenberühren, in der sinnlichen Kontaktsuche. Die menschlichen Emotionen stellen lediglich eine neue Qualitätsstufe in der Kommunikation mit äußeren Schwingungen dar.

Kontakt erschöpft sich nicht im taktilen Kontakt, auch nicht im Kontakt der Sinnesorgane. Zu Recht wird das Wort <berühren> auch im übertragenen Sinne verwendet, dass <uns Gedanken oder Gefühle im Inneren berühren>. Es wird dann gern die Metapher verwendet, dass das <Herz angesprochen> wird. Offensichtlich wird eine tiefere Schicht als die Haut und die Sinnesorgane berührt, wenn ein wahrer Kontakt zu Stande kommt. Den bisherigen Überlegungen zufolge besteht diese tiefere Schicht aus den Atemschwingungen. Letztlich sind sie es, die den Kontakt herstellen. Da Emotionen einen intensiven Austausch mit anderen Menschen begründen, haben sie die Qualität einer Sprache. Es ist bemerkenswert, dass emotionaler Dialog allein auf Grund der körperlichen Ausdrucksgestalt der Emotionen funktioniert. Deshalb können Emotionen als eine Körpersprache verstanden werden.

Emotionen stellen stets auch Selbstkontakt her. Die häufig gebrauchte Sprachwendung <in Kontakt mit den Emotionen kommen> trifft die körperlichen Verhältnisse sehr genau. Tatsächlich findet eine sinnliche Berührung statt, da Emotionen den Körper in Schwingung versetzen und dieser sich dadurch selbst spüren kann. Der Organismus kann seine emotionalen Erfahrungen wahrnehmen, speichern und verarbeiten. Da Emotionen dem Bewusstsein Botschaften darüber vermitteln, in welchem Zustand sich der Organismus befindet, wurzelt Selbsterkenntnis im Kontakt mit den eigenen Atemschwingungen. Insofern sind Emotionen auch für die Selbsterkenntnis von zentraler Bedeutung. Wenn dagegen der emotionale Ausdruck unterdrückt wird, werden die emotionalen Bewegungen unterbunden, sodass sie nicht mehr gespürt werden können. Wenn man orientierungslos geworden ist, stellt sich die Frage nach dem Sinn des Lebens.

So wie sich der Organismus öffnen kann, so kann er sich auch verschließen. Dazu werden die Muskeln angespannt, die den Ausdruck der Emotionen organisieren und die Leistungsfähigkeit der Sinnesorgane bestimmen. Ein Beispiel solcher Einschränkungen ist die Kurzsichtigkeit, bei der sich die Ziliarmuskeln, die die Linsenkrümmung regulieren, verspannen. Wenn die soziale Situation nicht mehr offen wahrgenommen wird, kann der Organismus nicht situationsgerecht reagieren. Wie die psychosomatische Erklärung von Augenstörungen zeigt, bedeutet die mangelnde Bereitschaft, sich mit den Sinnesorganen für die Reize der Umwelt zu öffnen, dass sich der Organismus weigert, seine Gefühle und Gedanken zu artikulieren (vgl. Kap. 5.2).

Meist werden in der Alltagssprache die Begriffe Gefühl und Emotion mehr oder minder

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synonym verwendet. Ein richtiges Verständnis der Gefühle kann aber nach meiner Auffassung erst gefunden werden, wenn ihr Unterschied zu den Emotionen klar herausgearbeitet wird. Dies ist von zentraler Bedeutung für das Verständnis des Einflusses der Gefühle auf den Körper wie z.B. bei Krankheitsprozessen. In der Wissenschaft wird postuliert, dass eine Entsprechung zwischen dem äußeren muskulären Ausdruck der Gefühle (= Emotionen) und der inneren gefühlsmäßigen Erfahrung besteht. Diese Entsprechung wird in der Psychologie als Isomorphie bzw. als funktionelle Identität bezeichnet. Emotionen gelten danach als ein physiologisches Korrelat von psychischen Prozessen. Dabei wird unterstellt, dass die körperliche Ausdrucksbewegung theoretisch vom seelischen Inhalt getrennt werden kann und dass das Seelische das Erste sei. Diese Annahme soll im Folgenden in Frage gestellt werden.

Der Psychoanalytiker Martin Dornes hat verschiedene Theorien über den Zusammenhang von Gefühl und Emotion überprüft und kommt zum Ergebnis, dass die so genannte Feedbacktheorie des Gefühls am überzeugendsten ist: Gefühle entstehen danach, dass Wahrnehmungen, Phantasien oder Vorstellungen bestimmte Erregungsmuster im Nervensystem auslösen, die ihrerseits einen bestimmten Ausdruck in der Gesichtsmuskulatur hervorrufen. Der muskuläre Ausdruck ist die Emotion, während die Rückmeldung der aktivierten Gesichtsmuskeln an das zentrale Nervensystem als Gefühl empfunden wird5. Gefühle können deshalb als die empfindungsmäßige Innenseite der emotionalen Bewegungen verstanden werden.

Diese Theorie von Dornes muss um den Gesichtspunkt ergänzt werden, dass sich die Emotionen nicht bloß im Gesicht, sondern im ganzen Körper manifestieren - in der Körperhaltung, im Muskeltonus, in der Gestik der Hände u.a. Als spezifische Schwingungen des Atems sind sie komplexe Ausdrucksgestalten, in denen sich der ganze Organismus darstellt. Aus der Rückkoppelung der Emotionen mit dem Muskel, Atem-, Nerven-, Hormon- und Kreislaufsystem entstehen die spezifischen Empfindungen, die ihren Erfahrungscharakter ausmachen. Bei den meisten Gefühlen ist es offenkundig, dass sie nur empfunden werden, wenn sie muskulär, wie fragmentär auch immer, ausgedrückt werden. Aber auch bei den Gefühlen, die sich nicht im körperlichen Ausdruck manifestieren, wie z.B. der Scham, bei der das Erröten unterdrückt wird, liegt eine muskuläre Tonusveränderung vor. Sie beschränkt sich hier bloß auf die Verspannung innerer Organe (Herz, Darm), weil solche Gefühle ihre Bedeutung darin haben, dass der Organismus sich selbst eine Botschaft gibt (vgl. Kap.4.3.2).

Experimente von Susana Bloch mit Schauspielern bestätigen, dass Gefühle tatsächlich eine Rückmeldung der emotionalen Bewegung ans Nervensystem darstellen. Sie hat Schauspielern, die bisher die vom Drehbuch geforderten Gefühle mit Hilfe von geeigneten Vorstellungen aktiviert haben, beigebracht, wie sie durch bewusste Aktivierung der für das Gefühl charakteristischen Muskeln der Atmung, des Gesichts und des Körpers das Gefühl reproduzieren können. Es zeigte sich, dass Gefühle nach außen hin umso authentischer und lebendiger dargestellt wurden und dass sie von den Schauspielern innerlich umso mehr wie ein echtes Gefühl empfunden wurden, je besser diese mechanische Reproduktion der emotionalen Bewegung gelang. Sogar die Klangfarbe der Stimme passte sich der jeweiligen Emotion an6. Jeder Mensch kann an sich selbst diese Erfahrung nachvollziehen. Er wird beobachten, dass sich z.B. spontan das Gefühl des Lä

5 Domes 1992, S.123

6 Bloch 1991, S.141

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chelns einstellt, wenn die dafür erforderlichen Muskeln um die Augen und um den Mund absichtlich angespannt werden.

Daraus leitet sich ab, dass äußeres Ausdrücken von Emotionen und inneres seelisches Erleben die zwei Seiten der gleichen Medaille sind, die untrennbar miteinander verbunden sind. Was von außen als Ausdruck wahrgenommen wird, wird innerlich als Gefühl gespürt. Zwischen Emotion und Gefühl besteht deshalb mehr als eine funktionelle Identität; beide sind zwei Aspekte eines einheitlichen körperlichen Ausdrucksgeschehens, das gleichzeitig nach außen und nach innen wirkt. Wenn Emotion und Gefühl stets zusammen auftreten, erweist sich die gängige Vorstellung, das Psychische sei zuerst vorhanden und der körperliche Ausdruck dessen Folge, als hinfällig. Entsprechend der oben entwickelten Theorie, dass im Leben alles Bewegung ist, muss man davon ausgehen, dass Emotionen einen gewissen Vorrang haben. Denn Gefühle werden nur erlebt, wenn sie sich in einem emotionalen, d.h. muskulären Ausdruck formieren, entweder in einer gewissen Mimik und Gestik oder in einem inneren Verspannungszustand (Herzrasen, blockierte Verdauung, Druck im Magen u.ä.). Dabei werden sie umso intensiver erfahren, je weniger der Gesamtorganismus verspannt ist. Insofern ist die Beweglichkeit des Körpers die Voraussetzung dafür, dass sich Gefühle bilden. Aus diesem Grund müssen Gefühle als ein integraler Bestandteil der emotionalen Bewegung betrachtet werden.

Der Unterscheidung zwischen Gefühl und Emotion hat darin seine Berechtigung, dass jedes Gefühl mit inneren Empfindungen und Erfahrungen einerseits und mit muskulären und körperlichen Veränderungen andererseits verbunden ist. Es darf aber nicht der Fehler gemacht werden, beide Seiten voneinander zu isolieren und die körperliche Seite zu vernachlässigen. Gefühle können nur erlernt werden, wenn man sich beim Kontakt mit anderen Menschen auf den eigenen emotionalen Ausdruck konzentriert und in Rückkoppelung mit deren Reaktion neue Ausdrucksformen ausprobiert. So wie Emotionen ihre Wirkung auf andere primär dank ihrer körperlichen Symptome (Stimme, Gesichtsausdruck - z.B. Tränen -, Körperhaltung u.a.) haben, so kann auch der emotionale Lernprozess nur gelingen, wenn man sich mit den eigenen emotionalen Bewegungen rückkoppelt.

Nochmals möchte ich darauf hinweisen, dass das hier entwickelte Verständnis der Emotionen als Atemmuster sich wesentlich von dem esoterischen Verständnis unterscheidet, in dem Gefühle als Energiemuster oder als bewegte Energie begriffen werden. Die emotionalen Schwingungen des Atems sind von den energetischen und elektromagnetischen Schwingungen deutlich zu unterscheiden, da ihre Frequenzen wesentlich niedriger sind und noch im Wahrnehmungsbereich der Sinnesorgane liegen. Von innen betrachtet, sind sie muskuläre Empfindungen und von außen Ausdrucksformen. Daraus leitet sich ihr unmittelbar erlebbarer Informationsgehalt ab. Demgegenüber sind die elektromagnetischen Schwingungsfelder, die im Zusammenhang mit den Emotionen auftreten und als Muskelschwingungen mit hoch empfindlichen Geräten gemessen werden können oder als Aura ausgestrahlt werden, sowohl für die innere Erfahrung als auch für den äußeren Ausdruck unbedeutend. Vermutlich sind sie bloß eine Begleiterscheinung des durch emotionale Schwingungen ausgelösten Kontaktes (vgl. Kap. 10.2).

Die Eingangsfrage nach der Beschaffenheit von Kontakt kann jetzt also folgendermaßen beantwortet werden: Kontakt beruht darauf, dass sich der Atem auf äußere Reize einschwingt. Je mehr man mit seinen eigenen Emotionen verbunden ist und die Gefühle der anderen aus den nonverbalen Hinweisen ihrer Emotionen ablesen kann, desto besser

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gelingt der soziale Kontakt. In diesem Fall kann sich der Organismus in seinem Verhalten an den Emotionen orientieren. Das setzt allerdings einen entspannten Körper voraus. Kontakt wird deshalb nur als befriedigend empfunden, wenn der Atem gelöst ist. Jener ermöglicht dann ein Sich-auf-den-anderen-Einschwingen, das die Grundlage des Verstehens anderer Menschen ist. Kontakt ist somit beim Menschen primär ein organismisches Atemgeschehen. Auch wenn keine Berührung stattfindet, kommt es zu einem sinnlichen Kontakt, sobald der Atem angesprochen wird und in Resonanz tritt. So, wie Emotionen durch eine konkrete Situation ausgelöst werden, verschwinden sie normalerweise nach deren Ende wieder.

2.3 Das Konzept der Atemmembran

«Die Seele ist die vollkommenste Konstruktion der Natur zur Aufnahme, Erzeugung und Umwandlung von Informationen.» (Rossi 1991, S.234)

Versteht man Emotionen als Atemschwingungen, so muss die nächste Frage lauten:

Was ist der physiologische Träger der Schwingungen? Denn jede Schwingung braucht ein materielles Substrat, von dem aus sie sich entfalten kann. Bisher wurde unterstellt, dass es sich um einzelne am Atemgeschehen beteiligte Muskeln handelt. Das Paradebeispiel sind die Stimmbänder des Kehlkopfes, die zur Lauterzeugung in Schwingung versetzt werden. Dieses Verständnis scheint aber zu mechanistisch zu sein. Am emotionalen Ausdruck zeigt sich, dass immer ein komplexes Bündel von Muskeln beteiligt ist. Deshalb liegt die Vermutung nahe, dass der ganze Organismus als ein Schwingungskörper anzusehen ist.

Um den körperlichen Ort der emotionalen Schwingungen genauer zu bestimmen, möchte ich im Folgenden der Frage nachgehen, wie Lebewesen älterer biologischer Entwicklungsstufen den Austausch mit der Umwelt organisieren. Es gehört zum Grundprinzip des Lebens, dass jedes Lebewesen in Austausch mit der jeweiligen Umwelt treten muss, um zu überleben. Vielleicht kann man etwas Neues über die Natur der Emotionen lernen, wenn man sich ihre Vorformen vergegenwärtigt.

Das Grundprinzip des Lebens ist zweifellos die biologische Membran. Membranen sind halbdurchlässige Grenzflächen, die einen Organismus von der Umwelt trennen und ihn zugleich durch den Stoffaustausch mit ihr verbinden. Sie haben die Aufgabe, den Austausch der Flüssigkeiten zwischen einer Zelle und deren äußeren Milieu zu regulieren, sodass die für die Aufrechterhaltung des Lebens erforderlichen Stoffe (Nahrungsstoffe, Sauerstoff, Stoffe zum Aufbau der Hormone

u.a.) in die Zelle gelangen. Membrane verfügen über Mechanismen, mit deren Hilfe sich der Organismus je nach der inneren oder äußeren Situation öffnen oder verschließen kann. Die Membran öffnet sich bei einem stofflichen Defizit in der Zelle und verschließt sich, wenn es behoben ist. Kommt sie mit fremden, bedrohlichen Reizen in Berührung, zieht sie sich zusammen. Jede Zellmembran weist ein elektrisches Potenzial auf, das im Ruhezustand niedrig ist und bei einem Stoffaustausch erhöhte Werte annimmt. Jeder Austauschvorgang mit der Umwelt drückt sich so in elektrischen Potenzialunterschieden aus. Jedes biologische Lebewesen besteht aus einer Vielzahl von Zellen und damit aus unzähligen Grenzflächen zwischen Zellmembranen und Elektrolytflüssigkeiten verschiedener Dichte und Zusammensetzung.

Prototyp des Umweltbezugs von Membranen ist die Amöbe, die ihre Pseudopodien in

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die Außenwelt ausstreckt. Wenn sie etwas für sie Geeignetes findet, umfließt sie es mit ihrem Plasma und verleibt es sich ein. Stößt sie auf Schwierigkeiten, zieht sie sich zurück7. Bereits bei der Amöbe ist das Wesen des Lebens erkennbar, auf die Welt zuzugehen und sich bei Gefahr zurückzuziehen (vgl. Hanna 1994, S.73).

Zellmembranen sind offensichtlich die eigentlichen Kontaktgrenzen zur Umwelt. Da auf Grund des Stoffwechsels im Inneren der Zelle immer wieder ein Mangel an Materie, Energie und Information entsteht, muss sich die Zelle periodisch für die Aufnahme von Neuem aus der Umwelt öffnen. Der Kontakt «umfasst die Wahrnehmung des Neuen in der Umwelt, die Unterscheidung zwischen Assimilierbarem und NichtAssimilierbarem, die Bewegung zum assimilierbaren Neuen hin sowie die Einverleibung des Neuen und seine Assimilation» (Dreitzel 1992, S.36). Ohne Zweifel ist die biologische Membran die Grundlage jeder Kommunikation mit der Umwelt. Die Wirkung der Membranen besteht also darin, dass ein inneres Milieu von einem äußeren abgegrenzt wird und nur die Stoffe - und nur in der Menge - aufgenommen und abgegeben werden, die für die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts des inneren Milieus erforderlich sind. Natürlich können die Zellen ihre Funktionen nur aufrechterhalten, wenn die Zellmembranen gesund sind. Der Stoffaustausch durch die Membranen wird bei allen Lebewesen nach artspezifischen Regeln organisiert und funktioniert ohne bewusstes Zutun. Die Gesamtheit dieser Regeln macht die Selbstorganisation des Organismus aus. Der Begriff der Selbstorganisation soll hervorheben, dass Einwirkungen von außen nicht von sich aus zu bestimmten Veränderungen führen, sondern dass der Organismus darüber entscheidet, in welcher Art und Weise er diese Einwirkung in sein Inneres aufnimmt (vgl. Kap. 4.5). Wenn die Zellmembran der Ort der biologischen Kommunikation ist, kann angenommen werden, dass sich aus diesem Grundprinzip heraus alle höheren Formen der Kommunikation entwickeln.

Das Prinzip des Austauschs an Zellmembranen ist in der biologischen Entwicklungsgeschichte gleich geblieben. Auch beim Menschen funktionieren Sinneswahrnehmung, Ernährung, Fortpflanzung u.a. nach diesem Prinzip. Die Atmung ist gleichfalls ein stofflicher Prozess, der mit Hilfe von Zellmembranen funktioniert. Aus physiologischer Sicht handelt es sich um ein mehrstufiges Geschehen an vielen Membranen. Zunächst wandert der Sauerstoff über die Zellwände der Lungenbläschen in das Blutplasma, dann durchdringt er die Membran der roten Blutkörperchen, um von dort aus wieder in das Blutplasma und durch die Membran der Blutgefäße hindurch endlich zur Membran der zu versorgenden Zelle zu gelangen. Die Atmung setzt sich so aus dem Passieren des Sauerstoffs durch viele Membranen hindurch zusammen.

Die Funktionsweise der Atmung wird aber erst verständlich, wenn man darüber hinaus auch berücksichtigt, dass die Atmung auf eine Vielzahl von Körpermuskeln angewiesen ist, die direkt und indirekt den Atmungsvorgang bewirken, regulierend in ihn eingreifen und von ihm stimuliert werden. Der Hauptatemmuskel ist das Zwerchfell, das den Brustbereich vom Bauchbereich trennt. Es ist ein kräftiger Muskel, der im Brustkorb am Sternum, am Rippenbogen und an der Wirbelsäule aufgehängt ist, mit vorderen, seitlichen und hinteren Teilbereichen, und als Ganzes beweglich ist. Die bei Muskeln übliche Unterscheidung zwischen Ansatz und Ursprung ist beim Zwerchfell nicht sinnvoll, da die Teilmuskeln auf eine zentrale Sehnenplatte in der Mitte des Zwerchfells zulaufen.

7 Mikroskopische Aufnahmen der Zellmembran zeigen, dass es für jeden Stoff der Umwelt spezielle Rezeptoren gibt.

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Das Zwerchfell ist auch insofern ein atypischer Muskel, da es der willentlichen Beeinflussung durch das autonome Nervensystem entzogen ist. Im Gegensatz zu den anderen Atemmuskeln hat es keine sensiblen Nervenverbindungen, sodass der jeweilige Zustand des Zwerchfells nicht im Bewusstsein dargestellt wird (vgl. Kap. 10.2). Das Zwerchfell wird primär von einem entwicklungsgeschichtlich sehr altem Gehirnteil, dem verlängerten Rückenmark (Medulla oblongata), reguliert. Zu den Atemmuskeln gehören nach den Vorstellungen der Anatomie weiterhin die Zwischenrippenmuskeln, die Treppenmuskeln im Halsbereich (musculi scaleni) und die kleinen Brustmuskeln. Außerdem werden der große Brustmuskel, die Bauchmuskeln und einige Rückenmuskeln als Atemhilfsmuskeln betrachtet.

Bei der Beurteilung, welche Muskeln zum Atemsystem gehören, ist zu berücksichtigen, dass alle Muskeln mit ihren Bindegewebshüllen zu einem komplexen Netzwerk miteinander verbunden sind. So, wie es bei normalen Bewegungen keine isolierte Muskelaktionen gibt, sondern immer die Muskeln in ihrer Gesamtheit Zusammenwirken, so gilt auch bei der Atmung, dass weit mehr als die oben genannten Muskeln am Atemprozess beteiligt sind. Das zeigt sich daran, dass die geringste Verspannung eines Muskels an der Peripherie des Körpers Auswirkungen auf die Atmung insgesamt hat. Es gibt streng genommen keinen Muskel, der nicht auf spezifische Weise über das Bindegewebsgefü-ge die aktuelle Form der Atmung ausdrückt oder auf die Atmung Einfluss nimmt. Vermutlich ist also jeder Muskel direkt oder indirekt am Atemprozess beteiligt. (Atemtherapeuten wissen, dass z.B. ein verspanntes Sprunggelenk die Einatmung hemmt.) Deshalb ist die anatomische Gruppierung der Muskeln in Atem- und Atemhilfsmuskeln relativ willkürlich. In diesem Sinne behauptet Deane Juhan, dass es der Wirklichkeit der Muskeltätigkeit eher entspräche, von einem einzigen großen Muskel auszugehen8. Im Grunde sind alle Muskeln auch Atemmuskeln; alle Bewegungs- und Haltemuskeln werden immer auch für die Förderung oder Hemmung der Atmung eingesetzt. Für die Annahme einer einheitlichen Atemmuskulatur spricht auch die Erfahrung, dass mit geringsten Bewegungen oder Berührungen an einer Stelle der Körperperipherie der Atem insgesamt stimuliert werden kann.

So sind ohne Zweifel sogar die Ziliarmuskeln im Inneren des Augapfels, die scheinbar ein völlig isoliertes Dasein führen, in das gesamte Netzwerk des Muskelsystems eingebunden. Dies läßt sich daraus schließen, dass sich einerseits beim Einatmen die Muskeln um die Augen herum dehnen und andererseits Augenstörungen stets mit Verspannungen in der Nacken- und Gesichtsmuskulatur Zusammengehen. Auch das Ohr ist in seiner Leistungsfähigkeit von dem Atemrhythmus der Gesichtsmuskulatur abhängig. Es ist nachgewiesen worden, dass Hörstörungen wie Tinnitus mit Verspannungen in den Kiefergelenken Zusammenhängen (vgl. Kap. 6.1).

Die eigentliche Bedeutung der am Atemprozess beteiligten Muskeln liegt darin, dass sie gleichzeitig Ausdrucksorgane des Körpers (Muskeln) darstellen. Mit den Muskeln werden sichtbare und hörbare Schwingungen produziert. Die sichtbaren Schwingungen sind Emotionen, die hörbaren Klänge und Begriffe (vgl. Kap. 3.1). Die am Atemprozess beteiligten Muskeln stellen damit zugleich ein Ausdrucksorgan für Botschaften an andere Menschen dar. Der Atem, der schon immer als Vermittler verstanden worden ist, stellt offensichtlich das Zentrum der Kommunikation dar. In der stammesgeschichtlichen Entwicklung der Menschen hat die Atmung so, zusätzlich zur Sauerstoffversorgung, die

8 Juhan 1992, S.259

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Funktion übernommen, mit den Emotionen und durch Sprache die soziale Kommunikation zu verbessern und hat den Körper zu einem komplizierten Resonanzkörper gemacht.

Insofern die an der Atmung beteiligten Muskeln auf die unterschiedlichen Erfordernisse der jeweiligen Aktivitäten oder Erfahrungen reagieren und dem Körper den nötigen Sauerstoff zuführen, übernehmen sie in ihrer Gesamtheit die Funktion einer Membran. Da mit dieser Membran darüber hinaus auch ein Austausch komplexer emotionaler und sprachlicher Botschaften organisiert werden kann und damit der Atem die eigentliche Kontaktzone zwischen innen und außen ist, liegt es nahe, sie als Atemmembran zu bezeichnen.

Die Atemmembran kann man sich als eine dreidimensionale muskuläre Hülle vorstellen, die den ganzen Körper umfasst, also nicht nur die Atemräume des Rumpfes und des Kopfes, sondern auch die Extremitäten. Sie ist ein äußerst vielfältiges muskuläres Bewegungsorgan, da sie auch das konkrete Muskelnetzwerk des Körpers umfasst, das gleichzeitig Bewegungs-, Haltungs-, Ausdrucks- und Atmungsorgan ist. Die verschiedenen Funktionen der Muskeln sind wechselseitig miteinander verflochten. Jede Emotion greift so über den Tonus der am Atemprozess beteiligten Muskeln zwangsläufig in das Kreislauf-, Hormon-, Immun- und Verdauungssystem u.a. ein. Damit wird es unsinnig, zwischen den verschiedenen Teilsystemen des Körperlichen und des Emotionalen strikt zu unterscheiden. An jeder Handlung sind immer alle Aspekte beteiligt.

In der häufig verwendeten Metapher vom Körper als Klanginstrument wurde schon immer die Existenz einer einheitlichen schwingenden Membran angenommen. Sie drückt die reale Erfahrung aus, dass der Organismus sich wie ein mechanischer Klangkörper auf äußere Schwingungen einschwingen kann. Wie das Hören von Begriffen ist auch die emotionale Einfühlung ein Sich-auf-den-anderen-Einschwingen. Deswegen verwendet die Sprache Begriffe aus dem Bereich der Musik, um eine gelungene Beziehung zu kennzeichnen: Einklang, Harmonie, gleiche Wellenlänge usw. Der Atem macht so den Körper zu einem Resonanzkörper. Ein schlecht gestimmter, seelisch wenig ausdrucksfähiger Körper kann weder ein befriedigendes Gespräch noch eine befriedigende sexuelle Beziehung mit einem anderen Menschen herstellen. Er verfehlt den kommunikativen Austausch und wird keine körperliche Befriedigung finden, solange er sich der Resonanz versperrt.

Aus der Perspektive der sozialen Umwelt stellt sich die Atemmembran als ein extrem variationsreiches Ausdrucksorgan dar, das sich gestisch, stimmlich, emotional mitteilen und damit eine Kommunikation aufnehmen kann. Auf Grund freier Beweglichkeit kann die Atemmembran nicht nur die Emotionen organisieren, sondern versetzt Menschen gleichzeitig in die Lage, sich auf Emotionen anderer Menschen einzuschwingen, d.h. in Resonanz mit ihnen zu treten. Es gibt keinen Ausdruck, an dem nicht die Muskeln der Atemmembran beteiligt sind. Umgekehrt gibt es auch keine Bewegung, an der nicht der innere Zustand abgelesen werden kann. Da sich jeder <Eindruck> an der Atemmembran abspielt, wirkt er sich sowohl nach außen als Ausdruck als auch nach innen als Selbsterfahrung und innere Kommunikation aus. Deshalb macht die Redeweise Sinn, dass am Atem abgelesen werden könne, wie man unbewusst auf ein Ereignis reagiert und in welchem Zustand man sich gerade befindet. Zu Recht wird der Atem häufig mit einem Seismographen verglichen, da er äußerst sensibel auf alle Veränderungen in der Umwelt und auf alle Erregungen im eigenen Körper reagiert. Die Besonderheit der menschlichen

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Emotionalität kann somit als eine Folge der Resonanzfähigkeit der menschlichen Atemmembran verstanden werden.

Die Theorie der Atemmembran stützt sich auf das Wellenverständnis des menschlichen Nervensystems, das K.H. Pribram aus dem holographischen Prinzip entwickelt hat. Es besagt, dass sich jeder Impuls mit allen anderen gegenwärtigen aktuellen Impulsen zu einer einheitlichen Schwingungsstruktur vermischt, so wie sich in einem Teich alle Einwirkungen auf die Wasseroberfläche durch Enten, Fische, Wind, zu-und abfließende Bäche u.a. zu einer Wellenstruktur überlagern. Die Verarbeitung und Speicherung dieses Gesamtkomplexes ist nicht an eine besondere Hirnstruktur gebunden, sondern entsprechend der holographischen Verteilung im gesamten Nervensystem präsent. Auf die Theorie der Atemmembran angewandt, bedeutet dies, dass sich emotionale und begriffliche Schwingungen ständig wechselseitig überlagern. Deswegen kann auch aus jedem einzelnen Ausdruck ein Verständnis des ganzen Menschen gewonnen werden kann.

Die Atemmembran erweist sich als die eigentliche Grenzfläche, an welcher der Organismus in Kontakt mit der sozialen Umwelt tritt; hier berühren sich Äußeres und Inneres. Die Atemmembran ist der konkrete Ort des Kontaktes mit der Umwelt. Hier zeigt der Einzelne seinen inneren Zustand; hier wirkt die Umwelt auf den Einzelnen ein. Als Ergebnis der spontanen Auseinandersetzung der <inneren Natur> mit den sozialen Anforderungen werden hier die sozialen Anforderungen in die organismische Wirklichkeit eingeschrieben. Daraus entsteht der individuelle Charakter. Die Atemmembran kann deshalb auch als die soziale Hülle des Menschen verstanden werden. Die zwischenmenschliche Kontaktgrenze ist damit nicht identisch mit der Haut, die normalerweise als die Grenze zwischen innen und außen erlebt wird, sondern vielmehr in der Muskel-und Bindegewebsschicht der Atemmembran zu suchen.

Da Emotionen körperliche Schwingungsvorgänge sind, die sich mit den emotionalen Schwingungen anderer Menschen verbinden, können sie als ganz reale Verbindungsfäden zur sozialen Außenwelt verstanden werden. Man könnte in ihnen einen materiellen Ersatz der Nabelschnur sehen, die den Fötus mit dem Mutterleib verbunden hat. Kontakt hat stets den Charakter einer quasi körperlichen Berührung, da eine Emotion das Innere nur erreichen kann, wenn es die Atemmembran direkt berührt und damit in Schwingung versetzt. Jedes Mal wird die ganze Atemmembran angesprochen und damit der ganze Mensch in Schwingung versetzt. Über emotionalen Schwingungen sind die Menschen so auf eine unsichtbare, aber dennoch materielle Weise miteinander verbunden. Deshalb fühlt man sich mit den anderen Menschen umso mehr <verbunden>, je mehr Emotionen gelebt werden können. Lässt man das Mitschwingen der Atemmembran nicht zu, fühlt man sich isoliert, leer und entfremdet. Die Begriffe Verbindungsfaden und Atemmembran sind deshalb mehr als bloße Metaphern, und auch wenn die Rede vom Gemeinschaftskörper ist, deutet dies auf die Erfahrung hin, dass der Einzelne mit seinen Emotionen tief mit anderen Menschen verbunden ist und daraus so etwas wie ein Gemeinschaftskörper entsteht9.

2.4 Wo ist der Sitz der Seele?

«Eine normale Körperstruktur macht es der Seele leichter.» (Rolf 1989, S.

Auf die Frage nach dem Sitz des Fühlens im Körper wurden in der Vergangenheit ver

9 Die Metapher des Gemeinschaftskörpers ist erst zu einer restriktiven politischen Metapher geworden, nachdem sie durch die zunehmende Affektkontrolle an Erfahrungsgehalt verloren hatte.

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schiedene Antworten gegeben: im Herzen, im Zwerchfell, in der Wirbelsäule, im Solarplexus oder im Gehirn10. Die Vielfalt der Antworten ist darauf zurückzuführen, dass theoretisch nicht erklärt werden konnte, warum das entsprechende Organ in der Lage sein sollte, diese Funktion zu übernehmen. Im Folgenden werden beispielhaft die Gründe dargestellt, die für die Wirbelsäule sprechen, und es wird sich zeigen, dass es sich dabei um eine irrtümliche Interpretation von inneren Erfahrungen handelt. Betrachtet man aber die Atemmembran als den Ursprung psychischer Fähigkeiten, wird deutlich, dass die Wirbelsäule genauso wie die anderen Vorschläge nur ein Teilaspekt in komplexen Erfahrungen ist, die sich alle auf der Atemmembran abspielen.

Das hervorstechendste Kennzeichen des Menschen ist sein aufrechter Gang. Es ist bekannt, dass die Menschen auf Grund des aufrechten Ganges die Freiheit erhalten haben, ihre Hände als Arbeitsinstrumente einzusetzen. Weniger bekannt ist, dass damit die Atmung von anatomischen Beschränkungen befreit wurde, was die Energieproduktion erleichtert hat. Außerdem ist durch die Aufrichtung die Wirbelsäule ins Zentrum der menschlichen Beweglichkeit getreten, da sie nicht nur Trägerin der grobmotorischen Bewegungen, sondern vor allem auch der feinmotorischen Bewegungen der Emotionen ist. Denn mit der so gewonnenen Beweglichkeit der Atemorgane können vielfältige Emotionen entwickelt werden. Jene sind damit von der Flexibilität des Rückgrates abhängig. Die Flexibilität der im Atemrhythmus schwingenden Wirbelsäule ist nur gewährleistet, wenn sich der Atem frei entfalten kann. Reduzierter Atem führt stets zur Versteifung der Wirbelsäule und damit zu einer Einschränkung der Handlungsfähigkeit. Da das Schicksal der Wirbelsäule vom Atem bestimmt wird, ist auch die menschliche Beweglichkeit insgesamt vom Atem abhängig.

Bei allen Säugetieren ist das Rückgrat der Träger der körperlichen Beweglichkeit. Die Bewegungsorgane der Arme und Beine und der Kopf sind unmittelbar mit der Wirbelsäule verbunden. Hier setzen alle Muskeln an, mit denen das umweltorientierte Handeln organisiert wird. Von hier gehen sowohl die Impulse für das Greifen oder Schlagen mit den Händen als auch das Gehen oder Stoßen mit den Beinen aus. Die Wirbelsäule ist somit der Träger der individuellen Handlungskompetenz. Auch die inneren Organe sind an der Wirbelsäule aufgehängt, so-dass deren Leistungsfähigkeit nach Überzeugung der Osteopathen ebenso von der Beweglichkeit der Wirbelsäule abhängig ist. Mit der Aufrichtung erlangt die Wirbelsäule auch als Stütz- und Halteapparat der inneren Organe und der peripheren Glieder große Bedeutung.

Dass in der Wirbelsäule die Grundstruktur des Handelns liegt, zeigt sich auch daran, dass sie ein integraler Bestandteil des Gehirns ist. Alle Nerven, mit denen Muskeln und Organe gesteuert werden, verlaufen durch die Wirbelsäule und treten an unterschiedlichen Stellen der Wirbelsäule zwischen den Wirbelkörpern aus. Verspannungen in der Wirbelsäule können dazu führen, dass Nerven an der Austrittsstelle eingeklemmt werden, sodass die Kommunikation mit den peripheren Muskeln gestört wird. Viele Reflexbewegungen werden unmittelbar von den Schaltzentren in der Wirbelsäule gesteuert, ohne dass das Großhirn einbezogen wird.

Der aufrechte Gang hebt den Menschen gegenüber anderen Lebewesen heraus und hat ihm viele Vorteile verschafft. Der größte Vorzug besteht darin, dass die Hände von der Fortbewegung befreit wurden und damit als Arbeitsinstrument eingesetzt werden können. Es ist erwiesen, dass der Einsatz der Hände für differenzierte Aktivitäten wesent-

10 Im Kap. 3.4. wird erklärt, warum der Sitz der psychischen Fähigkeiten als Seele bezeichnet wurde.

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lieh zum Wachstum des menschlichen Gehirns beigetragen hat. Ein weiterer Vorzug besteht darin, dass sich dadurch der Energieverbrauch für die Körperhaltung reduziert hat. «Die aufrechte Körperhaltung erfordert nur 18 Prozent Energie, während ein Tier 40 Prozent seiner Energie verbraucht, um sich auf vier Beinen zu halten» (Köppen-Weber/Fassbender 1990, S.79). Da der Kopf mit seinem Gewicht von 4 -

Die Aufrichtung der Wirbelsäule ist auch für das menschliche Atemsystem äußerst produktiv. Der Brustkorb wird jetzt nicht mehr wie bei den Kleinaffen und anderen Säugetieren durch die vorderen Gliedmaßen in seiner Ausdehnung behindert, sondern kann sich unabhängig von der Bewegung der Hände entfalten. Dadurch ist die Anpassungsfähigkeit von Atmung und Energieproduktion an extreme körperliche Belastungen vergrößert worden. Insgesamt ist die körperliche Lei-stungs- und Ausdauerfähigkeit stark gesteigert worden. Hervorzuheben ist, dass die Menschen auch bei anstrengenden körperlichen Bewegungen sprechen können, was bei einer eingeengten Anbringung des Brustkorbes wie bei den Kleinaffen nie möglich gewesen wäre.

In der aufrechten Haltung kann die ganze Wirbelsäule im Rhythmus der Atmung mitschwingen. Bei jeder Einatmung flachen sich die Krümmungen der s-förmig gestalteten Wirbelsäule ab, sodass sie sich insgesamt aufrichtet. Beim Ausatmen geht die Wirbelsäule in ihre Ausgangsstellung zurück. Dabei pendeln sowohl die Hüfte als auch der Kopf vor und zurück. Dies hängt damit zusammen, dass sich der Körper bei der Einatmung ausdehnt und bei der Ausatmung wieder zusammenzieht. Die Wirbelsäule macht somit im Prozess der Atmung eine wellenförmige Bewegung. Es wird deshalb auch von der Atemwelle gesprochen, die durch den ganzen Körper schwingt und im Idealfall auch den Kopf und alle Gliedmaßen mit einbezieht. Die Atmung ist somit nicht nur überall im Rumpf, sondern auch in den Extremitäten gegenwärtig. Indem die Atmung die Wirbelsäule in ständiger Schwingung hält, bewirkt sie deren vollständige Mobilisierung.

Die Beweglichkeit der einzelnen Wirbelglieder wird vom Atemrhythmus zusätzlich dadurch unterstützt, dass die Muskeln zwischen den einzelnen Wirbelgliedern abwechselnd beim Einatmen angespannt und beim Ausatmen entspannt werden. Diese flexibilisierende Belebung fehlt bei schlechter Atmung11.

Durch den aufrechten Gang wird die Aufrechterhaltung des körperlichen Gleichgewichts zum menschlichen Grundthema. Es verlangt eine optimale Ordnung innerhalb des Skelett-, Muskel- und Organsystems. Flexible Sprunggelenke, Kniegelenke und Hüftgelenke bilden die Grundbedingung für gute Beweglichkeit. Jede geringste Bewegung muss durch geeignete Gegenbewegungen ausgeglichen werden, um das Gleichgewicht zu wahren. Praktisch jeder Atemzug bringt den Körper aus dem Gleichgewicht und muss korrigiert werden. Unter diesem Gesichtswinkel sind auch jede Emotion und sogar jeder Vokal oder Konsonant winzige Gleichgewichtsstörungen, die ausgependelt werden müssen.

Situationsgemäßes emotionales Verhalten ist deshalb auf eine flexible Wirbelsäule angewiesen. Die geringste dauerhafte Abweichung vom Lot verlangt einen erhöhten Energieaufwand, um die aufrechte Haltung zu gewährleisten. Deshalb kann die Atmung nur reibungslos funktionieren, wenn der Körper so spannungsfrei ist, dass die Regulationsmechanismen ihn sofort wieder ins Gleichgewicht zurückbringen. Der biodynamische Begriff der Erdung weist auf die zentrale Bedeutung des Gleichgewichts hin. Der Boden wird nur zum tragenden Grund, wenn sich ein Teil der Aufmerksamkeit spontan der Ba- 11

11 Vgl. Lewit 1987, S.277

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sis zuwendet. Ohne bewusste Anwesenheit in den Füßen gibt der Boden keine kraftvolle Unterstützung.

Auf Grund ihrer extremen Bedeutung für die aufrechte Haltung ist die menschliche Wirbelsäule besonders anfällig für Fehlhaltungen und emotional bedingte Verspannungen. Da jede Bewegung und jeder Gefühlsausdruck eine flexible Ausbalancierung des Gleichgewichts verlangen, erschweren chronische Verspannungen im Rücken das Halten des Gleichgewichts. Verletzungsbedingte Fehlhaltungen des Kopfes und des Beckens schränken die Leistungsfähigkeit der Wirbelsäule ein. Aber auch Bewegungsarmut kann zu einer Versteifung der Wirbelsäule führen, welche die Atmung einschränkt. Eine Reduzierung der Atmung schwächt rückwirkend die rhythmische Vitalisierung der Wirbelsäule durch den Atem.

Wenn alle Emotionen, mit denen Menschen handelnd auf die Welt zugehen, wie z.B. Liebe und Wut, ihren Ursprung im Rücken haben, bedeutet dies, dass sich deren Zurückhaltung direkt auf die Rückenmuskeln auswirkt. Aus der psychosomatischen Medizin ist bekannt, dass sich der Rücken bei anhaltender Sorge und längerem Arger oder Groll chronisch verspannt. Durch die Verspannung werden die inneren Impulse blockiert und daran gehindert, sich in Handeln umzusetzen. Dies bewirkt Rückzug aus dem Kontakt. Bei jedem Rückzug liegt daher auch eine gewisse Versteifung des Rückens vor.

Die Umgangssprache zeigt deutlich, dass der Zustand des Rückens für einen guten Kontakt von ganz zentraler Bedeutung ist. Wer <hartnäckig> seine Ziele verfolgt, isoliert sich von anderen. Wer hingegen <aufrichtig> ist, findet Sympathie. Der <hängende> Kopf verrät Resignation und Rückzug aus dem Kontakt. Mutlosen Menschen wird nachgesagt, dass sie <kein Rückgrat> haben. Dagegen halten Menschen mit <breiten Rückern viel aus. Wenn jemandem der Wille gebrochen wird, spricht man auch davon, dass sein <Rückgrat gebrochen> wird. Wer leidet, unglücklich und bedrückt ist, hat in seiner Wirbelsäule einen Knick. Dieser Knick ist die Ursache für die geknickte Körperhaltung, die zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt im Leben eingenommen wurde12. Emotionale Zurückhaltung manifestiert deshalb sich immer auch in Verspannungen der Wirbelsäule. Die innere Haltung, sei sie <geknickt>, <gedrückt> oder <aufrecht>, wird an der äußeren Haltung sichtbar. So kann die emotionale Geschichte aus der Struktur der Wirbelsäule abgelesen werden. Die Metapher vom psychischen Gleichgewicht weist korrekt daraufhin, dass es beim psychischen Gleichgewicht immer auch um ein reales räumliches Gleichgewicht geht.

Verspannungen in der Wirbelsäule konzentrieren sich nach meiner Überzeugung auf die Wendepunkte in ihrem s-förmigen Verlauf, die ihre neuralgischen Punkte sind. Es sind dies die Bereiche, denen in der Chakrentheorie die Energiezentren (Chakren) zugeordnet werden. Solche Verspannungen sind stets mit Einschränkungen der Atmung verbunden, weil sie die Öffnung der körperlichen Atemräume behindern. Daraus leite ich die Hypothese ab, dass psychische Störungen mit spezifischen Verspannungen kritischer Wirbelsäulenabschnitte Zusammenhängen, denen wiederum spezifische Muster von Atemeinschränkungen entsprechen. Das würde erklären, warum in der Chakrentheorie verschiedenen Wirbelsäulenabschnitten spezifische Persönlichkeitsprobleme zugeordnet werden.

12 Köppen-Weber/Fassbender 1990, S.17

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Seitdem der Mensch eine aufrechte Haltung angenommen hat, hat auch der wichtigste Muskel der Atemmembran, das Zwerchfell, sehr an Bedeutung gewonnen. Das Zwerchfell kann nur optimal arbeiten, wenn der ganze Körper im Lot ist. Der Atem ist dann ruhig und mühelos. Dies wirkt sich als gelungener Kontakt aus. Da psychische Konflikte Verspannungen in der Wirbelsäule mit sich bringen, führt dies zwangsläufig auch zu Verspannungen im Zwerchfell. Das angespannte Zwerchfell muss die starre Wirbelsäule stützen. Das Zwerchfell steht dann nicht mehr allein für die Atmung zur Verfügung, sondern muss zusätzlich die Funktion übernehmen, für die gefährdete Aufrichtung des Körpers zu sorgen. Damit wird das freie Bewegungsspiel des Zwerchfells, aus dem flexible Atmung besteht, behindert. Auch deshalb wirkt die Wirbelsäule tief in das Atemgeschehen hinein.

Sicherlich war die aufrechte Haltung des Menschen die Basisvoraussetzung für die Entstehung der Sprache. Dadurch wurden die anatomischen Veränderungen im Rachenraum - insbesondere die Absenkung des Kehlkopfes - möglich, die für die freie Artikulation von Lauten erforderlich sind. Zusammen mit der oben erwähnten Erleichterung der Atmung durch die Befreiung des Brustkorbes wurden so die anatomischen Voraussetzungen dafür geschaffen, dass sich mit der neu gewonnenen feinmotorischen Beweglichkeit der Atemorgane das Denken entwickeln konnte (vgl. Kap. 3).

Auch die reichhaltigen menschlichen Emotionen resultieren aus der Aufrichtung des Menschen und der damit verbundenen anatomischen Neugestaltung der Atmung. Das nach vorn gerichtete Gesicht, die freien Hände und der freie Brustkorb ermöglichen jetzt vielfältige emotionale Bewegungsmuster, denen bestimmte Bedeutungen im menschlichen Austausch beigelegt werden können.

Wenn jede emotionale Bewegung von der Wirbelsäule ausgeht, ist es nicht überraschend, wenn einige Autoren in der Wirbelsäule den Sitz der Seele sahen (z.B. Virginia Wolfe oder O.Z.A. Hanish). «Die Seele kann sich nur dann ausdrücken, wenn die Wirbelsäule vollkommen gerade ist und sich in richtiger Stellung befindet.» «Der Mensch ist in vollkommen aufrechter Stellung der direkte Ausdruck des Gedankens Gottes, und indem er den Atem des Lebens durch die Nasenlöcher atmet, wird er eine lebendige bewusste Seele» (Hanish o.J., S.49). Der am Zoroastrismus orientierte Atemlehrer Hanish erklärt damit, dass sich die Seele nur ausdrücken kann, wenn es der Zustand der Wirbelsäule zulässt. Er hatte erkannt, dass emotionales Wohlbefindens eine aufrechte und flexible Wirbelsäule voraussetzt und dass deren Zustand die innere Verfassung eines Menschen spiegelt.

Wenn aber Emotionen als Atemschwingungen verstanden werden können, ist daraus die Folgerung zu ziehen, dass psychische Fähigkeiten ihren Sitz primär in der Atemmembran haben. Als eine spontane Antwort auf persönliche Situationen passt sich die Atemmembran genauso selbsttätig wie das Herz an die beabsichtigten Handlungen an, verarbeitet dabei alle emotionalen und geistigen Erfahrungen und stellt spontan emotionale Reaktionsmuster zur Verfügung. Da Emotionen von Anfang an im Kontakt mit der Umwelt erlernt und mit mentalen Vorstellungen verbunden werden, enthält die Atemmembran immer auch Mentales (vgl. Kap. 2.5. und 3.1). Es wäre deshalb einseitig, sie lediglich als eine Angelegenheit des Nervensystems und des limbischen Systems im Gehirn zu verstehen. Auch die Formulierungen beseelter Körper> oder <verkörperte Seele> erübrigen sich, denn dabei wird unterstellt, dass Körper und Seele als getrennte Wesenheiten gedacht werden können. Es gibt aber nur den einheitlichen körperlichen Organis-

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mus, für den nichts wichtiger ist, als mit seinen Emotionen guten Kontakt mit anderen Menschen herzustellen.

So gesehen sind alle traditionellen Vorschläge in Bezug auf den Sitz der Seele im Körper Interpretationen, die Teilmomente aus der komplexen Dynamik der Atemmembran herausgreifen und verabsolutieren. Man hat den Sitz der Seele in der Wirbelsäule vermutet, weil deren Flexibilität Voraussetzung für die Artikulation von Emotionen ist. Häufiger wird das Herz als das seelische Zentralorgan angesehen. Diese Interpretation ist deshalb nahe liegend, weil das Herz direkt mit dem Zwerchfell verwachsen ist und deshalb alle Bewegungen des Zwerchfells mitmachen muss. Beide Körperzonen schienen lange Zeit der Sitz der Seele zu sein, da sie sich im Rhythmus der Atemmembran mitbewegen. Beide Vermutungen erweisen sich aber bei näherem Hinsehen als Teilwahrheiten mit lediglich metaphorischem Erklärungswert.

2.5 Die Rationalität der Gefühle

«Das Herz hat Gründe, von denen die Vernunft nichts weiß.» (Blaise Pascal)

Emotionen haben einen merkwürdigen Doppelcharakter. Auf der einen Seite sind sie spontanes Geschehen, das die Menschen beherrscht und das nur teilweise durch das bewusste Ich kontrolliert werden kann. Auf der anderen Seite wird immer wieder hervorgehoben, dass Emotionen kein instinktives, passives Geschehen sind, sondern Tätigkeiten, die bewusst in Gang gesetzt werden. So hebt Humphrey hervor, dass Emotionen ein aktives, intentionales Tun sind13.

Diese Ambivalenz hängt damit zusammen, dass Emotionen nichts biologisch Festgelegtes sind, sondern im Kontakt mit der sozialen Umwelt erlernt werden müssen. Gefühle sind in ihrer Grundstruktur genetisch angelegt, sie müssen aber von sozialen Faktoren überformt werden. Jeder Mensch wächst in die emotionalen Schwingungsfelder seines sozialen Umfeldes hinein. Schon im fötalen Stadium wird er von den Schwingungen der Stimme, des Herzens und der Emotionen seiner Mutter geprägt. Aus der Säuglingsforschung ist bekannt, dass der Säugling von der Geburt an aktiv auf die Schwingungen der Umwelt reagiert. Zunächst orientiert er sich an den globalen Schwingungen der Bezugspersonen, später auch an deren Bewegungen, Emotionen und gesprochenen Worten.

Emotionen müssen als zielgerichtete, zweckmäßige Bewegungen gelernt werden, um mit ihnen aktiv auf die Umwelt oder auf den eigenen Körper einwirken zu können. Dazu gehört auch die Erfahrung, welche Formen des emotionalen Ausdrucks von der sozialen Gemeinschaft akzeptiert und welche abgelehnt werden. So, wie das Kind seinen Eltern seine Wunden zeigt, so zeigt es ihnen seine Ängste, Freude, Ärger und Liebe und erwartet, dass sie von den Eltern erkannt und als real bestätigt werden (vgl. Kap. 4.5).

Zur Aneignung der Emotionen gehört konstitutiv dazu, dass die verschiedenen Worte gelernt werden, mit denen die vielfältigen körperlichen emotionalen Ausdrucksgestalten unterschieden werden. Wer Emotionen sprachlich artikulieren kann, ist in der Lage, die eigenen Bedürfnisse deutlich und klar auszudrücken und damit seine Gefühle anderen mitzuteilen. Wenn auf diese Weise gelernt wird, mit Wut, Schuld, Liebe oder Trauer umzugehen, wird das Handeln sicher und deshalb frei von Angst. «Es ist erwiesene Tatsache, dass Menschen mit fehlender Sprachkultur stärker zu Aggressionen und asozialem Verhalten neigen als Menschen, die sich verbal artikulieren und mit anderen ver

13 Humphrey 1995, S.284

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ständigen können» (Meier-Seethaler 1998, S.297).

Das bedeutet, dass die Emotionen mit kulturell beeinflussten Vorstellungen davon verbunden werden müssen, in welchen Situationen welche Gefühle zulässig sind. Jeder Einzelne muss so lernen, wie er seine Bedürfnisse mit Hilfe von Emotionen im Rahmen der sozialen Ordnung befriedigen kann. Soziales Zusammenleben wäre nicht möglich, wenn es nicht die Möglichkeit geben würde, die physiologisch vorgegebenen emotionalen Reaktionsgrundmuster mit kulturellen Vorstellungen zu verbinden und sie damit zu flexibel gestaltbaren Ausdrucksformen zu machen. Die Realität dieser Emotionen muss von anderen erkannt und folglich im Gespräch als real bestätigt werden. «Ohne die Rückversicherung und Unterweisung der Eltern verlieren bestimmte Gefühle für das Kind ihre Daseinsberechtigung. Sie werden zu Unbekannten in der Welt, in der das Kind leben und aufwachsen muss» (Lynch 1987 , S.376).

Im Folgenden möchte ich einen kurzen Exkurs über die inneren Vorstellungen vornehmen, da sie beim Menschen eine herausragende Bedeutung haben. Nicht nur Emotionen, sondern alle Bewegungen müssen mit ihrer Hilfe erlernt werden. Dies liegt daran, dass beim Menschen die Bewegungen nicht mehr durch Instinkte reguliert werden. Für jede Bewegung müssen spezifische handlungsleitende Vorstellungen gebildet bzw. erlernt werden, die der Bewegung eine Orientierung geben. Damit wird sozusagen der Bewegungsablauf programmiert. So wird z.B. gelernt, wie stark bei der Bewegung des Lächeln die Lippen breitgezogen werden und unter welchen Bedingungen das Lächeln zulässig ist.

Vorstellungen entwickeln sich in der Regel aus der Beobachtung von Bewegungen und dem Hören akustischer Schwingungen. Sie sind aber keine direkten Abbilder der Realität, sondern sind als abstrahierte, modellhafte Wahrnehmungen aufzufassen, in denen die wesentlichen Merkmale der wahrgenommenen Realität miteinander verbunden werden. Damit sind sie subjektive Konstruktionen, in denen die für das individuelle Überleben bedeutsamen Informationen gebündelt werden. Man darf allerdings nicht den Fehler machen, Vorstellungen als etwas rein Mentales zu verstehen. Schließlich werden sie aus den für den Organismus bedeutsamen sinnlichen Wahrnehmungen aufgebaut. Sie sind somit nichts anderes als eine dauerhafte Verschaltung von mehreren Nervenzellen, in denen verschiedene Sinnesreize gespeichert werden.

Vorstellungen sind äußerst komplexe Gebilde, in die zusätzlich zu dem Programm für das Bewegungsmuster der ganze Körperzustand zum Zeitpunkt des Erlernens einer neuen Bewegung eingeht, wobei der Zustand der Atmung von besonderer Bedeutung ist. Da zu jeder Bewegung ein bestimmter emotionaler Ausdruck gehört, geht auch dieser in die Vorstellung mit ein. Schließlich verbinden sich mit der Bewegung auch das emotionale Klima und die besonderen Bedingungen, die mit ihr einhergingen. Auf einer höheren Entwicklungsstufe können die Vorstellungen zudem mit verbalen Gedanken assoziiert werden. Das erklärt, warum bei bestimmten Bewegungen Gefühle und Erinnerungen freigesetzt werden.

So wie jeder Sinnenreiz eine spezifische Schwingung ist, können auch Vorstellungskomplexe als Schwingungsmuster begriffen werden. Daraus ergibt sich ihre Fähigkeit, sich mit anderen Vorstellungen zu verknüpfen, von Emotionen geprägt zu werden, sich an motorische Impulse anzukoppeln und diese zu bestimmen.

Vorstellungen stellen das unentbehrliche Bindeglied zwischen der Wahrnehmung von

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Reizen und der Ausführung von Handlungen dar14, da sie die sensorischen Reize mit dem motorischen Vollzug verbinden, der auf Grund der fehlenden Instinkte von den Sinneswahrnehmungen entkoppelt wurde. Sie sind damit die Grundlage dafür, dass Menschen ihre Bewegungen frei gestalten können. Ohne sie ist Kultur undenkbar.

Wenn von Bewegungen gesprochen wird, muss deshalb stets auch an die Vorstellungen gedacht werden, die sie strukturieren. Es macht die Flexibilität des menschlichen Verhaltens aus, dass Vorstellungen beliebig - natürlich innerhalb der biologischen und sozialen Grenzen - geändert werden können. Darin liegt die menschliche Fähigkeit, absichtsvoll zu handeln. Allerdings ist dafür der Preis zu zahlen, dass Bewegungen auch durch angstbesetzte Vorstellungen dauerhaft eingeschränkt werden können - bis zum Punkt der Selbstzerstörung.

Die zentrale Bedeutung der Vorstellungen ist daran abzulesen, dass mit ihnen - zum Teile auch ohne bewusste Beteiligung des Verstandes und Willens - das Verhalten verändert werden kann. So können positive Vorstellungen zu unvorstellbaren Leistungen beflügeln und sogar tödliche Krankheiten wie Krebs im Endstadium besiegen, während negative Vorstellungen ein ganzes Leben zerstören können. Das Phänomen der Hypnose demonstriert besonders eindrucksvoll ihre Macht. An ihrem Beispiel wird deutlich, dass das Lernen der Vorstellungen immer in einem bestimmten emotionalen Kontext geschieht, der zwangsläufig in sie mit eingeht. Deshalb können traumatische Erinnerungen nur geweckt werden, wenn der zu ihr gehörende Erfahrungskontext wiederhergestellt wird.

Wie jede Bewegung erhalten auch Emotionen ihre Zielrichtung von Vorstellungen. Diese legen fest, welche Reaktionen auf bestimmte Situationen möglich sind. Aus der Wechselwirkung von angeborenen Verhaltensimpulsen und gesellschaftlichen Vorstellungen entsteht so in jedem Individuum eine für die jeweilige Kultur typische emotionale Konfiguration. So, wie Vorstellungen einen gekonnten Umgang mit der körperlichen Beweglichkeit ermöglichen, so können auch mit ihrer Hilfe und nach einem langen Lernprozess auch Emotionen zielsicher eingesetzt werden. Man vermag sie dann so auszudrücken, dass sie sowohl den inneren Bedürfnissen als auch den gesellschaftlichen Anforderungen entsprechen. Aus dieser Verbindung der Emotionen mit bestimmten Vorstellungen entsteht der persönliche Charakter.

George Downing spricht bei den umweltbezogenen Reaktionsmustern zu Recht von affektmotorischen Schemata, die die Entwicklung jedes Menschen prägen. Dieser Begriff besagt, dass die verhaltensprägenden Faktoren aus einer Mischung von Gefühlen, emotionalen Bewegungen und mentalen Vorstellungen bestehen15. Affektmotorische Schemata bilden sich im Kontakt zwischen Eltern und Kind und wirken auf den Kontakt zurück. Sie haben die Qualität von Überzeugungen; so wird durch sie z.B. festgelegt, wie ein Säugling auf Kontaktstörungen und mangelnde Zuwendung reagiert. Dabei handelt es sich zunächst überwiegend um motorische Reaktionen, mit denen sich erst im Verlauf der Entwicklung die entsprechende Vorstellungen verknüpfen. Downing vertritt die Auffassung, dass die affektmotorischen Schemata die Grundlage der psychischen Entwicklung und der Entfaltung des Selbst sind. Sie prägen die Glaubensmuster eines Menschen. Die Glaubensmuster sind deshalb kein System von Dogmen, sondern ein System von Reaktionsgewohnheiten, ein «Zustand des Leibes» (Bourdieu). Da der Begriff der

14 Vgl. Uexküll/Wesiack 1991

15 Downing 1996, S.130

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affektmotorischen Schemata in seiner Funktion identisch ist mit meinem Begriff der Emotion, verwende ich in dieser Untersuchung weiterhin der Begriff der Emotion.

James Averill hat nachgewiesen, dass die Annahme, Gefühle würden <aus dem Bauch> stammen und könnten nicht intellektuell bearbeitet werden, ein verhängnisvoller Mythos ist, der eine kreative Entwicklung der Gefühle behindert16. Emotionen können gestaltet werden, weil sie wie jede Bewegung mit Vorstellungen verbunden werden, die ihre Richtung festlegen. Deshalb können sie reflektiert und modifiziert werden. So, wie jeder im Alltag spontan lernt, die Gefühle situationsgerecht zu variieren, kann auch therapeutisch emotionale Flexibilität eingeübt werden17. Wenn Emotionen nicht ausreichend mit Vorstellungen verbunden werden, entstehen Unsicherheit und Selbstzweifel.

Spontaneität und Gestaltbarkeit sind somit kein Widerspruch. Da die Bewegungsmuster der Gefühle zwar spontan ablaufen, wenn bestimmte gelernte Auslösereize auftreten, aber nachträglich auch die Kopplung von Auslösereiz und emotionaler Verhaltensreaktion durch bewusstes Lernen geändert werden kann, ist in neuen Situationen eine andere Reaktion möglich. Es kann große emotionale Flexibilität entstehen, die es erlaubt, sich von einem Gefühlszustand zu lösen und neue Ausdrucksmittel zu lernen. Emotionale Kultivierung gipfelt in der Fähigkeit, zwischen den Modalitäten des Gefühlsausdrucks bewusst zu wählen. «Beherrschung des Affekthaushalts muß also nicht unbedingt identisch sein mit Verarmung der emotionalen Sensibilität» (Dreitzel 1992, S.206).

Wenn ein Gefühlsausdruck voll und ganz dem inneren Körperzustand entspricht, gilt er als authentisch. Man erhält dabei der Eindruck, das Gefühl selbst gewählt zu haben. Dementsprechend ist man überzeugt, das Gefühl kontrollieren zu können, was sich in einem Gefühl der inneren Distanz gegenüber Emotionen äußert. Bei authentischem Verhalten ist man deshalb sowohl Teilnehmer wie auch Beobachter seines eigenen Gefühls. Es besteht eine Balance zwischen dem seelischkörperlichen Beteiligtsein und der inneren Distanz des Sich-selbst-Be-obachtens.

Gelungene Abgrenzung basiert auf einer entfalteten Atemmembran. Sie versetzt einen Menschen in die Lage, klar zwischen innen und außen, d.h. zwischen inneren Impulsen bzw. Empfindungen und sozialen Anforderungen zu unterscheiden. Denn mit ausgebildeter emotionaler und sprachlicher Kompetenz kann die Atemmembran sowohl Angriffe von außen abwehren als auch innere Triebregungen so ausdrücken, dass sie für den Organismus nicht gefährlich werden. Eine gelungene Abgrenzung macht fähig, völlig in der Präsenz des Augenblicks zu leben und sich seinen spontanen Empfindungen hinzugeben. Nur sichere Grenzen können überschritten werden, um mit dem anderen und der Welt eins zu werden. Der Begriff der Abgrenzung drückt korrekt aus, dass der Organismus fähig ist, eine innere Grenze zwischen den von innen und von außen kommenden Reizen zu ziehen.

Die Notwendigkeit, eine für die soziale Gruppe akzeptable Form der Abgrenzung zu finden, ergibt sich aus dem Bedürfnis nach Anerkennung. Denn jeder Mensch steht vor dem grundsätzlichen Problem, zwischen den individuellen Bedürfnissen und den gesellschaftlichen Erwartungen einen sinnvollen Abgleich zu finden. Diese beiden Pole sind nicht von vornherein in Harmonie; sie sind auch in der Regel nicht völlig harmonisierbar. Anerkennung gibt die Gewissheit, dass man sich richtig abgegrenzt hat, ohne die Gemeinsamkeit mit der sozialen Ordnung aufzugeben. Sie ist deshalb unentbehrlich für

16 Averill/ Nunley 1993

17 Vgl. Petzold 1995, S.242ff

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ein stabiles Selbstwertgefühl, aber auch für Kritikfähigkeit, denn sie verleiht die Kraft, störende soziale Normen in Frage zu stellen. Die Anerkennung kann somit ein subtiler Mechanismus der sozialen Anpassung, aber auch eine Triebfeder für Innovationen sein.

Wenn Abgrenzung gelingt, stellt sich das Gefühl der Autonomie ein. «Darunter verstehen wir nicht nur die Fähigkeit eines Menschen, sich selbst zu bewegen (Zentrum der Aktivität zu sein), sondern auch für sich selbst verantwortlich zu sein, d.h. sich die Gesetze seines Handelns selbst zu geben (griech. autos: selbst, nomos: Gesetz)» (Uexküll

u.a. 1994, S.76). Sie wird begleitet von dem Gefühl, über die eigenen Kräfte verfügen zu können. Im Hinblick auf Emotionen bedeutet Autonomie, dass man mit ihnen identisch ist, da sie die innersten Bedürfnisse ausdrücken. Dann können alle Emotionen einerseits ohne Angst vor der Reaktion anderer ausgedrückt werden, andererseits besteht auch keine Schwierigkeit, den Ausdruck von Emotionen zurückzuhalten, wenn er unpassend wäre.

Die subjektive Seite der gelungenen Autonomie ist das Gefühl des Glücks. Es äußert sich im spontanen Auftreten des vegetativen Strö-mens18. Es stellt sich ein, wenn man im Handeln in Übereinstimmung mit sich selbst ist. Es ist die Eigenart des Glücks, dass diese Übereinstimmung nicht absichtlich herbeigeführt werden kann, sondern sich vielmehr quasi als Nebenprodukt ergibt, wenn man ganz bei der Sache ist. Vom Konzept der Atemmembran her gesehen könnte man auch sagen, dass Glück mit der Atemmembran identisch ist, die von allen emotionalen und mentalen Blockierungen befreit ist. Glück darf deshalb nicht mit der Befriedigung von Bedürfnissen gleichgesetzt werden.

Wenn der emotionale Lernprozess gestört wird, kommt es zu einer Überidentifikation mit den Emotionen, die sich im sturen Festhalten an den eigenen Gefühlen und im Stolz über die eigenen Vorstellungen äußert. Der fehlenden Distanz gegenüber den Emotionen entspricht dann das Gefühl, den Gefühlen ausgeliefert zu sein und die Kontrolle verloren zu haben. Ängste vor den Folgen des eigenen Handelns verhindern, dass man sich authentisch verhält. Daher würde es ein Missverständnis der inneren Distanz bedeuten, wenn man sie moralisch einfordern würde. Der moralische Appell an die emotionale Distanz ist vergeblich. Denn die Unfähigkeit zu authentischem Verhalten resultiert daraus, dass kein sicherer Umgang mit den eigenen Ängsten gelernt werden konnte.

Da Emotionen wie jede andere Bewegung mit Vorstellungen verbunden werden müssen, kann es dazu kommen, dass für ein wahres Gefühl gehalten wird, was in Wirklichkeit nur die Vorstellung von einem Gefühl ist. So wurde z.B. gelernt, dass in bestimmten Situationen Gefühle der Trauer angezeigt sind, und man glaubt dann, tatsächlich traurig zu sein. So ist häufig Liebe in Wirklichkeit nur Denken über die Liebe. Das Denken schafft eine Ersatzwelt von Gefühlen. Auf diese Weise kann ein Mangel an echten Emotionen verdeckt werden.

Wie oben dargestellt haben Emotionen die Funktion, die Orientierung im Kontakt mit der Umwelt herzustellen. Sie geben automatisch Signale, wenn der Organismus bedroht ist oder etwas ihm gut tut. Sie lenken die Aufmerksamkeit auf Prozesse im Kontakt zur Umwelt oder zum eigenen Körper, die den Organismus aus dem Gleichgewicht zu bringen drohen.

Antonio Damasio erklärt die Bewertungsfunktion der Emotionen damit, dass sie das Ergebnis der Prüfung enthalten, was für den Organismus nützlich und was schädlich ist.

18 Vgl. Neidhöfer 1991 und Kap. 4.1

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Die körperlichen Empfindungen der Emotionen teilen dem Bewusstsein ständig mit, wie die Situation vom Organismus bewertet wird. So kann z.B. an den spontanen Verspannungen der Bauchmuskulatur erfahren werden, dass eine Situation künftig vermieden werden sollte. Im Laufe der Entwicklung lernt man, welche Bedeutung die einzelnen emotional bedingten Körperzustände haben. Ihre Orientierungskraft wird umso größer, je differenzierter die Körperzustände wahrgenommen werden können. Die körperlichen Empfindungen sind die Sprache der Emotionen. Ihr Verständnis muss genauso wie die begriffliche Sprache gelernt werden.

Wenn dagegen die Rückkopplung des Gehirns mit den emotionalen Körperzuständen gestört ist, geht die Entscheidungsfähigkeit verloren. Emotionen sind deshalb eine wichtige Stütze des organismischen Bewertungssystems, ohne das lebenspraktische Entscheidungen nicht möglich wären. Ganz offensichtlich setzen sie die Funktion der biologischen Regulationsmechanismen fort, die automatisch für das Überleben des Organismus sorgen. Emotionen sind gleichsam die Regulationsmechanismen für den Kontakt zur sozialen Umwelt. Ohne Emotionen wäre soziales Zusammenleben nicht möglich.

Daraus folgt, dass sich Emotionen durch eine immanente Rationalität auszeichnen.

Wenn es die Funktion der Vernunft ist, zielgerichtetes Handeln zu organisieren, dann muss diese Fähigkeit primär den Emotionen zugesprochen werden. Deshalb sprach Blaise Pascal von den Gründen des Herzens, von denen die Vernunft nichts weiß. Viele Philosophen und Psychologen haben in den Emotionen die Basis moralischen Handelns ge-sehen19. Die Philosophin Susanne K. Langer ist sogar so weit gegangen, dass sie das Denken unter den allgemeineren Begriff des Fühlens subsumiert hat.

Natürlich kommt nur den Emotionen Rationalität zu, die uneingeschränkt geäußert werden können. Nur sie sind mit allen Erfahrungen verbunden, die der Organismus in inneren Vorstellungen gespeichert hat. Denn jede Hemmung des Gefühlsausdrucks nimmt den Emotionen ihre orientierende Kraft beim Handeln und ihre unterstützende Funktion beim Denken. Dummheit wurzelt meist in beschädigter Emotionalität.

Emotionen sind die Basis des Phänomens, das im esoterischen Denken als die Weisheit des Körpers bezeichnet wird. Wenn sie als Ausdruck der spontanen vegetativen Selbstorganisation verstanden werden, wird klar, warum im Mittelpunkt vieler Weisheitslehren die Empfehlung steht, sich vom <inneren Führen, vom <höheren Selbst>, von der <inneren Natur>, von der <kosmischen Intelligenz> oder vom <Göttlichen in uns> u.ä. führen zu lassen. Dahinter steht die Grunderfahrung, dass der Organismus für sich selbst sorgt und stets weiß, was für ihn gut ist, vorausgesetzt, dass man ihn nicht daran hindert. Man kann sich vom Leben tragen lassen und sich bei erforderlichen Entscheidungen auf die Intuition verlassen, weil Emotionen so etwas wie einen inneren Kompass darstellen. Das Vertrauen in sie ist deshalb die Grundlage für das Vertrauen zum Leben. Deshalb kann sich z.B. auch die Hypnotherapie von Milton Erickson auf die Fähigkeiten des Unbewussten verlassen, die vorzugsweise in der Trance zum Zuge kommen, oder es kann der <innere Heilen oder die <Seele> um Rat gefragt werden. Insofern macht es Sinn, von der <Vernunft der Liebe> zu sprechen oder mit dem <Bauch zu denken>.

In diesem Zusammenhang werden auch die mythologischen Vorstellungen verständlich, denen zufolge der Atem das Medium ist, das alle Menschen verbindet und die Teilhabe am Göttlichen ermöglicht. In diese Vorstellungen ist sicherlich die Erfahrung eingegan

19 Z.B. Shaftesbury, Max Scheler, Hans Jonas, Agnes Heller, Susanne K. Langer. Vgl. Meier-Seethaler, Carola: Gefühl und Urteilskraft. Ein Plädoyer für die emotionale Vernunft, München 1998

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gen, dass die frei artikulierten Emotionen mit gelöstem Atem verbunden sind und den Kontakt mit anderen Menschen herstellen und dass Trennung und Zwietracht überwunden werden, wenn der Atem von hemmenden Vorstellungen befreit wird.

Das hier entwickelte Verständnis von Emotionen als Atemmuster bietet einen neuen Ansatz für ihre bisher fehlende wissenschaftliche Erklärung. Emotionen nutzen die Möglichkeit des menschlichen Organismus aus, mit Bewegungen etwas auszudrücken und damit eine Botschaft an andere auszusenden. Sie sind deshalb sowohl etwas SinnlichKörperliches als auch etwas Geistig-Symbolisches. Die rätselhafte Mittelstellung der Emotionen zwischen Körper und Geist wird verständlich, wenn das Symbolische als ein körperlicher Vorgang begriffen werden kann. Die Emotionen unterscheiden sich damit im Prinzip nicht von anderen körperlichen Bewegungen. Betrachtet man sie als Ausdrucksgestalten der Atemmembran, die sowohl nach außen als auch nach innen wirken, wird es verständlicher, wie sie als Verbindungsfäden zwischen Menschen und ihrer Umwelt wirken können.

3 Das Denken des Körpers

«Mit dem Herzen kann man Berge versetzen. Aber ohne Kopf setzt man sie an die falsche Stelle.» (Graffiti)

Die Annahme, der Geist sei eine Kraft, mit dem auf alle Prozesse des Körpers Einfluss genommen werden könne, ist eine Gemeinsamkeit des westlichen und des esoterischen Denkens. Teilweise herrscht sogar die Überzeugung vor, der Geist könne vegetative Prozesse wie den Herzrhythmus oder die Hauttemperatur beeinflussen. Dieser Glaube an die Allmacht des Geistes ist nach den bisherigen Überlegungen in Frage zu stellen. Eine realistische Einschätzung geistiger Wirkungsmöglichkeiten ist dringend erforderlich, um das, was durch Denken erreicht werden kann, angemessen bewerten zu können. Dies ist insbesondere notwendig, um die Rolle des Denkens im Heilungsprozess zu klären.

Aus den vorangegangenen Überlegungen, dass die Emotionen ihren körperlichen Sitz in der Atemmembran haben, kann die Frage abgeleitet werden, ob dies auch für die Gedanken gilt. Denn das Denken ist ebenso auf den Atem angewiesen und stützt sich damit wahrscheinlich auch auf die gleichen physiologischen Strukturen wie die Emotionen. Das folgende Kapitel wird also von der Atemmembran als dem Ort mentaler Kommunikation und der Einbindung des Denkens in die Atemdynamik handeln.

3.1 Denken als Bewegungsvorgang

«Der Atem ist die Intelligenz des Körpers.» (Desikachar)

Die vorherrschende Theorie von der biologischen Basis des Denkens bringt es mit der Aktivität der Nervenzellen im Gehirn in Zusammenhang. Immer mehr Gehirnforscher vertreten die Überzeugung, «daß alle Wirkungen des Gehirns, die heutzutage als immateriell angesehen werden, mit materiellen Vorgängen verknüpft sind» (Haken/Haken-Krell 1997, S.259). Der Neurophysiologie Roger W. Sperry hat aus Ergebnissen der Gehirnforschung die Schlussfolgerung gezogen, dass die einzige Funktion des Gehirns in der Koordination von Bewegungen besteht. Bisher gibt es allerdings keine Theorie, die auch das Denken als Bewegungsvorgang begreifen lässt. Wie kann das Denken sinnvoll als ein subtiler Bewegungsprozess konzipiert werden? Im Folgenden möchte ich ein

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Denkmodell vorstellen, das dem Postulat, alles sei Bewegung, gerecht wird.

Die Grundlage des begrifflichen Denkens sind die Konsonanten und Vokale, die durch die Modulation des Atems im Zwerchfell-Kehlkopf-Rachen-Bereich produziert werden. Jeder Vokal und jeder Konsonant hat ein spezifisches Schwingungsmuster bzw. einen bestimmten körperlichen Entstehungsort1. So bildet sich z.B. das <U> im Becken und das <I> im Schultergürtel-, Hals- und Kopfbereich. Das <F> entsteht durch Kontraktion und Lösung der Beckenbodenmuskulatur, und das <T> hat seinen Ursprung in den unteren Rippen und dem Zwerchfell. Für die Bildung der Vokale und Konsonanten ist also nicht bloß der Kehlkopf-Rachen-Raum, sondern auch der ganze Brust- und Bauchraum bedeutsam. Dessen Muskeltonus ist mitbestimmend für die Bewegungen des Zwerchfells, das für die Kraft der Stimme maßgeblich ist.

Alle sprachlichen Begriffe bestehen aus einer Abfolge von Konsonanten und/oder Vokalen. Sie basieren damit auf subtilen Bewegungen der Atemmuskeln. Eine Fülle von Einzelschwingungen wird zu einem komplexen Schwingungsmuster zusammengefasst. Die Begriffe sind somit - ähnlich wie die Emotionen - als differenzierte Schwingungsvorgänge der Atemmembran zu verstehen. Als solche gehen sie eine enge Verknüpfung mit Vorstellungen für bestimmte Gegenstände, Bewegungen, Beziehungen oder inneren Empfindungen ein. Während die Emotionen nachträglich mit Vorstellungen assoziiert werden, geschieht dies bei Begriffen von vornherein. Mit ihnen wird ein Bezug zu einem Gegenstand oder Prozess außerhalb oder innerhalb des Körpers hergestellt. Das bedeutet, dass einem bestimmten Bewegungsmuster der Atemmembran eine spezielle Vorstellung zugeordnet wird. Eine innerkörperliche Bewegung wird also zu einem Symbol für etwas anderes, und aus ihrer Verknüpfung mit einem Vorstellungskomplex entsteht die Bedeutung der Begriffe. Es bildet sich eine kohärente Ordnung von Atemschwingungen für Begriffe und Gehirnschwingungen für Vorstellungen.

Vorstellungen beziehen sich primär auf die Außenwelt. In der Entwicklung des Kleinkindes richtet sich die Aufmerksamkeit vor allem auf Bewegungen. Das Kleinkind ahmt lange Zeit die Bewegungen der Erwachsenen nach, einschließlich ihrer emotionalen und sprachlichen Bewegungen. Hauptinhalt der kindlichen Vorstellungen sind deshalb die visuellen Wahrnehmungen von Bewegungen und die akustischen Wahrnehmungen von Stimmen. Daraus bilden sich motorische, emotionale und verbale Reaktionsmuster. Aus dieser Kombination von Bewegungen mit Vorstellungen entsteht die für Menschen typische Flexibilität. Und da Vorstellungen von früh an mit Begriffen verbunden werden, ist davon auszugehen, dass alle Bewegungen, also nicht nur die emotionalen Bewegungen, mit sprachlich geprägten Vorstellungen verbunden werden.

Der Zusammenhang zwischen Vorstellungen und Bewegungen ist bei den Erwachsenen nicht mehr ohne weiteres erkennbar und scheint bei den abstrakten Begriffen restlos verloren gegangen zu sein. Dies trifft aber nicht zu. George Downing ist davon überzeugt, dass alle affektiven Strukturen wie z.B. das Selbstwertgefühl in den affektmotorischen Schemata und damit in den Emotionen wurzeln. Selbst so abstrakte Begriffe wie Freiheit, Menschenwürde oder Toleranz sind letztlich nur faßbar, wenn sie auf eine bestimmte Qualität von emotionalen Bewegungen bezogen werden. So bleibt etwa die Vorstellung von Menschenrechten ohne Substanz, wenn sie nicht in gelebten emotionalen Reaktionsmustern verankert ist.

1 Vgl. Middendorf 1988, S. 61ff

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Das Verknüpfen von subtilen innerkörperlichen Bewegungen mit inneren Vorstellungen hat sich als ein revolutionärer kultureller Prozess erwiesen. Denn mit den so entstandenen Begriffen lassen sich alle Erfahrungen ordnen und strukturieren. So sind feine emotionale Differenzierungen, etwa zwischen Verängstigtsein, Furcht und Angst erst auf Grund der verbalen Sprache möglich geworden. Die Kultivierung der Emotionen geht Hand in Hand mit der Sprachtüchtigkeit. Ebenso entstanden mentale Fähigkeiten zur Reflexivität, Distanzierung, Abstra-hierung und Strukturierung, als die riesige Flut der Sinneseindrücke mit Hilfe der Begriffe auf wesentliche Muster komprimiert werden konnte. Die Art und Weise, in der man die Welt und den eigenen Körpers erfährt, wird dadurch so tief geprägt, dass eine unvoreingenommene Wahrnehmung nicht mehr möglich ist. Das Verbinden von Erfahrungen mit Begriffen ist deshalb kein äußerlicher Vorgang, sondern greift tief in die innere Organisation des Organismus. Da Sprache für alle Erfahrungen konstitutiv geworden ist, findet mit ihrem Erlernen praktisch eine Ver-sprachlichung des Körpers statt2. Dabei handelt es sich aber nicht um eine Vergeistigung, sondern nur um eine Steigerung der Beweglichkeit, die für differenziertere Ausdrucksformen genutzt wird.

Sprechen heißt, mit Hilfe von Begriffen spezifische Klangmuster zu erzeugen, deren Bedeutung von anderen Menschen erkannt wird, weil ihr Gehörsinn davon in Schwingung versetzt wird. Auf diese Weise können Bewegungen eines Menschen, die eine bestimmte Bedeutung haben, bei dem Gegenüber Bewegungen anregen, die ihm etwas mitteilen. Im Grunde liegt hier das gleiche Phänomen der Suggestibilität vor, wie es bei den emotionalen Bewegungen zu beobachten ist.

Wenn Sprechen ins Innere genommen wird, sodass es nicht mehr von außen vernommen werden kann, wird daraus das Denken. Denken ist im Grunde ein permanentes Selbstgespräch, ein Gespräch der Seele mit sich selbst, wie Platon es formulierte. Nachweislich entstehen selbst beim lautlosen Denken Mikroschwingungen im Kehlkopf, und es ist anzunehmen, dass auch in der übrigen Muskulatur der Atemmembran minimale Innervationen zur Bildung der Töne stattfinden. Denken unterscheidet sich somit nicht wesentlich vom Sprechen. Deshalb be-zeichnete es der Philosoph Helmut Klages als ein inneres Sprechen. Es ist aber wichtig hervorzuheben, dass sich begriffliches Denken erst auf der Basis der Sprechfähigkeit entwickeln kann. Nur wenn im Sprechen kulturell geprägten Begriffe erlernt werden, können sie auch für das Denken nutzbar gemacht werden.

Die Metapher vom Tanz der Gedanken drückt sehr gut aus, was beim Denken passiert. Wenn z.B. der innere Impuls <den Splitter aus der Wunde herausziehen> mit dem entsprechenden begrifflichen Bewegungsmuster artikuliert wird, werden dadurch andere Bewegungsmuster ausgelöst, die mit diesen Begriffen assoziiert werden und beispielsweise zum Inhalt haben, wie der Splitter z.B. mit einer Pinzette herausgezogen werden könnte. Wenn sich auf Grund der besonders tiefen Wunde Zweifel am Erfolg melden, regen diese wiederum andere Bewegungsmuster an, wie unter den gegebenen Umständen der Splitter anders beseitigt werden könnte, bis er schließlich mit einer körperlichen Bewegung herausgezogen wird. Denken ist so ein Fluss von Vorstellungen, der durch den Tanz der Bewegungsmuster der Begriffe vorangetrieben wird.

In diesem Sinne ist das Denken ein durch und durch leiblicher Prozess, und als solchen begreifen ihn Leibphilosophen wie z.B. Annegret Stopczyk. Allerdings wird man ihm

2 Vgl. Neubeck 1992, S.97 und 120

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nicht gerecht, wenn die «Gedanken als sprachlich übersetzte Leibesempfindungen» verstanden werden (Stopczyk 1998, S.336). Der Begriff Übersetzung suggeriert das falsehe Bild, Denken wäre auch unabhängig von den Begriffen möglich. Es findet keine Übersetzung statt, weil begriffliches Denken von vornherein unbewusst die leiblichen Impulse beeinflusst. Da sie in der mentalen Selbstorganisation durch die Begriffe strukturiert werden, müssen sie nicht übersetzt, sondern nur artikuliert werden. Ohne ausgebildete Begriffsfähigkeit würden die Erfahrungen gar nicht existieren. Fehldeutungen wie die Übersetzungsmetapher können aufkommen, weil es auch den Leibphilosophen bisher nicht gelungen ist, das physiologische Substrat des leiblichen Denkens zu bestimmen.

Die Erfahrung zeigt, dass das Denken am besten funktioniert, wenn es sich ganz auf die Probleme einlässt. Dementsprechend wird gefordert, sich den Dingen zuzuwenden, hinzuhorchen, sich mit den Dingen zu identifizieren oder gar «in den Dingen zu sein» (Stopczyk 1998, S.339). So wird z.B. Identifikation von Virginia Wolfe als eine Art Hineinfließen in anderes begriffen, welches das eigene Sein erweitert und vergrößert. Denken wird oftmals auch als innerlich bereichernde Hingabe begriffen.

Das Ziel des Denkens besteht darin, dass der Organismus einen optimalen Kontakt mit seiner Umwelt findet. Dazu müssen die inneren Vorstellungen, die für das Handeln von ausschlaggebender Bedeutung sind, ständig überprüft und neu geordnet werden. Das Denken setzt spontan ein, wenn festgestellt wird, dass Teile der Vorstellungen nicht mehr angemessen sind. Wenn jemand dennoch an scheinbar unangebrachten Vorstellungen festhält, liegt das daran, dass sie für ihn einen tieferen Sinn haben.

Durch die Entwicklung der Atemmembran hat die organismische Beweglichkeit des Menschen eine neue Dimension bekommen: die Flexibilität der Gedanken. Sie steigern die Erfahrung von Lebendigkeit in entscheidender Weise. Geistige Beweglichkeit ist also Ausdruck innerer Vitalität und äußert sich in der Fähigkeit zur Umwandlung und Neuordnung der eigenen Vorstellungen. Zu Recht ist deshalb der Mensch von Hans Cassierer als animal symbolicum gekennzeichnet worden. Offensichtlich ist die Beweglichkeit des Organismus auf allen Ebenen die zentrale Dimension des Lebens. Eine Zunahme der Beweglichkeit wird positiv empfunden, da sie das Gefühl von Lebenskraft verleiht, wohingegen eine Einschränkung der Beweglichkeit von Empfindungen der Leblosigkeit, Bedeutungslosigkeit oder Auslöschung begleitet wird, meist sogar von Todesvorstellungen. Der menschliche Grundkonflikt besteht deshalb im inneren Kampf um Vitalität und Starre, Fühlen und Fühllosigkeit. Im Denken besitzen die Menschen ein Instrument, mit dessen Hilfe sie darauf Einfluss nehmen können.

Wenn man Gedanken als differenzierte Schwingungsmuster der Atemmembran auffaßt, wird verständlich, warum zwischen den Gefühlen und dem Denken eine starke Wechselwirkung besteht. Die Schwingungsmuster von Begriffen werden zwangsläufig von der emotionalen Grundschwingung mitgeprägt, weil beide Schwingungsformen von der Atemmembran organisiert werden und sich zwangsläufig überlagern. Umgekehrt wird jede aktuelle emotionale Befindlichkeit von den Gedanken beeinflußt. Es kann kein affektiv neutrales Denken geben, da Menschen sich stets in einem emotionalen Zustand befinden, wenn sie sich auf die Welt beziehen oder sich von ihr zurückziehen. Die gängige Empfehlung, die Gefühle aus dem Denken herauszuhalten, ist damit undurchführbar. Es kann nur darum gehen, sich ihrer beim Denken bewusst zu sein bzw. sie vorweg in Ordnung zu bringen.

Die spirituelle Auffassung, dass die Gedanken Energiemuster sind, wird dem Denken

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nicht gerecht. Zwar sind sie dies ohne Zweifel, aber ihren Einfluss auf den Körper verdanken sie nicht ihrer elektromagnetischen Qualität, sondern ihrer weit niedrigeren Frequenz als Atemschwingung. Die Schwingungen des Gehirns allein sind für das Verständnis der Sprache und des Denkens nicht ausreichend, da sie ohne das Material der Atemschwingungen keine reale Kommunikation entwickeln könnten. Denken erweist sich somit als ein komplexes Zusammenwirken des Atem- und Nervensystems, dessen Ort nicht mehr ausschließlich im Kopf lokalisiert werden kann, sondern sich über den ganzen Körper erstreckt. Darauf weist schon die alte Spruchweisheit «Mens sana in corpore sano» hin. Wenn in der Traditionen vieler Kulturen der Sitz des Denkens im Zwerchfell (Homer), im Sonnengeflecht (Indien) oder im Herzen (Taoismus) gesehen wurde, steckt darin sicherlich in verschlüsselter Form die Einsicht, dass die Atmung, insbesondere das Zwerchfell, eine zentrale Rolle für das Denken hat.

An der Atemmembran zeigt sich das in der Naturgeschichte immer wieder zu beobachtende Phänomen, dass bereits vorhandene Organe im Laufe der Entwicklung zusätzliche Funktionen übernehmen. Das Sprechen ergänzt die älteren Formen der Kommunikation mit Biophotonen, Hormonen und elektromagnetischen Impulsen. Auch Tiere benutzen Schwingungen, beispielsweise um Kommunikation in Schwärmen herzustellen3, aber bei den Menschen unterliegen sie der Gestaltungskompetenz der sozialen Gemeinschaft. Damit erhält die Kommunikation eine neue Dimensionen. Mit Hilfe der Sprache können die Menschen jetzt nicht nur ihr Verhältnis zur Umwelt aktiv bestimmen, sondern auch ihren Bezug zu sich selbst verändern. Die Atemmembran ist somit die evolutionäre Voraussetzung sowohl für die Vergesellschaftung der Menschen als auch für sein differenziertes Innenleben, für seine Freiheit, seine <Seele>, seine <Spiritualität>. Uber die Atemmembran kann er in bewussten Kontakt mit sich selbst kommen, er kann ihn aber immer wieder verlieren.

So gesehen wäre es falsch, den Geist als ein Phänomen zu betrachten, das auf einer bestimmten Entwicklungsstufe des Lebendigen sprunghaft auftritt und völlig neue Qualitäten entstehen lässt4. Vielmehr wird das in der Entwicklungsgeschichte des Lebendigen verbreitete Muster der kohärenten Koppelung von Schwingungen, das bereits bei den Tieren für die Kommunikation verwendet wird, auf geniale Weise auch für die verbale Kommunikation genutzt. Begriffliches Denken ist damit nichts prinzipiell Neues, sondern lediglich eine weitere Anwendung bewährter Prinzipien der naturgeschichtlichen Entwicklung. Wenn es stimmt, dass Denken auf den Mikrobewegungen der Atemmuskulatur beruht, kann es als ein Sonderfall körperlicher Beweglichkeit angesehen werden. Wahrscheinlich besteht kein prinzipieller Unterschied zwischen Bewegungen des Denkens und des Körpers, etwa solchen, die der Organismus spontan macht, wenn er aus dem Gleichgewicht geraten ist.

Psychischen und mentalen Bewegungen, so verschiedenartig sie zunächst erscheinen mögen, ist die Schwingungsnatur gemein. So wie die Zelle mit ihrer Pulsation eine spezifische elektromagnetische Schwingung aufweist, ist auch den komplexen Bewegungsprozessen eine Schwingung zu eigen. Jeder organische Vorgang, jede Emotion, jeder Gedanke und jede grobmotorische Bewegung ist als spezifische Schwingung zu verstehen. Die Atmung macht den ganzen menschlichen Körper zu einem akustischen Schwingungskörper, der Laute in Form von Schreien, Gesang oder Sprache artikulieren

3 Vgl. Bischof 1995, S.227

4 Vgl. Uexküll/ Wesiack 1991, S. 105, Uexküll 1986, S.13

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kann. Deshalb konnte der altägyptische Weise Hermes Trismegistos sagen, dass alles Schwingung ist. Jede Bewegung stellt so eine Einheit aus den Mikroschwingungen der einzelnen Körperzellen, den emotionalen und mentalen Teilschwingungen und der Makroschwingung des ganzen Körpers dar; sie ist somit stets Teil einer Gesamtbewegung. Die Schwingungsnatur der Bewegungen macht verständlich, warum sich körperliche, emotionale und mentale Bewegungen zu einem komplexen Gesamtausdruck verbinden können.

Die ganze Reproduktion des Lebens basiert letztlich auf Bewegungsprozessen. Mit ihrer Hilfe erfolgt sowohl der stoffliche Austausch zwischen abgegrenzten Lebenseinheiten und der Umwelt als auch der Austausch von Informationen. Die Bewegungen werden bloß subtiler, wenn es um symbolische Botschaften geht. Aber auch bei geistigen Prozessen wird die Ebene der Bewegung nicht verlassen.

Kulturelle Entwicklung besteht aus dieser Sicht darin, dass die Körpersprachen der Emotionen und Begriffe verfeinert werden. Von jedem Menschen müssen aufs Neue alle kommunikativen Fähigkeiten gelernt werden, die von der sozialen Gemeinschaft im Verlauf ihrer Geschichte entwickelt worden sind. Der psychische und geistige Reichtum der Menschen basiert damit letztlich auf einer geschickten Steigerung und Ausdifferenzierung der körperlichen Beweglichkeit, die ihnen durch die Atmung möglich geworden ist. Sie ist somit der Bereich, in dem das natürliche Wachstum am stärksten und deutlichsten vorangeht. Die meisten kulturellen Leistungen wären deshalb ohne die Ausdifferenzierung der Atemmembran undenkbar. Ohne Übertreibung kann festgestellt werden, dass die Kultur, wie sie sich in den letzten 5000 Jahren entwickelt hat, ihre naturgeschichtliche Basis im Atem hat.

In der wissenschaftlichen Diskussion des Geistproblems wird allen Versuchen, das Denken aus biologischen Zusammenhängen abzuleiten und zu zeigen, dass es seinem Wesen nach «nichts anders sind als feuernde Nervenzellen» sind, der Vorwurf des Reduktionismus gemacht5. Es wird argumentiert, dass der Geist eine eigenständige Wirklichkeit sei, die mit der Reduktion auf Materielles aufgehoben werden würde. Die von mir entwickelte Definition entzieht sich solchem Vorwurf, indem sie am Doppelcharakter von Bewegungen ansetzt. Sie werden zugleich als physiologischer Vorgang und als Träger eines Ausdrucks bzw. einer Bedeutung gesehen. Dieses Prinzip gilt auch für geistige Bewegungen. Geist ist damit meiner Meinung nach kein eigener Bereich, sondern lediglich ein Aspekt menschlicher Bewegungen.

3.2 Wer denkt?

«Jeder ist sich selbst der Fernste.» (Friedrich Nietzsche)

In allen Theorien des Geistes wird unterstellt, dass die Körperorgane, in denen das Denken stattfindet, lediglich als Schauplätze dienen. Stets wird davon ausgegangen, dass das Denken eigentlich von einem unabhängig davon existierenden Geist ausgeht. Es ist interessant festzustellen, dass die Gehirnforschung zunehmend von dieser strikten Trennung zwischen rein physischer Gehirnmasse und einem anders gearteten reinen Geist Abstand nimmt. Immer mehr zeigt sich, dass damit die Vorgänge im Gehirn nicht angemessen wiedergegeben werden. Nach Roth sind die kognitiven Leistungen des Gehirns keineswegs genetisch programmiert, sondern vielmehr «das Ergebnis interner selbstor

5 Vgl. Roth 1997, S.284ff

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ganisierender Prozesse oder der Interaktion des Organismus mit der Umwelt»6. Die meisten Merkmale der funktionalen Organisation des Gehirns seien genetisch nur unspezifisch festgelegt und würden entsprechend den Erfahrungen, Aktivitäten und Interessen organisiert. Im Folgenden möchte ich der These nachgehen, dass auch das Denken ein Teil der organismischen Selbstorganisation ist, wie es sich im Fall der Emotionen bereits herausgestellt hat.

Viele Beobachtungen weisen darauf hin, dass sich der Organismus im Austausch mit den Anforderungen der Umwelt, also bei Nahrungssuche, Kontaktaufnahme und Überleben, selbsttätig organisiert. Die Erfahrungen der Intuition, der spontanen Handlungsimpulse, des Traums, der Halluzination, der ungerufenen inneren Stimmen, der Telepathie u.a. können als Ausdruck der selbstorganisatorischen Kraft des Denkens verstanden werden. In der Regel präsentieren sich nur die Ergebnisse dem Bewusstsein. Wenn man sich selbst gegenüber ehrlich ist, wird man feststellen, dass die besten Entscheidungen nicht das Ergebnis bewusster rationaler Überlegungen sind, sondern sich wie die intuitiven Gedanken spontan einstellen. Früher hatte man deshalb geglaubt, unwillkürlich aufkommende Gedanken und Gefühle würden von den Göttern oder bösen Geistern geschickt und es wäre anmaßend, sich das eigene Denken als Verdienst anzurechnen. Dieses wird erst seit der Aufklärung als ein Werk des bewussten Geistes verstanden, und man wird des Abnormalen verdächtigt, wenn man sich zu spontanen Gedanken bekennt.

Das Denken setzt ein, wenn das Gleichgewicht mit der sozialen Umwelt gestört ist, aber die Erwartung besteht, dies mit Hilfe des Denkens beheben zu können. Die Störung ist meist mit Schmerzen verbunden. Es handelt sich dabei selten um direkte körperliche Schmerzen, sondern meist sind es psychische Schmerzen auf Grund des Verlustes von Autonomie, Macht oder sozialen Bindungen und natürlich auch infolge von Demütigungen oder Missbrauch. Regelmäßig ist mit den psychischen Schmerzen die Erfahrung verbunden, dass die eigenen Vorstellungen nicht mit denen der übrigen Gemeinschaftsmitglieder übereinstimmen. Denn wegen der zentralen Bedeutung der Vorstellungen für das Zusammenleben mit der sozialen Gruppe wird jede Abweichung von den Vorstellungen der Gruppe sofort registriert und geprüft, ob eine Korrektur oder ein Angriff auf die Vorstellungen der anderen notwendig ist. Jede Abweichung könnte Missverständnisse, Konflikte und letztendlich die Isolierung zur Folge haben. Wahrscheinlich wurzelt das tiefe Bedürfnis der Menschen nach Kommunikation letztlich in dieser Notwendigkeit, ständig zu prüfen, ob die eigenen Vorstellungen noch mit denen der sozialen Gruppe übereinstimmen.

Die Selbsttätigkeit des Denkens basiert darauf, dass sich der menschliche Organismus mit der Gesamtheit seiner Vorstellungen ein inneres Modell von der äußeren Welt aufbaut. Dieses Modell enthält im Kern alle eigenen Beziehungen zur Welt und zu den anderen Menschen. Mit Hilfe der inneren Vorstellungen können in der Selbstorganisation durch neue Verknüpfungen Lösungen für Probleme im Zusammenleben gefunden werden. Die Lösungen sind natürlich nur so gut, wie sich der Organismus mit seinen Sinne uneingeschränkt der Außenwelt zuwenden und die Reize ungefiltert aufnehmen konnte.

Der größte Teil des Denkens findet als innerer Dialog statt. Er läuft überwiegend auf dem Hintergrund des Bewusstseins ab und wird oft als inneres Geplapper empfunden.

Es ist auffallend, dass das Denken schon sehr früh diese Gestalt annimmt. Von Beginn des Spracherwerbs an führt jeder Mensch einen solchen inneren Dialog mit sich selbst,

6 Roth 1996, S.193

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in dem er die Kommunikationsfähigkeit mit den verinnerlichten Eltern bzw. Bezugspersonen erprobt und sein Denken auf die Erwartungen der Umwelt einstellt7. Jean Piaget hat beobachtet, dass beim Kleinkind in der Phase zwischen zwei und sechs Jahren die Sprache scheinbar überwiegend keine kommunikative Funktion hat. Sie begleitet seine Handlungen, ohne sie direkt zu beeinflussen. Wygotski weist nach, dass dieses von Piaget als egozentrisch bezeichnete antikommunikative Sprachverhalten die Vorstufe zur endgültigen Verinnerlichung der Sprache ist. «Diese Sprache stellt einen notwendigen Bestandteil des kindlichen Denkens dar und beginnt so, ein Mittel zur Bildung einer Absicht und eines Planes bei einer komplizierten Tätigkeit des Kindes zu werden» (Wygotski 1998, S.48).

Der innere sprachliche Bewusstseinsstrom wird dadurch in Gang gehalten, dass jedes Gespräch und jeder Kontakt den Organismus in einen Spannungszustand versetzt. Erwartungen werden angesprochen, Konflikte oder Ängste usw. ausgelöst und Bedürfnisse geweckt. Jede Störung im Kontakt mit den Bezugspersonen stößt den inneren Dialog an. Die Auseinandersetzung mit der ausgelösten Unruhe wird auf der Zwischenebene der Vorstellungen, einschließlich der des Traumes, solange fortgesetzt, bis eine <Lösung> gefunden wird. Problemlösungen bestehen im Kern darin, dass man auf bisherige Vorstellungen verzichtet und statt dessen neue bildet. Häufig spielt sich der innere Dialog unbewusst ab, denn die Sprache wird im täglichen Gebrauch so gut beherrscht, dass auch Erfahrungen, die nicht durch bewussten Denken verarbeitet wurden, im Bewusstseinshintergrund sprachlich verarbeitet werden können.

Das Phänomen des inneren Dialoges beruht darauf, dass die Bezugspersonen mit ihren Stimmen und Emotionen im wörtlichen Sinne inkorporiert werden. Ihre Schwingungsmuster bekommen dabei im eigenen Körper eine eigene Existenz, indem für sie eigene Bereiche in der Atemmembran und im Nervensystem <eingeräumt> werden. Der Begriff der Verinnerlichung bezeichnet damit ganz korrekt, was bei der Introjektion von Vorstellungen geschieht: Die innere Struktur wird umgebaut. Da sich alle Vorstellungen letztlich auf Bewegungen beziehen, werden durch die Introjektionen bisherige Bewegungen blockiert und neue Bewegungen gebahnt. Indem das Introjizierte zum Bestandteil des Organismus wird, verändert sich die Beschaffenheit des Innenlebens. Es ist keine Übertreibung, dass durch die Umstrukturierung der Atemmembran mit Hilfe der Vorstellungen die ganze Physiologie verändert wird, weil dadurch Einfluss auf die Körperhaltung und die inneren Organe genommen wird (vgl. Kap. 6.1).

Die Erfahrung zeigt, dass der direkte Bezug des inneren Dialoges zu den introjizierten Personen später zurücktritt, jedoch nie völlig verschwindet. Weiterhin läuft er ständig im Hintergrund des Bewusstseins ab und verarbeitet die Erfahrungen im Umgang mit anderen Menschen, mit sich selbst und den Gegebenheiten, ohne dass klar ist, wer das Gegenüber ist.

Ob der sprachliche innere Dialog die Entwicklung eher fördert oder eher behindert, hängt davon ab, wie die Umwelt auf die Entfaltung der Gefühle und der Sprache Einfluss nimmt. Wenn die Bezugspersonen mit dem Kind einfühlsam und respektvoll umgehen, wird sich der innere Dialog durch Bewusstheit, Flexibilität und Kreativität auszeichnen. Er garantiert dann einen guten Kontakt zu sich selbst und damit auch Selbstbewusstsein und Selbstreflexivität. Das Kind macht die Erfahrung, dass ein bewusst geführter innerer Dialog mit imaginierten Personen eine kreative Quelle für die Lösung der

7 Vgl. Wygotski 1989

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alltäglichen Lebensprobleme sein kann. Die Ergebnisse dieses Zwiegesprächs können sich in inneren Stimmen äußern. Deshalb wird im esoterischen Denken zu Recht empfohlen, auf die innere Stimme oder die Stimme des Körpers bzw. Herzens zu hören. Dahinter steht die Erfahrung, dass die eigenen Erfahrungen ständig unbewusst verarbeitet werden und sich das Ergebnis erschließt, wenn man in sich hinein hört.

Wenn hingegen Verletzungen und Demütigungen verarbeitet werden müssen und der Angreifer ins Innere aufgenommen wird, wird der innere Dialog behindert. Auf der Basis zurückgehaltener Gefühle kann sich kein produktiver innerer Dialog entwickeln. Denn mit negativ besetzten Introjekten kann kein bewusster Dialog geführt werden. Da der Organismus die sozialen Erwartungen nicht mehr im Hinblick auf seine eigenen Bedürfnisse kritisch reflektieren kann, wird er von äußerlichen Lösungsangeboten wie Konventionen, Theorien, Therapiesystemen, Weltanschauungen u.a. abhängig. Die Störungen des inneren Dialoges führen so zu einer Entfremdung von sich selbst.

Der behinderte innere Dialog hat den Charakter eines inneres Mono-loges. Die Unterwerfung unter introjizierte Bezugspersonen führt dazu, dass deren Botschaften das innere Zwiegespräch dominieren. Während beim inneren Dialog die sozialen Erwartungen an den eigenen Bedürfnissen gemessen werden, gehen im inneren Monolog die eigenen Bedürfnisse unter. Das innere Zwiegespräch wird unbewusst. Man fühlt sich von den inneren Stimmen abhängig. Der innere Monolog versucht mit Grübeln und Selbstvorwürfen vergeblich, mit den Kontaktproblemen fertig zu werden. Dadurch wird ein Teil der Aufmerksamkeit vom gegenwärtigen Augenblick abgezogen. Meist ist man sich dessen gar nicht bewusst, dass man sich aus der Gegenwart herausnimmt, indem man sich diesem zwanghaft ablaufenden inneren Monolog überlässt.

Damit verliert der Organismus das in der Sprache angelegte Potenzial der eigenständigen produktiven Lösung von sozialen Konflikten. Die Emotionen können nicht mehr kreativ weiterentwickelt werden. Der Organismus stellt das handlungsorientierte Denken ein, weil er entschieden hat, nicht zu handeln. Insofern ist der in sich kreisende innere Monolog eine Folge der Selbstblockierung der Atemmembran, die auf die Entscheidung zurückgeht, nicht zu handeln. Der innere Monolog ist somit eine vom Organismus selbst herbeigeführte Schwächung des Denkens.

Die Hauptaufgabe des inneren Dialoges ist das Finden von der Situation angemessenen Entscheidungen. Wenn das sichere Gefühl besteht, dass sich darin die ganze Person ausdrückt, werden sie angenommen. Sichentscheiden ist somit die subjektive Gewissheit, mit dem einig zu sein, was als Impuls zum Ausdruck oder zum Handeln drängt. Darauf basiert authentisches Verhalten. Das Entscheiden ist also kein rationales Urteilen im strengen Sinne, sondern ein akzeptierendes Verhalten zu sich selbst. Deshalb sind solche Entscheidungen nicht durch bewusst herbeigeführte Beschlüsse zu korrigieren. Wenn man sich demgegenüber auf Grund bewusst angestrengter Überlegungen entscheidet, bewegt man sich meist im Raum fremdbestimmter gesellschaftlicher Erwartungen. Es wird dann nie das Gefühl der Gewissheit wie bei intuitiven Entscheidungen aufkommen.

Die Erfahrung zeigt, dass das Bewusstsein bzw. das bewusste Ich umso mehr ins Spiel kommt, je mehr das Handeln verunsichert wird und verändertes Handeln zur Lösung des Ungleichgewichts erforderlich ist. Dementsprechend vertritt der Gehirnforscher Gerhard Roth die These, dass Bewusstsein immer auftritt, wenn die Nervennetze neu verknüpft werden müssen. Bewusstsein sei das Eigensignal für das Gehirn, das der Organismus

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vor der Bewältigung eines neuen Problems steht, bei dem man nicht auf bereits erlernte Reaktionsmuster zurückgreifen kann8. Dabei wird die Empfindlichkeit der Sinnessysteme geschärft, um das, was für den Einzelnen wichtig und neu ist, angemessen wahrzunehmen. Die Bühne des Bewusstseins wird gebraucht, um das äußerst störanfällig gewordene Gleichgewicht zwischen Individuum und Gemeinschaft fortlaufend zu korrigieren.

Wahrscheinlich ist das Bewusstsein möglich geworden, weil das menschliche Handeln mit Vorstellungen gesteuert werden muss. Dadurch ist der Aufwand bei der Rückkoppelung zwischen mentaler Handlungsabsicht und muskulärem Vollzug extrem gesteigert worden. Ohne Bewusstsein wäre es nicht möglich, die verschiedenen Sequenzen eines neuen Handlungsvollzuges miteinander zu verbinden und zu überprüfen, ob das angestrebte Handlungsziel mit den Vorstellungen erreicht werden kann. So entsteht nach der Auffassung von Israel Rosenfield das Bewusstsein, wenn ein Organismus fähig ist, Beziehungen zwischen Gruppen von Reizen von einem Augenblick zum nächsten herzustellen9. Das Bewusstsein bleibt so lange im Spiel, bis die Phasen eines neuen komplexen Bewegungsablaufs spielend ineinander übergehen. Dann kann der Bewegungsablauf an die unbewusste Selbstorganisation zurückgegeben werden. Das Bewusstsein tritt also nur ins Spiel, wenn sich die unbewusste Selbstorganisation nicht auf bewährte Handlungsvollzüge verlassen kann.

Es ist bemerkenswert, dass der Begriff des Bewusstseins ursprünglich auf ein zusammen mit anderen geteiltes Wissen bezogen wurde10. Im Laufe der Zeit wurde er immer enger gefasst, bis er schließlich in sein Gegenteil verkehrt wurde. Seitdem steht er für ein Wissen, dass man nur für sich selbst hat und gerade nicht mit anderen teilt. Die ursprüngliche Bedeutung war hinsichtlich des sozialen Stellenwertes zweifellos zutreffender, da das Bewusstsein vermutlich aus der Aktivierung der Atemmembran als Organ der emotionalen und der verbalen Kommunikation hervorgegangen ist, die für das soziale Zusammenleben verantwortlich ist. Es wurde notwendig, um den Kontakt mit der Außenwelt auch unter den komplexen Bedingungen des sozialen Handelns aufrechtzuerhalten. Deshalb geht Humberto Maturana davon aus, dass das Bewusstsein im Wesentlichen ein soziales Phänomen ist, das sich nur im Zusammenhang mit Sprache sowie im gesamten sozialen Kontext erschließt, in den es eingebettet ist.

Wenn die Gedanken und Entscheidungen ein Werk der unbewussten Selbstorganisation sind, stellt sich die Frage, wie es zu erklären ist, dass die meisten Menschen das Gefühl haben, dass sie selbst Schöpfer ihrer Gedanken sind. Nichts scheint selbstverständlicher als das Gefühl zu sein, dass man bewusst denkt und absichtlich handelt. Das hängt sicherlich damit zusammen, dass es bei den Gedanken und Entscheidungen, die Ausdruck der inneren Impulse sind, gar keinen Grund gibt, zu ihnen in Distanz zu gehen. Das Bewusstsein kann sich mit ihnen identifizieren, weil es weiß, dass sie dem Organismus als Ganzem nützlich sind. Sie sind gleichsam ein Spiegel, in dem sich ein Teil der inneren emotionalen und mentalen Prozesse darstellt. Das Bewusstsein tritt erst in Distanz zu den Gedanken, wenn gespürt wird, dass die Gedanken fremdbestimmt sind und zu Trennung, Disharmonie oder Entfremdung führen. Der Extremfall sind die Geisteskrankheiten, bei denen die Gedanken als etwas Fremdes erscheinen. Auch diese Gedanken spiegeln nur die innere Zerrissenheit wider. Demnach ist es eine Selbsttäuschung, dass die

8 Roth 1997, S. 233

9 Rosenfield 1992, S.104

10 Vgl. Humphreyl995, S.151

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Gedanken eine Leistung des bewussten Denkens seien.

Häufig hält aber das Bewusstsein entgegen allen gegenteiligen Erfahrungen verbissen an seiner eigenen Urheberschaft fest. Das hängt damit zusammen, dass es dazu neigt, sich mit seinen Gedanken übermäßig zu identifizieren, wenn sie zwangsweise von außen vorgegeben werden. Die Überidentifikation soll den Selbstverrat an den eigenen Emotionen und Bedürfnissen zudecken. Wer hingegen die Entsprechung von Gedanken und inneren Impulsen spürt, kann sich eher eingestehen, dass Ideen gleichsam als ein höheres Geschenk empfangen werden.

Das hier entwickelte Modell macht Denken erstmals als einen materiellen Prozess nachvollziehbar. Viele Philosophen wussten, dass Denken ein an den Leib gebundener Prozess ist und dass der ganze Leib sich am Erkenntnisprozess beteiligt11. Homer kommt mit seiner Auffassung, dass nicht die Seele oder der Geist, sondern das Zwerchfell denkt, meinem Modell am nächsten11 12, das sich aus dem falschen Dualismus von Körper und Geist des Materialismus des 18. und 19. Jahrhunderts löst, der die Diskussion des Geistes bisher geprägt hat. Geistige Prozesse erweisen sich als subtile Bewegungsprozesse, die mit Vorstellungen verbunden werden, in denen sich der Organismus auf die Umwelt bezieht. Wie im Kapitel 10.1 dargestellt wird, handelt es sich bei den Begriffen <Geist> und <Körper> um mentale Konstruktionen, die für das Verständnis des komplexen Zusammenwirkens des ganzen Körpers bei der sprachlichen und denkenden Kommunikation ungeeignet sind.

Es ist überflüssig, eine innere Instanz <Geist>, <Seele> oder <Ich> anzunehmen, die das Denken organisiert. Wenn man von der Selbstorganisation des Denkens ausgeht, ergeben sich Inhalt und Qualität des Denkens von selbst aus der Art des Kontaktes zur Umwelt. Das Denken ist wie ein Radarsystem, das auf drohende Störungen des Kontaktes aufmerksam macht und Lösungsvorschläge vorbereitet. Sowenig wie es eine Seele als das Zentrum des Fühlens gibt, sowenig gibt es einen Geist, der für das Denken verantwortlich gemacht werden kann. Ebenso wenig gibt es ein bewusstes Ich, dass die mentalen Aktivitäten steuert. Immer ist der ganze Organismus am Denkprozess beteiligt, wobei die Atemmembran das zentrale System darstellt. Die Fiktion eines mentalen Steuerzentrums ist offensichtlich die Folge eines personalisierenden Denkens, das aus der Selbsttäuschung des bewussten Denkens ableitet, dass das Denken ein Produkt einer inneren imaginären Person sei.

Häufig wird in Psychologie und Esoterik das Selbst als Instanz des Denkens und als Inbegriff der Intelligenz der Natur in Anspruch genommen. Dieser Begriff hat eine gewisse Berechtigung, da er die Erfahrung in sich aufgenommen hat, dass das bewusste Ich nur auf einen kleinen Bereich des Lebens Einfluss nehmen kann und sich das menschliche Leben primär unabhängig von bewussten Willen selbst organisiert. Er reflektiert die Erfahrung, dass das bewusste Ich immer nur fallweise in das Geschehen eingeschaltet ist, insbesondere in Lern-, Anpassungs-, Entscheidungs- und Konfliktphasen. Er hat nur Sinn, wenn damit die mit Erfahrungen angereicherte innere Natur bezeichnet wird. Paul Goodman definiert in diesem Sinne das Selbst als das System der ständig neuen Kontakte13; letztlich ist damit die Erfahrung der psychischen und mentalen Selbstorganisation gemeint. Da es keine <höhere> Intelligenz gibt, die alles weiß, sondern immer nur so

11 Vgl. Stopczyk 1998

12 Vgl. Snell 1993

13 Dreitzel 1992, S. 41

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viel Erfahrungen, Gedanken und Fähigkeiten vorhanden sind, wie in der aktiven Auseinandersetzung mit der Umwelt gelernt und verarbeitet werden konnten, ist das Selbst nichts mehr als eine Metapher der Selbstorganisation.

Es wird nun verständlich, warum viele Denker behaupten, dass die Qualität des Denkens von der Beschaffenheit des Körpers abhängig sei (z.B. Parmenides). Dabei ist aus meiner Sicht die entscheidende Dimension, in welchem Umfang chronische Verspannungen vorherrschen, sodass der emotionale Ausdruck behindert und dadurch der Kontakt zur Umwelt beeinträchtigt wird. Kreatives Denken gelingt in einem gelösten Körper leichter; ein muskulär verpanzerter Körper zeigt dagegen ein rigides, gewohnheitsmäßiges Denken. Der Unterschied zwischen kreativem und rigidem Denken besteht lediglich darin, dass das rein begriffliche Denken scheinbar frei von Emotionen ist, während das kreative Denken die ihm zu Grunde liegenden und es begleitenden Emotionen nicht verleugnet. Aber auch dem begrifflichen Denken liegen Emotionen zu Grunde: Das angeblich objektive Verhältnis zur Welt ist Ausdruck von Resignation und blockierter Wut. Wenn der eigene Körper als relativ unlebendig erfahren wird, kann auch die Außenwelt nur als Ansammlung von unbeseelten Objekten verstanden werden. Insofern ist die objektivistische Weitsicht die Folge davon, dass bei muskulär verspannten Menschen ein großer Teil ihrer Lebendigkeit unterdrückt wird und sie dadurch innerlich entzweit sind.

Dieses Verständnis des Denkens kann erst akzeptiert werden, wenn die Illusion aufgegeben wird, dass man selbst denken würde, und das Bewusstsein zugelassen wird, dass man gedacht wird. Wahrscheinlich kann sich diese demütige Haltung gegenüber den Gedanken erst wieder entwickeln, wenn gelernt wird, den Atem loszulassen, und damit die Kraft zurückgewonnen wird, die bisherige Abwehr gegen die Konfrontation mit den eigenen persönlichen Probleme aufzugeben.

3.3 Macht und Ohnmacht des Geistes

«Der Gehorsam des Geistes gegen die Schwingungen der Seele ist menschliche Kultur im höchsten Sinne des Wortes.» (Rama Prasad)

Wenn es zutrifft, dass der Geist ein Werk der inneren Selbstorganisation ist, stellt sich die Frage, warum sich überall die Überzeugung von der Macht des Geistes durchgesetzt hat. Sicherlich ist diese Überzeugung aus der Erfahrung hervorgegangen, dass die subjektiven Vorstellungen das Handeln anleiten und dass die Vorstellungen im Bewusstsein verändert werden können.

Oben wurde dargestellt, dass das Fühlen nicht vom Denken zu trennen ist, da die Emotionen von vornherein mit mentalen Vorstellungen verbunden werden (vgl. Kap. 2.5). Wenn neue Vorstellungen gebildet werden, sind stets Emotionen daran beteiligt, da sie die Prioritäten und die Auswahl der bedeutsamen Sinneswahrnehmungen festlegen. Da die Emotionen die Art und Weise des Kontaktes mit der Umwelt prägen und der Organismus sie deshalb als Richtschnur für sein Handeln nimmt, kann man gar nicht anders, als die geistigen Vorstellungen den Emotionen anzupassen. Die Erfahrung zeigt, dass nur Vorstellungen gedacht bzw. von anderen übernommen werden, wenn sie der eigenen emotionalen Orientierung entsprechen. Wenn z.B. die Unfähigkeit besteht, liebevollen Kontakt herzustellen, werden die Vorstellungen dazu tendieren, diesen Zustand zu rechtfertigen. Auch wenn Vorstellungen bewusst verändert werden, kommt der Anlass stets von den Emotionen, die auf Grund von neuen Prioritäten und Bewertungsmustern entstanden. Deshalb besteht das Denken im zwischenmenschlichen Bereich ausschließ-

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lieh darin, die Vorstellungen an veränderte emotionale Muster anzupassen. Selbst hochkomplexe philosophische Theorien haben letztlich nur'die Funktion, ein emotional festgelegtes Handeln zu rechtfertigen. Deshalb ist es problematisch anzunehmen, Denken verfüge über eigene Handlungskraft. Es wäre ein Irrtum anzunehmen, dass die Vorstellungen in freier subjektiver Entscheidung ausgewählt werden können. Vielmehr bilden sie sich gleichsam wie von selbst in der emotionalen Auseinandersetzung mit der Umwelt.

Alle Theorien, die auf die Macht des Denkens setzen, unterschlagen den Einfluss, den Emotionen darauf haben. Wer behauptet, er könne sein Verhalten durch Vorstellungen nahezu beliebig verändern, belastet sich unweigerlich mit großer Verzweiflung und Frustration, weil die von außen aufgesetzten Vorstellungen, die nicht in ihnen entsprechenden Emotionen wurzeln, zwangsläufig scheitern müssen. Durch noch so häufige Wiederholung von positiven Affirmationen können fehlende Emotionen nicht ersetzt werden14.

Die These, dass die Emotionen einen Vorrang vor dem Denken haben, wird durch die Ergebnisse der jüngsten Hirnforschung bestätigt. Der Gehirnforscher Antonio Damasio hat entdeckt, dass bestimmte Areale im Vorderhirn, die für das Denken zuständig sind, auch für gefühlsmäßige Wertungen verantwortlich sind. Personen mit Hirnschädigungen in diesem Bereich zeigten zwar völlig normales Sprachverhal-ten, intaktes Gedächtnis und gute Intelligenzleistungen, waren aber unfähig, lebenspraktische Entscheidungen zu treffen. Dies ist auf beschädigte Emotionen zurückzuführen. Offensichtlich können die alltäglichen Entscheidungen nicht getroffen werden, wenn die Zentren ausfallen, in denen Denken und Fühlen miteinander verknüpft werden. Damasio folgert daraus, dass Rationalität ohne Emotionen nicht funktioniert. Er ist vom Primat der Emotionen überzeugt, da bei Kleinkindern die Emotionen bereits da sind, bevor sich das Denken entwickelt. «Und da das, was zuerst ist, ein Bezugssystem für das liefert, was danach kommt, bestimmen Empfindungen nicht unwesentlich, wie der Rest des Gehirns und die Kognition ihre Aufgaben wahrnehmen. Ihr Einfluss ist immens» (Damasio 1995, S.219).

Die Annahme, dass Denken auf Emotionen aufbaut, leitet sich daraus ab, dass Letztere ein Bestandteil des organismischen Bewertungssystems sind (vgl. Kap. 2.5). Sie unterstützen den Organismus bei der Aufgabe, das Überleben des Organismus zu sichern. Da die emotional bedingten Körperzustände zur Orientierung herangezogen werden, sind sie nicht weniger kognitiv als das Denken, das sich ebenfalls aus dieser Aufgabe heraus entwickelt hat, allein von sich aus aber keine Entscheidungen treffen kann. Wenn die Vorstellungen, die unmittelbar aus den Sinneswahrnehmungen hervorgehen, als kognitiv gelten, muss dies auch den Vorstellungen zugestanden werden, die auf emotionalen Körperzuständen aufbauen. Emotionen können Denken nicht ersetzen, sie sind aber für das Denken unersetzlich, da sie Prioritäten setzen und eine Vorauswahl treffen. Das Denken wird hingegen benötigt, um das Handeln an die konkreten Bedingungen der Situation anzupassen.

Wie sehr die Macht des Denkens im suggestiven Potenzial der Emotionen wurzelt, zeigt sich an Rednern und Schauspielern, die aus deren bewussten Einsatz ihre Ausdruckskraft schöpfen; das Gleiche gilt auch für den Einfluss von Politikern. Wahrscheinlich sind Erfahrungen mit der Suggestivkraft von Emotionen letztlich auch die Grundlage aller magischen Erwartungen. Die Beobachtung, wie Gefühle der Trauer mit seufzenden

14 Vgl. Scheich 1997

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Weinen gelindert, wie Angst und Nervosität durch ruhiges Bauchatmen aufgelöst, wie sexuelle Erregung mit stoßweisem kräftigem Ausatmen gesteigert oder andere Menschen von der eigenen Fröhlichkeit angesteckt werden können, erzeugen ein Gefühl von Macht. Das Phänomen der Magie könnte seinen Ursprung in solchen Erfahrungen haben, dass emotionale Prozesse, die sich der direkten Steuerung entziehen, mit bewussten Ritualen beeinflusst werden können. Mit Bewusstsein wird so indirekt auf etwas Einfluss genommen, was sich der direkten Steuerung entzieht. So kann z.B. mit der Absicht, ein inneres Lächeln zu erzeugen, schlagartig die gesamte persönliche Grundstimmung verändert werden. Dies beweist, dass geistige Vorstellungen in vegetative Prozesse eingreifen können.

Diese Überlegungen über die Einflussmöglichkeiten und -grenzen des Denkens sollen im Folgenden am Beispiel der Steuerung der Emotionen verdeutlicht werden, die im Allgemeinen als Gegenspieler des Geistes aufgefasst werden. Von vielen Philosophen wurde die Hauptaufgabe des Denkens gerade darin gesehen, die Leidenschaften unter die Kontrolle der Vernunft zu bringen. Wie bereits ausführlich dargelegt, ist diese Polarisierung von Denken und Fühlen problematisch. Zu einer normalen psychischen Entwicklung gehört die Aneignung von Emotionen über die Vernunft, die dann bei der Verhaltensorientierung eine wichtige Rolle speilen. Diese kulturell angepasste Verbindung von Denken und Fühlen gelingt am besten, wenn Emotionen sich angstfrei artikulieren können. Dann besteht die Möglichkeit, sie bewusst aufzunehmen und die sie leitenden Vorstellungen im inneren Dialog jederzeit flexibel zu ändern, um sie neuen Situationen anzupassen. Wenn jedoch die Aneignung von Emotionen misslingt, weil auf Grund von psychischen Verletzungen der Kontakt zu ihnen verloren gegangen ist, verwandeln sie sich in blinde Kräfte, die, angetrieben von der Furcht vor neuen Verletzungen oder von der Suche nach deren Kompensation, kaum noch zu bändigen sind.

Das Ziel der mentalen Steuerung der Emotionen besteht darin, dafür zu sorgen, dass der Organismus zu jedem Zeitpunkt so reagieren kann, dass dies mit einem Maximum an sinnlicher Lust verbunden ist. Denn jede Einschränkung der emotionalen Artikulation ist mit muskulären Verspannungen und damit mit Unlust verbunden. Die mentale Steuerung sollte somit im Idealfall auf der sensiblen Wahrnehmung basieren, wie der aktuelle sinnliche Erregungszustand durch die Vorstellungen und die gewählten Atemmuster reguliert werden kann.

Solche bewusste Steuerung hat nichts mit repressiver Selbstdisziplin gemein, sondern steht im Dienst ihres Gegenteils, des Loslassens. Die Selbstdisziplin, die sich an der Zunahme von Freude, Liebes- und Lebenslust orientiert, unterscheidet sich grundsätzlich von einer Selbstdisziplin, die von Pflichtgefühl und Selbstbeherrschungszwang motiviert ist. Sie ist eine «natürliche Disziplin der Lust», bei der zwanghafte Verhaltensweisen einfach wegfallen, ganz ohne Anstrengung. Die Kontrollfähigkeit verstärkt sich mit ihren Erfolgen. Das <Ich> kann sich immer leichter dem freien Lauf der Gedanken überlassen, die unbewusst die noch bestehenden Blockaden des lustvollen Reagierens ins Bewusstsein bringen.

Wenn demgegenüber die Kontrolle über die Emotionen in dem Sinne angestrebt wird, dass die emotionalen Impulse dauerhaft abgewehrt werden sollen, bedeutet dies, dass man sich der natürlichen Tendenz zur Selbstintensivierung der Lust entgegenstellt und sich dafür entscheidet, natürliche Handlungsimpulse zu blockieren. Es zeigt sich, dass der Kontrollwunsch nie originär von der einzelnen Person, sondern regelmäßig von der

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sozialen Umwelt kommt, die dem Einzelnen die bewusste Aneignung der Emotionen verwehrt. Die Selbstunterdrückung der Emotionen kann aber nur gelingen, wenn die für deren Ausagieren zuständigen Muskeln bereits einen hohen Grad an Verspanntheit aufweisen. Dies ist in der Regel der Fall, wenn man jahrelang Wut zurückhalten musste. Man wird für Parolen empfänglich, die das Zurückhalten von Emotionen befürworten, weil sie der Angst vor dem emotionalen Ausdruck entgegenkommen. Das würde bedeuten, dass die Kontrolle der Emotionen kein Verdienst des Geistes, sondern eher eine Rationalisierung der unbewussten Selbstblockierung ist.

Aus diesem Grund muss eine partikulare Erziehung der Emotionen misslingen. Die Veränderung von einzelnen emotionalen Verhaltensmustern in Richtung auf mehr Achtung des anderen und von sich selbst setzt immer die Veränderung der Gesamtpersönlichkeit im Sinne von höherer Sensibilität und Entspannungsfähigkeit voraus. Außerdem muss man sich von der Umwelt akzeptiert fühlen. Es ist deshalb unnötig, gelungene Selbstbeeinflussungen als magisch zu bezeichnen. Das eigentliche Zaubermittel ist die befreite Emotionalität, man könnte auch sagen der befreite Atem. Denn der Organismus kann die Blockierungen seines Atems aufgeben, wenn die Störungen mit der sozialen Umwelt beseitigt sind. Das Ergebnis ist: Was mit dem Atem zerstört wurde, kann auch wieder mit dem Atem geheilt werden.

Das aufgeklärte Denken weiß, dass es seine Kraft der Macht der Emotionen verdankt.

Es fühlt sich am sichersten, wenn es sich von den Emotionen leiten lässt. Es hat erfahren, dass das Handeln relativ frei von äußeren Zwängen sein muss, damit sich die Vorstellungen an den Umständen orientieren können, die in der jeweiligen Situation entstehen. Freies Denken kann sich deshalb nur auf dem Boden freier Emotionalität entwickeln. Freies Denken ist zwangsläufig auch ein erotisches Denken, weil es an der Steigerung der Lust interessiert ist und ein waches Bewusstsein für die Einschränkungen der Lust entwickelt.

Bei der analytischen Frage, ob Entscheidungen determiniert oder frei sind, wird ein falscher Begriff von Freiheit zu Grunde gelegt. Auf der analytischen Ebene gibt es keine Freiheit, da sich alle Entscheidungen aus den jeweiligen Abhängigkeiten des Denkens erklären lassen. Vielmehr muss die Definition an dem Gefühl der Freiheit ansetzen. Man fühlt sich frei, wenn keine äußeren Behinderungen bestehen, um die als richtig erkannte spontane Entscheidung zu befolgen. Das Gefühl der Freiheit stellt sich also ein, wenn man im Einklang mit den inneren Impulsen handeln kann. Die Problematik der inneren Freiheit ist aus historischen Gründen entstanden, seitdem es dem Einzelnen durch soziale Herrschaft verwehrt wurde, sich an seinen inneren Impulsen der Emotionen, Empfindungen, Stimmen u.a. zu orientieren.

Dazu muss gesagt werden, dass es sich bei diesen inneren Impulsen nicht um Natürliches handelt. Sie werden in der individuellen Entwicklung auf Grund des erforderlichen Ausgleichs mit den gesellschaftlichen Anforderungen ständig moduliert. Dabei wird auch der Atem geformt, sodass die Vorstellung des freien Atems eine Fiktion ist. Die Verschränkung des Einzelnen mit der sozialen Umwelt verändert so die innere Natur. Die innere Natur, die meist als Es, Unbewusstes oder Selbst bezeichnet wird, hat so eine individuelle Geschichte. Im sozialen Zusammenleben stellt sich so im günstigsten Fall ein flexibles Gleichgewicht zwischen den inneren Bedürfnissen und den gesellschaftlichen Erwartungen her. Daraus ergibt sich, dass es unzureichend wäre, diese innere Natur als eine rein psychische Instanz zu verstehen. Vielmehr ist sie ein psychophysisches

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Regulationsprinzip, das sowohl die vegetative Regulation als auch die Anpassungsleistungen gegenüber der Umwelt organisiert. Deshalb müssen die mentalen und emotionalen Funktionen als Bestandteil der vegetativen Anpassungsfunktionen betrachtet werden. Man könnte die sich selbst organisierende innere Natur mit Marianne Fuchs auch als «vegetatives Unbewusstes»15 bezeichnen, um die einheitliche Regulation hervorzuheben.

Das hier entwickelte Konzept vom Bewusstsein als Bühne, auf der sich die Ergebnisse des unbewussten Denkens darstellen, bricht mit dem Dogma, dass jeder für das eigene Denken voll und ganz verantwortlich sei. Wenn nun aber Denken ein selbstorganisatorischer Prozess ist, drängt sich die Frage auf, ob nicht die Aktivierung des Denkens genau so funktioniert, wie z.B. das Hungersignal den Körper zum Handeln drängt. So, wie das Hungersignal dem Bewusstsein spontan Vorschläge macht, wie der Hunger gestillt werden könnte, so scheint der durch Wahrnehmungen ausgelöste Denkimpuls spontan Vorstellungen zur Problemlösung hervorzubringen. Für die Vergleichbarkeit beider Prozesse spricht, dass beide Funktionen dem Überleben dienen und auf selbstorganisierten körperlichen Prozessen basieren.

Es ist eine Illusion zu glauben, Denken besäße eine eigene Kraft. Seine primäre Funktion besteht darin, die körperlichen Bewegungsabläufe so zu organisieren, dass sie ihr Ziel, d.h. Kontakt, erreichen. Wenn der Kontakt beschädigt ist, versucht es den bestehenden Rest an Kontakt zu erhalten. Bewusstes Denken ist ein Spiegelbild dieser Bemühungen. Bei chronischen Verspannungen pervertiert die mentale Selbstorganisation zu einer Rationalisierung von fremdbestimmten Vorstellungen. Eine Verbesserung des Denkens muss deshalb bei der Auflösung der emotional bedingten Verspannungen ansetzen.

3.4 Zur historischen Entstehung von Seele und Geist

«Da formte Gott der Herr den Menschen aus Erde vom Ackerboden, blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen.» (Genesis 2/7)

Warum wurden Seele und Geist als unabhängig vom Körper wirkende Instanzen begriffen? Warum konnte sich ein vergeistigtes, idealistisches Körperverständnis entwickeln? Meine These ist, dass die Begriffe Seele und Geist in einer bestimmten historischen Entwicklungsphase entstanden sind und eine bestimmte soziale Funktion hatten. Erst wenn diese soziale Funktion durchschaut wird, kann der menschliche Hang, Seele und Geist als immaterielle Größen zu verabsolutieren, aufgelöst werden. Dann kann auch das mechanistische Körperverständnis überwunden werden, das im Grunde nur eine abstrakte Negation des idealistischen Körperverständnisses ist.

Meiner Meinung nach ist die Geschichte des Geistes von der Geschichte der Seele abhängig. Was dieser ist, kann nur verstanden werden, wenn die Entstehung der Seele geklärt wird. Jean Gebser stellte in seiner historischen Betrachtung des Seelen- und Geistbegriffes fest, dass «es ursprünglich so wenig einen Geistbegriff wie einen Seelenbegriff gegeben hat» (Gebser 1949, S.374). Darüber hinaus arbeitete er heraus, dass es ursprünglich keinen Unterschied zwischen den Inhalten der Wörter <Seele> und <Geist> gegeben hat und dass sie dasselbe bezeichneten. Die Unterscheidung zwischen Seele und Geist ist nach meiner Vermutung entstanden, als vor ca. 2500 Jahren im Zusam

15 Fuchs 1994

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menhang mit der Entstehung komplexer sozialer Herrschaftssysteme eine große Veränderung im menschlichen Selbstverständnis stattgefunden hat, die zu einem reflexiveren Verhältnis zum eigenen Atem geführt hat. Meines Wissens nach ist bisher noch nie der Versuch unternommen worden, die Geschichte der beiden Begriffe, die sich beide ethy-mologisch vom Atem ableiten, aus historisch geprägten Atemerfahrungen abzuleiten. Ihre wahre Bedeutung erschließt sich erst im Kontext ihrer Funktion für das Überleben in Systemen sozialer Herrschaft.

Es ist kein Zufall, dass etwa gleichzeitig im Zeitraum von 700 bis 400 v. Chr. in Indien und im antiken Griechenland ein relativ ähnlicher Seelenbegriff entstanden ist. Die Vorstellung von der Unsterblichkeit der individuellen Seele gab es schon wesentlich länger, aber neu ist der Aspekt, dass die Seele als das Zentrum der Gefühle und Gedanken begriffen und in Verbindung mit einer Weltseele gedacht wurde. Die Seele wurde nun als der innere Wesenskern des Menschen begriffen. Da sie aus der göttlichen Weltseele hervorgegangen ist, nur vorübergehend im menschlichen Körper wohnt und nach dem Tod in die Weltseele zurückkehrt, wurde die Seele als ein göttliches Prinzip begriffen, über das jederzeit ein Kontakt zum göttlichen Prinzip hergestellt werden kann.

So ist es ein Grundgedanke der hinduistischen Upanischaden, dass die Einzelseele (Atman) mit der Weltseele (Brahman) identisch ist und dass die Weltseele in der Einzelseele erkannt werden kann. Deshalb ist Brahman der Atman im einzelnen Menschen. Menschliches Leiden entsteht, wenn die Identität des Atman mit dem Brahman aus Unwissenheit vergessen wird. Die Voraussetzung für Heilung und Erlösung besteht mithin darin, dass man sich wieder mit dem Brahman verbindet und in sich die göttliche Natur erkennt.

Es ist charakteristisch für den damals neuen Begriff der Seele, dass er vom individuellen Ich unterschieden wurde. Die Beschränkungen und Unvollkommenheiten des individuellen Ichs sollten überwunden werden. Man meinte, es sei die Aufgabe der Seele, das individuelle Ich zu transzendieren. Da die Seele als frei von aller Individualität gedacht wurde, sah man sie als etwas Allgemeines. Folgerichtig wurde auch die Weltseele, aus der die individuelle Seele hervorgeht, als ein unpersönliches Prinzip aufgefasst.

Meine These ist, dass die Vorstellung von einer Differenz zwischen dem individuellen Ich und der Seele auf einen historisch entstandenen Riss im Inneren der Menschen hinweist, der auf Grund einer Krise im menschlichen Selbstverständnis entstanden ist. Vermutlich ist die Krise dadurch entstanden, dass man sich auf Grund komplizierter gewordener sozialer Verhältnisse nicht mehr auf die bisher unwillkürlich auftretenden Gefühle und inneren Stimmen verlassen konnte. Früher fühlte man sich im archaischen Bewusstsein gleichsam von den inneren Regungen getragen. Julian Jaynes hat nachgewiesen, dass bis zur Entstehung des neuzeitlichen Seelenbegriffs überall angenommen wurde, dass es innere Stimmen gibt und dass sie von den Göttern kommen16. Dieses Phänomen ist auch in der Ilias von Homer zu beobachten. Den inneren Stimmen wurde ganz selbstverständlich gehorcht. Es gab kein Moment von subjektiver Verantwortung, weil kein Anlass bestand, an der Autorität der inneren Stimmen, die Sicherheit und Gewissheit im Handeln gaben, zu zweifeln.

Der historische Umbruch ist auf die Entstehung komplexer sozialer Herrschaftssysteme zurückzuführen. Seit der Herausbildung der Sprache in ihrer gegenwärtigen Struktur vor

16 Jaynes 1988

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ca. 12000 Jahren hat sich die soziale Entwicklung sehr beschleunigt. Die Anzahl der in Städten zusammenlebenden Menschen und die soziale Abhängigkeit von Herrschern hat extrem stark zugenommen. Dazu hat die Entwicklung der Schriftsprache wesentlich beigetragen. Mit der Entwicklung der Arbeitsteilung und des Fernhandels stieg einerseits der Wohlstand, andererseits nahmen auch Kriege, Gewalt und soziale Not zu. Schließlich war die Entfaltung der Geldwirtschaft, die etwa im Zeitraum der Upanischaden und der Vorsokratiker einsetzte, mit eine wesentliche Ursache, dass in der komplizierter gewordenen Welt die innere Führung durch die göttlichen Stimmen nicht mehr funktionierte. Man konnte sich nicht mehr ohne weiteres seinen inneren Impulsen überlassen, sondern musste sich an äußere, als fremd und feindlich erfahrene Anforderungen anpassen, um das Überleben zu sichern. Die durch die Entfaltung von sozialer Herrschaft entstandenen äußeren Konflikte führten so zu dem Zwang, mit den inneren Konflikten, die auf Grund der wachsenden Fremdbestimmung zugenommen hatten, fertig zu werden.

Die Krise äußerte sich als Unruhe des Geistes und als Verlust der Autonomie in Bezug auf den eigenen Körper. Sie wurde als Verlust der Ganzheit und als Trennung von Subjekt und Objekt interpretiert. Das neue Seelenkonzept bot die Hoffnung an, dass der Verlust der inneren Ganzheit und Einheit durch individuelle Anstrengungen wieder aufgehoben werden könne. Der Begriff <Seele> markierte somit sowohl den Verlust der Ganzheit als auch die Hoffnung auf Erlösung von der Abgetrenntheit. Er kam auf, als die göttlichen Stimmen immer mehr verstummten und man sich ihnen nicht mehr anvertrauen konnte. Die Frage drängte sich auf, wo Gedanken und Gefühle herkommen, wenn dafür nicht mehr die Götter in Frage kommen. Es gab zwar nach wie vor innere Stimmen und spontan gefällte moralische Entscheidungen. Aber wie konnte jetzt ihre Autorität begründet werden?

Das Konzept der Seele war weltweit der Versuch, mit dieser Krise im Selbstverständnis fertig zu werden. Am indischen Begriff <Atman> lässt sich relativ leicht nachvollziehen, auf welchem Erfahrungshintergrund der Seelenbegriff entstanden ist. Der Begriff Atman, der übrigens mit dem deutschen Wort Atem verwandt ist, hat eine lange Entwicklungsgeschichte. Ursprünglich bedeutete er Atem und Hauch, dann Lebenskraft, schließlich Wesen, Selbst und Seele. Es ist bemerkenswert, dass sich der Seelenbegriff in vielen Sprachen völlig unabhängig voneinander aus dem Atembegriff heraus entwickelt hat (z.B. Psyche und Pneuma in antiken Griechenland, Spiritus, Anima und Pneu-ma im Römischen Reich, Ruah bei den Hebräern, Tama im schintoistischen Japan).

Die regelmäßige Verwandtschaft des Seelenbegriffs mit dem Atembegriff beruht sicherlich darauf, dass in dem Moment, als die göttlichen Stimmen verstummten, wahrgenommen werden konnte, dass es in jeder Person eine innere Wirklichkeit der Gedanken und Gefühle gibt, die eine große Eigenständigkeit aufweist und vom bewussten Ich nur in begrenztem Umfang kontrolliert werden kann. Entscheidend war die neue Erfahrung, dass die inneren Phänomene der Gedanken und Gefühle insgesamt als vom Atem getragen und als in Qualität und Intensität vom Atem abhängig erschienen. Es war auch nicht zu übersehen, dass die Lebenskraft unmittelbar vom Atem abhängig ist17. Daraus wurde gefolgert, dass der Atem eine eigenmächtige innere Kraft ist, die in allem wirkt.

Es lag nahe, diese vom Atem geprägte innere Wirklichkeit als einen einheitlichen inneren Raum zu betrachten, in dem sich die Gedanken und Gefühle bilden. Die Idee des in

17 Aus diesem Grund leiten sich auch die indischen und chinesischen Energiebegriffe Prana und Chi direkt vom Atem ab.

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neren Raumes ergab sich unmittelbar aus der Erfahrung der Atemdynamik, die durch die Expansion und Kontraktion der Körperwände das Bewusstsein eines inneren Raumes weckt. Sie wird aber auch durch die raumbezogene Struktur des metaphorischen Denkens unterstützt. Es ist deshalb nicht zufällig, dass die Seele ursprünglich meistens im Brustkorb bzw. im Herzen angesiedelt wurde, da hier die Dynamik des Atems am stärksten zu spüren ist. Der innere Seelenraum konnte jetzt die Funktion übernehmen, die früher die Götter hatten: das Zentrum der persönlichen mentalen und emotionalen Aktivitäten zu sein. Wegen der Dominanz des Atems in der inneren Wirklichkeit war es folgerichtig, sie mit seinem Namen zu bezeichnen. Zwangsläufig mußte sein Bedeutungsumfang erweitert werden. Später hat sich der Begriff für das Zentrum des Innenlebens vom Begriff für den physischen Atem völlig getrennt.

Auf Grund dieser historischen Genese der Seele wird verständlich, warum sie in sämtlichen Seelenkonzeptionen als das Tor zum Göttlichen begriffen wurde. Die Identität von individueller Seele und Weltseele, wie sie im indischen und griechischen Denken begriffen wurde, bedeutet, dass die innere Wirklichkeit nach wie vor das im Inneren wirkende Göttliche ist und man damit über einen direkten inneren Zugang zum Göttlichen verfügt. So kann im Atman die ganze Weltseele erkannt werden.

Mit der Entstehung der Seele verändert sich die Vorstellung von der Transzendenz.

Nach der Auffassung von Julian Jaynes wohnten die Götter ursprünglich auf der Erde. Die in den Tempeln aufgestellten Statuen waren keine Abbilder der Götter, sondern waren sie selbst18. Man konnte ihre Stimmen vernehmen, wenn man sich ihnen zuwendete. Erst als sich die göttlichen Stimmen als unzuverlässig erwiesen, zogen sich nach Vorstellung der Menschen die Götter in den Himmel zurück. Daraus entstand die Vorstellung der jenseitigen Welt. Seit der Entstehung der Seele wurde der Blick darauf gelenkt, dass es auch eine Transzendenz gibt, die in der Eigenmächtigkeit und Unverfügbarkeit der inneren Regungen der Seele liegt. Seitdem ist nicht mehr zwingend, den inneren Seelenraum als etwas Göttliches zu denken. Die Seele kann sich zu einer eigenständigen Führungskraft im Inneren entwickeln. War sie früher das Tor zur Transzendenz gewesen, wurde sie jetzt zur Transzendenz selbst, zur immanenten Transzendenz.

Das neue Konzept der Seele als des inneren Wesenskerns war äußerst folgenreich. Während früher die unwillkürlichen geistigen und emotionalen Regungen als etwas Äußeres und Fremdes erfahren wurden, betrachtete man sie jetzt als ein Bestandteil des eigenen Inneren. Nun erst bestand die Möglichkeit, für sie persönliche Verantwortung zu übernehmen, weil man sich ihnen gegenüber akzeptierend oder ablehnend verhalten konnte. Die Selbstverantwortung war somit der Preis des neu entstandenen subjektiven Bewusstseins. Ebenso entwickelte sich die Vorstellung, dass man im Einklang mit der inneren Natur (Atman, Tao, Logos u.a.) leben müsse. Wenn man die Einheit letztlich selbst zerstört hat, kann man sie auch aus eigener Kraft wiederherstellen. Die Kehrseite der Selbstverantwortlichkeit ist das Schuldbewusstsein, das sich regt, wenn man sich vom Gewissen bzw. von den Bedürfnissen der sozialen Gemeinschaft abwendet. Zugleich entsteht die Möglichkeit der Selbstkontrolle und Selbstdisziplinierung.

Der Begriff der Seele war somit eine Reaktion auf eine neue historische Situation, in der die soziale Erwartung des Gehorsams im Widerspruch zum inneren Wunsch nach Autonomie stand. Das <Ich> erhielt große Bedeutung, weil sich der Einzelne in den komplizierter gewordenen Sozialverhältnissen mit zunehmender Fremdbestimmung bewusst

18 Jaynes 1988, S.205

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arrangieren und dementsprechend innere Antriebe unter Kontrolle bringen musste. Es entstand der Zwang, sich mit den sozialen Erwartungen zu identifizieren und die inneren Konflikte bewusst zu gestalten. Diese Aufgabe verbirgt sich hinter dem Begriff der Selbstkontrolle. Deshalb hat Sigmund Freud das Ich als Instanz der Realitätskontrolle gekennzeichnet.

Die neuen Sozialverhältnisse haben ein höheres Maß an Individualität erzwungen. Man muss die Verbundenheit mit den Eltern, Kindern, Verwandten und Freunden lockern, damit die erzwungene Identifikation mit den Erwartungen der Herrschenden und mit dem ökonomischen Erfolg gelingt. Dieser Individualisierungszwang wurde damals als Hang zum selbstzentrierten Handeln diskutiert. Denn die Orientierung am individuellen Nutzen kann leicht dazu führen, dass man von der sozialen Gemeinschaft abfällt, sich nicht mehr an deren Interessen orientiert und die eigene innere Natur verrät. Deshalb wurde Selbstzentriertheit als die eigentliche Quelle des Bösen angesehen. Seit der Entstehung der Seele ist egozentrisches Handeln und Denken das zentrale Thema aller Religionen geworden. Es wurde beobachtet, dass der Individualisierungszwang mit körperlichen Verspannungen verbunden ist und dass das harmonische Zusammenleben der sozialen Gemeinschaft gefährdet ist, wenn der Atem des Einzelnen dauerhaft blockiert ist. Als Lösung wurde gesehen, dass man sich von allen Beschränkungen und Irrtümern der Individualität befreien müsse. Diese Forderung wurde im Hinduismus besonders extrem formuliert.

Die Empfehlung der Seelenlehren, sich mit dem inneren göttlichen Wesenskern zu verbinden, um selbstzentriertes Denken und Verhalten zu überwinden, beruht auf der Erfahrung, dass die Bedürfnisse anderer mehr respektiert werden, wenn der Körper relativ entspannt und der Atem gelöst ist. Wenn man sich meditativ in die eigene Seele versenkt, können sich die Gedanken auflösen, die den Atem blockieren. Der bislang eingeschnürte Atem kann wieder in seine ursprüngliche Gelöstheit einschwingen. Man fühlt sich frei, offen für den Kontakt mit anderen, konzentriert und wachsam, den anderen respektierend und zugleich im Kontakt mit sich selbst. Denn die alltägliche Erfahrung zeigt, dass der Körper durch Ängste und Unsicherheiten verspannt wird. Die Konzentrationsfähigkeit wird geschwächt, sodass man sich in der konkreten Situation nicht öffnen kann und das Einfühlungsvermögen für die Bedürfnisse der anderen beeinträchtigt wird. Kontaktverlust wirkt sich deshalb so aus, dass die individuellen Bedürfnisse dominant werden.

Es wurde erkannt, dass es eine zentrale Aufgabe der sozialen Gemeinschaft ist, wirksame Rituale zur Überwindung der Atemblockierung zur Verfügung zu stellen. Die Atemübungen haben damit die praktische Aufgabe, die sozial sprengenden inneren Kräfte, die seit der Entstehung der Seele vermehrt entstanden sind, aufzulösen. Daraus erklärt sich z.B. die große Bedeutung der Meditation und der Atemübungen im Yoga. Der Yoga war letztlich der Versuch, die Ganzheit wiederherzustellen, die auf Grund der Blockierung der Reagibilität des Atems zerstört worden war. Die häufig verwendete Metapher der Reinigung bezieht sich ebenfalls darauf, dass alle Verspannungen beseitigt werden müssen, die den Atem einschränken.

Die Wirkung der Atemübungen besteht darin, dass durch die Entspannung der Atemmembran der Kontakt zur sozialen Gemeinschaft verbessert wird, da sich damit das Denken stärker an den Erfordernissen der sozialen Gemeinschaft orientiert. Das Denken findet in seine ursprüngliche Funktion zurück, die im Zusammenleben auftretenden Pro

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bleme zu lösen. Wahrscheinlich ist die antike Vorstellung von einer vernünftigen Weltseele eine Metapher für diese soziale Aufgabe des Denkens. Diese Interpretation entspricht der Idee von Emile Dürkheim, der die Verbindlichkeit des Gewissens auf die Verinnerlichung des kollektiven Gewissens zurückgeführt hat.

Aus dieser Analyse ergibt sich die Einsicht, dass die Befreiung des Atems nicht allein mit dem Denken erreicht werden kann. Vorrangig ist die Lösung der körperlichen Verspannungen. Darauf gründet die große Bedeutung der Dehn-, Entspannungs-, Bewe-gungs- und Atemübungen im Yoga und Qigong. Sie sind unentbehrliche Schritte, weil damit die geistig-körperliche Konzentrationsfähigkeit wiederhergestellt werden kann, die für das Leben im Augenblick erforderlich ist.

Aus dieser Sicht ist die anzustrebende Identität der Einzelseele mit der Weltseele eine Metapher, die nicht nur den inneren Bruch im individuellen Menschen markiert, sondern auch auf den damit verbundenen Verlust der vorgängigen Übereinstimmung mit der sozialen Gemeinschaft hinweist. Da jeder Mensch extrem stark von der Struktur der sozialen Umwelt geprägt wird und außerhalb der sozialen Gruppe früher gar nicht überlebensfähig war, auch heute noch kaum ist, ist sein primäres Interesse, mit ihr in Kontakt zu bleiben. Wenn die soziale Harmonie mit spirituellen Metaphern umschrieben wurde, drückt dies ihre hohe Bedeutsamkeit aus.

Yoga war ursprünglich sicherlich kein Weg der Weltflucht und des Rückzugs in die Innerlichkeit. Es hat primär das Ziel verfolgt, alles zu beseitigen, was der sozialen Harmonie im Wege steht. Die Versenkung ins Atman ist nur ein vorübergehender Schritt nach innen, um den Kontakt mit dem Außen zu verbessern. Was in der Metaphysik als spiritueller Weg zur ekstatischen Einheit mit dem Göttlichen erscheint, ist in Wirklichkeit ein praktischer Weg hin zur Gemeinschaft. Indem in der meditativen Versenkung der Kontakt mit sich selbst gefunden wird, wird zum Kontakt mit den anderen zurückgefunden.

Allerdings bestand von Anfang an die Gefahr, dass Selbstveränderung unabhängig von der Beschaffenheit der sozialen Umwelt als möglich behauptet wurde. Dies ergab sich zum einen aus der Vorstellung, die individuelle Seele entstamme direkt der Weltseele, und zum anderen aus der Tatsache, dass man damals noch nicht übersah, wie stark die Seele des Einzelnen von der sozialen Umwelt, also von anderen Menschen, geprägt wird. Auf Grund ihrer göttlichen Herkunft schien sie vielmehr die Kraft zu haben, sich durch richtige Erkenntnis und richtige Atem- und Bewegungsrituale selbst zu befreien. In dieser individualistischen Sicht wurden die Inder auch dadurch bestärkt, dass sich das Kastensystem, das die einzelnen Sozialgruppen voneinander abschottete, jeder Veränderung entzog. Die Erfahrung von Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit hat die berechtigten mystischen Bedürfnisse verzerrt. Die eigentliche Aufgabe der kollektiven Veränderung der Lebensbedingungen wurde aus dem Bewusstsein ausgeblendet. Dadurch entstand der Grundwiderspruch des Yoga, dass sein Denkansatz zwar auf die Wiederherstellung der sozialen Resonanzfähigkeit des Atems abzielt, dass aber eine Veränderung der kollektiven Lebensumstände ausgeklammert wird.

Aus dieser inneren Dynamik der Selbstveränderung heraus wurde die Seele immer mehr als der bewusste Lenker des Körpers mit seinen blinden, sozialfeindlichen Antrieben verstanden. Die eigentlichen Ursachen des inneren Konfliktes konnten auf Grund der individualistischen Konzeption der Seele nicht begriffen werden. Deshalb betrachtete man als die Aufgabe des Einzelnen, sich selbst in Ordnung zu bringen. Entsprechend hat bei

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Platon das Denken, das als ein Bestandteil der Seele angesehen wurde, die Aufgabe, die anderen Komponenten der Seele, nämlich Affekte und vegetative Begierden, zu kontrollieren. Unter dem Einfluss von Aristoteles und Plotin geht die Führungsfunktion schließlich auf den als unabhängig gedachten Geist über.

Der Geist hat zunehmend die Seele verdrängt, weil er die Aufgabe der Selbstbeherrschung und Selbstdisziplin besser übernehmen kann. Er ist historisch weniger durch transzendente Bedeutungen vorbelastet. Außerdem enthält die Seele von ihrem Ursprung her die entgegengesetzte Bedeutung, sich von den inneren Kräften führen zu lassen. Deshalb war es konsequent, an ihre Stelle eine neue Instanz zu setzen. Da der Begriff des Geistes im Grunde die gleiche Wurzel hat, könnte man auch sagen, dass der Geist die entspiritualisierte Seele ist.

Nach der Auffassung von Annegret Stopczyk ergibt sich die Verabsolutierung des Geistes aus der Notwendigkeit der militärisch organisierten Polisstaaten Griechenlands, die Bereitschaft, das Leben der Polis zu opfern, durch die Unterordnung unter ein neues Ideal zu erzwingen19. Dieser wichtige Aspekt muss noch damit ergänzt werden, dass seit der Entwicklung der Tauschgesellschaft der Einzelne gezwungen wird, vom Nutzen der zu verkaufenden und gekauften Waren abzusehen und vorrangig auf den in ihnen verkörperten abstrakten Tauschwert zu achten. Dieser Zwang zur Abstraktion ist nach Überzeugung von Alfred Sohn-Rethel ein wesentlicher Antrieb zur Verabsolutierung des Geistes20.

Die damit einhergehende zunehmende Unterdrückung der Emotionen hat zur Folge, dass die Empfindungen und Impulse des Körpers kaum noch beachtet werden können. Die handlungsleitende Kraft der Emotionen geht verloren. Die körperlichen Symptome, die auf innere Ungleichgewichte hinweisen, werden übersehen. Die Menschen unterstützten diesen Prozess, weil es dann leichter gelingt, sich autonom zu wähnen. Je mehr man sich als abhängig und ohnmächtig empfindet, umso stärker wird das Bedürfnis, den Geist als autonome Kraft ins Zentrum des menschlichen Selbstverständnisses zu stellen und sich das Denken als eigene autonome Leistung zuzuschreiben. Denn der Geist muss jetzt die Defizite ausgleichen, die durch den Wegfall der orientierenden Kraft der Emotionen und Empfindungen entstanden sind. Insofern ist der autonome Geist eine Folge der Unterdrückung der Vernunft der Gefühle.

Was als Verlust der Einheit mit der Natur interpretiert wurde, erweist sich aus dieser Sicht als die Folge von Verhärtungen der Atemmembran. Sie haben zur inneren Entzweiung und zur Entfremdung von sich selbst geführt. Der Verlust der Einheit mit der Natur ist in Wahrheit der Verlust der Einheit mit sich selbst. Deshalb ist der Ansatz der Mystiker, Ganzheit ausschließlich in individueller Versenkung wiedererlangen zu können, falsch. Dies ist nicht möglich, solange die gesellschaftlich bedingten Verspannungen der Atemmembran fortbestehen.

Wahrscheinlich ist die <Vergeistigung> des Denkens auch dadurch unterstützt worden, dass auf Grund von verringerter Sensibilität das Bewusstsein für den eigenen Atem schwächer geworden ist. Man spürt nicht mehr, wie sensibel der Atem auf alle Erfahrungen reagiert. Das Verständnis dafür ist verloren gegangen, dass die Atmung ein stofflicher Austausch ist, eine Berührung von Eigenem mit Fremden. Wer aber den Atem nicht mehr als etwas Stoffliches erlebt, der rhythmisch den Körper füllt und ihn wieder

19 Stopczykl995, S.295

20 Sohn-Rethel 1972

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verlässt und worin sich alle Erfahrungen spiegeln, hat auch kein Gespür mehr dafür, wie die Qualität dieses Austauschs ganz entscheidend das eigene Lebensgefühl bestimmt. Der Verlust der ständigen Erfahrung, dass man vom stofflichen Austausch mit der Welt abhängig ist und der Atem das Medium ist, in dem sich der Mensch wie ein Fisch im Wasser bewegt, wirkt auf das Denken zurück. Es vertieft dessen Hang zur Selbstverabsolutierung, sodass der Irrglaube an die eigene Unabhängigkeit noch verstärkt wird.

Dass der Geist als unstofflich begriffen wurde, ist bereits in der Entwicklung des Begriffs der Seele angelegt, aus dem sich der Begriff des Geistes erst später heraus entwickelt hat. Der indischen und griechischen Tradition zufolge war die Seele ursprünglich stofflich, dabei allerdings so fein, dass sie von menschlichen Sinnen nicht wahrgenommen werden konnte. Da man annahm, sie habe sich aus den Stimmen der Götter heraus entwickelt, lag es nahe, in ihr eine andere Art von höherer Wirklichkeit zu sehen. Offen blieb allerdings die Frage nach dem Verhältnis von Seele und Körper. Hier gab es eine Fülle von Vorstellungen, aber letztlich hat sich die Vorstellung durchgesetzt, dass die Seele nur äußerlich mit dem Körper verbunden ist. Der Körper wurde sowohl im Hinduismus als auch bei Platon als Käfig der Seele betrachtet. Da die Weltseele als die wahre Realität angesehen wurde und damit auch die Seele als ein höheres Prinzip als der menschliche Körper, in dem sie nur vorübergehend wohnt, bewertet wurde, ist in dieser Vorstellung die Tendenz angelegt, den Körper als etwas Niedrigeres, Minderwertigeres anzusehen. Die Abwertung des Körperlichen ist bei Platon noch nicht vollzogen. Sie setzte sich erst im neuplatonischen Denken der Gnosis durch. Im Zuge dieser Polarisierung wurde die Seele von allem Stofflichen gereinigt, sodass auch der Geist als etwas Immaterielles aufgefasst wurde.

Diese Überlegungen sollten zeigen, dass die Begriffe <Seele> und <Geist> historisch entstanden sind. Sie stellen Versuche dar, die Veränderungen im individuellen Selbstverständnis zu bewältigen, die durch die zunehmende herrschaftliche Fremdbestimmung ausgelöst wurden. Die Entwicklung der Seele ist gleichbedeutend mit dem Verlust der inneren Spontaneität. In dem Maße, wie es historisch notwendig wurde, sich gegen die eigenen inneren Antriebe zu stellen, musste die ursprünglich göttliche Herkunft der Seele aufgegeben werden. Das göttliche Verständnis war nur so lange sinnvoll, wie ein Mindestmaß an Spontaneität zugelassen werden konnte. Als Instrument der Selbstunterdrückung musste die Seele zwangsläufig profanisiert werden und wurde schließlich durch weniger belastete Begriffe wie Geist, Ich, Bewusstsein oder Selbst ersetzt. Insofern signalisiert das Verschwinden des Begriffs der Seele im 19. Jahrhundert ein starkes Ansteigen von sozialer Fremdbestimmung.

4 Die Selbstorganisation des Kontaktes

«Alles, was uns begegnet, läßt Spuren zurück. Alles trägt unmerklich zu unserer Bildung bei.» (J.W. Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre)

Das Ergebnis der bisherigen Überlegungen besteht darin, dass Emotionen den Kontakt herstellen. Kontakt wird dort empfunden, wo eine Resonanz der emotionalen Atemschwingungen mit denen anderer Personen zugelassen wird. Die Resonanz ist aber beim Menschen sehr störanfällig, da jede Verspannung der Atemmembran den resonanten Kontakt beeinträchtigt. Es stellt sich die Frage, warum Menschen dennoch im Stande sind, sich immer wieder in den Kontakt zurückzubringen. Die folgenden Überlegungen

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zeigen, dass auch die Reparatur eines gestörten Kontaktes von den Emotionen übernommen wird. Allerdings ist dies nur möglich, wenn Emotionen hinreichend gut angeeignet werden konnten. Deshalb sind Emotionen nur unter günstigen Bedingungen die Wächter des Kontaktes. Bei der Analyse der Grundemotionen Liebe, Furcht/Angst,

Schuld/Scham, Wut und Trauer soll herausgearbeitet werden, dass Emotionen diese Funktion nur deshalb übernehmen können, weil sie ein differenzierter Ausdruck der Atemdynamik sind. Im Folgenden soll zunächst auf das Phänomen der Lust eingegangen werden, da es das wichtigste Regulativ im emotionalen Verhalten ist.

4.1 Lust und Freude am Kontakt

«Man kann nur so viel Lust mit den anderen teilen, wie man selber hat.»

Der sinnlichen Lust wird in der Literatur die Funktion zugesprochen, das hervorzuheben, was den Menschen nützt. Unlust meldet, was zu vermeiden ist. Merkwürdigerweise ist es der Wissenschaft bisher nicht gelungen, das Phänomen der sinnlichen Lust und Erregung zu verstehen. Diese Schwierigkeit hängt primär damit zusammen, dass sich die Naturwissenschaften weitgehend auf das Trieb- und Energiekonzept stützen. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass das Schwingungskonzept ein besseres Verständnis der Lust ermöglicht. Diese Betrachtung wird klären, warum der Begriff der Lust für das Verständnis des Kontaktes unerlässlich ist.

Nach der Auffassung von Wilhelm Reich basiert Lust auf der Erfahrung der natürlichen Pulsation, die im natürlichen Expansions- und Kontraktionsrhythmus der Zellen begründet ist. Sie ist im Mikroskop bei einzelligen Lebewesen als Flimmern beobachtbar. Die Zelle dehnt sich innerhalb ihrer Membran aus und zügelt sich mit Hilfe der Membran1. Wenn die begrenzende Membran nicht mehr pulsiert, ist die Zelle bald tot. Pulsation ist eine Grundfunktion des Lebens, das Kennzeichen jeder normal funktionierenden, gesunden Zelle. Sie ist ein genauso elementares Kennzeichen des Lebens wie die Membran. Da jeder Organismus aus einem Verband von vielen Zellen besteht, prägt die Pulsation auch die Kommunikation und die Erfahrungen des Gesamtorganismus1 2. Es ist deshalb sinnvoll, für eine Theorie der Lust beim Phänomen der Pulsation anzusetzen.

Die Mikrovibration der einzelnen Zelle liegt unterhalb der Bewusstseinsschwelle. Solange nur wenige Zellen im Gleichklang pulsieren, wird die Pulsation kaum empfunden. Wenn aber größere Körperbereiche in eine synchrone Pulsation einfinden, können die damit verbundenen angenehmen Empfindungen ins Bewusstsein treten, vorausgesetzt, dass sie nicht als störend oder verboten aus dem Bewusstsein ausgefiltert werden. Die Empfindungen werden als Kribbeln, Vibrieren, Fließen, Hitze oder pulsierende Lebendigkeit erfahren. Von Wilhelm Reich und seinen Schülern werden sie mit dem Begriff des Strömens zusammengefasst.

Vermutlich basiert das Strömen darauf, dass der energetische Austausch der einzelnen Zelle mit ihren Nachbarzellen ein bestimmtes Niveau übersteigt. Das ist der Fall, wenn sich die umliegenden Zellen in einem flexiblen Tonus befinden und keinen Widerstand gegen die Ausdehnung der Nachbarzellen leisten. Dann kann die natürliche Pulsation aller Zellen eines größeren Bereichs in ein synchrones Pulsieren übergehen3. Was oft als

1 Der Motor ist die DNS. Vgl. Bischof S. 196

2 Vgl. Neubeck 1992, S.196

3 Wenn z.B. zwei einzelne Muskelzellen des Herzens unter dem Mikroskop beobachtet werden, pulsiert jede mit einem eigenen Rhythmus. Wenn man sie jedoch einander näher bringt, beginnen sie

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Strömen der Energie bezeichnet und im esoterischen Denken als ein großflächiges Fließen der Energie interpretiert wird, ist in Wirklichkeit die sich in die benachbarten Zellen hinein ausbreitende Pulsation. Das Strömen wäre nach diesem Verständnis kein Fließen von Energie, sondern ein synchrones Pulsieren von Zellen.

Für Wilhelm Reich war die Fähigkeit, mit dem Strömen in Berührung zu kommen, der «Durchbruch ins biologische Fundament», die entscheidende Qualität, aus der heraus sich das Verhältnis zur Umwelt neu ordnet. «Wenn wir in Harmonie mit uns selbst und unserer Umgebung sind, ... ergibt sich solch ein Pulsieren ganz spontan» (Henderson 1989, S.63). Auch nach der Auffassung von Mihalyi Csikszentmihalyi ist das Strömen das eigentliche Geheimnis vom Glück. Je mehr Zeit im Zustand des Strömen verbracht wird, umso glücklicher, sinnvoller und vollständiger wird das Leben empfunden. Viele Körpertherapeuten sehen deshalb in der Fähigkeit, die Pulsation als Körpergefühl anzunehmen, sich spontan mit ihr zu identifizieren und das Strömen zu genießen, ein Zeichen psychischer Gesundheit4.

Das Strömen stellt sich regelmäßig ein, wenn Menschen etwas mit totaler Hingabe tun, sodass das Gefühl für die Umgebung verloren geht. Was als Hingabe bezeichnet wird, ist das Sich-tragen-Lassen von der natürlichen Pulsation5. Je synchroner die Pulsation aller Zellen ist, umso stärker ist die damit verbundene Erregung des ganzen Körpers.

Die Pulsation überlagert alle anderen körperlichen Rhythmen, insbesondere die Wellenbewegung der Wirbelsäule, die im Rhythmus des Atems durch den Körper schwingt.

Die sich frei ausbreitende Atemwelle trägt die Pulsation über den ganzen Körper. Vermutlich hat jede Erregung ihre Basis in der natürlichen Pulsation. Der Grad der Erregung würde dann von dem Maß der Synchronizität der Pulsation und ihrer Ausbreitung abhängen. Auch der schwer zu definierende Begriff der Lust findet hier eine Erklärung. Lust wird dort empfunden, wo der Organismus lebendig ist, wo er frei schwingen kann und in vollem Kontakt ist.

Wenn Lust im freien Pulsieren der Zellen begründet ist, bedeutet dies, dass die Lust damit verbunden ist, dass sich jeder Muskel im optimalen Tonus befindet. Lust ist eine Funktion der Bewegung, eine Funktionslust6. Wenn gelöste Bewegungen unterbrochen werden, verschwindet sofort die Lust. Deshalb ist für Alexander Löwen Lust der Grundzustand des gesunden Körpers. Die Körperbewegungen können ungehindert rhythmisch fließen. Zu Recht wird deshalb der Körper oft als eine umfassende Lustzone bezeichnet. Denn jede körperliche Aktivität - z.B. Riechen, Sichbewegen, Sehen, Berührtwerden -kann zur Quelle von Lust werden. Deshalb ist die Sexualität nicht die einzige Quelle or-giastischer Lust; jede Körperzone kann dies sein, wenn sie ausreichend sensibilisiert wird. Die Pulsation manifestiert sich dann als Selbstbewusstsein und Lebensfreude. Immer wenn sich der Organismus ganz einer Tätigkeit überlassen kann, sich also rückhaltlos seinen Impulsen, Gefühlen und Gedanken hingibt, stellt sich das Gefühl der Lust ein. Dieser Zustand wird mit Präsenz, Anwesendsein, mit wacher Selbstvergessenheit, Hingabe an den Augenblick der Gegenwart u.ä. umschrieben. Jede Störung dieses Grundzustandes führt zu Schmerzen7.

gleichzeitig vollkommen synchron zu pulsieren.

4 Neidhöfer 1993, S.38ff

5 Vgl. Neubeck 1992, S.196

6 Bereits Aristoteles hat die Lust als eine natürliche Begleiterscheinung der gelösten Bewegung begriffen und Platon kritisiert, der die Lust aus der Befriedigung von Bedürfnissen abgeleitet hat.

7 Löwen 1983, S. 23 und 71

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Lust ist auch ein Zeichen dafür, dass der Organismus in einem Zustand ist, in dem er situationsbedingt richtig reagieren kann. Wenn alle Zellen in ihrem Grundrhythmus pulsieren, bedeutet dies, dass sich der Organismus mit seinen Sinnesorganen allen Reizen der Umwelt öffnet und er über alle gelernten emotionalen, gestischen, sprachlichen und künstlerischen Ausdrucksformen verfügt. Der Organismus empfindet sich dann als im Einklang mit seiner Umwelt. Der gesunde Organismus spürt in jedem Moment an seinem Gesamtbefinden und insbesondere am Zustand der Atmung, inwieweit er vom Optimum der freien Reagibilität entfernt ist. Alle menschlichen Bewegungen werden nur als stimmig und befriedigend erfahren, wenn sie von einem gelösten Atem getragen werden. Die Qualität des Atems ist damit der Gradmesser für körperliche, emotionale und geistige Gesundheit.

Die Qualität der Bewegungen ist somit davon abhängig, dass sie mit dem Atem verbunden sind. Für die Atemtherapeuten ist es ein Leitsatz, dass harmonische Bewegungen aus dem Atem hervorgehen8. Das hängt damit zusammen, dass jede Bewegung eine spezifische Sauerstoffversorgung benötigt. Im gesunden Körper wird die Atmung spontan auf jede Bewegung eingestellt. Wenn sich so die Atmung harmonisch auf die Bewegung einschwingt, entsteht der Eindruck, als würde die Bewegung aus dem Atem hervorgehen. Bewegung und Atem sind dann insofern eine Einheit, als ihre Schwingungen kohärent sind. Der physikalische Begriff der Kohärenz, der den Ordnungszustand von mehreren Schwingungen kennzeichnet, kann deshalb auch für die menschlichen Bewegungen verwendet werden. Die Harmonie von Bewegungen basiert demnach auf der Kohärenz von körperlichen, emotionalen und mentalen Schwingungen. Man fühlt sich mit der Bewegung identisch, weil sich darin der ganze Mensch mit seinen Gedanken und Gefühlen ausdrückt.

Wenn dagegen einzelne Körperbereiche auf Grund von Verletzungen oder emotionalen Zurückhaltungen blockiert sind, wird davon die ganze Körperhaltung und damit jede Bewegung tangiert. Die Einheit von Atem und Bewegung geht verloren. Die Bewegungen machen dann einen mechanischen Eindruck. Die innere Dissoziation teilt sich dem Bewusstsein als Unbehagen und als stockender Atem mit. Dies setzt bei gesunden Menschen Mechanismen der Selbstregulation in Gang, um die Reduktion der Lebendigkeit aufzuheben.

Lust und Atem sind damit die beiden Stellgrößen, mit denen der Organismus sich in das Gleichgewicht zurückbringen kann. Sie sind die zentralen Faktoren in der organismischen Selbstregulation. Lust hat damit eine große Bedeutung in der organismischen Selbstregulation. An ihr kann der Organismus ablesen, inwieweit er in Kontakt mit der Umwelt ist. Lust kann ihren Beitrag aber nur leisten, wenn der Organismus noch ausreichend entspannt ist, sodass er das pulsatorische Strömungsgefühl und die Körperwelle zulassen und spüren kann. Jede muskuläre Verspannung unterbricht das Strömen, da sich dann keine synchronen Schwingungen entfalten können.

Freie Pulsation und freier Atem gehören zusammen. Wo sich Pulsation ausbreitet, kann auch der Atem fließen. Denn Pulsation setzt Kontakt voraus. Das Muskelgewebe befindet sich in ausgeglichenem Tonus. Wenn sich Pulsation auf den ganzen Körper ausbreitet, wird zusätzlich die Atemwelle ausgelöst. Die Lust eines Bereichs wird dann zu einem ganzkörperlichen Phänomen. Deshalb ist im Grunde jede Lust, an welcher der ganze Körper beteiligt ist, Atemlust. Jede partielle Lust eines Körperteils tendiert dazu, sich

8 Vgl. Middendorf 1988, S.45

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mit der Atemlust zu verbinden. Jeder Sinn und jeder Körperteil können den Zugang zur Atemlust finden, wenn sie die unwillkürliche Körperpulsation zulassen. Freilich ist nicht jede Lust Atemlust. Wenn die lokale Lust nicht mit der gesamtkörperlichen Atemlust verbunden ist, wird sie als unbefriedigend und oberflächlich empfunden. Die sinnliche Lust bleibt isoliert und begrenzt. Erst die Beteiligung der Atemreaktion macht aus der partiellen Lust eine Lust des ganzen Körpers und gibt ihr Tiefe und Intensität. Erst zusammen mit der Atemreaktion wird Lust zum erfüllenden Ereignis.

Lust ist damit ein zentraler Aspekt jeder gelungenen menschlichen Bewegung. Dies gilt auch für Bewegungen, mit denen Menschen ihre Kommunikation organisieren: Gesten, Gefühle und Sprache. Diese kommunikativen Bewegungen erhalten ebenso wie die Bewegungen der Gliedmaßen einen anderen Charakter, wenn sie vom gelösten Atem begleitet werden. Diesen Zusammenhang hat Goethe geahnt, als er davon sprach, dass alle Lust aus der Leichtigkeit kommt. Es kommt deshalb darauf an, die verbalen und emotionalen Fähigkeiten so zu entwickeln, dass man sie genießen kann. Lust ist somit nicht bloß die Gewinnung von Lust oder die Vermeidung von Unlust, sondern die Erweiterung und Steigerung der Lebendigkeit im Kontakt.

Es hat sich gezeigt, dass sinnliche Lust in der pulsatorischen Schwingung der Körperzellen begründet ist und dass Lust umso befriedigender erfahren wird, je umfangreicher ein synchrones Mitschwingen vieler Körperzellen erreicht wird. Der Zustand höchster Syn-chronizität drückt sich in der freien Atemwelle aus und wird als Ekstase empfunden. Im Prinzip besteht alles Mitfließen, Mitströmen, «Im-Lebensprozess-Sein» (Schaef-Wilson) u.ä. darin, dass eine umfassende innere Pulsation zugelassen wird. Sie stellt sich ein, wenn man sich ganz einer Person oder Sache hingibt, also ganz in der ekstatischen Versunkenheit im gegenwärtigen Augenblick lebt. Andererseits kann die Pulsation blockiert werden, wenn mit Vorstellungen muskuläre Fehlspannungen veranlasst werden.

Erreichte Lust zeigt sich im Gefühl der Freude. Im Gegensatz zu den meisten anderen Emotionen ist Freude nichts Flüchtiges und Vorübergehendes, sondern eher eine Grundstimmung. Wenn man im Zustand der Freude ist, fühlt man sich lebendig; wenn dagegen Freude abwesend ist, fühlt man sich gelangweilt, misslaunig, zerrissen u.ä. Freude zeigt sich an einem lächelnden, entspannten Gesichtsausdruck. Sie ist meist mit Selbstzufriedenheit, Selbstvertrauen, erhöhter Lebendigkeit, eine guten Stimmung, Überzeugung von der eigenen Kompetenz und Stärke u.a. verbunden. Freude ist einerseits Ausdruck von Wohlbehagen und von Kontakt mit sich selbst, andererseits aber auch von Harmonie mit der Umwelt. Freude begünstigt zwischenmenschliche affektive Bindungen und intensiviert auf diese Weise soziale Beziehungen. Das Lächeln überträgt sich spontan auf andere Menschen und verstärkt deren Freude. «Das Lächeln der Freude auf dem menschlichen Gesicht ist der allgemeinste und wirksamste soziale Stimulus, den es gibt» (Izard 1994, S.276).

Die Emotion der Freude kann in jeder Aktivität ausgelöst werden, die das Individuum in unmittelbaren Kontakt mit anderen Menschen, Ideen oder anderen Gegenständen bringt. Freude ist Ausdruck des menschlichen Grundbedürfnisses, in Kontakt mit allem zu kommen, was für die Reproduktion des eigenen Lebens wichtig ist. Schon das erste Lächeln des Säuglings zeigt, dass es einen Kontakt mit der Mutter aufgenommen hat. Die Freude ist somit ein äußerst bedeutsames Signal, da es meldet, dass ein guter Kontakt gelungen ist. An der Freude kann gespürt werden, dass man richtig gehandelt hat und über die Fähigkeiten verfügt, einen guten Kontakt herzustellen. Die Freude kennzeich

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net so den Zustand optimalen Funktionierens.

Das Gefühl der Begeisterung kommt auf, weil man sich durch den Kontakt bereichert und belebt fühlt. Alles was die eigene Lebendigkeit steigert, weckt das Gefühl der Dankbarkeit. Aus der extremen Bedeutung des Kontaktes, der beim Menschen nicht mehr durch Instinkte gesichert ist, sondern immer wieder neu gestaltet werden muss, ergibt sich das für den Menschen typische Neugierverhalten, das die meiste Zeit wirksam ist und damit das alltägliche Leben der Menschen am meisten prägt. Neugierde ist eine Variante der Freude, da sie davon lebt, belebende Kontakte herzustellen.

Bei jedem gelungenen Kontakt werden Erinnerungsspuren gebildet, die die Wiederholung der freud- und lustvollen Erfahrungen bei einem neuen Kontakt erwarten lassen. Personen oder Gegenstände gelungenen Kontaktes werden so mit positiven Erwartungen aufgeladen. Die wiederholte Bestätigung dieser Erwartungen führt zu ihrer Akzeptanz. Aus der Akzeptanz entwickelt sich eine subjektive Bindung. Sie besteht so aus einem dichten Geflecht von Vorstellungen, die mit der Erwartung verbunden sind, im Kontakt eine Steigerung der eigenen Lebendigkeit zu erfahren.

Bei der Freude ist die Atmung ruhig und ausgeglichen. Sie unterscheidet sich kaum von der Ruheatmung. Meistens ist eine Atempause vorhanden. Der Atem kann sich flexibel an die Situation anpassen. Das Grundgefühl der Freude ist somit an einen gelösten Atem gebunden. Dann kann sich die natürliche Pulsation, die physiologische Grundlage der Freude, entfalten. Die Leichtigkeit des Atems manifestiert sich im ganzen Bewegungsverhalten. «Das Springen, Hüpfen und beflügelte Gehen sind bezeichnende motorische Symptome der Freude. Während die Bewegung nach oben sonst der Schwerkraft abgerungen werden muss, ist sie dem von Freude beflügelten Menschen selbstverständlich und gelingt mit merkwürdig schwebender Leichtigkeit» (Schmitz 1989, S.lll).

Im Zustand der Freude kann sich der Einatem voll entfalten. Damit ist voller Kontakt verbunden, weil der uneingeschränkte Einatem ein resonantes Mitschwingen ermöglicht. Offensichtlich ist es ein physiologisches Grundprinzip, dass mit der stofflichen Aufnahme der Atemluft alle anderen aufnehmenden Aktivitäten gekoppelt werden. So wird das absichtsvolle Greifen der Hände und das Saugen mit dem Mund spontan mit der Einatemreaktion verbunden. Wenn die Arme ausgebreitet werden, um jemanden zu umarmen, kommt spontan der Einatem. Auch die Sinnesorgane nehmen intensiver im Einatem auf. Selbst die bewusste gedankliche Hinwendung hat vorwiegend mit der Einatmung zu tun. Offensichtlich wird die in der Einatmung erfolgende körperliche Ausdehnung genutzt, um alle aufnehmenden Aktivitäten direkt damit zu verbinden.

Häufig wird der Einatem spontan angehalten. Das kann passieren, wenn man sich auf etwas besinnt (innehält), lauscht oder die Aufmerksamkeit kurz anspannt. Das Atemanhalten nach dem Einatmen hat im gesunden Körper eine nützliche Funktion: Bei geforderter maximaler Konzentrations- und Muskelleistung, d.h. wenn ein hoher Sauerstoffverbrauch erwartet wird (z.B. Schlag mit Beil), ist das Anhalten physiologisch sinnvoll. Dabei wird durch die Anspannung der Bauchmuskeln und des Zwerchfells die Wirbelsäule abgestützt und der Körper in der stabilsten Position gehalten9. Japanische Sportler erzielen die beste Leistung im Augenblick des Atemanhaltens. Das Atemanhalten als Mittel der geistigen Konzentration und körperlichen Kräftigung ist aber nur sinnvoll, wenn die unwillkürliche Gesamtatmung noch ungebrochen ist10.

9 Lewit 1987, S.275

10 Jacobs 1985, S.198

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Ein wesentliches Charakteristikum der Freude ist das Lächeln. Am Lächeln ist zu beobachten, dass es auch willkürlich aktiviert werden kann, ohne dass deshalb seine stimmungsverändernde Wirkung abgeschwächt wird. Wissenschaftler haben nachgewiesen, dass mit einem gewollten Lächeln die Gehirnaktivität, mit der die Stimmung reguliert wird, weitgehend genauso beeinflusst werden kann wie beim spontanen Lächeln. Das würde bedeuten, dass durch einen willkürlich erzeugten Gesichtsausdruck physiologische Veränderungen herbeigeführt werden können. Offensichtlich wirkt sich die Entspannung des Gesichtes auf den ganzen Körper aus. Daraus wird auch verständlich, warum das Lächeln im Qigong systematisch als eine Methode der inneren Entspannung eingesetzt wird. Dabei kann gespürt werden, wie sich der Atem mit dem inneren Lächeln vertieft und beruhigt11. Demgegenüber kann aber Freude als Grundstimmung nicht willkürlich herbeigeführt werden.

Nach der Auffassung von Izard wurzelt die Emotion der Freude in einem neurophysiolo-gischen Prozess. Sie wird ausgelöst, wenn sich der Gradient neuraler Stimulierung relativ scharf verringert11 12, das heißt, wenn ein plötzlicher Übergang von Erregung und Anspannung in den Zustand von Ruhe und Entspannung geschieht. Danach wäre Freude nur ein vorübergehendes Gefühl, gebunden an die Auflösung von vorhergehenden Spannungen. Das entspricht der alltäglichen Erfahrung, dass Freude in dem Moment aufkommt, wenn man beim Üben von neuen Fertigkeiten die Phase der Unsicherheit und Angst überwunden hat und sie nun leicht und scheinbar mühelos von der Hand gehen.

Diese Interpretation der Freude basiert darauf, dass kein Unterschied zwischen der freudigen Grundstimmung einerseits und dem Hochgefühl nach der Erfahrung eines lang ersehnten Anlasses der Freude andererseits gemacht wird. Freude als Grundstimmung kann sich nur entfalten, wenn man fähig ist, in der Gegenwart zu leben und sich mit Neugierde allen Reizen zu öffnen. Diese Fähigkeit ist bei den meisten Menschen durch ein Übermaß an körperlicher Verspannung zerstört worden, sodass der Atem eingeschnürt ist und sich die gelöste Grundstimmung nicht entfalten kann. Statt dessen macht sich eine emotionale Grundstimmung von Resignation und Langeweile breit. Solche Menschen können sich nur noch dem Gefühl der Freude öffnen, wenn sich plötzlich eine starke Anspannung auflöst und der Anschein entsteht, dass man künftig besser im Kontakt sei. Auf Grund dieser Überlegungen ist es unzureichend, die physiologische Grundlage der Freude allein an der Auflösung von Anspannungen festzumachen. Das Wesen der Freude kann erst aufgedeckt werden, wenn man sie als eine Atemschwingung begreift, die signalisiert, dass der Kontakt mit anderen gelungen ist.

4.2 Kontakt herstellen - Liebe als die soziale Grundemotion

«Nur was wir lieben, gibt uns frei.» (Bert Hellinger)

In allen Religionen und Weisheitslehren steht die Liebe im Zentrum der Aufmerksamkeit. Liebe ist der Inhalt aller menschlichen Sehnsüchte. Sie hat bisher eine überwältigende Fülle von Definitionen erfahren: Liebe als der Wunsch nach Überwindung der Abgetrenntheit; Liebe als die Fähigkeit, sich mit allen Sinnen wach und aufmerksam dem Augenblick zu öffnen; Liebe als das Fließen von Gefühlen und Vorstellungen auf etwas anderes zu; Liebe als die Bereitschaft, für den geliebten Partner Opfer zu bringen und dessen Bedürfnisse zu übernehmen; Liebe als die Fähigkeit, der Stimme des Her

11 Lewis 1997, S.153

12 Izard 1994, S. 108

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zens zu folgen; Liebe als die Kraft, die alle Dinge ordnet; Liebe als Sublimation des Geschlechtstriebes u.a. Man könnte annehmen, dass in den Definitionen jeweils ein Aspekt der Liebe herausgegriffen wird, sodass alle Aspekte zusammengenommen das Wesen der Liebe ausmachen würden. Aber diese Einstellung drückt nur Ratlosigkeit aus.

Die Liebe wird im Allgemeinen als eine unkörperliche Äußerung der Seele verstanden. Diese Idealisierung der Liebe drückt das Bestreben aus, sie von allem als unrein empfundenem Körperlichen zu reinigen, ebenso die Weigerung, die Liebe aus der Körperlichkeit des menschlichen Organismus abzuleiten, d.h. das Bestreben, sie weder aus den Bedingungen des menschlichen Organismus noch aus den Bedingungen des menschlichen Zusammenlebens zu verstehen. Daraus erklärt sich der abstrakte und unkritische Charakter der Liebesdefinitionen. Liebe wird zu einer mystischen Größe erhoben, die mit den irdischen Lebensbedingungen nichts zu tun habe.

In den folgenden Überlegungen soll geprüft werden, ob aus der Sicht der bisher entwickelten Atemtheorie eine realitätsnähere Definition der Liebe entwickelt werden kann. Dabei geht es um die These, dass Liebe eine Grundemotion ist und das deshalb die Auffassung vieler Emotionsforscher, dass Liebe bloß eine abgeleitete Emotion, d.h. eine Kombination anderer Emotionen wie z.B. Freude und Akzeptierung sei, kritisiert werden muss13. Untersuchungen von Susana Bloch zeigen, dass Liebe ebenso wie alle Emotionen ein charakteristisches Schwingungsmuster des Atems aufweist. Ihr Atemmuster besteht aus einer weichen Atmung, deren Amplitude und Frequenz kaum von der Ruheatmung zu unterscheiden ist. Charakteristisch sind die immer vorhandene Atempause, die weichen Bewegungen, die entspannte Körperhaltung, die natürlich geöffneten Augen mit entspannten Augenlidern und Augenbrauen, der direkt gerichtete Blick mit halb offenem Mund und etwas nach unten hängenden Mundwinkeln14. Auffällig ist, dass keine andere Emotion mit ihren Schwingungen so nah bei der Ruheatmung ist.

Wenn beobachtet wird, was körperlich geschieht, wenn man liebt, fällt auf, dass man ganz vom Gegenstand der Liebe ausgefüllt wird. Man fühlt sich von einem Gefühl der Aufgeschlossenheit und Aufnahmebereitschaft durchströmt. Üblicherweise werden Metaphern der Verschmelzung oder der Einverleibung benutzt. In Wirklichkeit befindet sich aber das Bewusstsein nur an der äußersten Membrangrenze zur Außenwelt und öffnet sich allen Reizen, die auf den Organismus eintreffen. Der Organismus kann natürlich nicht mit den Reizen verschmelzen, sondern sich nur auf sie einschwingen, d.h. in Resonanz mit ihnen gehen. Der Kontakt ist umso intensiver, je vollständiger Resonanz zugelassen wird. Offensichtlich empfinden Menschen Liebe, wenn sie in Resonanz mit etwas anderem sind.

Wenn Kontakt darin besteht, sich auf die Schwingungen von etwas anderen einzuschwingen, könnte daraus die These abgeleitet werden, dass das Charakteristikum der Liebe darin besteht, dass die inhärente Resonanzbereitschaft des Atems vollständig zugelassen wird. Bei allen anderen Emotionen grenzt man sich von anderen ab (bei der Wut,

Angst), ist man eher im Kontakt mit sich selbst (Freude) oder ist man auf sich zurückgewendet (Trauer). Nur im Atemzustand der Liebe kann der Organismus vollständig mit den Schwingungsmustern anderer Menschen in Resonanz treten und sich mit ihnen identifizieren. Liebe ist insofern eine soziale Grundemotion, da sie Menschen veranlasst, aus sich herauszugehen, die egozentrierte Haltung zu verlassen und sich mit der

13 Vgl. Izard 1994, S.54

14 Vgl. Bloch 1992, S.37

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sozialen Gemeinschaft zu verbinden. Liebe ist Im-Kontakt-Sein. Deshalb ist Liebe das eigentliche Grundbedürfnis der Menschen.

Liebe geht mit Wohlgefühl und Lust einher, da dann der Organismus im Zustand des optimalen Funktionierens ist (vgl. Kap. 4.1). Frei von Verspannungen kann sich der Organismus allen Reizen der Situation öffnen und alles in sich aufnehmen. Der freie Atem spricht auf alles an, was die Lebendigkeit erhöht. Sympathische Menschen, gutes Essen, frische Luft, kluge Gedanken, Imagination, Kunst, sexueller Kontakt u.a. werden geliebt, weil der Atem signalisiert, dass sie das Leben bereichern15. Liebevolle Hingabe ist die Erlaubnis an alle inneren und äußere Reize, die Sinne zu berühren und den ganzen Organismus zu verwandeln. Deshalb ist man sich im Zustand der Liebe sicher, dass das, was man tut, richtig ist und dass es dem, mit dem man in Kontakt ist, gut tut. Liebe signalisiert dem Organismus, das alles in Ordnung ist. Da dann alle menschlichen Funktionen im Optimum sind, fühlt man sich in der Liebe am lebendigsten. Deshalb ist die Liebe nicht irgendein Gefühl unter anderen, sondern ihr Vorhandensein oder ihre Abwesenheit prägt die Grundverfassung des menschlichen In-der-Welt-Seins.

Der vorherrschende Gefühlszustand des Liebenden ist Begeisterung (vgl. Kap. 2.2).

Dem Liebespartner wird größte Aufmerksamkeit zugewendet, es entfaltet sich ein starkes Interesse, ihn zu verstehen, in seiner Nähe zu sein und alles für ihn zu tun, um sein Gefallen zu finden. Es entwickelt sich eine intensive Beziehung, in der sich beide Partner angstfrei zeigen und ihre Gefühle, einschließlich der zärtlichen und sexuellen, austauschen und ausleben. Insgesamt wird der Partner als ein einmaliges Wesen angesehen, das über große Vorzüge verfügt. In der wechselseitigen Zuneigung entfalten sich Vertrauen, Respekt und Verantwortung füreinander. Trotz der Überzeugung, dass eine tiefe Übereinstimmung mit dem Liebespartner besteht, wird ihm die Freiheit gelassen, sich seinem eigenen Rhythmus entsprechend zu entwickeln. Zu Recht spricht Luhmann von der gegenseitigen «kommunikativen Resonanz» in der Liebe16.

Heinz Meyer vermutet, dass die Verliebtheit «kein total einzigartiges Phänomen (ist), sondern <nur> eine spezielle oder extraordinäre Variante menschlicher Begeisterung» (Meyer 1994, S.286). Denn die Verliebtheit zeige alle Charakteristika der Begeisterung: Das Denken und Fühlen des Verliebten wird völlig vom Liebespartner in Anspruch genommen; der Liebespartner wird als ein außergewöhnlicher Mensch idealisiert; es besteht die Erwartung totaler körperlicher, geistiger und emotionaler Kommunikation; die Verliebtheit wird als Leidenschaft erlebt. Sie ist eine Form der Beziehung, in der die verbindenden Elemente überzeichnet und die trennenden Elemente ignoriert werden. Insofern kann die Verliebtheit als eine Form der Begeisterung verstanden werden, in der die Erfahrung der Differenzen tendenziell ausgeblendet wird. Wenn sie schrittweise anerkannt wird, verwandelt sich Verliebtheit in Liebe.

Man wird dem Wesen der Liebe nicht gerecht, wenn sie als der ernüchterte Versuch angesehen werden wird, «eine Zuneigung nach dem Abklingen der begeisterten Verliebtheit mit Hilfe von (geistigen) Einsichten und Entscheidungen zu stabilisieren» (Meyer 1994, S.234). Nicht die Verliebtheit ist das grundlegende Verhaltensprogramm, wie Meyer annimmt, sondern die Liebe! Wer Liebe als Ergebnis der Ernüchterung bzw.

15 Wenn die Liebe zum atmenden Luftholen nicht so lustgeprägt ist wie dies bei den anderen Lieben ist, so liegt dies daran, dass das freie, saugende Atmen im Interesse des inneren Gleichgewichts gehemmt worden ist. Die «Urliebe zur Luft» (Balint) wird erst wieder bewusst, wenn einmal Luftmangel besteht.

16 Luhmann 1982, S. 200

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<Entgeisterung> der Verliebtheit versteht, unterschlägt, dass im Idealfall einer gelingenden Liebesbeziehung alle Elemente, welche die Begeisterung der Verliebtheit ausgelöst haben, auch in der Liebe weiterleben können, vorausgesetzt, dass die sozialen Umstände einen gleichberechtigen wechselseitigen Austausch zulassen. Wenn in der Regel bald nach dem Rausch der Verliebtheit nur die emotionale Kälte der <Beziehungslosigkeit in der Beziehung) übrig bleibt, liegt dies allein an den Lebensbedingungen, welche die Entwicklung von Autonomie verweigern.

Die Liebe wird von Maturana zu Recht als die Grundemotion des sozialen Lebens herausgestellt. Er kennzeichnet Liebe «als eine Emotion, die den Bereich der Handlungen bestimmt, in denen sich die Annahme des anderen im nahen Zusammenleben ereignet» (Maturana/Verden-Zöller 1994, S.234). Das Zusammenleben im gegenseitigen Respekt und gegenseitiger Akzeptanz hat die Idee der Person entstehen lassen. Sie hält die Erfahrung fest, dass soziales Zusammenleben nur gelingt, wenn der andere als ein legitimer anderer angenommen wird. Insofern setzt die Idee der Person die Liebe voraus. Daraus darf aber nicht die Schlussfolgerung gezogen werden, dass Liebe ohne die Idee der Person unmöglich ist, wie dies Octavio Paz behauptet17. Wenn sich die Idee der Person auflöst, bedeutet dies keineswegs das Ende der Liebe. Wenn dagegen die Liebe zerstört wird, endet soziales Zusammenleben. Da die «Biologie der Liebe» (Maturana) in der Resonanzfähigkeit des Atems begründet ist, kann das menschliche Zusammenleben nur Bestand haben, wenn sich die Resonanzfähigkeit entfalten kann.

Liebe ist eine besondere Form der Resonanz. Für das bloße Sich-auf-den-anderen-Ein-schwingen wird der Begriff der Einfühlung verwendet. Von Identifikation wird gesprochen, wenn man sich das, was in einem anderen schwingt, zu Eigen macht (Assimilation). Einfühlungsvermögen und Identifikation sind aber noch keine Liebe. Sie führen zunächst dazu, dass man sich im anderen verliert, mit ihm verschmilzt, sich dessen Atemmuster aneignet und damit von ihm abhängig wird. Ihnen fehlt deshalb das für die Liebe charakteristische Moment, dass der andere in seinem Anderssein akzeptiert wird, ohne dass die eigene Eigenständigkeit aufgegeben wird. Von Liebe kann deshalb nur gesprochen werden, wenn man trotz der Resonanz mit dem anderen identisch mit sich selbst bleibt. Liebende Resonanzbereitschaft bedeutet also, sich von anderen prägen zu lassen, sich mit seinen Wünschen und Erwartungen zu verbinden, ohne dabei aber die eigene Identität zu verlieren. Liebe ist Mitschwingen ohne Aufgabe der Eigenschwingung. Sie ist die Folge der genialen Eigenschaft der Atemmembran, sowohl im Einklang mit dem anderem als auch im Kontakt mit dem inneren Zustand des Organismus schwingen zu können. Wenn deshalb Liebe als Eins-Sein verstanden wird, ist dies eine mystische Fiktion, die der menschlichen Aufgabe, eine komplexe Balance zwischen Eins-Sein und Anders-Sein herzustellen, nicht gerecht wird. Erschöpft sich die Liebe in einfacher Resonanz, wird sie zur Symbiose (vgl. Kap. 5.1). Wird der andere nicht akzeptiert, löst sich Liebe auf und wird zum infantilen Versorgtwerden. Liebe darf deshalb nicht mit Resonanz gleichgesetzt werden. Liebe ist eine besondere Resonanz, bei der im Zusammenschwingen gleichzeitig das Gefühl der Verschiedenheit besteht.

Es ist Zeichen menschlicher Unvollkommenheit, dass die Resonanz nie vollständig ist. Wahrscheinlich kann absolute Resonanz auf Grund der menschlichen Vergesellschaftung nur noch in Grenzsituationen erfahren werden. Aus der Erfahrung unterschiedlich gelungener Resonanz ist die Vorstellung der idealen Resonanz entstanden, die sich in

17 Paz 1995, S.239

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der Idee der göttlichen Liebe und in der mystischen Idee, dass sich die Einzelseele mit der kosmischen Allseele verbindet, niedergeschlagen hat. Wahrscheinlich speisen sich alle Utopien letztlich aus dem physiologisch verwurzelten Verlangen nach absoluter Resonanz mit der Umwelt.

Wahrscheinlich hat die für die Liebe charakteristische Atempause die Bedeutung, dass sie das Mit-sich-selbst-identisch-Sein und damit die Nähe zur absoluten Resonanz ausdrückt. Für Lillemor Johnson hat die Atempause die Funktion, den Zugang zum wahren Selbst, zu den inneren Ressourcen, zum inneren Kraftzentrum herzustellen18. Damit drückt sie aus, dass die Atempause anzeigt, dass man in Kontakt mit sich selbst ist. In diesem Zustand kann man den anderen respektieren, weil man sich selbst akzeptieren kann. Damit lässt die Atempause die trennenden sozialen Aspekte gegenüber den Gemeinsamkeiten zurücktreten.

Liebe ist keine rein emotionale Angelegenheit, die nichts mit Denken tun hätte. Wenn man sich den Empfindungen des Körpers öffnet, kann man nicht übersehen, dass eigentlich nur das klar gedacht werden kann, was auch geliebt wird. Denn die Voraussetzung jeden guten Denkens ist Resonanz. Wenn die Liebe fehlt, ist das Denken entfremdet und mechanisch. Nur das Denken, das sich konformistisch an die gesellschaftlichen Denkregeln hält, kann sich vormachen, dass es von Emotionen unbeeinflusst sei. Wahrscheinlich basiert die utopische Vorstellung, dass das wahre Denken ein erotisches Denken sei, auf der Erfahrung, dass sich das Denken am Primat der Liebe orientieren muss und dass die Kraft der Liebe hilft, die das Denken einschränkenden Lebensbedingungen aufzuheben.

Der Liebe wird oft eine verändernde Kraft zugeschrieben. So stellte Sokrates im Symposion fest, dass die Liebe äußerst empfindlich macht, was die Liebe behindert. Liebe verwandele jene, die Liebe empfangen und geben. Liebe sei bereit, alles zu ändern. Sie habe eine verändernde Kraft, weil sie hellsichtig macht für alles, was die Entfaltung und den Ausdruck der Liebe behindert, bei sich, beim anderen und bei den sozialen Lebensbedingungen. Deshalb heißt es, dass die Liebe sehend macht. Liebe wird zur Besessenheit und Verrücktheit, weil es den Liebenden unmöglich ist, von dem Kampf gegen die Beengungen ihrer Liebe abzulassen.

Da Liebe die Quelle neuer Lebensformen und Verhaltensweisen ist, hat die soziale Umwelt die Liebenden stets sehr aufmerksam beobachtet. Im Gegensatz zum romantischen Liebesideal, das die Liebe als alleinigen Besitz der Liebespartner sieht, betrachtet die Gesellschaft die Liebe schon immer als ein zentrales soziales Thema. Aus der Liebesbeziehung heraus kann das soziale Gleichgewicht verändert werden, weil sie sich die Liebenden gegen die ihre Liebe behindernden Bedingungen wenden. Hier verflüssigen sich die alten Strukturen und können neue Formen angenommen werden. Die Liebe stellt damit die Frage, wie viel Änderungen die Gesellschaft zulassen kann, ohne ihr Bedürfnis nach Konstanz aufzugeben.

Aus den bisherigen Überlegungen geht hervor, dass Kontaktfähigkeit die eigentliche subversive Kraft ist. Durch die entspannte und befreite Atemmembran wird die Wahr-nehmungs- und Empfindungsfähigkeit aufs Äußerste gesteigert, sodass der geringste Widerstand gegen intimen Kontakt gespürt wird. Die Erfahrung, dass das Leiden umso schmerzlicher ist, je intensiver der Kontakt ist, wird aus dem Bestreben der Atemmem-

18 Johnson 1981, S.7 und 13

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bran verständlich, die Sensibilität für alles Trennende zu steigern. Je mehr sich der Liebende öffnet, umso empfindlicher wird er für Einschränkungen des Kontaktes, sodass schon geringe Einbußen der resonanten Übereinstimmung sehr schmerzhaft erlebt werden. Umgekehrt werden Menschen mit beeinträchtigter Liebesfähigkeit mit dem Liebes-verlust viel leichter fertig, da sie sich mit ihrer verhärteten Atemmembran besser schützen können.

4.3 Warnsignale vor Kontaktstörung - Angst, Schuld und Scham

«Man hat nur Angst, wenn man nicht mit sich einig ist.» (Hermann Hesse)

Wie gezeigt wurde, ist der menschliche Kontakt auf Grund der Entwicklung der Atemmembran zum Organ der emotionalen und verbalen Kommunikation sehr störanfällig geworden. Der Organismus braucht deshalb Mechanismen, um sich vor drohenden Verspannungen der Atemmembran zu schützen. Dafür sind die Emotionen der Furcht und Schuld, die es bereits im Tierreich gibt, zu wirksamen Wächtern des Kontaktes weiterentwickelt worden, indem sie mit inneren Vorstellungen verbunden wurden.

4.3.1 Furcht und Angst

Zwischen Furcht und Angst besteht kein Gegensatz. Beide Emotionen beziehen sich darauf, dass sie etwas vermeiden wollen und dass sie eine mögliche Schädigung annehmen. Sie erwarten in Zukunft eine Bedrohung bei der Erfüllung ihrer Bedürfnisse. Sie sind damit ein spontanes Signal dafür, dass die Bedürfnisse des Organismus nach körperlicher Unversehrheit, leiblicher Versorgung oder emotionaler Zuwendung gefährdet sind. Sie haben damit die Funktion, auf drohende Störungen des Kontaktes hinzuweisen, und können deshalb sehr nützlich sein, um negative Einflüsse auf die Intensität des Kontaktes frühzeitig zu erkennen und darauf zu reagieren.

In der Entwicklung des Kleinkindes gibt es zunächst nur die Furcht vor konkreten Verletzungen der Bedürfnisse. Wie alle anderen Emotionen wird auch die Furcht schon sehr früh mit persönlichen Erfahrungen verbunden. Immer häufiger wird Furcht ausgelöst, weil Erinnerungen an frühere Situationen geweckt werden, in der man eine Bestrafung oder Zurückweisung erfahren hatte. Diese Erfahrungen werden gespeichert, sodass sie in Zukunft in ähnliche Situationen geweckt werden können. Ob also eine Situation als bedrohlich wahrgenommen wird, hängt von früheren Erfahrungen ab. Das Furchtsignal weckt Wut, mit deren Kraft das Kind versucht, die Verletzungen abzuwehren, oder sich der Gefahr zu entziehen. Die Furchtsamkeit ist so der Wegbereiter der Handlungsfähigkeit. In gesichertem Kontakt wird gelernt, die animalische Furcht vor Vernichtung in eine konstruktive Kraft umzuwandeln, mit der sozialer Kontakt gesichert werden kann. Daraus entsteht das Selbstbewusstsein, das die Kraft gibt, soziale Normen ohne Angst zu übertreten, wenn die Situation dies erforderlich macht.

Wenn jedoch das Kind wiederholt damit scheitert, sich durchzusetzen, kann es nicht lernen, mit der Furcht umzugehen. Es entsteht das Gefühl von Hilflosigkeit. Es basiert auf der Überzeugung, nicht über Kräfte zu verfügen, um Gefährdungen abzuwehren, und dadurch Schaden zu erleiden. «Der spezifische Angstcharakter menschlicher Furcht ergibt sich aus der Antizipation einer Hinderung oder Aussichtslosigkeit des Wegstrebens sowie den Versuchen zur Bewältigung der Folgen des gehinderten Weges> » (Fink-Eitel/Lohmann 1993, S.63). Das Kind scheitert damit, die Furcht als eine akzeptierte Emotion in die Persönlichkeitsentwicklung einzubinden. Die Furcht wird zu einer eher

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lähmenden Kraft, die zur Vermeidung, Zurückhaltung, Flucht vor Kontakten oder zu süchtigem Ersatzhandeln (Sucht, Besitzgier, Herrschsucht u.a.) anleitet. Das Gefühl der Hilflosigkeit äußert sich in dem Gefühl unbestimmter Bedrohung, vor der es keinen Ausweg gibt. Es kann deshalb unbestimmte Ängste der Vernichtung oder Desintegration auslösen. Angst ist somit die Folge schlecht gelernter Furcht. Angst richtet sich gegen die eigenen Impulse. Insofern ist Angst immer etwas Neurotisches. Sie zeigt, dass man die durch die Furcht ausgelöste innere Erregung nicht ertragen kann.

Sigmund Freud führt Angst auf die «Furcht vor der Trennung von der beschützenden Mutter» zurück19. Was das kleine Kind in der Angst fürchtet, «habe den Charakter eines Vernichtet-, eines AusgelöschtWerdens». Das Kind liebt die Mutter so sehr, dass es die Trennung von ihr als Tod empfindet. Jede spätere Angst erinnere an die früheren Ängste vor dem Verlassenwerden und an die dabei empfundene Todesangst. Allerdings muss angemerkt werden, dass sich die Furcht des Kleinkindes erst zur bedrohlichen Angst entwickelt, wenn das kindliche Bedürfnis nach Geborgenheit nachhaltig frustriert wurde. Wie ausgeführt, ist die Besonderheit der Angst gegenüber der Furcht darauf zurückzuführen, dass die Aneignung der Furcht misslungen ist. Der Angst ist immer das Gefühl der Ausweglosigkeit und Hilflosigkeit beigemischt. Deshalb steht hinter der Angst immer der drohende Verlust sozialer Geborgenheit.

Das Atemmuster der Furcht zeichnet sich dadurch aus, dass das Verhältnis zwischen Ein- und Ausatmung stark zugunsten der Einatmung verschoben ist und dass unregelmäßige Stöße im Einatem auftreten. Die Amplitude der Atemschwingungen ist sehr hoch. Charakteristisch für die neurotische Angst ist, dass der Atem häufig beim Einatmen angehalten wird. Das Anhalten kann durch konkret erfahrene Furcht, aber auch bloße Erwartung des Gefürchteten ausgelöst werden. Die Erfahrung bestätigt, dass dadurch die Erregung unter Kontrolle gehalten werden kann. Dabei wird der Brustkorb angespannt und die Ausatmung behindert. Kein anderes Gefühl kann so eindeutig dem Einatem zugeordnet werden. Das Gefühl der Furcht hängt unmittelbar mit der gesteigerten Erregung auf Grund der intensivierten Einatmung zusammen. Furcht wird zur Angst, wenn die chronische Anspannung des Brustkorbs hinzukommt, die mit dem dadurch im Brustraum bewirkten anhaltenden Unterdrück die Empfindung von Enge und Bedrücktheit schafft.

Die Kehrseite der positiven Funktion des Atemanhaltens, dass dadurch die innere Erregung gedämpft werden kann, besteht darin, dass die Sauerstoffversorgung, insbesondere des Gehirns gestört wird. Dadurch entstehen Empfindungen der Unruhe, Verwirrung und Unsicherheit. Außerdem kann die Schmerzempfindung nur kurzfristig durch das Atemanhalten unter Kontrolle gehalten werden20.

Obwohl die Angst von ihrer Entstehung und ihrem Atemmuster her eindeutig dem Brustraum angehört, wird sie häufig (z.B. in der indisehen Chakrenlehre) dem Bauchraum zugeordnet. So wird die Angst im Taoismus mit der Niere verbunden. Dies liegt daran, dass die Angst häufig eine Folge unterdrückter Wut ist. Wenn mit der Wut nicht konstruktiv umgegangen werden kann, gerät man zwangsläufig häufig in Situationen, in denen man sich hilflos fühlt und deshalb mit Angst reagiert. Die Blockierung des Zwerchfells in der Einatemstellung übt Druck auf das Sonnengeflecht aus und vermindert die sympathikusgesteuerte Erregung. Auf Grund der fehlenden Entspannung des Zwerch-

19 Freud, Sigmund, zit. nach Brown 1962, S.140

20 Hendricks 1995, S. 43

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fells beim Ausatmen lastet ein Dauerdruck auf der Niere. Hinzu kommt, dass bei chronischer Angst große Mengen von Nebennierenhormonen (Adrenalin, Corticoïde) produziert werden und wegen der Überlastung der Nebennierendrüsen die Nierengegend stärker gespürt wird. Aus dem Einfluss des blockierten Zwerchfells auf den Bauchraum und der starken Aktivierung der Nebenniere wird verständlich, warum Angst dem Bauchraum zugeordnet wird, obwohl sie physiologisch zum Einatmen gehört, die den Brustraum akzentuiert. Es ist die neurotische Angst, die den Bauch in das Empfindungsbewusstsein bringt.

Wenn man sich ängstliche Gedanken über die Zukunft macht, entsteht daraus das Gefühl der Sorge. Sorge wird in der chinesischen Medizin mit der Milz in Verbindung gebracht. Das hängt offensichtlich damit zusammen, dass der Atem immer wieder aus Angst angehalten wird. Das bringt das Herz in Unruhe und Aufregung. Davon wird die unter dem Herz liegende, nur durch das Zwerchfell von ihm getrennte Milz in Mitleidenschaft gezogen.

Angst kann in alle Emotionen regulierend eingreifen. So ist z.B. Eifersucht die Angst vor dem Liebesverlust. Bei der Eifersucht wird die normale Angstreaktion auf einen tatsächlich oder vermeintlich bevorstehenden Verlust einer nahe stehenden Person chronisch. Meist liegt dem zu Grunde, dass ein atemberaubendes Trennungstrauma noch nicht aufgearbeitet worden ist. In jedem intimeren Kontakt meldet sich dann die Angst vor der Wiederholung des Verlassenwerdens.

Die das soziale Handeln regulierende Angst wird meist als Gewissen bezeichnet. Die Angstsignale melden, dass die artikulierten Emotionen die Grenzen des sozial Akzeptierten überschreiten. Das Gewissen ist so etwas wie ein sich selbst regulierender Kompass im Inneren. Aus der Perspektive der Theorie der Selbstorganisation kann das Gewissen als die Gesamtheit der Emotionen bestimmt werden, an denen sich ein Individuum in seinem Kontakt mit der Umwelt orientiert. Wer seinem Gewissen folgt, hat das Gefühl, sich selbst treu zu sein. Von ihm sagt man, dass er aufrichtig ist. Im Begriff <aufrichtig> ist die Beobachtung enthalten, dass solche Menschen aufrecht stehen. Aufrichtigsein bedeutet also, dass man in Übereinstimmung mit dem Gewissen handelt und zu sich selbst steht.

Das Gewissen entwickelt sich im konkreten Handeln. Es wird erfahren, welche Handlungen von der Umwelt abgelehnt werden. Dabei muss gelernt werden, einen bewussten Abgleich zwischen den gesellschaftlichen Anforderungen und den individuellen Bedürfnissen herzustellen. Nur im Handeln kann erfahren werden, ob der gefundene Kompromiss, wie man seine Emotionen ausdrückt, funktioniert. Alle daraus gewonnenen Erfahrungen werden als Vorstellungen gespeichert und können unbewusst das künftige Verhalten steuern. Das Gewissen bleibt so dem Bewusstsein zugänglich. Seine Inhalte können jederzeit verändert werden, wenn die Lebensumstände ein anderes Verhalten erfordern.

Wenn die Umwelt es nicht zulässt, dass man sich im Handeln erprobt, wird das Gewissen starr und rigide. Unterbleibt die bewusste Auseinandersetzung zwischen den Anforderungen und den inneren Impulsen, können sozialen Erwartungen nicht persönlich angeeignet werden. Die sozialen Anforderungen werden gleichsam blind übernommen. Sie bleiben etwas Fremdes und entziehen sich dem Zugriff des Bewusstseins. Das Gewissen wird tyrannisch. Es geht das Gefühl verloren, freiwillig dem Gewissen zu folgen. Statt dessen fühlt man sich einem inneren Zwang unterworfen. Das hängt damit zusammen,

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dass man sich unbewusst mit den gesellschaftlichen Anforderungen identifiziert hat und sich an ihnen blind und ohne Rücksicht auf die besondere Situation orientiert. Das Gewissen wird zur Instanz der gesellschaftlichen Fremdbestimmung; es wird zur Instanz der Herrschaft im eigenen Inneren.

Dem rigiden Gewissen entspricht auf der körperlichen Seite ein starres Rückgrat. Man kann nicht zurwc&blicken, ist stur und halsstarrig. Die Emotionen werden zurac&gehal-ten. Der Organismus ist von Konflikten zerrissen. Denn die inneren Bedürfnisse, die unbeachtet geblieben sind, bestehen fort und drängen auf Anerkennung. Jeder Konflikt bedeutet, dass sich innere Impulse zu Wort erheben, dass man sie aber nicht zulassen kann, da man unreflektiert an bestimmten gesellschaftlichen Erwartungen festhält. Man kann sich nicht entscheiden, weil man nicht gelernt hat, zwischen beiden Seiten abzuwägen.

Das Gewissen hat seine große Bedeutung erst durch die Entwicklung der Sprache und des begrifflichen Denkens bekommen. Solange das Verhalten durch direkte Konditionierung mit Belohnung und Strafe programmiert wurde, gab es keine inneren Konflikte. Das Bewusstsein für die Differenz zwischen den gesellschaftlichen Anforderungen und den inneren Bedürfnissen konnte erst entstehen, als sowohl für die sozialen Anforderungen als auch für die inneren Impulse sprachliche Vorstellungen gebildet werden konnten. Das bedeutet, dass auch das Gewissen eine Folge der Entstehung des <Geistes> und der entsprechenden Ausdifferenzierung der Atemmembran ist.

4.3.2 Selbstkontrolle durch Schuld und Scham

Schuld und Scham sind die psychischen Wachposten der Person. Nach gängiger Auffassung wachen sie über die Einhaltung der sozialen Normen und der selbstgesetzten Ziele. Die Normen können sich sowohl auf die Regeln des Zusammenlebens als auch auf die eigenen Schwächen, das Hässliche und Mangelhafte beziehen. Sie entwickeln sich, wenn die sozialen Normen verinnerlicht werden und ein Ich-Ideal aufgebaut wird, und melden sich, wenn durch eigenes Handeln oder Vorstellen eine soziale Norm verletzt wurde. Sie werden also bei einem Zusammenbruch des sozialen Gleichgewichts aktiviert. Sie sind somit eine Reaktion auf Trennung, Desintegration oder Entfremdung.

Schuld und Scham sind oft untrennbar miteinander verbunden. Während das Schuldgefühl stets eine moralische Qualität hat, ist dies beim Schamgefühl nicht unbedingt der Fall. Ebenso wie Schuld entsteht Scham, wenn eine akzeptierte Norm verfehlt wurde. Entscheidend bei der Scham ist die Vorstellung, dass andere von der Verfehlung wissen. In der Scham ist das Selbstbild verletzt und das Selbstwertgefühl bedroht. Am Erröten ist die Diskrepanz zwischen dem realen Handeln und dem idealen Selbstbild zu erkennen.

Schuld und Scham schaffen ein Bewusstsein für die Folgen des eigenen Handeln. Sie sind Kontrollmechanismen dafür, dass das eigene Handeln, in das oft eine kontrollierte Erregung der Wut hineinfließt (vgl. Kap. 4.4.2), nicht über das Ziel hinausschießt und mit den Absichten der anderen Menschen verbunden bleibt. Sie bemessen das Handeln daran, ob es der Beziehung nützt oder schadet. Für Lifton hat Schuld die evolutionäre Funktion, sich für das physische und psychische Leiden anderer zur Verantwortung zu ziehen21. Schuld hat damit die Funktion, die wechselseitige Abhängigkeit der Mitglieder einer sozialen Gruppe in den Emotionen zu verankern.

21 Lifton 1986, S.206

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Das Schuldgefühl ist offensichtlich eine besondere Ausprägung der Furcht. Als Furchtsignal zeigt es an, dass der Organismus Normen des Zusammenlebens zu verletzen und damit aus dem Optimum seines Reagierens herauszufallen droht. Das trifft nicht nur zu, wenn man andere Menschen verletzt, sondern auch, wenn man sich selbst Schaden zufügt. Beide Male wird die eigene Identität und Gesundheit bedroht. Man muss sich mit der Wut des Verletzten, der Ablehnung durch ihn und der Strafe auseinander setzen und mit Selbstablehnung und -bestrafung rechnen. Die Schuld wird letztlich von der Angst motiviert, die Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe zu verlieren. Das Schuldgefühl ist somit eine körperliche Reaktion, mit der die Wiederherstellung des früheren Gleichgewichts angestrebt wird.

Das Besondere am Schuldgefühl resultiert aus seiner Verbindung mit dem Einfühlungsvermögen. Nur auf der Basis eines entwickelten Einfühlungsvermögens kann die Wut und Empörung anderer antizipiert werden, wenn man mit dem eigenen Handeln ihre Bedürfnisse verletzt. Das Unrechtsbewusstsein ist damit die Grundlage für die Entwicklung von Verantwortlichkeit. Deshalb hat Schuld immer etwas mit Beziehungen zu tun. Was der Beziehung schadet, wird als Schuld empfunden22. Wenn man unfähig ist, sich in die verletzten Gefühle des Geschädigten hineinzuversetzen, versagt das Unrechtsbewusstsein als Regulator des eigenen Verhaltens. Deshalb wird es bei egozentrischem Verhalten brüchig (vgl. Kap. 3.4).

Die Schuldfähigkeit ist abhängig von der emotionalen Bindung: Je intensiver die soziale Bindung ist, umso intensiver wird Schuld bei der Verletzung anderer gespürt. Das entwickelte Schuldbewusstsein braucht nicht unbedingt Dritte, welche die Verfehlung beobachten. Das Schuldgefühl regt sich bereits, wenn man die Entfaltung der eigenen Fähigkeiten oder die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse behindert. Insofern ist das Postulat der existenzialistischen Theorie richtig, dass Schuldgefühle zwangsläufig erlebt werden, wenn man nicht seine vollen menschlichen Fähigkeiten entfaltet. Allgemein gesprochen, erhebt das Schuldgefühl seine warnende Stimme, wenn die eigene Lebendigkeit eingeschränkt wird. Die wahrgenommene Selbsteinschränkung äußert sich als Schuldgefühl. Das Schuldgefühl hat deshalb ursprünglich nichts mit sozialen Normen zu tun. Schuld ist nicht zwangsläufig mit der Angst vor Strafe verbunden. Die sozialen Normen benutzen bloß den Regulationsmechanismus der Schuld, um damit die bestehenden Sozialverhältnisse zu stabilisieren.

Entscheidend ist, inwieweit man in Situationen, in denen man andere verletzt, noch im Kontakt bleibt und damit das Einfühlungsvermögen angesprochen wird. Wenn die Kontaktfähigkeit unentwickelt geblieben oder zerstört worden ist, wird das Schuldgefühl erstickt. Wenn sich die soziale Gemeinschaft nicht mehr auf das Schuldgefühl ihrer Mitglieder verlassen kann, muss sie es durch die Angst vor angedrohten Strafen ersetzen. Das bedeutet, dass die soziale Bindung der Menschen untereinander im Prinzip ohne Angst vor Strafen möglich wäre, wenn sich das Schuldgefühl voll entwickeln könnte.

Schuld steht in enger Beziehung zur Wut. Wie ich weiter unten darstellen werde, hat die Wut das Ziel, Schuldgefühle beim Gegenüber zu wecken, die ihn versöhnlich stimmen bzw. für eine Versöhnung zugänglich machen sollen. Wut folgt dem kollektiven Gerechtigkeitsgefühl und hat das Ziel, dem anderen zum Bewusstsein für sein Unrecht zu bringen. Sie will den anderen dazu zwingen, sich in die Situation des Verletzten hineinzuversetzen. Dann wäre er bereit für Reue, Wiedergutmachung und Versöhnung. Die

22 Hellinger 1994, S.196

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Wut will die gestörte Ordnung wiederherstellen; sie ist deshalb ein soziales Gefühl. Das Schuldgefühl ist umso lebendiger, je mehr man einen souveränen Umgang mit der Wut gelernt hat. Dann weiß man aus eigener Erfahrung, was man den anderen antut.

Aus der komplexen Struktur des Schuldgefühls ist zu schließen, dass es kein eigenständiges Atemmuster hat. Das Atemmuster der Schuld wird primär davon geprägt, wie stark der Anteil der Furcht bzw. Angst ist. Das Angstmoment im Schuldgefühl manifestiert sich in der Blockierung der Atmung. Dementsprechend können Schuldgefühle mit schwerem Atem, zugeschnürter Kehle und Niedergeschlagenheit einhergehen.

Wenn die Angst übermächtig ist und die Wut dauerhaft zurückgehalten wird, verwandelt sich die Schuld in unbewusste, neurotische Schuld. Neurotische Schuld ist virtuelle Schuld, da sie sich aus nicht bewusst eingestandenen aggressiven Gedanken speist. Neurotische Schuld reagiert also nicht auf aggressive Handlungen, sondern auf aggressive Vorstellungen. Der Organismus neigt dazu, die in der Einbildungskraft vollzogenen aggressiven Handlungen als wirklich anzunehmen. Deshalb schaffen sie die für die Wut typischen Verspannungsmuster. Das Schuldgefühl verliert seine Sensibilität und damit die konstruktive Kraft, das soziale Gleichgewicht zu bewahren.

Es fällt dann schwer, für die tätige Reue einen angemessenen Ausdruck zu finden. Es besteht die Gefahr, dass das Schuldgefühl in ein unproduktives Versagensgefühl gegenüber Forderungen der Umwelt uminterpretiert wird. Damit verliert Schuld ihre produktive, schöpferische Kraft der Erneuerung und verstärkt die innere Zerstörung. Das führt nicht nur zu der tiefen Unzufriedenheit, die Sigmund Freud als Unbehagen an der Kultur diagnostiziert hat, sondern auch zu der Bereitschaft, die Aggression in Kanäle einfließen zu lassen, die von der Kultur in Form des Fremdenhasses, der Verfolgung Abweichender u.a. zur Verfügung gestellt werden.

Schuld und Scham erweisen sich als genuin moralische Reaktionen. Sie sind körperliche Reaktionen, welche die Funktion haben, ein gestörtes Gleichgewicht wiederherzustellen. Das Schuldgefühl aktiviert das Handeln: Die Schuld soll durch versöhnendes Tun ausgeglichen werden. Allerdings wäre Sühne ein falscher Weg. Wer sich zum Ausgleich für den Schaden am anderen schadet, vermeidet damit, die verletzte Beziehung zu verändern. Durch die Sühne wird vermieden, sich dem Schaden an der Beziehung zu stellen23.

4.4 Kontakt wiederherstellen - Trauer und Wut

«Das Gefühl findet, der Scharfsinn weiß die Gründe.» (Jean Paul)

Wenn der Kontakt durch Verletzung von Bedürfnissen oder durch Verlust abgebrochen wird, regen sich die Gefühle der Wut oder der Trauer. Beide Gefühle sind mächtige Kräfte, um den abgerissenen Kontakt wiederherzustellen. Ihr Problem ist, dass sie durch chronische Verspannungen in ihrer Effektivität sehr stark herabgesetzt werden können, sodass die emotionale Selbstorganisation beeinträchtigt wird.

4.4.1 Mut zur Trauer

Trauer ist eine Reaktion auf einen erlittenen Verlust. Die Trauerreaktion ist am heftigsten bei dem Verlust von geliebten Menschen; sie tritt aber auch bei dem Verlust von Dingen, dem Nichterreichen von wichtigen persönlichen Zielen oder dem Verlust von

23 Hellinger 1994, S. 380

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Gesundheit ein. Ebenso können eine als berechtigt erlebte Herabsetzung oder verlorene Lebenschancen eine Trauerreaktion auslösen. Stets wirkt sich der Verlust so aus, als wäre ein Stück der eigenen Identität verloren gegangen, was auch eine verminderte Selbstachtung zur Folge hat. In jedem Fall ist die Trauer ein Signal dafür, dass der Kontakt zu anderen Menschen oder Dingen gestört ist24.

Mit der Trauerreaktion wird die Bereitschaft aktiviert, den Verlust zu verarbeiten, um so den gestörten Kontakt zu erneuern oder auszugleichen. In der Regel läuft dies darauf hinaus, den Verlust zu akzeptieren. Dann kann unter den veränderten Umständen ein neues Gleichgewicht gefunden werden. Dazu wird die Energie von den Aktivitäten des normalen Lebens, besonders für Zerstreuungen und Vergnügungen, zurückgezogen. Der vorübergehende soziale Rückzug schafft die Gelegenheit, den Verlust zu verarbeiten. Dabei müssen die mit dem verlorenen Menschen geteilten Aufgaben und Erwartungen oder die an Dinge fixierten Vorstellungen aufgelöst werden. Denn regelmäßig werden dem Partner Aufgaben übertragen, die man selbst nicht so gut erledigen kann. Die in die Bindung investierten Erwartungen müssen nun ins eigene Ich zurückgeholt werden, damit man fähig wird, unabhängig davon weiterzuleben. Die Auflösung der dysfunktional gewordenen Vorstellungen ist auch mit Ärger, Wut, Schuldgefühl und Angst verbunden. Dieser innere Restrukturierungsprozess kann nur gelingen, wenn die dabei auftretenden Gefühle gegenüber anderen Menschen ausgedrückt werden. «Entscheidend für die Trauerarbeit sind nicht die Tränen, sondern die Äußerung von Gefühlen» (Bacque 1996, S.129).

Das Atemmuster der Trauer zeichnet sich durch unregelmäßige Atemstöße in der Einatmung aus. Die Einatmung überwiegt die Ausatmung. Die Atmung weist eine große Amplitude auf. Es fehlt die Atempause. Es ist ein Charakteristikum der Trauer, dass die Stimme mit eingesetzt wird. Infolge des krampfartigen Zusammenziehens von Kehlkopf und Zwerchfell kommt es häufig zum Schluchzen. Beim Schluchzen wird nicht nur ausgiebig und verlängert ausgeatmet, sondern auch tief eingeatmet. Die Trauer ist eine Emotion der Einatmung. Sie kann sich nur entfalten, wenn die Einatmung nicht durch Ängste blockiert wird. Die Beobachtung, dass das Trauergefühl beim Ausatmen stärker zu sein scheint, steht damit nicht im Widerspruch. Nur wenn die Ausatmung losgelassen wird, kann die Einatmung so frei sein, dass sich die Traueremotion entfalten kann.

Die mit der Trauer verbundenen Schmerzen resultieren aus den durch den Verlust entstandenen körperlichen Verletzungen. Denn der Verlust hat eine innere Verunsicherung ausgelöst. Viele auf den Partner bezogenen Reaktionsgewohnheiten sind orientierungslos geworden. Der Organismus verspannt sich, um die innere Unsicherheit zu kompensieren. Dadurch entstehen die bedrückenden Trauerschmerzen. Je intensivere Bindungen geknüpft wurden, umso heftiger ist der Trauerschmerz. Wer nur oberflächliche, zweckbezogene Beziehungen eingeht, kennt keine Trauer.

Die Traueremotion erhält ihre befreiende und erneuernde Kraft dadurch, dass bei dem stoßweisen Einatmen das Zwerchfell erschüttert wird. Wenn zusätzlich die Stimme eingesetzt wird und es zum Schreien kommt, wird einerseits das Zwerchfell weiterhin aktiviert und andererseits die ungeteilte Hingabe an den Schmerz vergrößert, sodass er leichter angenommen werden kann und dadurch gelindert wird. Verspannungen im Brustkorb, die zunächst in Reaktion auf den wahrgenommenen Verlust aufgebaut wurden, können jetzt losgelassen werden. Während beim Ärger die Spannungen über den

24 Der Begriff <Kummer> ist synonym mit <Trauer>,

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Rücken abgeführt werden, werden sie beim Weinen an der körperlichen Vorderseite aufgelöst. Deshalb erscheint die Trauer als weich und flüssig. Die Entspannung der Atemmuskeln bereitet den Boden dafür vor, dass in der mentalen Trauerarbeit die an die Bindung fixierten Vorstellungen aufgelöst werden können.

Die Trauer wird oft durch Weinen unterstützt. Sie ist aber nicht darauf angewiesen. Wie unten dargestellt wird, ist das Weinen ein allgemeiner Mechanismus, der nicht für die Trauer reserviert ist (vgl. Kap. 8.2.7). Häufig wird die These vertreten, dass das Weinen die Funktion haben soll, den mit Trauerhormonen überschwemmten Körper zu reinigen, indem es sie mit den Tränen ausscheidet25. Vermutlich besteht ihre Hauptfunktion darin, die muskulären Verspannungen in der Brust aufzulösen. Das Weinen regeneriert die Einatmung, weil sie die Auflösung der die Einatmung blockierenden Vorstellungen erleichtert.

In der traditionellen chinesischen Medizin wird die Trauer der Lunge zugeordnet. Dies hängt offensichtlich damit zusammen, dass die Verspannungen, die durch die Angstreaktion auf Verlusterfahrungen entstanden sind und die zu dem Engegefühl in der Brust führen, durch zugelassene Trauer aufgelöst werden.

Trauer ist somit ein Vorgang, der den Organismus von Vorstellungen befreit, die an verlorene Personen oder Dinge fixiert wurden, und ihn fähig macht, sich für neue Kontakte zu öffnen. Die Trauer kann die soziale Funktion übernehmen, weil sie für die eigenen Probleme und die Probleme der anderen aufgeschlossen macht und bei Kontaktstörungen und -Verlusten den sozialen Zusammenhalt wiederherstellt. Neue Interaktionsmuster und Rollenbeziehungen werden erprobt und eingeübt, um die Funktion, die der Verstorbene im Leben des Überlebenden ausfüllte, teilweise zu ersetzen. Trauerarbeit ist so ein unerlässlicher Schritt zu neuen Kontakten, wenn die alten verloren gegangen sind. Die Trauerreaktion stellt einen Selbsthilfemechanismus des Körpers dar, um sich von Verspannungen zu befreien, die die Bearbeitung der dysfunktional gewordenen Vorstellungen behindern (vgl. Kap. 8.2.6).

4.4.2 Die missverstandene Wut

In der Literatur herrscht eine verwirrende Vielfalt von Definitionen der Wut. Sie reicht von der Auffassung, dass sie Ausdruck eines angeborenen Aggressionsinstinktes sei und die Absicht verfolge, ein Lebewesen oder eine Sache zu beschädigen oder zu zerstören, bis zu der Ansicht, dass die Wut eine Kraft sei, um die gestörte soziale Ordnung durch zielgerichtetes Handeln wiederherzustellen. Die Unklarheit hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass die Wut jene Stimme ist, die von den Menschen am schwersten unter Kontrolle gebracht werden kann und die verschiedene Formen annehmen kann, je nachdem, wie der Erziehungsprozess abgelaufen ist.

Es herrscht allgemein Übereinstimmung darüber, dass die physiologische Funktion der Wut darin besteht, mögliche Verletzungen der eigenen Bedürfnisse abzuwehren. Sie richtet sich gegen alles, was die Entwicklung der eigenen Autonomie behindert. Wut wird durch die Beobachtung ausgelöst, in der Entwicklung der Autonomie gefährdet zu sein. Der Wut geht deshalb meist Angst voraus. «Ein Gefährdungssignal kann nicht bloß von einer direkten körperlichen Bedrohung ausgehen, sondern auch - und das ist häufiger der Fall - von einer symbolischen Bedrohung der Selbstachtung oder der Würde; wenn man ungerecht oder schroff behandelt wird, wenn man beleidigt oder erniedrigt

25 Goleman 1997, S. 100

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wird, wenn die Verfolgung eines wichtigen Zieles vereitelt wird» (Goleman 1997, S.84).

Wut löst durch die hormonale Ausschüttung von Katecholaminen den Kampfreflex aus und verleiht Kraft, durch zielgerichtetes Handeln die Widerstände, die sich der Befriedigung der eigenen Bedürfnisse entgegenstellen, zu überwinden. «Wenn wir wütend sind, glauben wir irgendwie immer, wir könnten den Gegenstand unserer Wut beeinflussen. Wir nehmen an, dass der andere für seine Handlung verantwortlich ist und sich anders verhalten sollte» (Tavris 1995, S.47). Allgemein gesprochen hat sie die Funktion, den Einflussbereich der Person abzugrenzen und die Bedürfnisse mit denen der anderen Menschen abzustimmen. «Eine Hauptfunktion der Wut besteht darin, die soziale Ordnung aufrechtzuerhalten, und zwar durch ihre moralisierenden Implikationen, wie man sich benehmen <sollte> » (Tavris 1995, S.63). Sie hat deshalb von Anfang an eine soziale Funktion.

In sozialen Beziehungen richtet sich die Wut dagegen, dass sich der andere verschließt, sich zurückzieht oder aus Achtlosigkeit die eigenen Bedürfnissen verletzt. Es wird gespürt, dass der Partner in einen symbiotischen Zustand zurückgefallen ist, in dem er sich projektiv an den anderen bindet und passiv von ihm ein bestimmtes Verhalten erwartet. Indem er sich abhängig macht, zwingt er dem anderen seine Erwartungen auf und behindert seine Lebendigkeit. Projektionen wirken in einer Beziehung auf beiden Seiten trennend. Sie trennen den Projizierenden von sich selbst, da sie die Einsicht in sein eigenes Wesen verhindern. Sie trennen auch vom Partner, da sie ihm keine Eigenständigkeit zugestehen. Die Projektionen schließen Liebe aus, da sie auf diese Weise eine resonante Beziehung zerstören. Es ist das Ziel der Wut, die uneingeschränkte Resonanzmöglichkeit wiederherzustellen. Zu Recht wird deshalb gesagt, dass die Liebe nur lebendig bleiben kann, wenn sie die Aggression zuläßt. Die aggressive Wut kann aber nur so lange konstruktiv sein, bis sie ihr Ziel erreicht. Sie verlangt, dass der Partner sich ansprechen läßt und mit Scham und Reue reagiert. Solche Gefühle lassen erkennen, dass der Partner die Verantwortung für seine Desintegration übernimmt und sich um Wiedergutmachung und Veränderung bemüht. Im Grunde führt die gelebte Wut zur Intensivierung des Kontaktes, da sie die Beschränkungen eines intensiven liebevollen Kontaktes überwindet.

Der Psychiater John Bowlby hat nachgewiesen, dass sich beim Säugling bis zum Alter von zwei Jahren aus dem ursprünglichen Unbehagen, das sich im Geschrei äußert, allmählich die Gefühle der Traurigkeit, Angst und Wut herausdifferenzieren. Die Wut entwickelt sich zusammen mit den geistigen Fähigkeiten des Kindes. Denn es muss gelernt werden, welche Formen des emotionalen Ausdrucks von der kulturellen Umwelt erwartet und toleriert werden. Kulturanthropologisehe Untersuchungen der Wut zeigen, wie stark die Ausdrucksform von der Kultur abhängig ist. Die Prägung der Wut kann zwischen dem sprachlich gebändigten, auf konstruktive Lösung des Problems bedachten Ausdruck auf der einen Seite und dem aggressiven Ausdruck der Wut im Sinne des Ab-reagierens mit Wutanfällen auf der anderen Seite schwanken.

Die Art, wie die Eltern auf die Wut der Kinder reagieren, entscheidet darüber, wie die Kinder später als Erwachsene auf Verletzungen reagieren. Wenn das Ziel verfolgt wird, körperbetonte Reaktionen wie Schlagen und Schreien durch sprachliche Reaktionen zu ersetzen, entwickelt sich Wut unter günstigen Bedingungen zur konstruktiven Kraft, in die Lage versetzt, die Bedürfnisse der anderen zu respektieren und tatkräftig, entschlossen und zielgerichtet zu handeln. Voraussetzung für das Erlernen eines gekonnten Umgangs mit der Wut ist ein Milieu der Akzeptanz und der liebevollen Unterstützung. Der

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Erfolg zeigt sich in dem Gefühl, Kontrolle über die Umwelt ausüben zu können, also handlungsfähig zu sein und für sich selbst sorgen zu können. Es wäre ein Irrtum zu glauben, dass freundliche und ausgeglichene Menschen, die keine starke Wut zeigen, automatisch unter verdrängter Wut leiden müssten.

Erfolgreiche Aneignung der Wut zeigt sich an individueller Handlungskompetenz. Unter Handlungskompetenz ist nicht allein die Fähigkeit zu verstehen, aktiv Pläne zu realisieren und Leistungen zu erbringen, sondern auch die Fähigkeit, selbstbestimmt zu handeln, d.h. das Handeln an den inneren Impulsen zu orientieren. Dies drückt sich darin aus, dass das Handeln vom eigenen Willen getragen wird. Dies ist - wie sich zeigen wird - die Grundlage für die Gesunderhaltung. Wenn hingegen die kindlichen Bedürfnisse wenig respektiert werden und der Ausdruck der Wut unterdrückt werden muss, nimmt die Wut tendenziell zerstörerische Formen an. Die unterdrückte Wut äußert sich dann als Aggression. An aggressiv gestörten Menschen stellt sich regelmäßig heraus, dass sie nicht die Fähigkeit zur Abgrenzung entwickeln konnten, sodass die wechselseitige Anerkennung scheiterte. Sie konnten kein klares Bewusstsein für die eigenen Bedürfnisse entwickeln und sich selbstbewusst dafür einsetzen. Da wiederholt die Erfahrung gemacht wurde, dass man sich gegen Verletzungen nicht wehren kann, wird das Verhalten stark durch Angst geprägt. Unzureichend angeeignete Wut ist deshalb daran abzulesen, dass eine hohe Angstbereitschaft besteht.

Aggression ist deshalb nicht angeboren, sondern das Ergebnis von vorenthaltener Liebe. Für Wilhelm Reich resultiert das Böse aus der Panzerung des Körpers, bei der die Handlungen von den inneren Impulsen abgespalten werden und so «Gott im Inneren getötet wird» (Reich 1997, S.78). «Grausamkeit entsteht aus dem enttäuschen Urbedürfnis nach erfüllter Liebe» (Reich 1997, S.81). Das eigentliche Ziel der Aggression ist nach wie vor Liebe und Zuwendung. Da nicht gelernt wurde, dies mit sozialverträglichen Mitteln zu erreichen, wird es zwanghaft mit Mitteln der Zerstörung angestrebt.

Meistens werden die Begriffe Wut und Aggression synonym verwendet, da sie sich angeblich auf das gleiche Antriebspotenzial beziehen. Oft wird der Begriff der Wut nur für heftige Gefühlsausbrüche verwendet, während für die schwächeren Ausdrucksformen der Aggressionsbegriff verwendet wird. Vielfach wird aber der Begriff <Aggression> auch zur Kennzeichnung von zerstörerischer Wut verwendet. Diese begriffliche Verwirrung kann vermieden werden, wenn man davon ausgeht, dass sich die Wut in eine destruktive Kraft umformt, wenn in der frühkindlichen Sozialisation nicht gelernt werden konnte, sich die Wut als eine konstruktive Kraft der Konfliktbewältigung anzueignen.

Es ist deshalb sinnvoller, zwischen konstruktiver und zerstörerischer Wut zu unterscheiden, um deutlich zu machen, dass die zerstörerischen Formen der Wut auf Erziehungsdefizite zurückgehen.

Aus der Verbindung von Wut und Angst entstehen die Gefühle des Hasses, Ärgers, der Feindseligkeit, Geringschätzung und Verachtung. So wird die Auseinandersetzung mit dem verachteten Menschen vermieden, weil Angst vor einer Niederlage besteht oder weil man bei einem unbedeutenden Gegner den Energieaufwand dafür ersparen möchte. Hass wird meist als die Folge enttäuschter Liebe verstanden. In Wirklichkeit ist sie die Folge chronisch gewordener Wut, die der enttäuschten Liebe helfen wollte, aber ihr Ziel nicht erreichen konnte. Die Voraussetzung für die Entstehung von Hass ist, dass man selbst mit Projektionen an den Partner gebunden ist, sodass es unmöglich ist, die Beziehung mit dem dauerhaft sich verweigernden Partner aufzulösen. Hass verbindet sich

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deshalb regelmäßig mit Selbsthass, der aus der unbewussten Wahrnehmung der eigenen Mängel entsteht. Im Extrem kann sich ein «Haß auf alles Lebendige» (Wilhelm Reich) entwickeln. Sie nimmt den Charakter des blinden Hasses an, der grenzenlos und unansprechbar ist. Hass ist unproduktiv gewordene Wut.

Ärger entsteht ebenso aus behinderter Wut. Ärger entsteht häufig dann, wenn man sich unberechtigterweise verletzt fühlt, sich aber nicht zutraut, die Verletzung zurückzuweisen. Man wird ärgerlich, weil man glaubt, sich gegenüber der Verletzung nicht verteidigen zu können.

Meistens entsteht Wut auf Grund von erwarteten Verletzungen und beruht somit auf Projektionen. Das Problem des Ärgers entsteht also dadurch, dass man nicht handelt, obwohl man handeln müsste.

Zorn ist die Variante der Wut, in der sich der soziale Bezug der Wut besonders stark herausgebildet hat. Zorn tritt immer nur in Verbindung mit dem Gefühl erlittenen Unrechts auf. Das Unrecht wird am Maßstab der verinnerlichten Werte und Normen der sozialen Gemeinschaft gemessen. Deshalb ist beim Zorn eine klare Zielgerichtetheit auf einen bestimmten Gegner festzustellen, der für seine Taten verantwortlich gemacht wird. Eine besonders dramatische Form des Zorns ist die Empörung, die heftig auf eine Verletzung der Normen reagiert, auch wenn davon weder die eigene Person noch andere direkt verletzt werden. Entscheidend ist, dass mit der Verletzung der Normen die Grundlagen des sozialen Zusammenlebens in Frage gestellt werden. Das Ziel der Empörung besteht darin, das gestörte affektiv-interpersonale Gleichgewicht wiederherzustellen. Durch die Beschuldigung, das Verlangen von Wiedergutmachung, Gesinnungswandel oder Bestrafung soll eine Wiederholung der Normverletzung verhindert werden.

Das Atemmuster der Wut ist durch einen starken Anstieg der Frequenz und der Amplitude der Atemschwingung charakterisiert. Dementsprechend heftig ist die Ausatmung. Das Verhältnis der Dauer von Einatmung und Ausatmung ist meist etwas zu Gunsten der Einatmung verschoben. Natürlich hängt die individuelle Höhe der Atemfrequenz von der individuellen Handlungskompetenz ab. Je mehr Angst sich mit der Wut mischt, umso höher ist die Frequenz. Je mehr Angst beteiligt ist, umso mehr verschiebt sich auch das Verhältnis zwischen Ein- und Ausatmung zu Gunsten der Einatmung. Dadurch wird die Ausatmung blockiert und erschwert. Die Verzögerung der Ausatmung wirkt sich wiederum ungünstig auf die Einatmung aus. Die Wut kann sich nur zu einer konstruktiven Kraft entfalten, wenn die Einatmung nicht durch Angst behindert wird, wenn also eine uneingeschränkte Atmung möglich ist. Auffallend am Atemmuster der Angst ist das völlige Fehlen der Atempause. Dies spricht dafür, dass die Wut physiologisch so ausgelegt ist, dass sie im Normalfall eine kurze, heftige Episode ist, in der die für das Handeln erforderlichen Energien mobilisiert werden. Eine kurzfristige Regeneration in der Atempause ist nicht zweckmäßig, da die schnellstmögliche Erreichung des Handlungszieles oberste Priorität hat.

Heftige Formen der Wut zeigen einen charakteristischen Körperausdruck: angespannte Kiefermuskeln, zusammengezogene Augenbrauen, drohender Gesichtausdruck, rotes Gesicht, geballte Hände, verspannte Bauchdecke. Diese Symptome weisen auf einen durch die Wut herbeigeführten starken körperlichen Anspannungszustand und auf die Aktivierung des gesamten Organismus hin, um so die Energie für den Angriff bereitzustellen. Wenn im Qigong behauptet wird, dass bei der Wut die Energie (Chi) nach oben steigt, hängt dies mit der Aktivierung des Oberkörpers mitsamt Kopf und Armen für das

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Handeln zusammen.

Normalerweise ist die Wut situationsbezogen und damit vorübergehend. Sie löst sich nach Überschreiten des Sättigungspunktes von selbst wieder auf. Wenn aber der Anlass der Wut nicht beseitigt wird, wird die Wut chronisch. Es treten im gesamten Körper chronische Verspannungen auf, insbesondere im Bereich von Nacken, Kiefer, Brust und Händen26. Da die gesamte Wirbelsäule als das Zentrum des Handelns verspannt werden muss, um die Impulse wütenden Handelns abzuwehren, sind regelmäßig auch im Becken chronische Verspannungen zu beobachten.

Im chronisch verspannten Körper kann die Wut durch alles ausgelöst werden, was an die ursprüngliche Verletzung erinnert. Da kein konstruktiver Umgang mit der Wut gelernt werden konnte, stehen nur zwei Reaktionsformen zur Verfügung. Entweder entlädt sich die Wut in einer blinden, unbeherrschten Reaktion der Gewalt, in dem das Objekt, von dem der Angstreiz ausging, vernichtet wird, oder man geht in den inneren Rückzug.

Wenn die Chinesen die Wut der Leber zuordnen, hängt dies offensichtlich damit zusammen, dass es zu Leberstörungen kommt, wenn die Wut chronisch zurückgehalten wird. Während die konstruktiv eingesetzte Wut auf Grund ihrer hohen Atemfrequenz die direkt unter dem Zwerchfell liegende Leber aktiviert und die Blutversorgung unterstützt, wird die Leber geschädigt, wenn das Zwerchfell auf Grund der zurückgehaltenen Wut chronisch in der Einatemposition festgehalten wird und dadurch die intensive Massage der Leber unterbleibt, die für das gesunde Funktionieren der Leber unerlässlich ist. Die Leber wird also nur durch die neurotische Wut geschädigt.

Die Wut hat sich als die physiologische Basis der Handlungsfähigkeit erwiesen. Wer sich abgrenzen kann, hat die Herstellung von langfristigen engen Verbindungen zu anderen Menschen gelernt, wird fähig, sich zu binden, entwickelt den Sinn für Zugehörigkeit und hat große Bereitschaft zur Selbstveränderung. Ein starkes Ich hat seine Basis im Kontakt zu den eigenen Emotionen und in der daraus entstehenden Fähigkeit, durch aktives Handeln eine Balance zwischen der Wahrung der eigenen Bedürfnisse und der Respektierung der Bedürfnisse der anderen zu finden. Es verfügt über ein hohes Selbstwertgefühl.

4.5 Das Prinzip der Selbstorganisation

«Die Theorie bestimmt, was wir beobachten können.» (Albert Einstein)

Wenn Emotionen die Verbindungsfäden zur sozialen Gemeinschaft sind und der Körper unauflöslich mit ihr verbunden ist, kann der Körper nicht mehr wie im mechanistischen Körpermodell als eine in sich abgeschlossene, homöostatisch selbst gesteuerte, auf Reflexe vorprogrammierte und zur Selbsterhaltung bestimmte Maschine verstanden werden. Der Körper ist vielmehr über die Atemmembran, mit der die Emotionen und Gedanken artikuliert werden, auf unsichtbare, aber nichtsdestoweniger tiefe und reale Weise mit den anderen Menschen verknüpft. Die Atemmembran ist die soziale Hülle im Menschen, die zutiefst mit anderen Menschen verflochten ist.

Die Atemmembran hat nicht nur die menschliche Vergesellschaftung intensiviert, sondern auch das Verhältnis der Menschen zu sich selbst grundlegend verändert. Es soll im Folgenden gezeigt werden, wie durch die verbale Sprache die innere Kommunikation auf ein neues Niveau gehoben wurde. Jetzt kann nicht nur Verantwortung für die sozia-

26 Lewis 1997, S.58

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len Beziehungen, sondern auch für die Beziehung zu sich selbst übernommen werden. Ebenso sind jetzt Selbstverrat und Selbstverurteilung möglich geworden. Durch diese Selbstreflexivität hat sich das menschliche Selbstverständnis grundlegend verändert.

Auf der Basis dieser Theorie ergibt sich ein neues Körperverständnis, das aus den Irrtü-mern des mechanistischen Körpermodells herausführen kann.

Alle mehrzelligen Lebewesen stehen vor dem zentralen Problem, den Austausch zwischen den einzelnen Zellen zu organisieren, die ursprünglich selbständig leben konnten27. Wirksames Handeln gegenüber der Umwelt kann nur gelingen, wenn alle Zellen und Organe durch eine effektive innere Kommunikation auf das Ziel des Handelns ausgerichtet werden. Für die interne Koordination verwenden alle Lebewesen chemische (Neurotransmitter, Hormone) und elektrische Informationsimpulse (Nervensignale) oder Licht (Biophotonen). Beim Menschen kommt die Sprache der Emotionen und der verbalen Begriffe hinzu, die auch für die innere Kommunikation sehr bedeutsam sind.

Die physiologische Grundlage der inneren Kommunikation besteht in dem propriozeptiven Nervensystem. Jeder Bewegungsimpuls und jede Berührung des Körpers von außen werden an das Gehirn gemeldet. Auf diese Weise erfährt das Gehirn ständig Rückmeldungen von Veränderungen in den handlungsausführenden Muskeln und an der Grenze zwischen Ich und Nicht-Ich, also an der Atemmembran. Der Organismus nimmt somit fortlaufend eine Kartierung des Körperzustandes vor, um den Organismus als Ganzen optimal auf die Umwelt hin bewegen zu können. Auf diese Weise kann der Organismus in jedem Augenblick den aktuellen Stand der Bewegung mit dem angestrebten Handlungsziel vergleichen und unter Umständen veränderten Bedingungen anpassen.

Die Propriozeption wird zu Recht von Oliver Sacks als <sechster Sinn> bezeichnet, da sie unentbehrlich ist, um mit sich selbst in Kontakt zu kommen und sich selbst in Besitz zu nehmen. «Man besitzt sich selbst, man ist man selbst, weil sich der Körper durch diesen sechsten Sinn immer und jederzeit erkennt und bestätigt. Ich frage mich, wieviel von jenem seit Descartes in der Philosophie vorherrschenden absurden Leib-Seele-Dua-lismus durch ein richtiges Verständnis der Propriozeption hätte vermieden werden können» (Uexküll 1994, S.79). Auf Grund der Propriozeption ist sich der Organismus ständig seiner Körpergrenzen bewusst, wobei die Grenzziehung nicht entlang der Hautgrenze verläuft. Der Körper geht offenbar nach der Regel vor, dass alles, was den mentalen Bewegungsprogrammen gehorcht, zum Körper gehört. Eine klare Abgrenzung gegenüber der Umwelt ist deshalb nur möglich, wenn alle Muskeln Rückmeldungen an das Gehirn geben.

Bei der automatisch fortlaufenden Bewertung, in welchem Verhältnis der Organismus zur Umwelt steht, gilt der Frage höchste Aufmerksamkeit, ob einzelne Objekte für das körperliche Wohlergehen nützlich bzw. schädlich sind und ob noch Verbundenheit mit der sozialen Gruppe besteht. Diese Bewertungen wird an den emotionalen Manifestationen der Atemmembran abgelesen. Denn die Atemmembran hat neben der Signalwirkung nach außen stets auch eine nach innen. Sie informiert den Organismus ständig über Veränderungen im Verhältnis zur Außenwelt. So weist z.B. das Gefühl der Trauer darauf hin, dass ein Verlust den Anlass bedeutet, sich zurückzuziehen und die Vorstellungen, mit denen man sich an einen anderen Menschen oder an Dinge gebunden hat, zu korrigieren, damit das Leben nach dem Verlust umorganisiert werden kann. Oder Erröten weist darauf hin, dass man verlegen ist. Wenn diese Signale innerlich wahrgenom

27 Vgl. Margulis 1997

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men werden, kann die damit verbundene Unruhe den Anlass geben, sich zu fragen, wodurch der Konflikt entstanden ist und wie die Verlegenheit künftig vermieden werden könnte. So weisen die meisten Emotionen darauf hin, dass ein Ungleichgewicht entstanden ist. Sie lösen eine innere Kommunikation aus, die das Ziel hat, das entstandene Ungleichgewicht aufzuheben28.

Die Basis der inneren Kommunikation sind die emotionalen Bewegungen der Atemmembran, die vom Nervensystem nach den gleichen Regeln wie bei normalen Bewegungen registriert und zum Gehirn rückgemeldet werden. Emotionen werden körperlich als Spannungszustände empfunden. Solange man z.B. von Wut, Angst, Schuldgefühl oder Trauer ergriffen ist, leidet man mehr oder minder unter der erhöhten Körperspannung, bis sie auf Grund der Sättigung der Emotionen einer Entspannung weicht. Aus diesem Grund werden diese Gefühle oft als negativ oder sogar als Gift bezeichnet. Insofern ist die individuelle Entwicklung eine Abfolge von Zuständen muskulärer Spannung und Lösung.

Bildung besteht darin, dass die Spannungszustände in die Selbsterfahrung des Organismus integriert werden. Integration bedeutet, dass die als unangenehm erfahrenen Empfindungen als individuell bedeutsame Signale wahrgenommen und akzeptiert werden.

Es muss gelernt werden, die muskulären Spannungszustände voneinander zu unterscheiden. Dies gelingt, wenn die emotionalen Empfindungen von der Umwelt akzeptierend gespiegelt und mit Begriffen verbunden werden. Die Spannungszustände verbinden sich dann mit Erinnerungen daran, was man früher gemacht hatte, um die unangenehmen Empfindungen zu bewältigen. Wenn die Spannungszustände jedoch als überwältigend erfahren werden, neigt der Organismus dazu, sie abzuspalten. Es besteht dann die Angst vor Desintegration und Kontrollverlust. So basieren die frühen Störungen wie Borderline und Narzissmus darauf, dass die emotionalen Äußerungen nicht ausreichend von der sozialen Umwelt anerkannt wurden, sodass nicht gelernt werden konnte, die emotional bedingten Spannungszustände auszuhalten. Die Folge ist ein starkes Schwanken zwischen Überspannung und Unterspannung.

Ein gesunder Körper gibt sich so ständig mit Hilfe von muskulären Spannungszuständen Rückmeldungen, wenn er aus dem Optimum des Reagierens herauszufallen droht. Aus der Erinnerung weiß der Organismus, welche Bedeutung die einzelnen Spannungszustände haben. In der Regel können die Störungen durch spontane Bewegungen, Gesten, Emotionen, Träume oder Phantasien ausgeglichen werden. Meist lösen die Spannungszustände einen inneren Dialog aus, mit dem versucht wird, die entstandene innere Unruhe aufzulösen (vgl. Kap. 3.2). Jede Problemlösung besteht letztlich darin, dass die emotionalen Einstellungen verändert oder losgelassen werden. Der innere verbale Dialog wird damit zu einem zentralen Bestandteil der inneren Kommunikation des Organismus.

Es ist auffallend, dass sich die Atemmembran weitgehend selbst reguliert. So wie die oben erwähnten Einzeller mit ihrer Zellmembran nach körperimmanenten Gesetzen mit der Umwelt in Kontakt treten, so reagiert die Atemmembran selbsttätig auf die Umwelt. Viele Denker haben darauf hingewiesen (Lichtenberg, Schopenhauer, Nietzsche, Grod-deck u.a.), dass nur ein kleiner Teil des Fühlens vom bewussten Ich kontrolliert wird.

So, wie der Atem spontan erfolgt, kommen die Gefühle wie von selbst. So nimmt die

28 Im Zusammenhang mit der Verdrängung wird gezeigt, dass die Metapher vom seelischen Gleichgewicht zutreffend ist, da bei der Blockierung von Gefühlen tatsächlich räumliche Gleichgewichtsproblem entstehen (vgl. Kap. 5.2).

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Atemmembran im Austausch mit der sozialen Umwelt ständig die emotionale Gestalt an, die ihr als richtig erscheint. Diese kreative Selbstorganisation funktioniert umso besser, je intensiver der Kontakt mit der Welt ist und so alle notwendigen Informationen aufgenommen werden können. Dann geschieht alles mühelos und wie von selbst.

Die Frage, wer die innere Kommunikation steuert, kann mit dem Konzept der Selbstorganisation beantwortet werden. Die innere Kommunikation ist ebenso ein Bestandteil der organismischen Selbstorganisation wie die emotionale Lebendigkeit. Wie oben dargestellt, bedeutet Selbstorganisation, dass der Organismus über Regeln verfügt, mit denen der Austausch mit der Umwelt organisiert wird (vgl. Kap. 2.2). Die Antworten auf die von außen kommenden Impulse werden entsprechend diesen Regeln formuliert. Die Regeln werden verändert, wenn sie sich nicht mehr für ihre Aufgabe bewähren, das Überleben zu gewährleisten. Dies ist häufig der Fall, weil die Menschen im Laufe ihrer geschichtlichen Entwicklung ständig vor neue Anforderungen gestellt werden.

Mit dem Selbstorganisationsmodell, das in den letzten Jahren große Bedeutung für die Erklärung des Lebens gefunden hat29, kann die frühere Vorstellung, dass die innere Kommunikation vom Geist oder vom Gehirn als oberster Kommandoinstanz organisiert wird, zu Gunsten der Vorstellung aufgegeben werden, dass die gleichberechtigten Körperzellen in einem quasi demokratischen Austausch stehen. Aus der Sicht der modernen Biologie stellen die höheren Organismen Kolonien von einzelligen Organismen dar, die in dem Verbund spezielle Funktionen übernommen haben, aber nach wie vor ihre ursprüngliche Autonomie wahren30. In diesem Körpermodell ist das Gehirn lediglich der beauftragte Agent oder der Pressesprecher der Zellen. Diese Vorstellung wurde bereits 1850 von Rudolf Virchow, dem Begründer der Zellpathologie, benutzt, als er seine Theorie der Zelle als der elementaren Einheit des Lebens entwickelte. Er benutzte dabei die Metapher vom liberalen Staat, in dem die Zellen als die Bürger des Körperstaates ihre Vertretung wählen. Für die damaligen Verhältnisse waren solche Ideen zu antiautoritär, sodass sie sich nicht durchsetzen konnten.

In diesem Körpermodell, das mit einem Orchester ohne Dirigenten vergleichbar ist, sind die inneren Organe wie das Herz, Atmungs-, Verdauungs-, Hormon-, Nerven- und Immunsystem gleichsam Infrastruktureinrichtungen, deren Aufgabe darin besteht, die in einem Kolonieverband lebenden Zellen zu versorgen. Das Atemsystem hat dabei eine herausragende Stellung, weil es nicht nur den Sauerstoff bereitstellt, sondern auch den symbolischen Bezug zur Umwelt organisiert und den anderen Organsystemen wichtige Lenkungsinformationen geben kann. Der Atem ist somit das zentrale Leitsystem sowohl für die Kommunikation mit der Umwelt als auch für die innere Organisation. Denn die vielfältigen Regungen der Atemmembran geben differenzierte Hinweise auf ein entstandenes Ungleichgewicht und erleichtern so die Gegensteuerung.

In der umweltbezogenen Selbstorganisation ist auch deshalb der Atem das körperliche Leitsystem, weil sich alle anderen physiologischen Parameter daran anpassen. Wird der Atem verändert, ändern sich dementsprechend der Gesichtsausdruck, die Körperhaltung, die Herzleistung, die Stimme, die Hormone, das Nervensystem u.a. Deshalb besteht eine echte Interdependenz zwischen der Atemreaktion und der Physiologie. Der Anstoß kann sowohl von umweltbezogenen Erfahrungen als auch von inneren Veränderungen der Atemmuster auf Grund von Vorstellungen kommen. Die Atemmembran wird damit zum

29 Vgl. Capra 1996, S.93ff

30 Vgl. Margulis 1997

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biologischen Repräsentanten der Gesellschaft. Sie gibt der Selbstorganisation eine neue Gestalt, da sie nicht mehr nur die innere Organisation des Körpers, sondern auch das Verhältnis zur Umwelt berücksichtigt und darauf einwirkt. Damit ist beim Menschen die neue Situation entstanden, dass die Regeln der Selbstorganisation von der sozialen Gemeinschaft verändert werden können.

Die Selbstorganisation ist daran interessiert, dass sich die verschiedenartigen Schwingungen der physiologischen Prozesse, Emotionen und Gedanken aufeinander einschwingen und damit in eine kohärente Ordnung gelangen. Die Physiker nehmen an, dass Moleküle die Tendenz haben, sich zu kohärenten Bereichen zu organisieren, weil in dieser Anordnung weniger Energie benötigt wird31. Dieser Zustand zeichnet sich durch die größte Stabilität aus. Kohärenz bei den Emotionen bedeutet, dass sich darin der ganze Organismus spiegelt.

In der menschlichen Selbstorganisation nimmt die aus den Atemschwingungen hervorgegangene verbale Sprache eine Schlüsselrolle ein. Oben wurde die Idee entwickelt, dass mit dem Erlernen der Sprache praktisch eine Versprachlichung des Körpers stattfindet, da die Sprache tief in alle Erfahrungs- und Kommunikationsprozesse eingreift. Der Kontakt mit der Umwelt spielt sich seitdem primär im Milieu des inneren Dialoges ab. Alle Erfahrungen werden hier verarbeitet. Ein effizienter innerer Dialog setzt die Akzeptanz des eigenen Körpers voraus. Das drückt sich in dem Verzicht darauf aus, dem eigenen Körper einen ihm fremden Rhythmus aufzuzwingen (vgl. 3.2).

Die Selbstorganisation wird erheblich erschwert, wenn auf Grund des gesellschaftlichen Zwanges, sich fremdbestimmten Anweisungen zu unterwerfen, chronische Verspannungszustände aufgebaut werden. Dadurch verliert der innere Dialog die Kraft, für innere Konflikte produktive Lösungen zu finden. Da aber die historische Entwicklung von zunehmender Fremdbestimmung geprägt ist und dadurch der gesellschaftliche Individualisierungsprozess ausgelöst wurde, hat die Tendenz zugenommen, dass die Respektierung der Bedürfnisse der anderen Menschen vernachlässigt wird. Individualität gerät damit tendenziell in Widerspruch zur Gemeinschaft (vgl. Kap. 3.4).

Es wäre aber falsch, Individualität als solche zu diskriminieren und die Gemeinschaft in Form des Ideals der Einheit, des Einklangs mit dem Kosmos u.a. zu verabsolutieren, wie dies in vielen philosophischen und religiösen Systemen (z.B. Hinduismus) geschehen ist. In Wirklichkeit besteht zwischen Individualität und Gemeinschaft ein dialektisehes Verhältnis. Das eine ist ohne das andere nicht denkbar. Individualität löst sich auf, wenn ihr Bezug zur Gemeinschaft durchgetrennt wird. Gemeinschaft kann sich nur entfalten, wenn jeder Mensch seine Individualität verwirklichen kann. Die Einheit zu verabsolutierten heißt Individualität zu untergraben. Jedes Entweder-oder-Denken vereinfacht die Komplexität der Wirklichkeit und arbeitet autoritären Regimes in die Hände, die schon immer Einheitsphilosophien unterstützt haben.

Im sozialen Zusammenleben ist eine gewisse Abgetrenntheit ebenso unvermeidlich wie die Verbundenheit unerreichbar ist. Wenn dies akzeptiert wird, kann die aus der Abgetrenntheit resultierende muskuläre Spannung ertragen und als Chance für Distanzierung und Kritik akzeptiert werden. Allerdings ist soziale Freiheit die Voraussetzung, dass die dialektische Spannung ertragen werden kann. Denn der Atem braucht Freiheit, damit er seine Funktion, soziale Beziehungen herzustellen, erfüllen kann. Das Ideal der sozialen

31 Vgl. Schiff 1997, S.34

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Freiheit wurzelt somit letztlich in der Physiologie des Atems. Aber es ist eine Illusion, dass die ursprüngliche Verbundenheit wiederhergestellt werden könnte. Die Vorstellung, dass sich die Menschen wieder wie Fische im Meer der Atemluft bewegen könnten, kann nur vorübergehend in der Meditation geweckt werden.

Aus der Sicht der Selbstorganisation ist die traditionelle Behauptung, dass es eine innere Denkinstanz gibt (Geist, Seele, Selbst, Ich u.a.), obsolete Metaphysik. Die Dynamik des Denkens ergibt sich allein aus der Art des emotionalen Kontaktes zur Umwelt. Denken folgt der Selbstorganisation des Atems im Austausch mit der Umwelt. Noch knapper: Denken ist Selbstbewegung des Atems. Wenn anerkannt wird, dass das Denken eine Funktion der Atemmembran ist, folgt daraus, dass die eigentlich zentralisierende Instanz im Körper die Atemmembran ist. Hier werden alle inneren und äußeren Erfahrungen so koordiniert, dass ein zielgerichtetes Handeln möglich ist. Man kann deshalb davon ausgehen, dass das Gefühl der Identität in der einheitlichen und kohärenten Reaktionsweise der Atemmembran verankert ist. Dementsprechend führt jede Fragmentierung der Atemmembran zu einer Auflösung des Identitätsgefühls (vgl. Kap. 5.2).

Die Atemmembran ist das menschliche Organ, das im tiefsten von der Gesellschaft geprägt wird. Sie ist das Organ der Vergesellschaftung des Menschen, da sie der Boden für die Verinnerlichung der gesellschaftlichen Anforderungen ist. Einerseits konstituiert sie zwar die Individualität, andererseits repräsentiert sie aber vor allem das Allgemeine der Gesellschaft. So ist die Atemmembran ein Teil des Menschen, aber genauso gut ein Teil der Gesellschaft. Jedes Individuum spiegelt das gesellschaftliche Allgemeine auf eine ihm eigene Weise wieder.

Diese Überlegungen legen eine einfache Antwort auf die als schwierig erscheinende Frage nahe, was das Gute ist. Seit Sokrates wird das Ziel der Menschen meist darin gesehen, nach dem Guten zu streben. Allerdings war es schwierig zu bestimmen, worin das Gute besteht. Die traditionelle Antwort war, dass man entsprechend dem Gewissen bzw. entsprechend dem <wahren Selbst) oder der <inneren Natur> handeln soll. Mit diesen Formeln kann nicht viel erklärt werden, da sie selbst relativ unbestimmt sind.

Aus der oben entwickelten Sicht sind die Bedingungen moralischen Handelns dann gegeben, wenn alle inneren Vorstellungen in Kohärenz zueinander stehen und deshalb die Atemmembran resonanzfähig ist. In diesem Zustand des Kohärenzgefühls ist der Organismus der Umwelt uneingeschränkt zugewandt und kann dementsprechend optimal reagieren. Es fällt nicht schwer, zwischen gut und böse zu entscheiden, weil das Kohärenzgefühl die Gewissheit gibt, dass man sich auf die innere Orientierung verlassen kann. Man kann sich selbst vertrauen, weil die innere Selbstorganisation reibungslos funktioniert. Das Gute ist damit identisch mit dem mühelosen Handeln, das sich ergibt, wenn man in Kontakt mit den eigenen Emotionen ist.

Wilhelm Reich war davon überzeugt, dass sich im Bereich der Sexualität Selbstbestimmung einstellen würde, wenn die Verspannungen des Körpers aufgelöst würden. Dieser Ansatz kann auf Grund meiner Überlegungen auf das moralische Verhalten schlechthin übertragen werden. Moralische Unsicherheiten und moralisches Fehlverhalten sind danach ein Symptom dafür, dass die innere Selbstorganisation behindernde Verspannungen bestehen. Von der Umwelt als böse etikettiertes Verhalten ist demnach die Folge davon, dass dem Verhalten widersprüchliche Vorstellungen zu Grunde liegen. Die inneren Verspannungen führen dazu, dass die moralische Sensibilität getrübt wird. Es geht das Gespür verloren, wie man die anderen verletzt und sich mit dem Rückzug auch

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selbst schädigt. Das Böse ist somit die Kehrseite des Verlustes der Innenorientierung auf Grund chronischer Verspannungen.

Die These, dass die Bewegung das Grundprinzip des Lebens ist, bestätigt sich auf allen Ebenen der körperlichen, geistigen und seelischen Funktionen des Menschen. Auch die innere Kommunikation ist ein Ausdruck der organismischen Beweglichkeit, die mit ihrer Kreativität solche Bewegungsformen schafft, die eine situationsgerechte Verarbeitung von Erfahrungen ermöglichen. Es kann nicht übersehen werden, dass sich die Bewegungen überwiegend selbst steuern. Ihr Ziel besteht darin, einen optimalen Kontakt mit der Umwelt herzustellen. Denn jeder Organismus hat die inhärente Tendenz, einen möglichst guten Kontakt herzustellen.

Die alte Frage, warum das Denken körperlich wirksam werden kann, findet nach den bisherigen Überlegungen ihre Antwort darin, dass das Denken von vornherein ein Teil der körperlichen Selbstorganisation ist. Da alle körperlichen Bewegungen mit Hilfe der Vorstellungen organisiert werden müssen, ist beim Menschen auch das Denken, das sich als subtile Bewegungen der Atemorgane herausgestellt hat, ein Bestandteil der organismischen Selbstorganisation. Deshalb wird das intuitive Denken von vielen Menschen als die dem Denken angemessenste Form empfunden.

5 Ursachen des Kontaktverlustes

«Wie auch immer, wenn wir das Leben leidenschaftlich leben und wirklich lieben, hier zu sein, werden wir den Wunsch bekommen, die Tiefen des großen Wunders, das Atem heißt, zu erkunden.» (Reshad Feild)

Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, dass Gefühle und Gedanken nicht als etwas Psychisches oder Mentales von den natürlichen biologischen Prozessen abgehoben werden dürfen. Sie sind ebenso Produkte des biologischen Wachstums, die der Differenzierung des Zusammenlebens dienen und sich entwickeln, wenn die Menschen in die soziale Gemeinschaft hineinwachsen. Besonders ist hervorzuheben, dass der menschliche Körper keine in sich abgeschlossene Einheit ist, sondern dass er in unauflöslicher Verbindung mit der sozialen Gemeinschaft steht. Die Erkenntnis von Aristoteles, dass die Menschen soziale Wesen sind, bedeutet, dass sie nicht nur äußerlich von der Gemeinschaft abhängig sind, sondern dass dies ihre ganze Physiologie betrifft. Gefühle und Gedanken sind die realen Verbindungsfäden des Körpers mit der sozialen Gemeinschaft. Mit ihnen können die Störungen, die im gemeinschaftlichen Leben unvermeidlich sind, bewältigt werden.

Friedrich Nietzsche charakterisierte den Menschen als das einzige Tier, das sich selbst negieren kann. Auch für Sigmund Freud ist der Mensch ein Tier, das sich selbst verdrängt und das Kultur und Wirtschaft hervorbringt, um dies fertig zu bringen1. Die Verdrängung, die in ihrer gegenwärtigen Struktur wahrscheinlich erst mit der Entwicklung der Sprache entstanden ist, stellt gattungsgeschichtlich ein völlig neues Problem dar.

Die Entwicklung einer plausiblen Erklärung, mit welchen Mechanismen der menschliche Organismus seine eigene Lebendigkeit reduziert, ist ein zentraler Baustein zum Verständnis des Phänomens der Selbstheilungskräfte, weil die Verdrängung zu somatischen Erkrankungen führen kann.

1 Freud 1955, S. 421

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Die Entfaltung der Gefühle und der Sprache hat die menschlichen Kommunikationsmöglichkeiten extrem verbessert; gleichzeitig ist aber das Problem entstanden, dass der Kontakt nichts Selbstverständliches mehr ist wie bei Kleinkindern oder Tieren. Kontakt kann nur über den körperlichen und verbalen Ausdruck von Emotionen aufgenommen werden. Da aber Emotionen jederzeit auf Grund von Konflikten, Verletzungen oder traumatische Erfahrungen blockiert werden können, ist der Kontakt sehr störanfällig geworden. Wer die Fähigkeit zur Verarbeitung von Konflikten und Verletzungen nicht hinreichend gut erlernt, ist den Störungen hilflos ausgeliefert.

Im Folgenden wird die These dargestellt, dass der Organismus seine eigene Lebendigkeit durch muskuläre Fehlspannungen einschränken kann, um sich vor den Gefahren des Kontaktverlustes zu schützen. Dieser Mechanismus verdankt sich dem Gestaltungsspielraum der Atemmembran. Wahrscheinlich haben die frühen Atemmythologien den Atem deshalb ins Zentrum der Aufmerksamkeit gestellt, weil alltäglich gespürt wurde, wie mit dem Atem die Lebendigkeit eingeschränkt und an dem Zustand der Atmung der Grad der Lebendigkeit abgelesen werden kann. Es wurde gespürt, dass Menschen in gewissen Umfang die Verantwortung für ihre Lebendigkeit besitzen, da sie selbst die Qualität ihrer Atmung bestimmen können.

5.1 Autonomie und Symbiose

«Liebe lebt, wo der Atem waltet. Liebe pulst im Atem. Wer atmet lebt und liebt.» (Johannes Schmitt)

Wenn Liebe darin besteht, fähig zu sein, Kontakt mit anderen Menschen mit Hilfe des resonanten Mitschwingens des Atems aufzunehmen, dann ist die Frage nach den Bedingungen der Verdrängung daran anzusetzen, wodurch Kontaktfähigkeit eingeschränkt wird. Zu diesem Zweck folgt zunächst ein kurzer Exkurs über die Entwicklung der Liebe. Es geht um die These, dass der Kontakt- und Bindungswunsch des Kindes blockiert wird, wenn seine Bedürfnisse von der Umwelt nicht respektiert werden und es gezwungen wird, seinen Atem einzuschränken und dass die Verdrängung des Kontaktwunsches einen Versuch dar stellt, die Liebe zu retten.

Liebe entsteht aus den besonderen Bedingungen der frühkindlichen Entwicklung. Auf Grund seiner extremen Abhängigkeit in den ersten Jahren bindet sich der menschliche Säugling sehr intensiv an seine Mutter, um im mütterlichen Körperkontakt die mit der Beziehung zur Außenwelt unvermeidlichen Spannungen auszugleichen. Die Mutter verspricht eine Abschirmung der gefährlichen Außenwelt2. Die Mutter ist das Liebesobjekt, das durch ihr Dasein Lust und Erfüllung verspricht3. Es entsteht ein äußerst intimer Kontakt zur Mutter, der als ein symbiotisches Verhältnis verstanden werden kann.

Die physiologischen Entwicklungsgesetze treiben unter günstigen Bedingungen den Säugling sehr früh aus der symbiotischen Beziehung heraus. Denn die Symbiose wird schon sehr früh als Abhängigkeit erfahren, die das Erlernen von Handlungskompetenz und Autonomie behindern. In der Symbiose kann sich kein klares Gespür für die eigenen Gefühle und Bedürfnisse entwickeln. Die eigenen Schwingungen werden ständig von den fremden Schwingungen der Mutter überlagert und verdeckt. Deshalb ist es ein starkes Bestreben des Kleinkindes, alles selber zu können und autonom zu werden. Wie der Psychoanalytiker Martin Dornes nachweist, nimmt der Säugling sehr früh eine ei

2 Vgl. Dux 1994, S.65

3 Löwen 1993, S. 64

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genständige Interaktion mit den Bezugspersonen auf und versucht, ihr Verhalten aktiv zu beeinflussen. Dieser Wunsch ist die eigentliche Triebfeder der Entwicklung, nicht der sexuelle Trieb. Die Entfaltung der subjektiven Autonomie ist die Leitgröße in der persönlichen Entwicklung.

Gleichzeitig bleibt während der ganzen Entwicklung das Bedürfnis bestehen, die bei der Mutter erfahrene Intimität zu bewahren. Sie muss auf dem Niveau autonomer Lebensführung neu gestaltet werden. Der Wunsch nach emotionaler Intimität ist somit die Gegenkraft zum Bedürfnis nach Autonomie. Der Soziologe Günter Dux leitet deshalb den Wunsch nach dauerhaften Beziehungen aus der Dauerhaftigkeit dieses Intimitätsbedürfnisses ab4. Wahrscheinlich sind der Wunsch nach Nähe einerseits und der Wunsch nach Handlungskompetenz die zwei Beziehungsformen, um die sich das ganze menschliche Verhalten dreht. Auf der einen Seite steht das Bedürfnis nach Versorgtwerden und Anlehnung, auf der anderen Seite der Wunsch nach Kontrolle und Macht. Der Wunsch nach Intimität setzt die Bereitschaft voraus, Abhängigkeit zu ertragen. Demgegenüber verlangt der Wunsch nach Kontrolle die Fähigkeit, sich von den anderen Menschen unabhängig zu machen. Gelungene Entwicklung zeigt sich daran, dass zwischen den beiden konträren Beziehungsformen ein Gleichgewicht hergestellt werden kann.

Hat eine der beiden Beziehungsformen ein Übergewicht, kommt es zu pathologischer Entwicklung5.

Für die emotionale Entwicklung muss sich das Kleinkind zunächst mit der Mutter oder anderen Bezugspersonen identifizieren, um die für die persönliche Autonomie erforderlichen emotionalen und mentalen Kompetenzen zu erlernen. Das psychische Wachstum braucht die Erfahrung von uneingeschränkter Liebe von Seiten der Mutter, um die Resonanz mit ihr zuzulassen. Die Liebe der Mutter akzeptiert die eigenständige Entwicklung des Kindes, sie ermutigt seine Neugierde, seinen Drang, Neues auszuprobieren und das Verhalten anderer Menschen aktiv zu beeinflussen. Wenn die Entwicklung von emotionaler Autonomie gelingt, kann sich das Kind von seinen eigenen Emotionen leiten lassen. Dann kann es sich den Emotionen anderer aussetzen, ohne dadurch aus dem eigenen Rhythmus zu geraten. Es kann sich selbst akzeptieren. Die Selbstakzeptanz ist damit Reflex der erfahrenen mütterlichen Liebe. Das bedeutet, dass Autonomie ohne Liebe unmöglich ist.

Zu Recht hat Jessica Benjamin die Anerkennung in das Zentrum ihrer intersubjektiven Psychologie gestellt6. Man kann nur selbst Subjekt sein, wenn man vom anderen in seiner Subjektivität anerkannt wird. Dies ist aber nur möglich, wenn die Bezugspersonen zwischen den eigenen Bedürfnissen und denen der anderen unterscheiden können. Die Entwicklung der Anerkennung ist sehr störanfällig, da die eigene Bedürftigkeit der Bezugspersonen sie dazu bringt, die Bedürfnisse des Kindes zu missachten. Meistens werden unerfüllt gebliebene Wünsche aus der eigenen Kindheit auf die Kinder projiziert und von ihnen unbewusst deren Erfüllung erwartet. Kinder spüren die Erwartungen der Bezugspersonen und neigen dazu, sich mit ihnen zu identifizieren, um sich deren Liebe zu bewahren. Sie wollen den unglücklichen Eltern helfen und sind dazu bereit, ihre Bedürfnisse nach Autonomie zurückzustellen. Indem die Erwartungen und Emotionen der Bezugspersonen ins eigene Innere genommen werden, machen die Kinder sich von den

4 Dux 1994, S. 111

5 Vgl. Haley 1987, S.209

6 Benjamin 1990, S.24

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Bezugspersonen abhängig. Jede Missachtung der kindlichen Bedürfnisse behindert so die Überwindung der frühen symbiotischen Bindung. Die Entfaltung der emotionalen Autonomie wird behindert. Statt den notwendigen Schritt zur Ablösung zu tun, bindet sich das Kind an andere Menschen.

Misslungene Autonomieentwicklung bedeutet, dass der Kontakt zur Umwelt aus Angst vor Strafe, Demütigung oder Liebesverlust eingeschränkt wird. Sozialem Kontakt wird aus dem Weg gegangen, um die Wiederholung solcher Ängste zu vermeiden. Je weniger zugelassen wird, dass das Verhalten von den eigenen inneren Impulsen gespeist wird, umso stärker gerät man in emotionale Abhängigkeit von anderen Menschen. Das bedeutet, dass man sich unbewusst deren Atemrhythmik unterwirft. Das eigenständige Schwingen der Atemmembran geht verloren. Die Atemmembran kann im Kontakt nicht mehr entsprechend den eigenen Bedürfnissen schwingen. Man fällt in das symbiotische Atemmuster des Säuglings zurück. Dies drückt sich in eingeschränkter körperlicher, emotionaler und geistiger Beweglichkeit aus.

Wenn Liebe häufig als ein Sichhingeben, ein Sichopfern oder als Jemandem-ande-ren-Gehören verstanden wird, so schwingt darin meistens mit, dass die alltägliche Liebe mit symbiotischen Elementen durchsetzt ist. Auch der Wunsch nach dem Verschmelzen und EinsSein mit dem Partner, der häufig als der wichtigste Inhalt der Liebe verstanden wird, hält an den regressiven Bedürfnissen fest. Wenn die eigenen Bedürfnisse zu Gunsten des Partners aufgegeben werden, hat dies nichts mit Liebe zu tun. Liebe wird dann mit Ko-Abhängigkeit verwechselt. Wer emotional abhängig ist, kann nicht lieben, weil die Angst vor den eigenen Impulsen den ganzen Organismus so verspannt, dass er die liebevolle Resonanz nicht zulassen kann.

Jede Sucht ist ein Rückfall in das symbiotische Atemmuster bzw. zeigt an, dass die symbiotische Phase noch nicht aufgegeben wurde. Von der Sucht wird erwartet, dass sie die eigene Lebendigkeit angekurbelt. Sucht wird als ein solches Hilfsmittel erfahren, da wiederholt die Erfahrung gemacht wurde, dass dadurch die Atmung vorübergehend stimuliert werden kann und dass man mit den eigenen, bisher verdrängten inneren Impulsen in Kontakt kommt. Sie ist aber letztlich ein zum Scheitern verurteilter Selbstheilungsversuch. Der Verlust an Vitalität auf Grund der chronischen Fehlspannungen der Atemmembran ist dadurch nicht aufzuheben7. Die Wirkung der Sucht erschöpft sich letztlich darin, die Erfahrung der realen Unlebendigkeit zu vermeiden.

5.2 Der Prozess der Verdrängung

«Es muss betont werden, dass gerade die Atmung unglaubliche Massen psychischer Energie bindet und befreit.» (G. Groddeck)

Die Verdrängung gilt allgemein als ein Vorgang, der vom Unbewussten ausgeht. Das Ich sei deshalb nicht an der Verdrängung beteiligt. Diese Auffassung ist nach den bisherigen Überlegungen problematisch, da jede Form des Rückzugs mit einer inneren Entscheidung zu diesem Schritt verbunden ist. Auch wenn sie nicht bewusst getroffen ist, hat sie den Charakter einer subjektiven Entscheidung. Anders wäre die Möglichkeit, dass im therapeutischen Prozess eine Verhaltenskorrektur erzielt wird, nicht denkbar.

Am Anfang jeder Verdrängung steht die Erfahrung, dass der spontane Ausdruck von Emotionen zu einer völlig unerwarteten Reaktion wie Liebesverlust, Verlassenwerden,

7 Vgl. Neubeck 1992, S.135

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körperlicher Strafe, Demütigung u.ä. führt. Statt der angestrebten Verbundenheit wird harsche Zurückweisung und Bestrafung erfahren. Es entsteht der Eindruck, dass die Emotionen, mit denen ein gestörter Kontakt wiederhergestellt werden sollte, unerwünscht sind. Da es ein tiefes Bedürfnis ist, von der sozialen Umwelt angenommen zu werden, entscheidet man sich dafür, künftig bei ähnlichen Situationen die Artikulation des Gefühls zu unterbinden. Kleinen Kindern bleibt gar kein anderer Ausweg, da sie keine anderen Möglichkeiten haben, mit der Ablehnung umzugehen. Es besteht die magische Hoffnung, dass durch das Auslöschen des gefährlichen Gefühls die Ablehnung vermieden werden kann.

Der Beschluss, künftig eine bestimmte Emotion zurückzuhalten, schafft einen inneren Konflikt. Auf der einen Seite ist der Impuls nach Kontakt und Zuwendung nach wie vor lebendig, aber zugleich meldet sich die Angst vor Zurückweisung. Die Entscheidung für den Kontakt wird so durch die Entscheidung für den Rückzug konterkariert. Es entsteht die unerträgliche Situation innerer Zerrissenheit, die sich als Unzufriedenheit, Unbehagen, Missstimmung, Gefühl des Selbstverrats u.ä. äußert.

Das kleine Kind kann den Angst auslösenden Konflikt nur dadurch auflösen, dass es sowohl den Ausdruck der kontaktsuchenden Emotion unterdrückt als auch auf den Ausdruck der Wut auf die Zurückweisung verzichtet. Dies geschieht durch die Kontraktion der Muskeln, die für den emotionalen Ausdruck benötigt werden. So kann z.B. Wut durch die Verspannung der Nackenmuskulatur unterdrückt werden, weil dadurch die Impulse zu beißen und zu schlagen unterdrückt werden. Oder sexuelle Impulse werden mit Kontraktionen des Zwerchfells, der Bauchmuskeln und der Beckenbodenmuskeln abgewehrt, da dadurch die Eingeweide eingeengt werden und insbesondere ein Druck auf das Kreuzbeinnervengeflecht (Plexus sacralis) im Beckenbereich ausübt wird, von dem die Innervation der Geschlechtsorgane ausgeht. Damit kann sich der Organismus vor den Problemen bewahren, in die er kommen würde, wenn er die Emotionen ausleben würde.

Im Mittelpunkt der Verspannungen stehen die Rückenmuskeln, deren Hauptaufgabe nicht nur darin besteht, den aufrechten Stand zu ermöglichen, sondern auch das Handeln zu organisieren. Deshalb setzen alle Handlungsimpulse an der Wirbelsäule an. Da auch die Emotionen zum Handeln drängen, können die Handlungsimpulse dadurch abgeschnitten werden, dass die Rückenmuskeln angespannt werden. Der Rücken ist deshalb das Zentrum der Verspannungen, wie sich am weit verbreiteten Nacken-, Rücken- und Schulterschmerzsyndrom zeigt (vgl.2.4).

Der Anstoß zur Kontraktionsreaktion kommt regelmäßig von der Angst, die eine bedrohliche Situation signalisiert (vgl. Kap. 4.3.1). Im Idealfall wird die Kontraktionsreaktion wieder aufgehoben, wenn die Bedrohung vorbei ist bzw. der Kontaktreiz assimiliert worden ist. Mit der aufgelösten Kontraktion fallen die Einschränkungen und Schmerzen wieder fort8. Das Strömungsgefühl, das in der freien Pulsation begründet ist und das durch die Kontraktion unterbrochen worden ist, kann sich wieder ausbreiten (vgl. Kap. 4.1). Es ist das Ziel jeder Erziehung, dass Reaktionsmuster gelernt werden, mit denen Situationen entweder so realitätsgerecht eingeschätzt werden, dass es nicht zu großen Verspannungen kommt oder mit denen nachträglich die Verspannungen abgebaut werden können.

8 Strauch 1994, S. 183

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Wenn sich dagegen die Angst auslösenden Situationen wiederholen bzw. eine Wiederholung befürchtet wird, erfolgt eine Dauerkontraktion. Anfänglich müssen die Muskelkontraktionen ständig durch entsprechende Vorstellungen herbeigeführt werden. Später verkürzen sich die Bindegewebshüllen, sodass die Kontraktion physiologisch festgehalten wird. Wie die Rolfing-Therapie beweist, ist dieser Prozess jederzeit reversibel.

Jeder Verspannung wird als Unwohlsein oder Unlust empfunden. Wenn die Kontraktion für den Körper selbst potenziell schädlich ist, wird dies mit dem Signal des Schmerzes gemeldet9. Jede Bewegungseinschränkung teilt sich auch sofort dem Atem mit. In jedem Atemzug gibt sich der Körper die Information, ob der Muskeltonus ausgeglichen ist oder ob er aus seiner optimalen Funktionsweise herausgefallen ist. So wird sofort spürbar, ob ein Körperteil für den Atem undurchlässig geworden ist, weil er nicht mehr an der Atemwelle teilnimmt.

Die Angst schützt so den Organismus vor den Folgen seiner eigenen Erregung; letztlich schützt sie also nicht nur vor der äußeren Bedrohung, sondern auch vor ihm selbst. Die Dauerkontraktionen haben aber den großen Nachteil, dass der Selbstschutz mit dem Verlust von sinnlichem Gewahrsein für das Gebiet jenseits der Kontraktionsschranke erkauft wird. Die sensorische Rückkoppelung des Muskels mit dem zentralen Nervensystem wird eingeschränkt, sodass die Kontrolle über dieses Gebiet verloren geht. Denn Kontrolle ist die Fähigkeit, Muskeln zusammenzuziehen und sie auch wieder in ihrer vollen Länge zu entspannen. So fehlt dem ängstlichen Menschen, der auf Grund von angespannter Bauchmuskulatur eine Hypertonie entwickelt hat, jegliches Bewusstsein für den erhöhten Blutdruck. Weder sind die Vorstellungen, mit denen die Kontraktion aufgebaut und festgehalten werden, ohne weiteres ins Bewusstsein zu holen, noch ist es dem Bewusstsein möglich, den verspannten Muskelbereich mit anderen Vorstellungen anzusprechen. Die Verdrängung bedeutet somit physiologisch, dass ein Teil des Organismus aus der inneren Kommunikation herausgenommen wurde. Wahrscheinlich hat die Ausblendung des Bewusstseins die Funktion, dass die Erinnerung an den selbsttätig herbeigeführten Verzicht auf Autonomie ausgelöscht werden soll.

Der Verlust der Kontrolle bedeutet, dass die sensomotorischen Schaltkreise, die bei bewusst kontrollierten Bewegungen über die Gehirnrinde (Neocortex) laufen, an tiefer gelegene, entwicklungsgeschichtlich ältere Regionen des Gehirns übergeben werden. In diesen Regionen sind die Verhaltensabläufe fest verschaltet, sodass eine bewusste Variation unmöglich wird. Daraus erklärt sich die Tendenz zum gewohnheitsmäßigen, d.h. unbewusst gesteuerten Verhalten, wenn die bewusste Steuerung versagt.

Jede chronische Verhärtung eines Körperteils tendiert auf Grund der Einheitlichkeit der Atemmembran dazu, dass die ganze körperliche Organisation verändert wird. Wie Ida Rolf, die Erfinderin der Rolfing-Körpertherapie, deutlich gemacht hat, verschiebt jede Verspannung den Körper aus dem Lot, sodass sich andere korrespondierende Muskelpartien ihrerseits verkrampfen oder erschlaffen müssen, um das verlorene räumliche Gleichgewicht wiederherzustellen10. Insofern trifft die Metapher vom seelischen Gleichgewicht genau das Problem, dass bei seelischen Störungen reale Probleme mit der Schwerkraft entstehen. So führt z.B. die Vermeidung des aggressiven Ausdrucks, der primär aus dem Rückgrat heraus organisiert wird, zur Verspannung des oberen Rückens. Das Gewicht verlagert sich nach hinten und lässt die Gefahr entstehen, nach hinten zu

9 Strauch 1994, S.188

10 Rolf 1989

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fallen. Zum Ausgleich muss das Becken nach vorn verlagert werden. Die Verdrängung bringt so den Körper aus dem räumlichen Gleichgewicht. Gleichzeitig bewirkt sie dadurch auch eine Blockierung des Atemprozesses, da zentrale Bereiche der Atemmembran in Dauerverspannung übergehen11.

Wilhelm Reich hat als Erster erkannt, dass das Wesen der Verdrängung die chronische muskuläre Verspannung ist. «Wir dürfen sagen: Jede muskuläre Verkrampfung enthält die Geschichte und den Sinn ihrer Entstehung (...). Die Neurose ist nicht etwa nur der Ausdruck einer chronischen Störung des psychischen Gleichgewichts, sondern in einem weit berechtigteren und tieferen Sinne noch Ausdruck einer chronischen Störung des vegetativen Gleichgewichts und der natürlichen Beweglichkeit» (Reich 1983, S.227).

Reich hat für stark verspannte Menschen das prägnante Bild des Charakterpanzers gewählt, um damit die Folgen der Verspannungen für den Charakter hervorzuheben11 12. Aus der Sicht der Atemtheorie bedeutet dies, dass sich die Atemmembran so verhärtet, dass das Gefühl entsteht, wie im Gefängnis zu leben. Da die Verspannungen primär an den Muskeln des Atemsystems ansetzen, weist die Metapher des Charakterpanzers im Grunde auf Verhärtungen der Atemmembran hin. Allerdings berücksichtigt Reich nicht den Umstand, dass die emotionale Abwehr zum Teil auch von der Muskelerschlaffung ausgeht.

Alle Fähigkeiten, aktiv auf die Umwelt zuzugehen, die eigenen Bedürfnisse zu vertreten und entsprechenden Einfluss auszuüben, basieren auf muskulärer Kontrolle. Muskeln, die der bewussten Kontrolle zugänglich sind, sichern das Gefühl von Autonomie und Selbstsicherheit. Sobald aber Teile der Muskulatur zur Abwehr von Emotionen verspannt werden und nicht mehr dem Willen gehorchen, wird zwangsläufig das Selbstvertrauen untergraben. Dem Verlust der Kontrolle entspricht somit immer auch ein spezifisches muskuläres Verspannungsmuster.

Die Dauerkontraktion bestimmter Muskelgruppen ist für die psychische Entwicklung sehr folgenreich, weil durch die Abtötung der emotionalen Impulse deren Orientierungskraft verloren geht. Wie oben dargestellt wurde, sind Emotionen die Basis persönlicher Autonomie. Ohne Emotionen entstehen Entscheidungsunsicherheit, Orientierungslosigkeit und Hilflosigkeit. Wenn man sich überwiegend an den Erwartungen anderer orientiert, wird die Fähigkeit zerstört, sich von der inneren Richtschnur der emotionalen Atemreagibilität leiten zu lassen. Es bleibt nur der Ausweg, ganz auf die Suche nach einer persönlichen Lösung des Konfliktes zu verzichten und sich die Handlungsorientierung von außen vorgeben zu lassen. In der Zurückweisung werden ohnehin Botschaften wahrgenommen, welches Verhalten die Bezugspersonen erwarten. Man hofft, sich deren Zuwendung zu sichern, wenn man sich mit diesen Erwartungen identifiziert. Wenn man so die eigene Lebendigkeit aufgibt und sich an andere anlehnt, kann die innere Zerrissenheit aufgehoben werden. Dieser Lösungsweg ist das Grundmuster der weit verbreiteten Ko-Abhängigkeit. An die Stelle der Innenorientierung tritt die Fremdorientierung. Die Verdrängung ist also nicht bloß ein Verzicht auf Autonomie, sondern auch ein Sich-vom-anderen-abhängig-Machen. Das kann je nach Schwere der psychischen Traumatisierung für Teilbereiche des Verhaltens oder für die ganze Lebensorientierung gelten.

So kann man sich z.B. entscheiden, anderen bis zur Selbstaufopferung zu helfen und nur

11 Das Gleichgewichtsorgan im Ohr ist ebenso für die Emotionen zuständig, da sie im Grunde Bewegungen sind und über die veränderte Atmung den Organismus aus dem Lot bringen.

12 Reich 1981, S. 106

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das zu tun, was ihre Anerkennung bringt. Die Botschaft kann auch darin bestehen, als Ersatz für die Liebe und Zuwendung, welche die Bezugspersonen nicht geben können, nach Leistung, Reichtum oder öffentlicher Anerkennung zu streben. Oft wird die Bereitschaft, die inneren Konflikte zu lösen, auch durch das Bedürfnis nach Vergeltung für erlittene emotionale Verletzungen oder durch die Erwartung von Wiedergutmachung untergraben. Häufig wird die demütigende Erfahrung, dass der eigene Wille mit Gewalt gebrochen wurde, mit dem Versuch verarbeitet, Macht über andere Menschen zu erringen, um dadurch eine Wiederholung zu vermeiden. Es sind symbiotische Problemlösungen, weil den Erwartungen der Bezugspersonen mehr Recht als den eigenen Impulsen gegeben wird. Die innere Zerrissenheit wird so durch die Preisgabe der Autonomie überwunden. Der Verzicht auf die eigene Lebendigkeit wird dadurch kompensiert, dass man sich an die Lebendigkeit anderer anklammert.

Zur symbiotischen Problemlösung gehört auch die Fixierung der entsprechenden Vorstellungen durch partielle Verhärtungen der Atemmembran. Sie drückt sich in Verallgemeinerungen, Rationalisierungen oder Idealisierungen aus. Die Fixierung der Vorstellungen ist die Bedingung dafür, dass die Blockierung der Emotionen aufrechterhalten bleibt. Dadurch entziehen sich die für die emotionale Blockade wichtigen Vorstellungen der kritischen Prüfung.

Auch die Neigung zur abstrakten Sprache ist ein Mechanismus, um die Vorstellungen vor Selbstkritik abzusichern. Je abstrakter die Sprache, desto mehr wird die Herkunft der Begriffe aus bestimmten konkreten Bildern vergessen. Die bildhafte Sprache ist ihres metaphorischen Charakters stets bewusst. Sie behält den Kontext in Erinnerung, in dem die einzelnen Begriffe gelernt wurden und in dem sie von einer Sprachgemeinschaft benutzt werden. Wenn dagegen bei der abstrakten Sprache die Begriffe aus ihrem Kontext herausgenommen werden, entfalten sie eine objektivierende Wirkung. Die Begriffe werden so unlebendig wie stereotype, mechanische Bewegungen. Es kann der Eindruck entstehen, dass sie das Wesen der Objekte ausdrücken und dass es eine objektive, vom Subjekt unabhängige Realität gäbe13. In Wirklichkeit sind sie nur Hülsen, mit denen die Vorstellungen hin- und herbewegt werden.

Die symbiotische Konfliktlösung macht sich daran bemerkbar, dass über den ganzen Tag ein ständiger Strom ängstlicher Gedanken und Vorstellungen als innerer Monolog auf dem Hintergrund des Bewusstseins abläuft. Die Drohungen der verinnerlichten Bezugspersonen werden allgegenwärtig, da sie sich ständig mit ihren Kernsätzen zu Wort melden. Angst als Dauerzustand bedeutet, dass ein Teil des Bewusstseins von den ängstlichen Vorstellungen blockiert wird, sodass dadurch der volle Kontakt zur Umwelt behindert wird. Das Verhalten zu sich selbst wird monologisch: Man kann nicht für sich selbst sorgen und andere nicht bitten, man glaubt, alles allein machen zu können, u.a. Auch das Gesprächsverhalten nimmt monologische Züge an.

Für die symbiotische Konfliktlösung ist so ein hoher Preis zu zahlen. Der Teil der Vorstellungen, mit denen die emotionalen Impulse zurückgehalten werden, wird dem Bewusstsein entzogen. Es entfällt das Bedürfnis, sich mit den Personen, von denen die Angst auslösenden Vorstellungen geweckt wurden, auseinander zu setzen. Damit gerät in Vergessenheit, dass alles Verhalten im Grunde nur eine Ersatzfunktion für die unerfüllten Kontaktbedürfnisse hat. Durch die Anlehnung an andere Menschen wird eine

13 Deshalb hat es die philosophische Theorie des Konstruktivismus so schwer, plausibel zu machen, dass das Verständnis von der Realität eine Schöpfung unserer Begriffe und Gedanken ist.

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komplizierte Beziehungsdynamik ausgelöst. Die misslungene Abgrenzung von den Eltern äußert sich darin, dass die Sehnsucht nach einer symbiotischen Bindung so groß wird, dass die Abgrenzung des Partners nicht erlaubt wird und die eigene Abgrenzung mit Schuldgefühlen verbunden ist. Ein freier Dialog, in dem die eigenen Bedürfnisse angstfrei geäußert und die Bedürfnisse des Partners akzeptiert werden, kann sich nicht entwickeln. Der Partner spürt eine Behinderung seiner Autonomie, da seine Bedürfnisse nur unzureichend vom anderen respektiert werden. Es kommt zwangsläufig zu Versuchen der Abgrenzung, die aber vom Ko-Abhängigen nicht verstanden und akzeptiert werden können. Auf diese Weise wird der innere stillgestellte Konflikt zwischen Autonomie und Anpassung nach außen in alle Partnerverhältnisse hineingetragen.

Die Entscheidung, sich an jemanden anzuklammern, ist kein bewusster Akt, sondern stets das Ergebnis der inneren Selbstorganisation. Es wäre auch unzutreffend zu behaupten, dass sie von den äußeren Verhältnissen erzwungen wird. Sie hat gerade deshalb neurotische Folgewirkungen, weil man Demütigungen, körperliche Bestrafungen oder sexuellen Missbrauch auf sich nimmt, um damit jemandem, meist einem Elternteil, zu helfen. Wenn man sich dennoch als unschuldiges Opfer fühlt, liegt das daran, dass man auf diese Weise die aggressiven Phantasien gegenüber der schädigenden Bezugsperson besser verarbeiten kann. Damit kann verdeckt werden, dass man sich im Interesse der Selbsterhaltung dafür entschieden hat, die eigenen Bedürfnisse denen des anderen zu opfern. Auch wenn man glaubt, sich in einer Zwangslage befunden zu haben und von außen zu der Entscheidung genötigt worden zu sein, bleibt tief im Inneren das Gefühl, dass die getroffene Entscheidung etwas Eigenes ist.

Wenn man sich z.B. allein fühlt, ist dies eine Folge der Entscheidung, allein zu bleiben, weil man sich dabei wohler fühlt, als wenn man sich der Herausforderung stellen würde, abgelehnt zu werden. Jedes Schuldgefühl, jede Selbstverurteilung, jede Gefühlszurückhaltung ist Ausdruck davon, dass man sich entschieden hat, seine Vitalität einzuschränken. Die Gesamtheit dieser Reaktionsgewohnheiten macht den individuellen Charakter aus. Sie schränken die Fähigkeit zum Mitgehen, Mitfließen und zum unmittelbaren Gewahrsein ein.

Betrachtet man diese psychische Dynamik aus der Perspektive des Atems, ist festzustellen, dass zunächst der innere Konflikt dazu führt, dass widersprüchliche Impulse an das Atemzentrum gehen. Einerseits soll der Atem auf die aktuelle Handlungssituation reagieren, andererseits erzwingen die aus der Erinnerung vordrängenden Emotionen eine entgegengesetzte Reaktion. Dieser Konflikt verhindert, dass sich der Atem auf die aktuelle Handlungssituation einschwingt. Die Atmung kann aber nur richtig funktionieren, wenn sich der Organismus für ein eindeutiges Handeln entscheidet. Bei widersprüchlichen Impulsen an das Atemzentrum wird der Atem fragmentiert: es entstehen Angst und Unsicherheit.

Wahrscheinlich ist die durch den inneren Konflikt ausgelöste Atemspaltung die eigentliche Ursache dafür, dass das eigene Leben nach den Erwartungen anderer Menschen organisiert wird. Der Konflikt kann nur aufgelöst werden, indem man sich an den Atemrhythmus des Partners anpasst. Dadurch kann das innere Gleichgewicht notdürftig wiederherstellt werden. Der Anpassung an die Emotionen des Partners entspricht ein Verzicht auf Autonomie, und da die Emotionen Ausdrucksformen des Atems sind, bedeutet die Unterdrückung der eigenen Emotionen einen freiwilligen Verzicht auf die Kraft des eigenen Atems.

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Die oft aufgestellte Behauptung, dass die Emotionen mit Hilfe des Atems zurückgehalten werden können, ist nicht ganz richtig. Die emotionale Zurückhaltung basiert vielmehr darauf, dass der Organismus die Muskeln blockiert, die den emotionalen Ausdruck herstellen. Da diese Muskeln identisch mit den Muskeln der Atemmembran sind, wird zugleich der Atem blockiert. Emotionale Verdrängung ist deshalb mit Atemreduktion identisch. In der Verdrängung kann deshalb nicht das Werk des Atems gesehen werden. Vielmehr wird sie von der organismischen Selbstorganisation mit Hilfe von Blockierungen der Atemmembran bewirkt.

Bei der Verdrängung wird in Kauf genommen, dass große Mengen an körperlicher Energie absorbiert werden. Das kommt vor allem von der verdrängungsbedingten Gleichgewichtsstörung, dem ständigen inneren Monolog und der Entscheidungsunsicherheit. Die Verdrängung manifestiert sich deshalb nicht nur in einem Mangel an geistiger und emotionaler Lebendigkeit, sondern auch in einem Gefühl von Energiemangel, Antriebsarmut und Schwäche. Jede Einschränkung der Vitalität ist auch mit der Gefahr des Zusammenbruchs der Denkfähigkeit verbunden. Wird die Bedrohung als zu stark empfunden und kann sie nicht vom Denken und Fühlen bewältigt werden, kann dies zum Zusammenbruch der Symbolisierungsfähigkeit ingesamt führen wie bei Geisteskrankheiten. Gelingt es nicht, die eigenen Vorstellungen mit denen der Umwelt einigermaßen abzustimmen, geht der Organismus in den sozialen Rückzug, zunächst nur mit geistiger und/oder emotionaler Apathie, später mit Schizophrenie oder Wahnideen.

Offensichtlich hat der Organismus eine starke physiologische Tendenz, sich vor möglicherweise destruktiven Bedrohungen zu schützen. Der Organismus zieht die innere Fühllosigkeit und Desintegration auf Grund der Blockade des inneren Dialogs der destabilisierenden Erfahrung der Bedrohung von Kontaktverlust vor. Durch die depressive Konstellation der inneren Starrheit und statischen Negativität kann die beängstigende Erfahrung, nicht mit der Bedrohung fertig zu werden, vermieden werden und damit letztlich auch der Schmerz einer leblosen, abgetrennten und desintegrierten Existenz14.

Aus diesen Überlegungen ist zu folgern, dass nicht die äußere Affektkontrolle die eigentliche Ursache für psychisches Leiden ist, sondern der Umstand, dass nicht gelernt wurde, einen bewussten Abgleich zwischen den sozialen Anforderungen und den inneren Impulsen herzustellen, und dass deshalb die Kontrolle der Affekte außerhalb des bewussten Dialoges mit sich selbst erfolgt. Wenn aggressiven Strebungen ohne innere Auseinandersetzung abgespalten werden müssen, ist der Lernprozess für einen autonomen Umgang mit den Gefühlen zum Scheitern verurteilt.

Deshalb sind auch die häufig für emotionale Rigidität verwendeten Bilder des Gefühlsstaus und der Abreaktion problematisch. Das Bild des Staus ist insofern richtig, als sich auf Grund der Muskelanspannung tatsächlich Flüssigkeit im betroffenen Gewebe sammelt. Aber die so genannte Abreaktion ergibt sich nicht aus einem mechanischen Überlaufen oder aus der Explosion der <gestauten Gefühle>, sondern daraus, dass der Organismus mit einem gewissen Wiederholungszwang immer wieder versucht, mit einer emotional unbewältigten Situation fertig zu werden. Der eigentliche Grund für den <Stau> ist, dass nicht gelernt worden ist, Emotionen, insbesondere Wut, Hass, Liebe oder Zärtlichkeit im Umgang mit der sozialen Umwelt so zu gestalten, dass sie ein harmonisches Zusammenleben gewährleisten. Die nicht hinreichend gut angeeigneten Emotionen fehlen dann im Repertoire der Verhaltensorientierung. Daraus resultieren

14 Vgl. Lifton 1986, S.275

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Verunsicherung, Angst vor Kontakten, Selbstzweifel, Selbsthass oder Ausbrüche von nicht gelernter Aggressivität. Wenn Emotionen nicht mehr für die Orientierung im sozialen Raum zur Verfügung stehen, bleiben nur der soziale Rückzug oder die aggressive Suche nach Anerkennung.

Die eingangs formulierte Frage, warum Menschen sich selbst negieren können, kann jetzt damit beantwortet werden, dass beim Menschen alle emotionalen Bewegungen mit Vorstellungen verbunden werden. Vorstellungen haben die Kraft, den Ausdruck von Emotionen zurückzuhalten, da ihre originäre Funktion darin besteht, Bewegungen zu strukturieren. Die Vorstellungen werden im inneren verbalen Dialog ständig erneuert. Ohne die ständige Bestätigung der muskulären Verspannungen im inneren Dialog wäre es unverständlich, dass Verspannungen über lange Zeit festgehalten werden können.

Aus diesen Überlegungen kann die These abgeleitet werden, dass die menschliche Verdrängungsfähigkeit erst mit der Entwicklung der Sprache und dem damit ermöglichten inneren Dialog entstanden ist.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass symbiotisches Verhalten langfristig zu großer Hilflosigkeit führt. Wenn man sich überwiegend an den Erwartungen anderer orientiert, wird die Fähigkeit zerstört, sich von der inneren Richtschnur der emotionalen Atemreagibilität leiten zu lassen. Man wird unfähig, die eigenen Muskeln zu kontrollieren, weil sie sich auf Grund der Verspannungen der Kontrolle entziehen. Je weniger man die Verantwortung für die eigenen Emotionen übernimmt, umso ohnmächtiger fühlt man sich. Wenn Bezugspersonen durch Tod oder aus anderen Gründen ausfallen, gerät man zwangsläufig in eine große Krise. Die Hilflosigkeit ist deshalb der Nährboden für Erkrankungen (vgl. Kap. 6.1).

5.3 Der Handlungs- und Rückzugsreflex

«Nicht der Tod tötet, es tötet uns das Leben, das Leben, das wir nicht leben.» (Werner Sprenger)

Das Phänomen, dass die organismische Selbstorganisation in Konfliktsituationen spontan Entscheidungen trifft, die sich gegen die eigene Lebendigkeit richten, wird verständlicher, wenn man es mit der Theorie der neuromuskulären Reflexe in Verbindung bringt. Danach verfügt der menschliche Organismus über zwei automatisch wirkende Reflexreaktionen, um den Kontakt zur Umwelt zu organisieren und insbesondere mit Belastungen fertig zu werden: den Handlungsreflex und den Rückzugsreflex. Diese Reflexe haben die Menschen als biologische Erbschaft von früheren biologischen Entwicklungsstufen übernommen. Es soll gezeigt werden, dass sie nach wie vor wirksam sind und dass der Rückzugsreflex die physiologische Grundlage der Verdrängung ist. Es wird sich zeigen, dass die Reflexe durch die Entwicklung der Atemmembran qualitativ verändert worden sind.

Beim Handlungsreflex, der oft auch als Kampf- und Fluchtreflex bezeichnet wird, aktiviert der Organismus schlagartig alle Kräfte für eine Handlung, die entweder die Befriedigung von Bedürfnissen, z.B. durch die Aufnahme von Speisen, durch ein Gespräch, durch die Bearbeitung eines Gegenstandes, die Erforschung des Verhaltens von Tieren u.a. oder die Abwehr von Gefahren verspricht. Mit der Rückzugsreaktion begibt sich der Organismus aus der Situation heraus, wenn er die Überzeugung gewonnen hat, das er ihr weder durch Kampf noch durch Flucht gewachsen ist. Beide Reflexe sind sinnvolle neuromuskuläre Anpassungsmechanismen, um den Organismus auf außergewöhnliche An

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strengungen vorzubereiten, die Aufmerksamkeit auf die zu erledigende Aufgabe zu richten oder sich vor größeren Verletzungen zu schützen.

Im Handlungsreflex richtet sich der ganze Körper auf, indem sich die Wirbelsäule streckt. Der Körper wird größer, der Brustkorb wird ausgedehnt und aufgebläht, die Bauchmuskeln werden angezogen, der Nacken wird versteift. Durch das Zusammenziehen der Streckmuskeln der Körperrückseite hebt und wölbt sich der Rücken nach hinten. Der Oberkörper verspannt und verfestigt sich, um den Widerstand, der sich dem Handeln entgegenstellt, überwinden zu können. Der Handlungsreflex ist somit mit einer umfassenden Kontraktionsreaktion vieler Muskeln verbunden. Die pulsatorische Erregung wird dadurch in den oberen Körperteil gezogen: Die Sinnesorgane beobachten wachsam und scharf die Reize der jeweiligen Handlungssituation; die oberen Extremitäten sind handlungsbereit.

Für das Verständnis des Handlungsreflexes ist wichtig, dass der Handlungsimpuls von der Kontraktion im Lenden- und Kreuzbeinbereich ausgeht. Gleichzeitig erfolgt eine synergistische Anspannung der Muskeln von Nacken und Schultern einerseits und Gesäß und Oberschenkeln andererseits. Jedes absichtliche, von bewussten Zielen gesteuerte Handeln wurzelt in diesem animalischen Handlungsreflex.

Das bedeutet, dass jeder Handlung ein unbewusster Impuls in der Kreuzbeingegend vorausgeht. Der Organismus lässt erkennen, welche Handlungen ihm aus seiner Bewertung der Situation sinnvoll erscheinen. Handlungen gelingen, wenn dieser Impuls angenommen und seine orientierende Kraft in die Handlung integriert wird.

Die Handlungsreaktion ist eine komplexe organismische Antwort auf den Impuls, in einer Situation zu reagieren: Herzrhythmus und Blutdruck werden erhöht, die Atmung wird beschleunigt, Blutzucker und Blutfettwerte werden erhöht, die Gerinnungsfähigkeit des Blutes steigt an, das Blut wird im Herzen und im Gehirn zentralisiert, die Verdauung wird eingestellt, die mentalen Vorgänge werden durch die Ausschüttung von Hormonen beschleunigt und auf die Quelle der Bedrohung eingeengt u.v.m. Diese Veränderungen werden durch die Aktivierung des sympathischen Nervensystems veranlasst, das die Hormone Adrenalin und/oder Noradrenalin in das Blutgefäßsystem ausschüttet.

Weiterhin ist hervorzuheben, dass der Handlungsreflex auf dem komplexen körperlichen Bewegungsmuster der Einatmung aufbaut. Wenn der Brustkorb beim Einatmen mit Atemluft gefüllt wird, zieht sich der Organismus aus dem Bauchraum empor. Diese Expansion ist mit einer Anspannung der Muskulatur im Rückgrat, Brustkorb und Schultergürtel verbunden. So wird zusammen mit der Anspannung der Einatemmuskulatur die Handlungsbereitschaft aufgebaut. Während der Einatmung werden gleichzeitig alle Informationen aufgenommen, die für Quantität und Qualität der Einatmung wichtig sind. Aufnehmen und Einatmen erfolgen so uno actu. Dies gilt auch noch für so differenzierte geistige Vorgänge wie das denkende Ergreifen von etwas.

In Momenten großer Gefahr geht der Handlungsreflex in den Schreckreflex über. Im Schreckreflex, der fundamentalen Antwort auf unbekannte Reize, werden die muskulären Anspannungen verstärkt, bei starkem Schock bis zum Extrem der völligen Erstarrung, bei der sich der Organismus völlig empfindungslos macht. Der Schreckreflex «tritt bei plötzlicher, unvorhergesehener Bedrängnis oder vorübergehenden alarmierenden Situationen in Aktion. Wir halten inne, pausieren, versteifen uns, spannen unsere Muskulatur an, halten den Atem ein, erforschen die Lage und reagieren, indem wir entweder

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warten, bis die Gefahr vorüber ist, oder handeln. Ist die Bedrohung ernsthafter Natur oder geht sie nicht vorbei, vertieft sich das Schreckmuster. Wir versuchen, die Schwierigkeit zu umgehen, wenden uns ab, stellen uns auf Kämpfen oder Flüchten ein» (Kele-man 1992, S.82). Mit den schlagartig einsetzenden physiologischen Veränderungen werden alle Kraftreserven mobilisiert. Gleichzeitig werden die Reaktionen des Herzens, der Atmung, des Hormonsystems, des Nervensystems u.a. gesteigert. Dies zeigt sich an Symptomen wie Zittern von Stimme und Händen, trockenem Mund, Schluckbeschwerden, gespannten Muskeln, Unruhe, Ungeduld, Nervosität u.a. Zwischen dem normalen Handeln und dem Schreckreflex liegt ein breites Kontinuum von differenzierten Reaktionen, da in jeder Handlungssituation immer auch unvorgesehene Momente enthalten sind.

In ihrer Entwicklung erfahren die Menschen in der Regel eine Reihe von unterschiedlich schweren emotionalen Verletzungen, die den Organismus überwältigen oder eine Erregung auslösen, die größer ist als die Fähigkeit, mit ihr umzugehen. Entweder wird ein Kontaktversuch brüsk zurückgewiesen, oder es treten wegen eines Verlustes starke Trauergefühle auf, die nicht gelebt werden dürfen. Demütigungen, emotionaler oder sexueller Missbrauch, Ausdrucksverbot von Wut wegen erlittener Verletzungen, Schuldgefühle u.a. können ebenso den Organismus überfordern. Jedes Mal wird dann in unterschiedlichem Ausmaß der Schreckreflex ausgelöst.

Wird der Organismus wiederholt überfordert, geht er in eine chronische Alarmbereitschaft über. Das bedeutet, dass die im Schreckreflex angespannten Muskeln kontrahiert bleiben. Der Brustkorb bleibt in der aufgeblähten Stellung der Einatmung. Die Bauchmuskeln bleiben angespannt, die Eingeweide verkrampfen sich. Das Zwerchfell erstarrt in der Einatemstellung. Die dadurch extrem erschwerte Atmung funktioniert nur noch mit Hilfe der Zwischenrippenmuskeln und der am Schultergürtel ansetzenden Atemhilfsmuskulatur. «In ernsten Situationen ziehen wir den Beckenboden an, machen die Beine steif, heben die Schultern hoch, ziehen die Genitalien zurück, versteifen die Wirbelsäule und runden den Nacken, als wollten wir zustoßen, beißen die Zähne zusammen, ballen die Fäuste und spannen uns an» (Keleman 1992, S.114). Außerdem werden Augen und Stirn zusammenzogen. Der Organismus verharrt im Zustand andauernder Kampfbereitschaft oder dem Ausweichen vor dem, von dem er sich bedroht fühlt. Die ursprünglich mit dem Handlungsimpuls entstandene Erregung geht zurück. Die chronische Anspannung bringt die natürliche Pulsation zum Stillstand. Wie Keleman gezeigt hat, hat der Schreckreflex ein breites Reaktionskontinuum. Von gemäßigter Aufmerksamkeit bis zu schwerem Schock und Furcht nimmt die Erstarrung immer mehr zu, bis sie schließlich den Organismus empfindungslos macht. «Im extremen Schockzustand sind die Muskulatur, die Wirbelsäule und Lungen völlig unbeweglich, die Augen können nicht mehr fokussieren, die Körperflüssigkeiten und die arterielle Blutversorgung stocken teilweise. So geschieht es bei Tieren, wenn sie von Feinden angegriffen werden» (Keleman 1992, S.88).

Der Schreckreflex ist im Grunde eine übermäßige Einatemaktion. Er zeigt an, dass der Organismus mit einer Situation konfrontiert wird, der er sich nicht gewachsen fühlt, oder anders formuliert, dass er handeln muss, aber nicht weiß, wie er handeln soll. Er hat für die Entstehung von Krankheiten große Bedeutung, da er im Alltag mit seinen Bedrohungen allgegenwärtig ist und mit der chronischen Fixierung von Muskelkontraktionen auch chronische Atemstörungen verursacht.

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Der Rückzugsreflex wird ausgelöst, wenn der Organismus mit einer belastenden Situation weder durch Kämpfen noch durch Flüchten fertig wird und Nachgeben oder NichtHandeln als einzige Möglichkeit ansieht. Es wird auf den Ausdruck von Emotionen verzichtet, um die emotionale oder körperliche Vernichtung zu vermeiden. Jeder Verzicht auf emotionalen Ausdruck ist mit Rückzug verbunden, da damit zwangsläufig der Kontakt zu anderen abgebrochen wird. Deshalb führt wiederholt gescheitertes Handeln über kurz oder lang zum sozialen Rückzug. Der Rückzugsreflex kann als Reaktion auf ein einmaliges traumatisches Ereignis ausgelöst werden. Er kann sich aber auch allmählich aufbauen, wenn immer mehr die Illusion aufgegeben werden muss, dass individuell wichtige Ziele erreicht werden können und wenn dieser Verlust nicht durch Trauer verarbeitet werden kann. Deshalb entwickelt sich das Atemmuster der Resignation meistens bei älteren Menschen, die ihren Lebensoptimismus und Aktionsdrang aufgegeben haben.

Niederlagen und Hoffnungslosigkeit, das angestrebte Ziel zu erreichen, manifestieren sich im Kleinerwerden und Zusammenrollen des Körpers. «Wir sinken in uns zusammen, wenn wir entweder besiegt werden oder beschließen, uns zu unterwerfen oder zusammenzubrechen» (Keleman 1992, S. 116). Da die Handlungsimpulse bereits im Ansatz unterdrückt werden, verliert die Wirbelsäulenmuskulatur ihre Spannung. Der Brustraum sinkt ein. Ebenfalls sinkt der Bauchraum ein, sodass sich die Eingeweide vorwölben. Der Bauchinhalt sinkt nach unten und nach vorn. Bei dem Versuch, den Kopf aufrecht zu halten, entsteht eine starke Verspannung im Hinterhaupt und im Nacken. Die Schultern werden durch die kontrahierten Nackenmuskeln nach oben gezogen und nach vorn gerundet. Gleichzeitig beugen sich die Knie und die Zehen nach innen, während die Fersen nach außen drehen. Insgesamt «wird der Körper gebeugt und zusammengezogen, fast als ob er fallen und sich in einer embryonalen Haltung zusammenrollen würde» (Hanna 1990, S.66). Nach der Auffassung von Keleman ist der Rückzugsmechanismus der Endpunkt im Mechanismus des Schreckreflexes.

Die Rückzugsreaktion stützt sich auf das Bewegungsmuster der Ausatmung, bei dem der Brustkorb nach unten zusammengezogen wird und das Zwerchfell in die Ruhestellung zurückschwingt, sodass der Druck auf die Bauchorgane nachlässt. Während die verbrauchte Atemluft ausgestoßen wird, zieht sich der Organismus nach innen zurück. Der Schwerpunkt der Pulsation kehrt in den Bauchraum zurück. Während im Normalfall der Rückzug nach innen nur in der Phase der Ausatmung anhält, kann er sich nach einer Niederlage, Verzweiflung oder Resignation dauerhaft in der gebeugten Körperhaltung verkörpern. Die Muskeln am Rückgrat werden schlaff, weil das Vertrauen verloren gegangen ist, sie für ein wirkungsvolles Handeln einsetzen zu können. Der Organismus verharrt im Grunde in der Ausatemstellung. Auf Grund der Erschlaffung großer Teile der Rumpfmuskulatur hat der ganze Organismus die Tendenz, zusammenzusinken und kleiner zu werden. Daraus entsteht das Atemmuster der Resignation, das durch reduzierte Einatmung und forcierte Ausatmung geprägt wird.

Während der Handlungsreflex durch das Überwiegen von hypertonischen Muskeln geprägt wird, ist für den Rückzugsreflex die Dominanz von hypotonen Muskeln charakteristisch. Nach der Auffassung von Lillemor Johnsen resultieren hypotone Muskeln daraus, dass sich die Muskeln zurückbilden, wenn sie nicht mehr für den emotionalen Ausdruck, also z.B. von Wut, benötigt werden15. Wahrscheinlich entsteht die Dominanz der

15 Johnsen 1981

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hypotonischen Muskeln dadurch, dass die Erwartung zusammenbricht, mit der Verspannung der Muskeln noch bestimmte Ziele wie z.B. Zuwendung und Anerkennung durch Leistung zu erreichen. Solange man an Erwartungen festhält, hat man noch den Anschein der Kontrolle über den eigenen Körper. Wenn sich aber die Erwartungen als irreal herausstellen, entsteht eine Krise. Der alte Konflikt, der durch die symbiotische Anlehnung zu lösen versucht wurde, bricht wieder auf. Da sich der einzig verfügbare Konfliktlösungsmechanismus als untauglich erweist, entsteht das Gefühl tiefer Sinnlosigkeit: Die muskulären Anspannungen, für die man einen Teil der Lebendigkeit geopfert hat, werden sinnlos.

Zwischen Handlungsreflex und Rückzugsreflex gibt es ein breites Spektrum von Reaktionsweisen, mit Unvorhergesehenem umzugehen. Daraus erklärt sich die Vielfältigkeit, aber auch die Typik menschlicher Reaktionsweisen gegenüber zu großen Belastungen. Die beiden Reflexe sind somit Selbstschutzmaßnahmen, um Bedrohungen abzuwehren, Schäden und Verletzungen zu vermeiden oder Schmerzen einzudämmen16. Sie erreichen diesen Effekt durch eine Kontraktion oder Erschlaffung eines Komplexes von Muskeln der Atemmembran. In jedem Menschen entsteht so ein komplexes Muster von chronisch über- und unterspannten Muskeln, das den individuellen Charakter widerspiegelt. Ein geübter Therapeut kann deshalb die emotionale Struktur eines Menschen am Tonus seiner Muskeln ablesen.

Beim Menschen haben die Reflexreaktionen ihre animalische Unmittelbarkeit verloren. Während sie bei niederen Lebewesen reflexartig nach dem Alles-oder-nichts-Prinzip funktionieren, können sie bei den Menschen verschiedene Reaktionsstufen annehmen. Denn die sensomotorischen Schaltkreise sind bei den Menschen offen für Lernerfahrungen. Wie man auf Bedrohungen reagiert, hängt jetzt einerseits davon ab, welche Vorstellungen gelernt worden sind, mit denen Bedrohungen bewertet werden, andererseits davon, welche Fähigkeiten gelernt worden sind, mit Bedrohungen umzugehen. Die Vorstellungen werden in die Reflexmechanismen eingebaut und modifizieren sie, sodass sie differenzierter reagieren können. So kann z.B. die gleiche Gefahr bei dem einen Menschen zur spontanen Rückzugsreaktion führen, während der andere ganz gelassen damit umgeht.

Die Menschen verdanken die instinktartige Sicherheit bei der Bewertung von Menschen und Situationen den angeborenen Reflexreaktionen. Es wäre aber ein Fehler, die Regulationsmechanismen des Geistes und der Gefühle von den biologischen Regulationsmechanismen prinzipiell zu unterscheiden17. Die höheren Regulationsmechanismen sind biologische Schaltkreise, die durch flexibel eingebaute Vorstellungskomplexe anpassungsfähig sind, die aber dadurch keineswegs ihre biologische Verwurzelung verlieren. Die Impulse gehen nach wie vor von den primitiven Regionen des Hirnstamms aus. Sie sind deshalb völlig unbewusst und unwillkürlich. Sie werden so schnell ausgelöst, dass sie erst bewusst wahrgenommen werden können, wenn sie sich bereits gemeinsam mit den dazugehörenden Vorstellungen in der Großhirnrinde entfaltet haben.

Es zeigt sich, dass die Verdrängung nicht mit der Metapher verstanden werden kann, dass das Unangenehme in den Raum des Unbewusstem eingesperrt wird, das per definitionem nicht für das Bewusstsein zugänglich ist. Das Unbewusste ist eine untaugliche Metapher für den Prozess der Verdrängung, da sie kein Verständnis für die dabei betei

16 Vgl. Strauch 1994, S.132

17 Vgl. Damasio 1994, S.l58,259,301

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ligten physiologischen Prozesse anbietet. Das Besondere an der Verdrängung ist, dass ihr ein selbst gewollter Abbruch der inneren Kommunikation zu Grunde liegt. Einige Muskeln, die für die Zurückhaltung der Atmung angespannt oder locker gelassen werden, werden aus der kommunikativen Rückkopplung zwischen Gehirn und Muskel herausgenommen. Verdrängung kann so als ein freiwilliger Verzicht auf Bewusstsein verstanden werden. Dabei werden Selbstabtötung und Selbstzerstörung in Kauf genommen. Da Fähigkeiten fehlen, Bedrohungen konstruktiv zu verarbeiten, steckt in der Selbstzerstörung auch Verzweiflung darüber, dass man es versäumt hat, aktive Bewältigungsstrategien zu entwickeln. Daraus erklärt sich der innere Zwang, an problematischen Verhaltensweisen festzuhalten, auch wenn sie immer wieder Konflikte herbeiführen.

Der Begriff der Abspaltung scheint geeigneter zu sein, das Wesentliche am Verdrängungsprozess zu kennzeichnen. Er weist korrekt darauf hin, dass ein Teil des Körpers aus der Ganzheit des Organismus herausgenommen wurde, sodass das harmonische Zusammenspiel aller Teile gestört ist und im Bewusstsein sozusagen ein Loch entsteht.

Der Abspaltung entspricht immer eine Entscheidung, die eigenen Impulse nicht zum Handeln zuzulassen und sich statt dessen an den Erwartungen anderer Menschen zu orientieren. Bei der Therapie steht deshalb nicht die Aufhebung der Unbewusstheit, sondern die Umschaltung von der Fremdorientierung hin zur Innenorientierung im Vordergrund.

Wenn die Verdrängung eine Zerstörung der inneren Kommunikation ist, kann dafür nicht das <Ich> verantwortlich gemacht werden. Die Verdrängung geht ebenso wenig vom <Selbst> aus, das als Metapher der organismischen Selbstorganisation entschlüsselt wurde (vgl. Kap. 3.2). Es ist überhaupt problematisch, für diesen Prozess eine innere Instanz verantwortlich zu machen, da schließlich immer der ganze Mensch die innere Abtötung vornimmt. Da aber die psychische Selbstorganisation an die Atemmembran mit ihren Kommunikationsfähigkeiten gebunden ist, kann noch am ehesten in der Atemmembran die eigentliche Instanz der Selbstabtötung gesehen werden. Schließlich ist Verdrängung dadurch möglich geworden, dass die Atemmembran auf Grund ihrer muskulären Struktur mit Vorstellungen kontrolliert werden kann.

Es sollte gezeigt werden, dass der Prozess der Abspaltung nur verständlich wird, wenn der Atem berücksichtigt wird. Auf Grund der Beeinflussbarkeit der emotionalen Atemschwingungen mit Vorstellungen kann der menschliche Organismus seine Lebendigkeit stufenlos abschalten, wenn sie ihm zu gefährlich wird. Die verschiedenen Formen der Verdrängung gehen darauf zurück, dass unterschiedliche, für den emotionalen Ausdruck wichtige Muskeln deaktiviert werden. Die Abspaltung ist vermutlich die Kehrseite der Entwicklung des aufrechten Ganges, der Emotionen und der begrifflichen Sprache.

Denn erst durch diese neue anatomische Konstellation wurde die chronische Verspannung - insbesondere der Wirbelsäulen- und Rückenmuskulatur - möglich. Somit wurzeln die charakteristischen menschlichen Gefühle der Entzweiung, Abgetrenntheit und Sinnlosigkeit in dem Umstand, dass die Menschen ihre eigene Lebendigkeit unbewusst mit Hilfe chronischer Verspannungen reduzieren können.

Die Ausgangsfrage dieses Kapitels, was zur Kontaktstörung führt, kann jetzt damit beantwortet werden, dass es im Prinzip der Verzicht darauf ist, den eigenen emotionalen Impulsen zu folgen. Kontaktstörungen lassen sich deshalb nicht an der Quantität des Kontaktes abmessen. So können zutiefst kontaktgestörte Menschen als kontaktfreudig erscheinen, weil sie sich durch oberflächliche Geselligkeit vor tiefen Ängsten schützen.

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Umgekehrt können zurückhaltende Menschen relativ ausgeglichen sein, weil sie im Kontakt mit ihren Ängsten sind. Entscheidend ist vielmehr, inwieweit man im sozialen Austausch noch im Kontakt mit den eigenen Bedürfnissen und Emotionen ist und damit dem eigenen Atemrhythmus folgt oder den offenen Kontakt zur Umwelt aus Angst vor Strafe, Liebesverlust oder Ablehnung vermeidet.

6 Krankheit und Kontaktstörung

«Was in der Psyche vorgeht, beeinflusst den Körper.» (Hippokrates)

Die bisherigen Überlegungen zeigen, dass das psychische Gleichgewicht von der Qualität des Kontaktes abhängig ist, oder mit anderen Worten, dass die Beschaffenheit der seelischen Innenwelt von der Qualität des Verhältnisses zur äußeren Welt bestimmt wird. Der Kontakt ist keine bloß psychisch-immaterielle, sondern eine physische, den ganzen Körper einbeziehende Angelegenheit. Als das eigentliche Medium des Kontaktes hat sich der Atem, mit seinen emotionalen Ausdrucksformen erwiesen. Aus den bisherigen Überlegungen, warum Gefühle auf den Körper einwirken können, geht hervor, dass der Einfluss nicht direkt von den Emotionen ausgeht, sondern von den Verspannungen in der Atemmembran, die mit der Zurückhaltung des emotionalen Ausdrucks verbunden sind.

Im Folgenden sollen die Grundzüge eines neuen Verständnisses von Krankheit entwickelt werden, das sich aus der Erkenntnis der zentralen Bedeutung des Atems für die soziale Kommunikation ergibt. Es handelt sich um ein neues Paradigma für das Zusammenwirken von Körper und Geist, von stofflich-körperlichen und geistig-emotionalen Faktoren. Damit wird eine solide Basis für die Kritik an der Schulmedizin geschaffen. Die bisherige Kritik an deren mechanistischen Grundverständnis ist unfruchtbar geblieben, weil sie über Kritik nicht hinaus gekommen ist und keinen alternativen Therapieansatz entwickeln konnte. Demgegenüber begründet die Atemtheorie der Krankheit die Perspektive eines ganzheitlichen Gesundheitsverständnisses, das den Kranken als Person wahrnimmt.

Die Grundthese besteht darin, dass emotionale Konflikte physiologische Auswirkungen haben können, weil sie die Beweglichkeit des Körpers einschränken. Alle Zellen und Organe finden das Optimum ihres Funktionierens nur im Zustand größter Beweglichkeit des ganzen Körpers, weil alle stofflichen und informatorischen Austauschprozesse von Bewegungsprozessen organisiert werden müssen. Der Atem ist das körperliche Leitsystem, da sich alle Bewegungseinschränkungen unmittelbar als Atemreduktion manifestieren. Da jede Zelle dringend auf den fortwährenden Nachschub von Sauerstoff angewiesen ist, stellt gestörte Atmung eine Quelle von vielfältigen physiologischen Funktionsstörungen dar.

Ängste und Rückzug aus dem Kontakt schlagen sich in chronischen Fehlspannungen der Atemmembran nieder. Bei größeren Kontaktstörungen können Verspannungen ein Ausmaß annehmen, bei dem das psychische und körperliche Wohlbefinden nachhaltig beeinträchtigt wird. Halten die Fehlspannungen an, gerät der ganze Organismus aus dem Gleichgewicht. Da Verspannungen tief greifende Auswirkungen auf das Atemsystem und damit auf die Sauerstoffversorgung des Organismus haben, können sie der Ausgangspunkt von physiologischen Dysfunktionen sein. Aus dem Rückzug vom Kontakt, der meist mit der emotionalen Grundstimmung von Resignation und Hoffnungslosigkeit

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einhergeht, resultieren so negative physiologische Konsequenzen.

6.1 Muskuläre Fehlspannungen als Krankheitsursache

«In deiner Krankheit liegt die Erlösung.» (James Hillman)

Die folgenden Überlegungen gehen von der Grundthese aus, dass der Organismus auf emotionale Belastungen mit einem spezifischen Gemisch von Über- und Unterspannungen der Muskeln reagiert. Während der Organismus z.B. im Zustand der Angst zur Überspannung neigt, wählt er in der Resignation die muskuläre Erschlaffung (vgl. Kap. 5.3). Chronische Tonusveränderungen im Sinne einer Hyper- oder Hypotonie können zu Funktionsstörungen führen, die wiederum Krankheiten auslösen können. Diese Arbeitshypothese hat sich in der Osteopathie als sehr fruchtbar erwiesen. Krankheit ist danach meist die Folge von Bewegungseinschränkungen, durch die die davon betroffenen Organe oder Gewebe in ihrer Funktion behindert werden.

Diese These von der Krankheit als Atemstörung stützt sich auf Körpertherapeuten, die festgestellt haben, dass der Körper durch die Unterdrückung der Gefühle deformiert wird (Wilhelm Reich, Moshe Feldenkrais u.a.). Sie wird auch durch Erfahrungen von Ärzten bestätigt, welche die Atemtherapie in ihre Praxis integriert haben und dabei große Heilerfolge erzielen konnten1. Pam Grout berichtet von der Schätzung eines medizinischen Forschers, dass schlechtes Atmen in mehr als 75 Prozent der Probleme, mit denen die Menschen zum Arzt kommen, eine Rolle spielt1 2. Eine direkte Bestätigung stellt auch die Krankheitslehre der traditionellen hawaiianischen Heiler dar, die Krankheiten auf körperliche Verspannungen zurückgeführt haben, wobei als Ursache für die Verspannungen Konflikte zwischen persönlichen Glaubenssätzen angenommen wur-den3.

Meine Überlegungen wurden insbesondere von dem Anspruch des chinesischen Qigong und des indischen Pranayama angeregt, dass mit bestimmten Bewegungs- und Konzentrationsübungen, bei denen die Aktivierung des Atems im Mittelpunkt steht, nicht nur psychisches Wohlbefinden und geistige Klarheit, sondern auch körperliche Gesundheit erzielt werden können. In beiden Krankheitslehren wird im Grunde kein Unterschied zwischen psychischen und somatischen Störungen gemacht, da beide auf Blockaden im Energiekreislauf zurückgeführt werden. Die Heilwirkung wird nicht mit der Beseitigung von Atemstörungen erklärt, aber ich habe die Vermutung, dass dies eine Fehlinterpretation ist. Eine genaue Analyse der anatomischen Vorstellungen könnte zeigen, dass überwiegend mit Metaphern gearbeitet wird, die früher sinnvoll waren, die aber heute auf Grund der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse entbehrlich geworden sind. Orientiert man sich daran, wie therapeutisch gearbeitet wird, ist nicht zu übersehen, dass es sich bei beiden Krankheitslehren im Grunde um Atemtherapien handelt. Es ist auffallend, dass ihre zentralen Begriffe wie Chi und Prana unmittelbar mit dem Atem verwandt sind. Daraus entstand meine Hypothese, dass die Heilwirkung von Qigong und Pranaya-ma besser verstanden werden kann, wenn sie konsequent als Beseitigung von Atemstörungen begriffen wird (vgl. Kap. 10.2).

Eine indirekte Bestätigung für die Atemtheorie der Krankheit kann auch in der außerge

1 Z.B. Johannes Ludwig Schmitt, L.G.Tirala

2 Grout 1996, S.84

3 King 1996 .

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6 Krankheit und Kontaktstörung

wöhnlich großen Indikationsbandbreite der verschiedenen Sauerstofftherapien4 gesehen werden. Die Vertreter der verschiedenen Sauerstofftherapien gehen von der Annahme aus, dass die meisten Krankheiten Sauerstoffmangelkrankheiten sind. Wenn die vielfältigsten Krankheiten mit einer gezielten Zufuhr von Sauerstoff therapiert werden können, ist daraus abzuleiten, dass der Mangel an Sauerstoff am Anfang jeder Beschwerde, jeden Leidens und jeder Krankheit steht. Allerdings fehlt den Sauerstofftherapien eine Theorie, warum der Organismus in Krisensituationen mit Sauerstoffmangel reagiert, wo doch gerade ein Mehr an Sauerstoff erforderlich wäre.

Wenn meine Grundthese bei Medizinern prima vista wenig Überzeugungskraft hat, liegt dies sicherlich daran, dass die systematische Untersuchung des Zusammenhangs von Atem und Krankheit bisher von der naturwissenschaftlichen Medizintheorie vernachlässigt worden ist. Im Folgenden sollen einige physiologische Mechanismen dargestellt werden, mit denen begründet werden kann, warum emotionale Ungleichgewichte über Atemstörungen zu physiologischen Störungen führen können.

6.1.1 Folgen von Muskelkontraktionen

Jede andauernde Muskelanspannung führt zu einer mangelnden Durchblutung des entsprechenden Muskelbereichs. Der angespannte Muskel drückt auf die ihn umgebenden Adern und vermindert deren Blutdurchfluss. Die normale Umgehung dieses Problems besteht darin, dass die Muskelarbeit abwechselnd von unterschiedlichen Teilen des Muskels übernommen wird, sodass jede Muskelfaser kurzfristige Erholungsphasen hat. Diese muskuläre Selbstregulation wird wahrscheinlich in chronisch verspannten Muskeln außer Kraft gesetzt, sodass es zur Versorgungsdefiziten kommt.

Wo immer auf Grund von Verspannungen die Durchblutung verschlechtert wird und damit das lokale Immunsystem geschwächt wird, kann es zu Entzündungen und rezidivierenden Infekten kommen. So führen z.B. Verspannungen im Halsbereich zu Rachenentzündungen und im Becken zu Harnwegsinfekten. Stets ist eine verringerte Abwehrbereitschaft der Schleimhäute zu beobachten.

Lokale Muskelkontraktionen können weit reichende Auswirkungen auf den ganzen Organismus haben. Wenn z.B. das Beckenbereich auf Grund von sexueller Abwehr oder von Autoritätskonflikten weitgehend verspannt wird, kann die Verspannung auf die Gliedmaßen übergreifen. Dadurch kann es zu rheumatischen Beschwerden kommen.

Die erhöhte chronische Verspannung überlastet entweder die bindegewebigen Ansätze der Muskeln am Knochen, sodass es zu entzündlichen Prozessen an den Muskelansätzen kommen kann, oder führt zu einem Überdruck auf die Knorpel der Gelenke. Außerdem wird auf Grund der geringen Blutversorgung die ausgeschiedene Gelenkflüssigkeit dünner, sodass die Gelenke schlechter geschmiert werden.

Chronische Muskelkontraktionen wirken sich auch negativ auf das Hormon- und Immunsystem aus. Alle Drüsen sind für ihre Aktivität auf die rhythmische Stimulierung durch das umliegende Muskelgewebe angewiesen. Dies gilt z.B. für die Schilddrüse im Halsbereich, die Nebennierendrüsen und die Prostata. Auch der Fluss der Lymphe ist von der im Rhythmus des Atems innervierten Muskelaktivität abhängig, sodass chronische Muskelkontraktionen das Immunsystem schwächen können.

4 Oxyvenierungstherapie nach Regelsberger, Sauerstoff-Mehrschritt-Therapie nach v. Ardenne, Sauerstoffionisierungstherapie, Ozontherapie u.a.

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Es ist äußerst folgenreich, wenn die freie Beweglichkeit des Brustkorbes durch Kontraktionen der Bauch- und Rückenmuskeln beeinträchtigt wird. Die straffe Bauchdecke verhindert, dass sich das Zwerchfell bei der Einatmung in den Bauchraum hinein bewegt. Dadurch wird die Atmung beeinträchtigt. Es kommt es zu einer schnellen, flachen Atmung, die sich überwiegend im Brustraum abspielt (Brustatmung). Daraus entsteht das Krankheitsbild der Hyperventilation.

Ein steifer und unbeweglicher Brustkorb auf Grund von chronischer Verspannung der Zwischenrippenmuskulatur und des Schultergürtels hat auch negative Rückwirkungen auf die Herztätigkeit. Das Herz versucht, die Verringerung der Sauerstoffaufnahme in der Lunge und der Fließgeschwindigkeit des Blutes durch eine höhere Herzfrequenz auszugleichen. Das Herz wird auch vom Atemzentrum im verlängerten Rückenmark zu verstärkter Aktivität angeregt, wenn durch kurze und flache Atmung zu viel CO2 aus dem Blut ausgeschieden wird5. Die erhöhte Anforderung an die Herzleistung führt zu einer Vergrößerung des Herzmuskels. Es entsteht das Krankheitsbild der Hypertonie, die deshalb ebenso als Folge eingeschränkter Atemtätigkeit verstanden werden kann.

Kontrahierte Bauchmuskeln üben einen dauernden Druck auf die inneren Organe aus. Reflektorisch zieht sich mit den Beckenbodenmuskeln auch der Afterschließmuskel zusammen. Bei der Darmentleerung kann er sich nicht ausreichend entspannen, sodass die Gefahr besteht, dass die Gefäßwände durch den erhöhten Druck bei der Ausscheidung verletzt werden und so Hämorrhoiden entstehen. Verspannte Beckenbodenmuskeln können auch zu Impotenz führen. Meist bleibt dieser Zusammenhang unbekannt, weil sich die Verspannungen im Beckenbereich dem Bewusstsein entziehen. Durch den erhöhten Druck der Bauchmuskeln kann auch das dringende Bedürfnis entstehen, häufig Wasser zu lassen, da die Harnblase zusammengepresst wird und das Gefühl einer vollen Blase entsteht.

Dauerkontraktionen am Rückgrat führen zu Rückenschmerzen im Lendenbereich und im Schultergürtel. Dazu kann es kommen, wenn die Vorstellung gebildet wird, Zuwendung und Liebe nur zu bekommen, wenn man überdurchschnittliche Leistungen bringt, Verpflichtungen übernimmt und sein Leben für andere opfert. Der Organismus setzt sich dann unter ständigen Handlungszwang. Es werden suchtartig ständig neue Handlungsimpulse gebildet, die das Rückgrat anspannen, ohne dass sie durch den Vollzug der Handlungen aufgelöst werden. Es scheint das Grundproblem für die Entstehung von muskulären Funktionsstörungen zu sein, dass einerseits eine Stimulierung von Muskeln erfolgt, zugleich aber andererseits der Vollzug der Handlungen blockiert wird, weil man an seine Grenzen stößt. Es entsteht sozusagen eine muskuläre Schizophrenie.

Wenn ständig die Zähne zusammengebissen werden oder nachts im Schlaf mit den Zähnen geknirscht wird, um innere Ängste abzuwehren, können sich die Zähne lockern und Zahnbetterkrankungen (Paradontose) entstehen. Verspannungen der Kiefergelenke führen zu Spannungsschmerzen im Nacken-, Hals- und Kopfbereich und vor allem zu Ohrgeräuschen, Schwindel und anderen Hörstörungen. Es ist nachgewiesen worden, dass z.B. Tinnitus mit verspannten Kaumuskeln zusammenhängt6. Vermutlich wirkt die Gesichtsmuskulatur über das Trommelfeld in das Innenohr hinein.

Der amerikanische Augenarzt William Bates hat entdeckt, dass die meisten Sehstörungen auf Kontraktionen der inneren Ziliarmuskeln und der äußeren Augenmuskeln zu

5 Tirala 1981, S.40ff

6 Vgl. Schneider 1995

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rückzuführen sind. Die Kontraktionen führen zu Verformungen des Augapfels, sodass der Brechungspunkt nicht mehr genau auf der Retina zu liegen kommt. Außerdem wird dadurch die Versorgung der Retina und der Linse verschlechtert, sodass es zu den Krankheitsbildern des grauen oder grünen Stars kommen kann. Ohne Zweifel sind die Kontraktionen auf emotionale Kontaktstörungen zurückzuführen. Es spricht vieles dafür, dass die Augenmuskeln keine isolierten Muskeln sind, sondern wie alle für den Außenkontakt wichtigen Muskeln Bestandteil der Atemmembran sind7.

Da die permanente Muskelanspannung sehr viel Energie verbraucht, entsteht chronische Müdigkeit, Abgespanntheit und Antriebsschwäche. Die Bewegungen werden eingeschränkt, steif und schmerzhaft. Auch chronische Erschlaffung als Folge von Resignation und Hoffnungslosigkeit bringt physiologische Veränderungen mit sich, da die inneren Organe durch den nicht mehr ausreichenden Muskeltonus zu wenig unterstützt werden. Daraus kann eventuell das Krankheitsbild der Depression entstehen.

Aus den vorgelegten Beispielen lässt sich die allgemeine These ableiten, dass jede dauerhafte Einschränkung der organismischen Beweglichkeit zu Krankheiten führen kann, da dadurch nicht nur der betreffende Muskel, sondern auch benachbarte Organe beeinträchtigt werden. Durch die chronische Muskelkontraktion wird die Versorgung des entsprechenden Gewebes verschlechtert und ihre Funktionsfähigkeit behindert. Chronische Verspannungen gehen regelmäßig auf die Blockierung von Emotionen zurück. Das bedeutet, dass Gefühlsarmut als Quelle von vielfältigen Krankheiten anzuerkennen ist.

6.1.2 Folgen der verringerten Zwerchfelltätigkeit

Die meisten Erkrankungen sind auf indirekte Wirkungen der Muskelkontraktionen zurückzuführen. So gehen viele Erkrankungen im Brust-und Bauchbereich auf chronische Kontraktionen des Zwerchfells zurück. Wie oben erläutert, ist das Zwerchfell der wichtigste Atemmuskel, dessen Aktivität sich auf Grund seiner zentralen Position auf den ganzen Körper auswirkt (vgl. Kap. 2.3). Wenn sich das Zwerchfell bei der Einatmung nach unten in den Bauchraum senkt, entsteht im Brustkorb ein Unterdruck, mit dem die Atemluft eingesaugt wird. Gleichzeitig wird das Blut über die untere und obere Hohlvene in das Herz gesaugt. Dieser Vorgang wird durch den gleichzeitigen Überdruck im Bauchraum unterstützt. Bei der Ausatmung stellt sich im Brustraum durch das nach oben steigende Zwerchfell ein Überdruck ein.

Diese bei einer normalen Atmung entstehenden Druckschwankungen im Brust- und Bauchbereich sind für die Funktion und den Stoffwechsel der inneren Organe unerlässlich. Sie unterstützen die Herzfrequenz, die beim Einatmen zunimmt und sich in der Phase des Ausatmens wieder verlangsamt8. Es kommt zu Störungen, wenn auf Grund der Zwerchfellverspannung die Druckschwankungen fehlen. Das Herz muss dies dann mit vergrößerter Muskelanstrengung ausgleichen. Auch dadurch kann es zur Hypertonie und zu Folgeerkrankungen wie Angina pectoris, peripheren Durchblutungsstörungen, Herzinfarkt, Schlaganfall, Hörsturz u.a. kommen.

Die im Atemrhythmus wechselnde Herzfrequenz bewirkt, dass die Blutgefäße durch den pulsierenden Druck massiert und dadurch geschmeidig gehalten werden. Hanna vermutet, dass die Arteriosklerose eine Folge der Hypertonie ist, da dann dieser massierende Effekt wegfällt. Außerdem sind bei Hypertonie die Blutfettwerte höher, sodass es leich-

7 Vgl. Selby 1987

8 Diese respiratorische Sinusarrhythmie kennzeichnet ein gesundes Herz. Sie fehlt bei Herzkrankheiten.

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ter zu Ablagerungen an den Gefäßwänden kommen kann9. Möglicherweise trägt auch die verringerte Sauerstoffversorgung bei der Hypertonie dazu bei, dass die Gefäßwände für Ablagerungen anfällig werden. Als Folgekrankheiten können Angina pectoris, Herzinfarkt, Schlaganfall, Verschlusskrankheiten der Beine u.a. entstehen.

Die bei der Zwerchfellbewegung auftretenden rhythmischen Druckschwankungen sind auch für die Funktionsweise der Bauchorgane von zentraler Bedeutung. Leber, Milz, Bauchspeicheldrüse und Nieren erfahren dadurch gleichsam eine fortlaufende Massage. Dadurch wird deren ausreichende Durchblutung und der Abtransport von Stoffwechselabfällen sichergestellt. Wird die Bauchatmung eingeschränkt, kommt es zur Einschränkung der Funktionsfähigkeit mit der Folge von Diabetes, Leberbeschwerden, Verdauungsbeschwerden, Immunabwehrschwäche, Geschwüren, Gastritis u.a. Deshalb kann bei Störungen des Verdauungstraktes regelmäßig eine Blockierung im Zwerchfell festgestellt werden. Außerdem verliert der Organismus die Fähigkeit, sich durch tiefe Ausatmung von Stress zu befreien, der sich meistens auch in Anspannungen der Darmmuskulatur niederschlägt. Mit dieser Bedeutung des Zwerchfells hängt die Beobachtung der traditionellen chinesischen Medizin zusammen, dass übermäßiger Zorn die Leber, starkes Grübeln die Milz, tiefe Trauer die Lunge und große Angst die Nieren schwächt10 11.

Auch die Gesundheit des Rückgrates hängt wesentlich von der zwerchfellbedingten Atemwelle ab. Die Versorgung der Bandscheiben mit Nährstoffen und Wasser ist auf die Pumpwirkung der rhythmischen Muskelkontraktionen in den Rückenstreckmuskeln angewiesen. Vorausgesetzt ist natürlich, dass der Körper genügend Nährstoffe und Wasser anbietet. Die meisten Rückenprobleme hängen damit zusammen, dass der Mangel an rhythmischer Beweglichkeit zu einem Wassermangel in den Bandscheiben führt11.

Auch das Lymphsystem benötigt für seine Funktion die atembedingten Druckunterschiede. Fehlt diese unterstützende Wirkung kann sich z.B. die Lymphe im Mittelohr stauen und dort zu einer Infektion führen12. Vermutlich hängen die Bronchitis und ihre Folgekrankheiten wie Emphysem und Asthma damit zusammen, dass sich auf Grund der Herzschwäche das Blut in der Lunge staut13.

Die empirische Beobachtung, dass die Heilung bei vielen Krankheiten durch sportliche Betätigung gefördert werden kann, ist ohne Zweifel damit zu erklären, dass durch Sport der Atemprozess und insbesondere die Zwerchfelltätigkeit stimuliert werden. So ist nachgewiesen worden, dass z.B. bei Diabetikern der Insulinbedarf durch sportliche Betätigung reduziert wird.

Wahrscheinlich wird auch das kraniosakrale System, bei dem die Gehirnflüssigkeit mit permanenten Druckveränderungen durch die Gehirnkammern und das Rückgrat pulsiert, vom Atemsystem auf eine bisher wenig erforschte Weise beeinflusst. Wenn der Rhythmus der Zwerchfelltätigkeit geschwächt wird, werden vermutlich die Druckschwankungen der Gehirnflüssigkeit deformiert. Daraus können Krankheiten entstehen, deren emotionaler Ursprung kaum noch zu erkennen ist.

9 Hanna 1990, S.91

10 Vgl. Bölts 1994, S.117

11 Vgl. Batmanghelidj 1996, S.56

12 Vgl. Weil 1995, S. 50

13 Tirala 1981, S.103

106

6.1.3. Folgen des Sauerstoffdefizits

Jeder Bewegungsmangel führt zu einem Sauerstoffdefizit, da das Atemsystem geschwächt und damit die Sauerstoffaufnahme verringert wird. Dabei ist nicht nur an den motorischen Bewegungsmangel zu denken, sondern auch an den Bewegungsmangel auf Grund von chronischer emotionaler Zurückhaltung wie z.B. der Aggressionen. Jeder Bewegungsmangel kann in einen gefährlichen Teufelskreis führen, da man dazu neigt, auf Grund des Sauerstoffdefizits eine noch bewegungsärmere Lebensweise zu wählen, die zu peripheren Durchblutungsstörungen führt, die ihrerseits die Sauerstoffversorgung verschlechtern. Diese These wird von v. Ardenne unterstützt, der aus seinen empirischen Messungen den Schluss gezogen hat, dass Bewegungsmangel zu einem Sauerstoffdefizit führt, der als unmittelbare Ursache von vielfältigen Krankheiten anzusehen ist14.

Eine reduzierte Sauerstoffversorgung kann zu zahlreichen Funktionsbeeinträchtigungen führen: Im Gehirn kommt es zu mentalen Störungen und Kopfschmerzen, in den Gefäßen zu Arteriosklerose, in der Bauchspeicheldrüse zu verringerter Produktion von Insulin mit der Folge von Diabetes, in den Muskeln zu Schmerzen und Muskelkater bei Überbeanspruchung u.a.15. Unruhe und Unausgeglichenheit können oft darauf zurückgeführt werden, dass bei Aufregung und Angst der Atem angehalten wird, sodass dem Gehirn weniger Sauerstoff zur Verfügung steht. Wenn Untersuchungen zeigen, dass Zorn zu einer verringerten Pumpleistung des Herzens führt16, bedeutet dies, dass die Neigung zu Herzkrankheiten damit verbunden zu sein scheint, dass dem Herz weniger Sauerstoff zur Verfügung steht.

Bekanntlich gehört das Gehirn, das etwa ein Viertel des Sauerstoffs verbraucht, neben dem Herzen zu den Organen, deren Sauerstoffversorgung höchste Priorität hat. Konzentrations-, Gedächtnis- und Denkschwäche gehen in der Regel auf Sauerstoffmangel zurück. Deshalb reagiert das Gehirn besonders sensibel auf Sauerstoffdefizite. Der Gähn-reflex ist primär ein Sicherheitsventil für Sauerstoffmangel im Gehirn.

Das lokale Defizit an Sauerstoff erzwingt nach der Auffassung von v. Ardenne mehrere Regulationsvorgänge, die in der Regel das Defizit weiter verstärken. Wenn die Zellwände der Kapillaren nicht genügend Sauerstoff bekommen, quellen sie auf und verdicken sich. Der Transport des Sauerstoffs von der Blutbahn durch die Zellwand in den interzellulären Raum wird erschwert. Gleichzeitig werden die roten Blutkörperchen immer dicker, nachdem sie bereits am Anfang des Versorgungsgebietes ihren wenigen Sauerstoff abgegeben haben. Das dickflüssiger gewordene Blut fließt langsamer, sodass dadurch zusätzlich das Sauerstoffangebot in dem verspannten Gebiet verringert wird. Es entsteht ein negativer Teufelskreis, bei dem die Zellen mit immer weniger Sauerstoff versorgt werden. Wenn auf diese Weise die Zellen weniger Sauerstoff bekommen, muss ab einem bestimmten Sauerstoffdefizit der Energiestoffwechsel auf den Notmechanismus des anaeroben Gärungsstoffwechsels umgestellt werden, in dem die Nahrungsstoffe oxydativ abgebaut werden. Abgesehen davon, dass dieser Prozess selbst sehr viel Energie verbraucht, entstehen dabei saure Abfallprodukte (Milchsäure), die den pH-Wert in dem betroffenen Gewebe verschlechtern. Wenn der pH-Wert einen kritischen Wert un

14 Ardenne 1987, S.50

15 Es konnte bei Patienten mit Muskelschmerzen nachgewiesen werden, dass die Sauerstoffversorgung der schmerzhaften Muskeln gering war. Vgl. Samo 1996, S.75.

16 Vgl. Goleman 1997, S. 216

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terschreitet und dies längere Zeit anhält, wird die Funktionsfähigkeit der betroffenen Zellen gefährdet. Es kommt zu Funktionsstörungen und schließlich zum Zellunter-

17

gang17.

Sauerstoffdefizit führt zu Muskelschmerzen, es kann aber auch zu Muskelatrophie, Zysten, Bindegewebsentzündungen, Krebs u.a. führen. Mit Sicherheit wird der Ort der Krankheit dadurch bestimmt, dass ein lokales Sauerstoffdefizit eine Kette von Regulationsvorgängen auslöst, die der Heilung dienen sollen, die aber in einen selbstzerstörerischen Teufelskreis führen, wenn die Ursachen der Verspannung länger anhalten.

Es gilt als gesichert, dass anhaltender Stress das Immunsystem schwächt. Untersuchungen haben gezeigt, dass Personen, die sich ständig überfordern und sich unfähig fühlen, ihre Probleme in den Griff zu kriegen, ein geschwächtes Immunsystem haben, sodass sie Krankheitserregern schutzlos ausgeliefert sind und häufiger krank werden. Die Schwächung des Immunsystems hat weit reichende Sekundärfolgen, da die Neigung zu Infektionen aller Art zunimmt und z.B. Neurodermitis, Psoriasis, Rheuma und andere chronische (Autoimmun-)Erkrankungen entstehen können.

Die Schulmedizin kann diesen Zusammenhang von Stress und Krankheit nicht befriedigend erklären, da sie lediglich die Wirkungen des vegetativen Nervensystems berücksichtigt, indem der Sympathikus vermehrt Stresshormone (Glucocortikoide) ausschüttet. Wahrscheinlich können die widersprüchlichen Theorien über die Wirkungsweise des Stresses aufgelöst werden, wenn der Atem als eine zentrale Variable berücksichtigt wird. Denn stressbedingte Abwehrschwäche geht wahrscheinlich primär auf einen relativen Sauerstoffmangel zurück und nicht auf die verstärkte Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin, wie es von der Schulmedizin angenommen wird. Gestresste Menschen halten häufig den Atem an und atmen kurzatmig. Sie haben keine Atemreserven für schwierige Situationen. Messungen von v. Ardenne bestätigen, dass Immunschwäche regelmäßig mit einem verringerten Sauerstoffpartialdruck zusammengeht. Umgekehrt führt eine liebevolle Berührung zu einem Anstieg der Hämoglobinwerte in dem berührten Bereich18. Wenn zusätzlich davon ausgegangen wird, dass auf Grund von Bewegungsmangel auch die Funktion des lokalen lymphatischen Gewebes bei der Immunabwehr geschwächt wird, kann die stressbedingte Störung des Immunsystems besser verstanden werden, wenn der Einfluss des geschwächten Atems berücksichtigt wird.

Die zentrale Drüse des Immunsystems, die Thymusdrüse, liegt hinter dem Brustbein im Brustkorb und wird sicherlich von den Atembewegungen mitbestimmt. Es ist nicht zufällig, dass sie ihren Namen von dem griechischen Wort <thymos> hat, das für Seele und Persönlichkeit steht. Wer nicht von starker Liebe erfüllt ist und ein geringes Selbstwertgefühl hat, wird auch ein schwaches Immunsystem haben, weil seine Brust zu wenig vom Atem bewegt wird. Deshalb gilt Liebe als der stärkste Stimulator des Immunsystems. «Alle Krankheiten hängen letztlich mit einem Mangel an Liebe zusammen oder mit einer Liebe, die an Bedingungen geknüpft ist, denn das führt zu einer Erschöpfung und Schwächung des Immunsystems und somit zu einer erhöhten körperlichen Verwundbarkeit» (Grünn 1995, S.224).

Vermutlich ist auch Krebs die Folge von relativem Sauerstoffmangel. Wenn die Zellatmung gestört ist, wird der Hilfsmechanismus der anaeroben Energiebereitstellung durch die Vergärung von Glukose eingeschaltet, der mit der Übersäuerung der Zellen zu wei

17 Vgl. Ardenne 1987

18 Kerner/ Kerner 1997, S. 29

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teren Funktionsstörungen im Zellstoffwechsel führen kann19, die schließlich die Wachstumsregulation der Zellen zerstören. So könnte möglicherweise z.B. Brustkrebs auf eine chronische Verspannung der Zwischenrippenmuskeln zurückgeführt werden, die zu einer mangelnden Blut- und Sauerstoffversorgung der Brust führt.

Wahrscheinlich ist in jeder Störung der Sauerstoffversorgung und der Entsorgung von Schlackstoffen der Keim einer negativen Entwicklungsspirale angelegt, bei der eine Vielzahl von Erkrankungen entstehen können. Es scheint deshalb zutreffend zu sein, wenn v. Ardenne den energetischen Status eines Menschen an dem Maß der Sauerstoffaufnahme festmacht. Er nimmt an, dass das mit dem Altern verbundene Absinken der körperlichen und geistigen Kräfte auf das Absinken des Sauerstoffgehaltes im Blut zurückzuführen ist, sodass die Atemmuskulatur ein zentraler Faktor im Alterungsprozess zu sein scheint20.

6.1.4 Folgen von Disharmonien im Nervensystem

Der gesunde Organismus reguliert sich mit Hilfe der beiden Zweige des autonomen Nervensystems, des Sympathikus und des Parasympathikus. Das sympathische Nervensystem aktiviert alle körperlichen Systeme (Herz, Atmung, Hormonsystem), die für das Handeln benötigt werden; insbesondere werden die neuromuskulären Reflexe und die Ausschüttung von stimulierenden Hormonen ausgelöst. Gleichzeitig werden die für das Handeln nicht dringend erforderlichen Systeme wie die Verdauung, Ausscheidung und Sexualfunktion gehemmt. Demgegenüber reguliert der Parasympathikus, der in Phasen der Ruhe und Entspannung aktiv wird, die Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit der Organe, indem er u.a. den Rhythmus des Herzschlags und der Atmung verlangsamt, während die Drüsentätigkeit und Darmbewegung in Gang gebracht werden. Es wurde dargestellt, dass die neuromuskulären Handlungs- und Rückzugsreflexe stets in der Einatemphase einsetzen. In dieser Phase wird das sympathische Nervensystem stimuliert. Wenn der Sympathikus wiederholt provoziert wird, kommt es nicht zur Erholungsphase, die normalerweise in der Ausatmung vom Parasympathikus stimuliert wird, sodass es nicht zur der für die Erholung und Wiederherstellung der Energie erforderlichen körperlichen Entspannung kommt. Das für das Wohlbefinden wichtige Wechselspiel zwischen den beiden autonomen Nervensystemen geht verloren.

Die Dominanz des Sympathikus hat vielfältige Folgen: Durch die fortwährende Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin wird das Immunsystem geschwächt, sodass es leichter zu Infektionen kommen kann. Die Muskelwände der Arterien werden ständig zusammengezogen, sodass sie ihre Geschmeidigkeit verlieren und zur Arteriosklerose neigen. Die Dominanz des sympathischen Nervensystems führt zu einer mangelnden Durchblutung des Magens und des Darms. Dies kann zu einer Magen- oder Darmschleimhautentzündung (Gastritis) führen, die häufig der Ansatzpunkt für die Entwicklung von Geschwüren ist. Es kommt eventuell zu Schlafstörungen, wenn die Vorstellungen von bedrohlichen und angsterregenden Situationen nicht losgelassen werden können.

Das Phänomen des Voodoo-Todes zeigt in krasser Form, wie ein gesunder Körper nach wenigen Tagen nur auf Grund der Tatsache sterben kann, dass er, mit einem Fluch belegt, aus der sozialen Gemeinschaft ausgestoßen wird. Der Physiologe Walter Cannon

19 Lamoen 1993. Vgl. auch Ardenne 1987

20 Vgl. Ardenne 1987

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erklärt dies damit, dass es durch den Verlust der sozialen Existenzberechtigung zu einem Zustand der Panik, des inneren Terrors und der Hilf- und Hoffnungslosigkeit kommt. Dieser extreme emotionale Stress mobilisiert das sympathische Nervensystem, das den Organismus in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Da aber keine Handlungen möglich erscheinen, verharrt der Betroffene starr und regungslos. Nach einigen Tagen kommt es zu einem Spasmus der kleinen Arterien, zum Versorgungsmangel des betroffenen Gewebes mit Sauerstoff und zum Übertritt von Blutplasma aus den Blutgefäßen in das umliegende Gewebe. Der Tod tritt durch den dadurch ausgelösten Kreislaufschock ein21. Wahrscheinlich ist der Voodoo-Tod nur eine extreme Ausdrucksform von körperlichen Veränderungen, die bei abgebrochenem Kontakt zur sozialen Gemeinschaft zu beobachten sind.

6.1.5. Folgen unzureichender Entgiftung

Die große Bedeutung der Atmung für die Entgiftung und Entschlackung des Körpers wird meist übersehen. Der größte Teil der beim Stoffwechselprozess entstehenden Schlacken- und Giftstoffe wird in Form von Gasen mit dem Ausatem ausgeschieden.

Bei eingeschränkter Atmung wird nicht nur zu wenig Kohlendioxid ausgeatmet, sondern es werden auch die Schlacken- und Giftstoffe mangelhaft ausgeschieden. Auch die anderen Ausscheidungsorgane wie das Lymphsystem, die Haut und die Nieren sind auf eine ausreichende Körperbewegung angewiesen, die nur bei einer tiefen rhythmischen Atembewegung gewährleistet ist. Infolge der sich im Gewebe akkumulierenden Abfallstoffe kann es zu vielfältigen Erkrankungen kommen, da durch sie die Funktionsfähigkeit aller Zellen beeinträchtigt wird. Außerdem werden auch die Ausscheidungsorgane wie die Nieren und die Haut überlastet, sodass sie krankheitsanfällig werden. Wahrscheinlich ist die große Bedeutung der Tiefenatmung in vielen Atemlehren weniger auf die Steigerung der Vitalität als auf die verbesserte Entgiftung des Körpers zurückzuführen.

Die bisherige Analyse zeigt, dass vieles dafür spricht, dass der Atem eine Leitfunktion in der Krankheitsentstehung einnimmt. Von seiner Reaktion sind offensichtlich die Reaktionsweisen der anderen Systeme wie Herz- und Kreislauf, Hormone, Nerven, Immunabwehr u.a. abhängig. So wird Art und Menge der ausgeschütteten Hormone und Neurotransmitter dadurch bestimmt, wie der Einzelne mit seinen Emotionen umgeht. So hängt z.B. die Menge des ausgeschütteten Adrenalins unstreitig von der Stärke der Angstreaktion ab. Da Emotionen funktional identisch mit Atemmustern sind, kann im Atem das Zwischenglied zwischen emotionaler Erfahrung und organischer Funktionsstörung gesehen werden.

Aus der bisherigen Analyse folgt, dass es trotz der Vielfalt von Krankheiten nur eine Grundursache von Krankheit zu geben scheint: den Sauerstoffmangel. Wenn die meisten Krankheiten Sauerstoffmangelkrankheiten sind, ist die verwirrende Vielfalt der Krankheitsbilder eine Täuschung. Welche zufällige Gestalt die Grundstörung annimmt, ist demnach nur von sekundärer Bedeutung und von den individuellen Lebensbedingungen abhängig, insbesondere davon, in welcher Entwicklungsphase der Organismus Krankheiten durchgemacht hat, die eine besondere Krankheitsanfälligkeit verursacht haben. Das Atemkonzept der Krankheit unterstützt somit das esoterische Axiom, dass es nur eine Krankheit gibt, die Kontaktstörung.

21 Vgl. Grünn 1995, S.111

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6.2 Die Entscheidung für die Krankheit

«Gibst du der Krankheit freien Lauf, so stehst du nie mehr vom Lager auf.» (russisch)

Es wurde gezeigt, dass am Ausgangspunkt von Erkrankungen die Entscheidung für eine muskuläre Kontraktion steht und dass dadurch die Abspaltung eines Teils des Organismus von der inneren Kommunikation erfolgt. So kann z.B. ein Kind die Erfahrung machen, dass seine Ängste, wenn sich seine Eltern streiten, erträglicher werden, wenn es die Nackenmuskeln anspannt, so als ob es die Schultern hoch- und den Kopf einziehen würde. Es hätte genauso gut mit Weinen, Weglaufen oder Verstecken reagieren können. Es entschloss sich aber für diesen Weg. Es ist keine bewusste, sondern eine somatische Entscheidung, mit der die organismische Selbstorganisation kreativ auf die Störungen des Verhältnisses zur Umwelt reagiert. Es ist das Ergebnis einer inneren Kommunikation, in der das Kind <überlegt> hat, wie es mit den Ängsten am besten fertig wird. Das Ergebnis der Überlegungen besteht darin, bestimmte Muskeln anzuspannen. Wenn sich später die Gewohnheit herausbildet, unter Druck die Schulter- und Nackenmuskeln anzuspannen, ist dies immer noch die Folge der ursprünglichen Entscheidung, die in der Zwischenzeit nicht überprüft und revidiert wurde. Als Folgeerkrankung können dann z.B. Kopfschmerzen auftreten22. Der amerikanische Krebsarzt Carl O. Simonton hat berichtet, dass fast alle Krebspatienten, die er befragt hat, wann sie sich für den Krebs entschieden hätten, ein einschneidendes Ereignis angeben konnten. In diesem Sinne schrieb Georg Groddeck: «Der Mensch macht seine Krankheit selbst, ...er ist die Ursache der Krankheit, und eine andere braucht man nicht zu suchen.»

Bei der Analyse des Zusammenhangs von Kontaktstörungen und Erkrankungen ist davon auszugehen, dass die meisten Krankheiten zunächst mit geringfügigen Störungen auf Grund von chronischen Muskelkontraktionen anfangen. Sie wachsen erst allmählich zu ernsthaften Erkrankungen heran, wenn die somatischen Frühsymptome nicht beachtet oder falsch therapiert werden. So geht z.B. Herzkrankheiten jahrelang ein chronischer Überdruck im Brustkorb infolge von Leistungsdruck voraus, der durch angstbedingte Überbetonung der Einatmung aufrechterhalten wurde. Oder bei längeren Phasen der Eifersucht verspannt sich die Nackenmuskulatur, der eine Verspannung des Zwerchfells korrespondiert, sodass es zu Magenkrämpfen, Störungen der Gallenwege oder Leberstörungen kommen kann. Man kann einen stufenlosen Übergang von seelischen Störungen zu schweren somatischen Erkrankungen beobachten.

Bei diesem Krankheitsverständnis ist nicht das Kranksein selbst intendiert, es ist nur die unbeabsichtigte Folge von Funktionsbeeinträchtigungen durch andauernde Muskelfehlspannungen. Der Einzelne hat also einerseits an der Entstehung der Erkrankung mitgewirkt. Insofern ist es verständlich, dass eine Neigung besteht, die Krankheit als Versagen, als Ausdruck von Willensschwäche oder Unvorsichtigkeit, als Mangel an Selbstbeherrschung, als Strafe für Fehlverhalten u.ä. zu interpretieren. Jeder weiß insgeheim, dass er letztlich für die Krankheit zumindest mitverantwortlich ist. Andererseits kann er aber nicht dafür schuldig gesprochen werden. Denn seine Mitwirkung beschränkt sich auf die Entscheidung für chronisch muskuläre Verspannungen. Welche Art von Krankheit daraus entsteht, ist aber die Folge von unbewussten Einstellungen und Verhaltungsgewohnheiten, die abhängig vom sozialen Milieu sind, in denen der Einzelne aufge

22 Es braucht nicht besonders erwähnt zu werden, dass die individuellen Entscheidungen auch von der sozialen Umwelt mitbestimmt werden, wie es sich z.B. an sog. Modekrankheiten (etwa Magersucht) zeigt.

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wachsen ist.

Die These der psychosomatischen und der alternativen Medizin, dass alle Krankheiten psychisch oder mental bedingt seien, hat zu der Neigung beigetragen, sich für die eigenen Krankheiten im moralischen Sinne schuldig zu fühlen und sich dafür zu schämen oder gar zu bestrafen. Solche zerstörerischen Selbstvorwürfe dürfen aber nicht dadurch ignoriert werden, dass die Frage nach den psychischen Bedingungen als Psychologismus abgewertet wird, wie es z.B. Susan Sontag tut23. Es ist unzutreffend, dass das psychologische Verständnis die Realität der Krankheit untergrabe. Die Schuldvorwürfe können nur überwunden werden, wenn anerkannt wird, dass die Entscheidung für die Krankheit ein unbewusster Akt der organismischen Selbstorganisation ist und deshalb die Schuld keine moralische Qualität hat (vgl. Kap. 4.3.2).

Die übliche Auffassung, dass die Symptome eine Sprache des Körpers sind (Groddeck) und mithin in ihnen eine verborgene Vernunft enthalten ist, erscheint aus dieser Sicht als problematisch. Die Botschaft des Körpers kann nicht aus den unmittelbaren körperlichen Krankheitssymptomen abgelesen werden, da die Symptome meist sekundäre Folgen der Krankheiten sind, die durch die destruktive Dynamik chronischer Körperverspannungen ausgelöst wurden. Dadurch wird die Aussagekraft der Symptome oft bis zur Unkenntlichkeit verfälscht. Es ist deshalb nicht überraschend, dass in der psychosomatischen Medizin widersprüchliche Interpretationen von gleichen Krankheitssymptomen nebeneinander stehen.

Es wird den Krankheitssymptomen eher gerecht, wenn man den Weg zurück zu den Muskelkontraktionen geht, die am Anfang der inneren Abtötung standen. So sagen z.B. die Ohrengeräusche des Tinnitus direkt wenig, wenn man aber in die Verspannungen der Kiefergelenke und der Halswirbelsäule hineinhorcht, kann sich die psychische Botschaft der Hörstörungen schon eher offenbaren. Wenn die Symptome in den sozialen Kontext gestellt werden, in dem man mit seinen Konflikten und Belastungen steht, werden sie tatsächlich zu sichtbaren Inschriften der Seele, wie sie häufig verstanden werden. Die Symptome zeigen dann, dass das persönliche mit dem sozialen System in Disharmonie getreten ist. Darauf weist auch der Begriff <Symptoms> hin, der sich von <syn> (zusammen) und <piptein> (fallen) ableitet. Im Altertum wurde deshalb das Symptom als Ausdruck jenes Punktes betrachtet, in dem sich die äußeren mit den inneren Kräften überschneiden.

Die psychosomatische Vorstellung, dass die körperliche Krankheit ein Stellvertreter für seelisches Leid sei24, erweist sich als abwegig. Die seelischen Probleme werden nicht in körperliche Symptome transformiert, weil körperliche Schmerzen leichter zu ertragen sind, sondern die Symptome entstehen deshalb, weil seelische Konflikte zu so massiven Verspannungen führen, dass es zu körperlichen Folgeerkrankungen kommen muss. Deshalb ist auch das Bild falsch, dass der Organismus seelische Probleme auf körperliche Organe projiziert, wenn er sich nicht anders artikulieren kann. Ebenso wenig stellen die Symptome ein Ablenkungsmanöver dar, um zu verhindern, dass die verdrängten Emotionen bewusst werden25. In Wirklichkeit beruht die <Sprache der Organe> auf den Folgesymptomen der Muskelverspannungen im Zusammenhang mit der blockierten Artikulation von Emotionen.

23 Sontag 1993, S.66

24 Stangl/Stangl 1991, S. 64

25 Vgl. Samo 1966.

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Wenn empfohlen wird, wachsam alle körperlichen Veränderungen zu beobachten und sie als Frühwarnsignale für Störungen ernst zu nehmen, bedeutet dies vor allem, den Fokus der Aufmerksamkeit auf die Muskelverspannungen zu legen und bei sonstigen körperlichen Symptomen darauf zu achten, von welchen veränderten Muskelverspannungen sie begleitet sind. Bei Menschen, die sich übermäßig mit ihren Vorstellungen identifizieren und kopflastig sind, kann leicht das Bewusstsein für die kleinen körperlichen Veränderungen schwinden, sodass ihre Warnsignale nicht mehr wahrgenommen werden. So nimmt weder der Hypertoniker den starken Blutdruckanstieg wahr, wenn er über emotional belastende Themen spricht, noch nimmt der Hypotoniker den abfallenden Blutdruck zur Kenntnis, wenn er sich, vor Konflikten ausweichend, aus dem sozialen Kontakt zurückzieht.

Wenn viele esoterische Krankheitslehren beanspruchen, dass sie beginnende Erkrankungen bereits zu einem frühen Zeitpunkt erkennen können, bevor Zellschäden oder biochemische Veränderungen nachweisbar sind, dann liegt das daran, dass ihre Methoden der Früherkennung wie Pulsdiagnose, Auralesen, Chakrendiagnose, Auspendeln, Irisdiagnose u.a. den diagnostischen Blick direkt oder indirekt auf muskuläre Verspannungen und die sich daraus ergebenden feinen Veränderungen richten. Damit wird gezielt der Blick auf die körperlichen Veränderungen gerichtet, mit denen jeder Krankheitsprozess beginnt: die Veränderungen der Atemmembran.

Wenn man zum ursprünglichen Anlass der Verspannung zurückgeht, wird deutlich, dass die Symptome einen Versuch darstellen, das Verhalten anderer Menschen zu kontrollieren. Was für die psychischen Symptome wie Angst oder Alkoholismus unbestritten ist, gilt sicherlich auch für die körperlichen Symptome26. Wenn sie hartnäckig einer Heilung widerstehen, zeigt dies, dass sie im Beziehungsgeflecht eine Funktion übernommen haben, meist um emotionale Auseinandersetzungen mit dem Partner zu vermeiden oder um den Partner zu schützen. Die Symptome stellen offensichtlich einen Versuch dar, in Situationen, in denen man hilflos ist, die Kontrolle über das Verhalten anderer zurückzuerlangen. Dies geschieht allerdings um den Preis, dass die Kontrolle über das eigene Verhalten verloren geht. Sowenig wie man sich die Hilflosigkeit eingestehen kann, sowenig kann das Bewusstsein zugelassen werden, dass die Symptome eine strategische Bedeutung haben. Sie können ihre Funktion nur so lange übernehmen, wie geglaubt wird, dass sie <einfach passieren>. Wird ihre Funktion durchschaut, kann die Verantwortung für sie nicht mehr geleugnet werden.

Geht man der Frage nach, unter welchen Umständen unterdrückte Wut zu Krankheiten führt, zeigt sich, dass sie offensichtlich erst dann medizinische Konsequenzen hat, wenn das Gefühl verloren gegangen ist, Verletzungen auslösende soziale Situationen kontrollieren zu können. Untersuchungen zeigen, dass Menschen am krankheitsanfälligsten sind, wenn sie chronisch deprimiert und resigniert sind. Wut und Angst sind wahrscheinlich nur krankheitsauslösend, wenn die Hoffnung verloren gegangen ist, die Situation verändern zu können27.

Deshalb greift auch die übliche Krankheitserklärung zu kurz, dass die Menschen an dem zunehmenden Stress in der Umwelt, im Verkehr, im Arbeitsleben u.a. erkranken. Das in den 70er Jahren entwickelte Stressmodell war zweifellos ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Anerkennung der Bedeutung psychischer Faktoren durch die traditionelle

26 Haley 1987, S.23

27 Tavris 1995, S.123

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Medizin. Krankheit ist danach das Endresultat von die subjektive Bearbeitungsfähigkeit übersteigenden Belastungen. Das Stresskonzeptes hat eine Schwäche, und die besteht darin, dass es ausschließlich mit hormonellen Wirkungsmechanismen arbeitet, sodass der Einfluss psychischer Faktoren zwar statistisch nachgewiesen, aber nicht nachvollziehbar begründet werden kann. Das Stresskonzept kann auch nicht erklären, warum identische Faktoren individuell unterschiedlich als Stressfaktor oder als Herausforderung wahrgenommen werden.

Der eigentliche Grund für die Zunahme des Stresses darin liegt, dass die Erziehung zum richtigen Umgang mit Belastungen nicht mit den gestiegenen Anforderungen mitgewachsen ist. Es wird nicht ausreichend gelernt, die unvermeidlichen Konflikte zwischen den Verhaltensanforderungen der Umwelt und den eigenen Impulsen bewusst auszugleichen. Die sozialen Verhaltensanforderungen werden blind ins Gewissen übernommen und erzwingen ein starres, gewohnheitsmäßiges Verhalten. Solche Menschen können die Anforderungen nicht angemessen verarbeiten und reagieren mit unkontrollierten, überschießenden Rückzugsreaktionen. Häufig wird argumentiert, dass die früher lebensrettenden Reflexmechanismen nicht mehr den Lebensbedingungen der heutigen Industriegesellschaft entsprechen und deshalb zu Fehlanpassungen führen würden. Damit wird aber das soziale Problem, dass die Gemeinschaft es versäumt hat, das Nervensystem durch Erziehung zu kultivieren, zu einem biologischen Problem uminterpretiert. Stress ist immer ein Symptom für die Unfähigkeit, die Situation klar wahrzunehmen und situationsgerecht zu reagieren28.

Da der Organismus immer unfähiger wird, mit Bedrohungen fertig zu werden, wird ein Teufelskreis ausgelöst. Er sieht keinen anderen Weg, als die Verhärtung der Atemmembran zu perfektionieren. Der Organismus neigt dann dazu, in konkreten Situationen statt mit situationsangemessenen Reaktionen mit gewohnheitsmäßigen Mustern zu reagieren. Gestörter Kontakt zur sozialen Umwelt führt so zur Dauerkontraktion in verschiedenen Körperzonen. Je mehr die Hoffnung schwindet, Liebe und Anerkennung zu finden, ein akzeptiertes Mitglied der sozialen Gemeinschaft zu werden oder mit persönlichen Konflikten fertig zu werden, umso weniger besteht die Chance, die Krankheitsdynamik zu unterbrechen. Deshalb sind die Krankheitsverläufe bei älteren Menschen meist schwerer, weil sie sich längst mit ihren krankheitsauslösenden Verspannungen abgefunden und resigniert haben. D.h., es wird an der Krankheit festgehalten, weil sie sich als ein brauchbarer Weg herausgestellt hat, mit den emotionalen Konflikten und der Hilflosigkeit fertig zu werden.

Das hier entwickelte Atemkonzept der Krankheit teilt die Auffassung des Stressmodells, dass Krankheiten aus emotionalen Überbelastungen entstehen. Es enthält darüber hinaus aber auch einen Erklärungsansatz, welche physiologischen Prozesse dafür verantwortlich sind. Das Stressmodell hätte deshalb einen größeren Erklärungswert, wenn es mit dem Atemansatz verbunden und der Sauerstoffmangel als die eigentliche Grunderkrankung anerkannt werden würde. Während bisher Störungen der Kohärenz auf Stress zurückgeführt wurden, kann die Atemtheorie zeigen, dass der zentrale Störfaktor emotional bedingte, konkret nachweisbare Muskelkontraktionen sind.

Auf Grund der Geringschätzung des Atems wurde die Grenze zwischen <normal> und

28 Auch der Stress durch Umweltreize wie Lärm, Gestank, Elektrosmog, UV-Strahlen, Atemgifte u.a. ist Ausdruck von Handlungsunfähigkeit, da die Gemeinschaft offensichtlich nicht in der Lage ist, ihre Entstehung durch politische Handlungsprogramme zu vermeiden.

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<krank> so verschoben, dass leichte Kommunikationsdefizite als normal hingenommen werden. Da aber emotionale Verletzungen stets mit chronischen Verspannungen einhergehen und sich psychische Erkrankungen in messbaren physiologischen Veränderungen der Atmung niederschlagen, müssten auch psychische Defizite wie die Unfähigkeit zu weinen, zu trauern, sich zu freuen oder überhaupt Gefühle zu zeigen, als Krankheiten qualifiziert werden. Wenn in der emotionalen Zurückhaltung der Keim schwerer chronischer Krankheiten wie Krebs oder Rheuma angelegt ist, sollte auch Gefühllosigkeit als Krankheit ernst genommen werden. Gefühllosigkeit kann lange Zeit Schutz bewirken.

In Krisen wird er aber versagen, sodass somatische Krankheiten auftreten werden.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass die innerkörperliche Kommunikation durch muskuläre Verspannungen beeinträchtigt wird. Die körperlichen Empfindungen, die beginnende Krankheiten ankündigen oder die mit chronisch zurückgehaltenen Emotionen verbunden sind, werden nicht mehr ausreichend registriert (vgl. Kap. 2.5), d.h., die körperlichen und emotionalen Warnsignale werden aus der inneren Kommunikation ausgeschlossen. Dadurch wird die Selbstorganisation bei ihrer Aufgabe, fortwährend das innere Gleichgewicht wiederherzustellen, beeinträchtigt. Die Defizite in der inneren Kommunikation äußern sich als innere Zerrissenheit, als Entzweiung oder als Verlust der Ganzheit und der Autonomie. Diese Gefühle zeigen den Zustand an, dass die Emotionen ihre Funktion verloren haben, den Organismus zu schützen. Man könnte deshalb auch sagen, dass Krankheit die Folge fehlender emotionaler Autonomie ist.

Warum hat die medizinische Forschung dem tiefen Zusammenhang von Atmung und Krankheit bisher fast keine Beachtung gewidmet? Das liegt sicherlich hauptsächlich daran, dass der Atem in der abendländischen Kultur abgewertet wurde und dass das hier vertretene Atemverständnis diametral zum vorherrschenden mechanistischen, biochemischen Krankheitsverständnis der Schulmedizin steht. Liegt es auch am übermächtigen Einfluss der Pharmaindustrie auf die medizinische Forschung? Liegt es an der drohenden Entwertung großer Teile des medizintechnischen Apparates, wenn man den Atemansatz ernst nehmen würde? Wahrscheinlich liegt der entscheidende Punkt darin, dass das naturwissenschaftliche Krankheitsverständnis den Einzelnen von der quälenden Frage entlastet, was er selbst zur Entstehung der Krankheit beigetragen hat und ihn so von jeder Schuld freispricht. Wenn die Krankheit Schicksal ist, muss weder der individuelle Lebensstil verändert werden noch muss die soziale Gemeinschaft sich fragen, welche Lebensbedingungen zur Entstehung der Krankheit geführt haben. Die Objektivierung der Krankheit ist aber nur scheinbar nützlich. In Wirklichkeit betrügt sie den Einzelnen um die Chance, in der eigenen Krankheit mit den Defiziten der emotionalen Entwicklung und der daraus entstandenen Abhängigkeit konfrontiert zu werden.

Offensichtlich liegt das Verständnis der Krankheit als atembedingt so quer zum traditionellen Paradigma, dass es mit seiner völlig anderen Sichtweise nicht ohne weiteres integriert werden kann. Da die vorgelegten Vermutungen noch nicht dem Anspruch wissenschaftlicher Beweisführung genügen können, sollten sie zum Gegenstand systematischer Untersuchungen gemacht werden. Insbesondere ist zu klären, warum gleichartige Mechanismen in einem Fall zu Krebs und im anderen zu Alzheimer, Multipler Sklerose oder Arthritis führen. Wahrscheinlich hängt dies mit individuell unterschiedlichen Schwächen zusammen, in denen sich unterschiedliche genetische und vorgeburtliche Prägungen oder persönliche Erfahrungen niedergeschlagen haben. Insbesondere müsste das Zusammenspiel von Erbfaktoren und sozialen Zusammenhängen untersucht werden.

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6.3 Zum Verhältnis von psychischen und somatischen Erkrankungen

«Es gibt keine Krankheiten. Es gibt nur eine Krankheit, sie erscheint nur in verschiedenen Formen.» (O.Z.A. Hanish)

Die übliche Unterscheidung zwischen somatischen, psychischen, psychosomatischen und geistigen Erkrankungen stellt sich als fragwürdig heraus. Es wurde gezeigt, dass auch die psychischen und geistigen Einflussfaktoren auf körperlichen Bewegungsabläufen basieren, die eben so wie die biochemischen Prozesse an ein materielles Substrat gebunden sind. Deshalb ist die gängige Unterscheidung zwischen materiellen und immateriellen Einflussfaktoren nicht haltbar. Die einzig relevante Unterscheidung scheint darin zu bestehen, ob Krankheiten aus dem rein stofflichen oder aus dem symbolischen Austausch mit der Umwelt hervorgehen. Wie gesagt sind beides letztlich stoffliche Austauschprozesse, aber sie unterscheiden sich dadurch, dass sich der stoffliche Austausch auf die physische Welt und der symbolische Austausch auf die soziale Welt bezieht. Da sich die symbolischen Kontaktstörungen immer auch in stofflichen Prozessen manifestieren, kann man nicht direkt an den Krankheiten ablesen, ob sie primär aus dem symbolischen oder dem stofflichen Austausch hervorgegangen sind. Dennoch ist es sinnvoll, alle Krankheiten unter diesem Gesichtswinkel zu betrachten.

Die von einigen psychosomatisch arbeitenden Ärzten aufgestellte Behauptung, dass alle Krankheiten mit emotionalen Erfahrungen Zusammenhängen, also psychisch bedingt sind, ist ohne Zweifel eine Übertreibung. Viele Krankheiten gehen eindeutig darauf zurück, dass der Organismus nicht in der Lage ist, mit stofflichen Belastungen durch Gifte (Pflanzengifte, Schwermetalle, unverträgliche Lebensmittel), Über- oder Unterernährung, einseitige Ernährung, karzinogene Suchtmittel, Viren, Pilze, Bakterien, elektromagnetische Schwingungsfelder, radioaktive Strahlungen u.a. fertig zu werden, wenn sie eine bestimmte Dosis oder Dauer der Anwendung überschreiten. Natürlich sind auch unfallbedingte Krankheiten rein somatische Erkrankungen. Die Osteopathie hat gezeigt, dass Bewegungseinschränkungen auf Grund von Unfällen oder Überbelastungen häufig auch innere Krankheiten auslösen können. Zu den rein stofflich bedingten Krankheiten zählen auch die Erbkrankheiten.

Die These, dass emotional bedingte Dauerkontraktionen von Muskeln die zentrale Ursache für die meisten Krankheiten sind, gilt aber mit Sicherheit für alle Krankheiten, die nach dem bisherigen Sprachgebrauch als psychosomatisch eingestuft werden. Vermutlich gilt sie auch für viele der als somatisch geltenden Krankheiten. Denn man muss bei ihnen davon ausgehen, dass sie meistens eine lange Vorgeschichte haben. In ihrer Frühphase ist wahrscheinlich regelmäßig ein Zusammenhang mit emotional bedingten Kontraktionen nachweisbar. Es handelt sich dann zunächst meist um so genannte funktionelle Krankheiten, bei denen außer chronischen Muskelverspannungen noch keine physiologischen Veränderungen feststellbar sind.

Wenn aber leichte Gesundheitsstörungen über längere Zeit unbehandelt oder falsch behandelt fortbestehen und sich nach einiger Zeit in organische Krankheiten umwandeln, sieht man ihnen bald ihre Herkunft aus dem festgehaltenen Atem nicht mehr an. Die lokalen Probleme der Versorgung mit Sauerstoff und anderen Elementen führen zu komplexen Anpassungsprozessen. Der Organismus versucht, mit Infektionen, Geschwüren, Krebs u.a. sich selbst zu reparieren. Früher oder später erschöpft sich das Immunsystem und kann die Überschwemmung des Körpers mit Fremdstoffen nicht mehr bewältigen. Häufig wird durch Medikamenteneinnahme oder chirurgische Eingriffe zusätzlich eine

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Eigendynamik ausgelöst, die unübersehbare Nebenwirkungen hat oder sogar irreparable Schäden hervorruft. Viele Krankheiten, die sich so auf den ersten Blick als rein somatisch darstellen, erweisen sich bei näherer Betrachtung als primär emotional bedingt, da sie erst sekundär durch die Falschbehandlung zu somatischen Krankheiten wurden.

Meist resultieren somatische Erkrankungen aus einer Immunabwehrschwäche, die durch emotional bedingte Verspannungen entstanden ist. Meist liegt dem eine starke Unterdrückung der Aggressivität zu Grunde, sodass keine angemessenen Reaktionsmuster für Stresssituationen erlernt wurden. Auf Grund des Mangels an körperlicher und emotionaler Bewegung werden die Schlacken- und Giftstoffe nur unzureichend ausgeschieden und häufen sich im Zellzwischenraum an. Es kommt zwangsläufig zu Störungen der Stoffwechselprozesse. Die Selbstregulierungsfähigkeit, die normalerweise sehr sensibel auf solche Störungen reagiert, wird durch die Verspannungen eingeschränkt, sodass es schließlich zu krankheitsauslösenden Konzentrationen von Schlacken- und Giftstoffen kommen kann. Denn die angehäuften Reststoffe bieten den immer im Körper anwesenden Bakterien einen idealen Nährboden für ihre Vermehrung und schaffen so eine Prädisposition für vielfältige Erkrankungen. Viele Infektionskrankheiten sind im Grunde Versuche des Körpers, sich von dem Zuviel an Schlacken- und Giftstoffen zu befreien. Es wäre oberflächlich, solche Krankheiten als rein somatisch zu diagnostizieren. Denn die Anhäufung von Stoffen zeigt an, dass allgemeine Störungen im Lebenswandel (z.B. Bewegungsmangel, Fehlernährung u.ä.) vorliegen, deren Symptome nicht beachtet wurden.

Ebenso wenig darf aus der Tatsache, dass sich bestimmte Krankheiten rein medikamentös behandeln lassen, geschlossen werden, dass sie organisch und nicht psychisch bedingt seien. Die Wirksamkeit der Medikamente beweist nur, dass sich die psychischen Erkrankungen wie z.B. Impotenz auch in stofflichen Ungleichgewichten und Funktionsstörungen manifestieren. Wenn Medikamente die stofflichen Störungen beseitigen, wird es bald zu einer neuen Krankheit kommen. Denn die Unfähigkeit, mit Kontaktstörungen fertig zu werden, besteht fort.

Häufig sind an scheinbar rein stofflichen Krankheiten auch psychische und soziale Faktoren mit beteiligt, die auf ihren Verlauf Einfluss nehmen. Wenn der menschliche Körper zunehmend mit Umweltgiften u.a. belastet wird, liegt dem meistens ein Bündel von sozialen Ursachen zu Grunde: Die normale Achtsamkeit gegenüber den Lebensmitteln ist auf Grund von Armut und emotionalen Überbelastungen geschwächt worden; die soziale Gemeinschaft hat es aus Profitinteresse zugelassen, dass sich in der Umwelt gesundheitsgefährdende Stoffe anreichern konnten u.a. Auch bei unfallbedingten Erkrankungen ist zu fragen, ob der Unfall durch Unaufmerksamkeit infolge einer emotionalen Krise mit bedingt ist. Sicherlich können oft auch rein stofflich bedingte Erkrankungen nicht ausheilen, weil sich der Organismus ohnehin gerade im sozialen Rückzug befindet und die Krankheit dafür gebrauchen kann. Schließlich haben Menschen mit gleicher Ausgesetztheit gegenüber Umweltgiften z.B. höchst unterschiedliche Anfälligkeit für Allergien.

Offensichtlich sind die stofflichen und symbolischen Krankheitsfaktoren so eng miteinander verflochten, dass es oft schwierig ist zu bestimmen, ob es sich um rein stofflich bedingte Erkrankungen oder um Folgeerkrankungen auf Grund von Kontaktstörungen handelt. Bei den gegenwärtigen Lebensverhältnissen mit ihren toxischen Belastungen von Atemluft und Lebensmitteln ist die stoffliche Komponente bei allen Erkrankungen

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beteiligt und muss auch bei primär durch Kontaktstörungen ausgelösten Krankheiten berücksichtigt werden. Wahrscheinlich wirken bei den meisten Krankheiten beide Faktoren zusammen und verstärken sich wechselseitig. So kann z.B. während einer stofflich bedingten Erkrankung die schmerzliche Erfahrung gemacht werden, wie viel soziale Kälte und Gleichgültigkeit im sozialen Umfeld besteht, sodass dadurch die Krankheit verschlimmert wird. Oder der Patient wird sich während der Krankheit bewusst, dass er kein Interesse mehr am Leben hat und seine Wille zur Genesung erloschen ist. Umgekehrt kann bei einer stofflich bedingten Erkrankung die Erfahrung gemacht werden, wie zuverlässig und sicher die soziale Einbindung ist, sodass dadurch der Heilungsprozess unterstützt wird. Trotz der Schwierigkeit der Unterscheidung sollte die Frage nach den stofflichen und symbolischen Krankheitsursachen ständig als Richtschnur für die Diagnose im Auge behalten werden, um dadurch ständig den Blick auf die emotionalen Konflikte des Patienten zu lenken.

Aus diesen Überlegungen folgt, dass jede Krankheit grundsätzlich mit dem Generalverdacht diagnostiziert werden sollte, dass sie aus Kommunikationsstörungen hervorgegangen sein könnte. Das bedeutet keineswegs eine Vorentscheidung zu Gunsten des sozialen Faktors. Es kommt vielmehr darauf an, der sozialen Komponente das ihr gebührende Gewicht zurückzugeben, da sie bisher in der naturwissenschaftlichen Schulmedizin zu Unrecht diskriminiert wurde. Wenn ein Patient nach der erfolgreichen Behandlung einer scheinbar stofflichen Erkrankungen bald wieder rückfällig wird oder andere Krankheitssymptome entwickelt, muss dem Verdacht nachgegangen werden, dass es sich um eine in Wirklichkeit emotional bedingte Krankheit handelt.

Die Schulmedizin kann die vorgeschlagene Unterscheidung in stofflich und symbolisch bedingte Erkrankungen nicht annehmen, weil sie sich weigert, andere als stoffliche Einflussfaktoren anzunehmen. Damit hängt zusammen, dass sie nur an der Beseitigung der Symptome interessiert ist und ihre Aufmerksamkeit nicht darauf gerichtet ist zu verhindern, dass der Patient nach einiger Zeit erneut an der gleichen oder einer anderen, äquivalenten Krankheit erkrankt. Da die Schulmedizin nicht nach den Ursachen der stofflichen Defizite in den Lebensumständen des Patienten fragt, bemüht sie sich auch nicht darum, dessen Lebensweise und Umgang mit sich selbst zu verändern. Sie hat die Prophylaxe nahezu aufgegeben, die ein zentrales Element aller älteren Therapien war. So ist es z.B. der Vorzug der am Atem ansetzenden Therapie des Qigong, dass sie sowohl kurativ als auch prophylaktisch wirksam ist. Ihre vorbeugende Wirkung ergibt sich daraus, dass Verhaltensweisen eingeübt werden, die das Verhältnis des Patienten zu sich selbst verändern. Die Heilung der emotional bedingten Atemstörungen stärkt die Selbstheilungskräfte nachhaltig, sodass die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls verringert wird.

Auf jeden Fall sollte die Schulmedizin die pluralistische Vorstellung aufgeben, dass der psychische Faktor nur ein zusätzlicher, allenfalls verstärkender Faktor sei. Wahrscheinlich könnte bei einer gründlichen Analyse von Krankheitskarrieren bestätigt werden, dass der psychische Faktor in den meisten Fällen der auslösende Faktor ist. Die verbreitete Ansicht, dass jede Krankheit ein multifaktorielles Geschehen sei, ist deshalb problematisch. Ohne Zweifel ist an jeder Krankheit ein Bündel vielfältiger Faktoren beteiligt. Es darf aber nicht darauf verzichtet werden, das relative Gewicht der einzelnen Faktoren zu bestimmen.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die meisten Krankheiten aus der Absicht entstehen, den Ausdruck von Emotionen durch muskuläre Verspannungen zurückzuhalten.

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Sie sind deshalb unbeabsichtigte Folgen eines Rückzuges aus dem sozialen Kontakt. Krankheiten können deshalb als Folge von subjektiven, meist unbewusst getroffenen Entscheidungen oder - in der esoterischen Sprache ausgedrückt - als ein mentales Geschehen verstanden werden. Das esoterische Krankheitsmodell, das davon ausgeht, dass jede Krankheit auf der feinstofflichen (= psychisch/geistigen) Ebene beginnt, drückt eine richtige Einsicht aus. «Die Störung der Harmonie findet aber im Bewusstsein auf der Ebene der Information statt und zeigt sich lediglich im Körper» (Dethlefsen 1995, S.18). Die Folge ist, dass die innere Kommunikation und damit auch die innere Selbstorganisation gestört wird und dass sich auf diesem Boden somatische Krankheiten entwickeln können.

Der Atem erweist sich als ein wichtiger Faktor zum theoretischen Verständnis des Übergangs von Kontaktstörungen zu somatischen Krankheitssymptomen. Er ist das bisher fehlende Zwischenglied in der Kommunikation zwischen <Geist> und <Körper>. Der Atem kann diese Funktion übernehmen, da er der einzige physiologische Faktor ist, der sowohl als Teil des Vegetativums unbewusst funktioniert als auch Träger des Mentalen ist und vom Bewusstsein beeinflusst werden kann. Auf Grund dieser Doppelfunktion haben seine spontanen Bewegungen immer auch eine Bedeutung. So kann der Organismus einerseits am Atem z.B. spüren, dass er aus dem als natürlich empfundenen Rhythmus herausgefallen ist, und die Trauer benutzen, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Andererseits greift die Atem über die veränderte Sauerstoffversorgung und Bewegungsdynamik des Körpers tief in physiologische Prozesse ein.

Es besteht kein Gegensatz zwischen <psychisch> und <körperlich>, da sich das Psychische auf die körperlichen Bewegungen bezieht, die den emotionalen Kontakt zur Umwelt organisieren. Der Unterschied zwischen körperlichen und psychischen Bewegungen ist im Grunde also nicht prinzipieller Natur (vgl. Kap. 3.1). Da die psychischen Fähigkeiten ihren eigentlichen Zweck darin haben, einen konfliktfreien Kontakt mit anderen Menschen herzustellen, steht hinter der Frage nach dem Einfluss der psychischen Faktoren die andere, wie der Organismus damit fertig wird, wenn er bei der Kontaktsuche scheitert und mit einem Defizit an Liebe und Anerkennung leben muss. Anders formuliert müsste die Frage lauten: Wie wird der Organismus damit fertig, wenn er nicht im Kontakt ist? Anstatt nach den psychischen Faktoren sollte direkt nach der Qualität der sozialen Beziehungen gefragt werden.

Die Überlegungen zeigen, dass der Atemansatz zwischen den scheinbar diametral entgegengesetzten Krankheitsmodellen der Esoterik und der Schulmedizin vermitteln kann.

Es wird die Auffassung des spirituellen Krankheitsverständnisses bestätigt, dass Krankheiten primär mentale Angelegenheit sind. Aus dem Atemansatz ergibt sich, dass die meisten somatischen Krankheiten auch mit Begriffen der Schulmedizin aus mentalen Störungen abgeleitet werden können, was bisher als unmöglich erschien. Der Widerspruch zwischen Schulmedizin und esoterischer Medizin wird auflösbar, wenn stoffliches Ungleichgewicht und geistige Verursachung als die zwei Seiten der muskulären Verspannungen akzeptiert werden, die im chronischen Zustand zu somatischen Krankheiten führen.

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7 Theorie der Selbstheilungskräfte

«Wir Arzte tun nichts anderes, als den Doktor im Inneren zu unterstützen und anzuspor

nen. Alles Heilen ist Selbstheilung.» (Albert Schweitzer)

Die Überzeugung von der Existenz somatischer Selbstheilungskräfte hat eine lange Tradition. Es ist unbestritten, dass der Organismus über biochemische Selbstheilungskräfte verfügt, um körperliche Verletzungen aus eigener Kraft zu reparieren. Viele Ärzte gehen davon aus, dass drei Viertel aller Erkrankungen von selbst ausheilen. Die medizinische Forschung deckt allmählich auf, wie der Organismus in seiner <inneren Apotheke> eine Vielzahl von Heilmitteln für die Selbstreparatur produziert. Sie stößt immer wieder auf das Phänomen, dass die Selbstheilungskräfte durch Stress geschwächt werden können, d.h., dass die Selbstheilungskräfte auch von psychischen Faktoren abhängig sind. Aber es fehlt nach wie vor eine Theorie, wie soziale und psychische Faktoren auf die Selbstheilungskräfte Einfluss nehmen können. Ebenso wenig ist geklärt, warum bei psychischen Störungen, die noch nicht zu körperlichen Auswirkungen geführt haben, oft eine Selbstheilung stattfindet. Offensichtlich hat der Gedanke der psychischen Selbstheilungskräfte im mechanistischen Körperverständnis, in dem alle Defekte primär auf von außen kommende Einwirkungen (Bakterien, Viren, Giftstoffe, Überbeanspruchungen u.a.) zurückgeführt werden, keinen Platz.

Die bisherigen Überlegungen erlauben es, die Konturen einer Theorie der Selbstheilungskräfte zu bestimmen, die auch die psychischen Faktoren einbezieht. Dabei wird davon ausgegangen, dass jede Heilung letztlich Selbstheilung ist, weil die Selbstheilungskräfte Ausdruck der inneren Selbstorganisation sind. Insofern trifft es zu, dass die Menschen nur krank werden, wenn ihre Selbstheilungskräfte geschwächt sind. Die zentrale theoretische Frage ist, warum die Selbstheilungskräfte erlahmen und welche Kräfte dies bewirken.

7.1 Atem und psychische Selbstheilungskräfte

«Wenn der Atem geht, werden alle Dinge des Lebens leicht.» (Zen)

Die Psychologie hat bisher wenig zum Thema <psychische Selbstheilungskräfte> beigetragen. Mit fragwürdigen Konzepten hat man sich über die Kluft von Körper und Seele hinweggemogelt. Die älteren Konzepte ranken sich um den Begriff der Lebenskraft als eines allgemeinen, alles durchdringenden und belebenden Prinzips. Diese Idee einer Lebenskraft, die den Körper lebendig und gesund erhält, wurde im Abendland nachhaltig von Hippokrates geprägt, der davon überzeugt war, dass die Genesung das Werk der Natur ist, deren Heilungskräfte allein das Ziel erreichen, höchstens unterstützt durch ärztliche Hilfe. Im Grunde sei jede Heilung eine Selbstheilung der Natur. Allgemein besteht aber Unklarheit darüber, worin die Natur der Lebenskraft besteht. Man war sich weitgehend darin einig, dass sie eine nicht-körperliche, spirituelle, übersinnliche Kraft sei, die nicht mit physikalischen Begriffen zu fassen sei. Implizit wird damit eine Aufspaltung von Körper und Geist vorgenommen und die Auffassung von Krankheit als einem mentalen, spirituellen Geschehen vertreten.

In der Gegenwart hat sich das Konzept des Selbst für die Erklärung der Selbstheilungskräfte durchgesetzt. In vielen psychotherapeutischen Konzepten wird der Heilungsprozess dem Selbst zugeschrieben. Das Selbst gilt als der Inbegriff der kreativen Potenziale, die sich in Intuitionen, authentischen Gefühlen, psychischer Selbstheilung und richtigen Handlungen äußern. Es zeichnet sich dadurch aus, dass es der inneren Natur entsprechend handelt. Offensichtlich erhält das Selbst seine Bestimmung im Wesentlichen aus der Entgegensetzung zum bewussten, rationalen Ich (vgl. Kap. 3.3).

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In neueren esoterischen Krankheitskonzepten wird die Erfahrung, dass der Körper über Selbstheilungskräfte verfügt, dem <höheren Selbst> oder dem <Geist> zugeschrieben. Damit soll ausgedrückt werden, dass im Organismus eine Instanz vorhanden sei, die über eine höhere Intelligenz verfügt, die das rationale Denken übersteigt. Diese Intelligenz sei ständig vorhanden, es komme nur darauf an, sie durch Vertrauen, Achtsamkeit, Auf-sich-Hören u.ä. zu aktivieren. Wenn im esoterischen Denken Krankheit als innere Disharmonie verstanden wird, wird damit auch gemeint, dass der Kontakt mit der inneren Intelligenz des <höheren Selbst> verloren gegangen sei. Das esoterische Konzept des höheren Selbst denkt implizit zu Ende, was in den Konzepten des Selbst enthalten ist, dass nämlich die Selbstheilungskräfte letztlich etwas Geistiges sind. Damit werden die natürlichen Selbstheilungskräfte zu spirituellen Kräften mystifiziert. Dies schließt es im Grunde aus, zu einem Verständnis zu gelangen, wie die Interaktion der Gefühle mit den körperlichen Prozessen abläuft.

Ebenso unbestimmt ist der Begriff des Unbewussten. Ursprünglich als Raum des Verdrängten verstanden, wird es inzwischen von vielen Therapeuten als Quelle der schöpferischen Ressourcen des Menschen begriffen. Das Unbewusste sei der Inbegriff der unbekannten intelligenten Kräfte, die im Inneren die Lösung der individuellen Probleme herbeiführen könnten. Als Wege werden Traumarbeit, Trance, Hypnose oder Entspannung empfohlen. Im Grunde ist aber der Begriff des Unbewussten mysteriös geblieben, da er weder topographisch noch physiologisch bestimmt werden konnte. Insbesondere enthält er kein Konzept, wie der Übergang von der Psyche zum Körper vorgestellt werden könnte. Er ist nach wie vor eine black box, der mit negativen Bestimmungen alles zugeschrieben wird, was sich dem Bewusstsein entzieht. Deswegen konnte auch der Begriff des Unbewussten die Klärung des Wesens der Selbstheilungskräfte nicht weiterbringen.

Nach der Auffassung des amerikanischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky verfügen die Menschen in unterschiedlichem Maße über Gesundheitsfaktoren, um mit Belastungen aller Art fertig zu werden. Er hat mit seinem Solutogenesekonzept darauf hingewiesen, dass die traditionelle Medizin auf Grund ihrer Fixierung auf die Krankheitsfaktoren (Pathogenese-Prinzip) übersehen hat, dass es individuelle Gesundheits- und Widerstandsfaktoren gibt, mit denen entweder Stressfaktoren vermieden oder Spannungen gelöst werden können1. Damit wird erklärbar, dass manche Menschen gesünder bleiben als andere, obwohl sie den gleichen schädigenden Einflüssen unterworfen sind. Antonovsky geht davon aus, dass diese Widerstandsfaktoren das Ergebnis eines Lernprozesses sind, sodass Krankheit und Gesundheit immer auch vom Zustand der Gesellschaft abhängen.

Die Gesamtheit der Faktoren, mit denen der Einzelne seine Gesundheit stabilisiert, hat Antonovsky als Kohärenzgefühl gekennzeichnet. Es enthält die Überzeugung, dass die Anforderungen (aus der eigenen Innenwelt oder aus der Umwelt) sinnvoll interpretierbar, geordnet, strukturiert und vorhersagbar sind. Weiterhin besteht die Überzeugung, dass geeignete Ressourcen verfügbar sind, um die Anforderungen des Lebens zu bewältigen, und dass die Anforderungen eher Herausforderungen als Belastungen sind. Der Begriff der Kohärenz weist darauf hin, dass man in Einklang mit sich selbst ist und im Austausch mit der Umwelt alle Fähigkeiten entwickeln konnte, die für die Bewältigung der Umwelt erforderlich sind.

Mit dem Solutogenesekonzept, das unter den Medizinern großen Einfluss ausgeübt hat, 1

1 Antonovsky 1979

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wurde erstmals eine Theorie der Krankheit aufgestellt, die die psychischen Selbstheilungskräfte berücksichtigt. Allerdings ist es auch Antonovsky nicht gelungen, das Wesen der psychischen Selbstheilungskräfte zu klären und das Geheimnis zu lüften, warum die somatischen Heilungskräfte durch psychische Faktoren gestört werden können. Sein Kohärenzbegriff bekommt Sinn, wenn man ihn aus der Sicht des hier entwickelten Schwingungskonzeptes betrachtet. Die psychischen Fähigkeiten der Realitätsbewältigung können sich nur deshalb aufeinander beziehen, weil sie Schwingungen sind. Aus meiner Sicht geht es beim Kohärenzgefühl um die Idealbedingungen der emotionalen Autonomie, die sich aus dem gelungenen Abgleich zwischen den inneren Impulsen mit den sozialen Anforderungen ergibt und sich als innere Stimmigkeit und Richtigkeit anfühlt.

Die bisherigen Überlegungen zur kommunikativen Funktion des Atems führen zu dem Ergebnis, dass Fühlen und Denken primär die Funktion haben, Störungen im Kontakt mit anderen Menschen zu beseitigen bzw. zu vermeiden. Daraus kann die These abgeleitet werden, dass die Gefühle und das Denken im Zentrum der psychischen Selbstheilungskräfte stehen. Da sich die Sprachen der Emotionen und Begriffe aus der Atemmembran heraus entwickeln, liegt die eigentliche Quelle der Selbstheilungskräfte im Atem.

Wenn den Emotionen Heilkraft zugesprochen wird, ist dies darin begründet, dass sie wie ein Warnsignal auf Differenzen mit der Umwelt hinweisen und einen Prozess der aktiven Auseinandersetzung auslösen. Die Warnsignale bestehen in Zustandsveränderungen der Atemmembran, die das Bewusstsein auf sich ziehen. Während die körperlichen Selbstheilungskräfte genetisch erworben werden, müssen die psychischen Selbstheilungskräfte erlernt werden. Die psychischen Selbstheilungskräfte entfalten sich in dem Maß, wie gelernt wird, sich mit Hilfe der Emotionen und Sprache für die eigenen Bedürfnisse einzusetzen, ohne dabei das sensible Gleichgewicht mit der sozialen Gemeinschaft zu gefährden. Die Entwicklung der psychischen Selbstheilungskräfte ist somit identisch mit der Entfaltung der Emotionen.

Die Störbarkeit der psychischen Selbstheilungskräfte ergibt sich daraus, dass der emotionale Lernprozess sehr leicht behindert oder sogar rückgängig gemacht werden kann. Wenn die Konfliktbewältigungsstrategien versagen, werden ersatzweise muskuläre Verspannungen der Atemmembran eingesetzt. Auch wenn man sich auf Grund von psychischen Verletzungen, Enttäuschungen oder Verlust auf dem Kontakt zurückzieht, verspannt sich die Atemmembran. Dadurch wird nicht nur die Entfaltung der kommunikativen Fähigkeiten und damit der psychischen Selbstheilungskräfte behindert, sondern es werden auch die somatischen Selbstheilungskräfte geschwächt.

Das Besondere an den psychischen Selbstheilungskräften besteht darin, dass sie ihren Gegenstand nicht in inneren organischen Verletzungen, sondern in Verletzungen der Beziehungen zu anderen Menschen haben. Sie ergänzen so die somatischen Selbstheilungskräfte, die unzweifelhaft auf der anatomischen Ebene wirksam sind. Letztlich unterscheiden sie sich nicht prinzipiell von ihnen, weil sie ebenso aus physiologischen Prozessen bestehen, genauso spontan wirksam werden und deshalb als integraler Bestandteil der organismischen Selbstheilungskräfte angesehen werden müssen.

Aus der Beobachtung, dass die somatischen Selbstheilungskräfte durch psychische Kräfte blockiert werden können, ist zu schließen, dass die psychischen Selbstheilungskräfte beim Menschen eine größere Bedeutung als die somatischen haben. Denn bei einem

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Mangel an psychischen Selbstheilungskräften versucht der Organismus, sich mit muskulären Verspannungen im Gleichgewicht zu halten, und nimmt die damit verbundenen Störungen der physiologischen Prozesse und insbesondere die Versorgungsdefizite in Kauf, die auch die somatischen Selbstheilungskräfte beeinträchtigen. So müssen die Menschen für das Privileg der Sprache und Emotionen den Preis bezahlen, dass die somatischen Selbstheilungskräfte u.U. durch das eigene Verhalten geschwächt werden können.

Diese Überlegungen stellen die esoterische Überzeugung in Frage, dass der Atem selbst eine eigenständige Heilkraft besitzen würde. Es wird unterstellt, dass durch seine Regulierung geistige und psychische Unruhe beseitigt und körperliche Leiden gelindert werden könnten. Offensichtlich geht aber die Heilwirkung des Atems darauf zurück, dass die Blockaden des Atems, die zu einer Schwächung der Selbstheilungskräfte geführt haben, durch eine Korrektur des Atems beseitigt werden, sodass die Selbstheilungskräfte reaktiviert werden. Die Heilung kommt also nicht dadurch zu Stande, dass etwas getan, sondern dass etwas unterlassen wird, nämlich dass die Blockaden des Atems aufgegeben werden. Wenn die Blockierung des Atems ein Krankheitsfaktor ist, kann daraus nicht geschlossen werden, dass deshalb der Atem die eigentliche Quelle der Selbstheilungskräfte sei. Der Atem darf nicht als ein Heilfaktor mythologisiert werden. Man kann nur so viel sagen, dass die Selbstheilungskräfte vom Schicksal des Atems abhängig sind.

Ohne Zweifel ist der Atem die zentrale Einflussgröße für die Stärke der Selbstheilungskräfte. Der Atem stellt die Verbindung zur sozialen Umwelt her, und je nachdem, wie der Kontakt gelingt, beeinflusst er die Selbstheilungskräfte. Verspannungen der Atemmembran schwächen sie; durch eine resonanzfähige Atemmembran werden sie gestärkt. Wenn Fähigkeiten zur Abgrenzung, Konfliktregulierung und Selbstverantwortung gelernt werden, sind auch die psychischen Selbstheilungskräfte aktiv. Wer sich hilflos fühlt, hat meist auch geschwächte Selbstheilungskräfte. Alle Erfahrungen sprechen dafür, dass die Stärke der psychischen Selbstheilungskräfte von der Qualität des Kontaktes abhängig ist. Damit sind die Selbstheilungskräfte vom Schicksal des Atems und dessen emotionalen und verbalen Ausdrucksformen abhängig.

Die somatischen und psychischen Selbstheilungspotenzen sind integraler Bestandteil des Lebens und können ebenso wenig wie das Leben selbst erklärt werden. Deshalb ist auch der Begriff der Selbstorganisation im Grunde nur eine Metapher. Er beansprucht nicht, etwas zu erklären, sondern es soll lediglich darauf hingewiesen werden, dass die Selbstheilungskräfte aus sich heraus wirken, wenn sie nicht durch soziale Kräfte gestört werden. Bedeutsamer als die Frage nach der Herkunft der Selbstheilungskräfte ist also ist die, warum die Selbstheilungskräfte geschwächt werden können. Es wurde die Antwort gefunden, dass die menschlichen Selbstheilungskräfte vom Schicksal der Emotionen und Gedanken abhängig geworden sind und dass sie zerstört werden, wenn Emotionen und Gedanken ihre Funktion verlieren, einen gestörten Kontakt wiederherzustellen.

7.2 Soziale und persönliche Selbstheilungskräfte

«Gelobt sei die Krankheit, denn die Kranken sind ihrer Seele näher als die Gesunden.» (Marcel Proust)

Aus der vorliegenden Analyse der Emotionen und des Denkens geht aber hervor, dass die Selbstheilungskräfte primär in der Verfassung der sozialen Gemeinschaft wurzeln. Diese richtige esoterische Auffassung, dass Heilung eine Sache der ganzen Gemein-

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schaft sei, ist schwer zu verstehen, da normalerweise die Selbstheilungskräfte als individuelle Fähigkeiten verstanden werden. So wird in der esoterischen Literatur suggeriert, dass die Selbstheilungskräfte aktiv werden, wenn man im Einklang mit seinen Impulsen und Emotionen leben kann, also die <wahre Natur> nicht vergewaltigt wird und man <aus der Mitte heraus lebt>. Angeblich wurzeln die Selbstheilungskräfte in der Kraft des Geistes2. Die Heilung wird dementsprechend als ein individueller mentaler Akt dargestellt. Im Folgenden soll das Spannungsfeld zwischen der individuellen und sozialen Verantwortung für die Selbstheilungskräfte genauer geklärt werden.

In alten Krankheitslehren wurde die Bedeutung der Gemeinschaft für den Heilungsprozess erkannt. So wurden in der Antike z.B. Krankheiten als ein Anzeichen dafür betrachtet, dass im gesamten Leben des Patienten und in seiner Stellung zur Gemeinschaft irgendetwas aus der Ordnung geraten ist. Die Krankheit wurde als die Botschaft der Götter verstanden, dass sich die Seele des betroffenen Menschen gegen die Ordnung der Natur und der sozialen Gemeinschaft gestellt hat. Heilung setzt deshalb die Aufdeckung der Gründe des Leidens und die Herbeiführung von Veränderungen voraus, die den Menschen wieder ins Gleichgewicht mit sich selbst und der Gemeinschaft seiner Mitmenschen bringen. Heilung verlangt deshalb nicht nur die Aktivierung der Selbstheilungskräfte beim Patienten, sondern setzt auch die Heilung der Menschen voraus, die ihm nahe stehen.

Auch die Schamanen haben intuitiv erfasst, dass krank machende Vorstellungen nur aufgelöst werden können, wenn die gestörte Kommunikation mit der sozialen Gruppe direkt angesprochen wird. In die Heilrituale wurden deshalb die übrigen Gruppenmitglieder mit einbezogen. Die Freunde oder Familienmitglieder werden z.B. daran beteiligt, dass sie den Kranken durch gemeinschaftliches Singen oder Summen in eine entspannte Situation bringen. Ihre dabei gesammelten inneren geistigen Kräfte kann der Schamane dann auf sich konzentrieren und auf den Kranken lenken, um den Dämonen, der in Form der Krankheit vom Kranken Besitz ergriffen hat, dazu zu bewegen, den Körper des Kranken zu verlassen. Die Gruppenmitglieder bestärken im Heilritual ihre Verbundenheit mit dem Erkrankten und geben ihm das Vertrauen, dass er nach der Heilung von der Gruppe wieder aufgenommen wird. Sie verändern sich selbst dabei, da sie gleichzeitig ihre eigenen feindseligen Gefühle bearbeiten.

Die große Bedeutung der sozialen Gemeinschaft für den Heilungsprozess lässt sich mit den bisherigen Überlegungen begründen. Jede Krankheit beginnt mit einer Veränderung der Atemmembran, die das Scharnier zwischen dem Einzelnen und seiner sozialen Gemeinschaft darstellt. Da die Atemmembran nicht nur zum Individuum, sondern auch zur sozialen Gemeinschaft gehört, die auf sie starken Einfluss nimmt, zeigt jede individuelle Krankheit auch eine Erkrankung der sozialen Gemeinschaft an. Jede Krankheit weist darauf hin, dass die soziale Gemeinschaft unter ungelösten sozialen Widersprüchen leidet, die zwangsläufig mit Affektkontrollen verbunden sind und dadurch den Gesundheitszustand des Einzelnen beeinflussen. Sie weist auch darauf hin, dass es die soziale Gemeinschaft versäumt hat, den Einzelnen bei der Ausbildung sicherer Kommunikationsfähigkeiten und Entspannungsrituale zu unterstützen. Den Abgrenzungsdefiziten des Einzelnen von der Gesellschaft entspricht das Bildungs- und Zuwendungsdefizit der Gesellschaft gegenüber dem Einzelnen.

Wie oben dargestellt, werden die Selbstheilungskräfte im Zusammenhang mit der An

2 Stangl/Stangl 1991, S.80

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eignung der Emotionen erlernt. Wer in der Kindheit bei der Entwicklung von emotionaler Autonomie unterstützt wurde, kann sich auch in Krisensituationen selbst akzeptieren und die Verantwortung für die Krankheit übernehmen. Wer früher Liebe erfahren hat, hat die Fähigkeiten gelernt, Konflikte zu bewältigen, zu vergeben und sich für einen neuen Austausch zu öffnen. Wenn die Gefühle uneingeschränkt gelebt werden konnten, stehen sie als Werkzeug für eine Konfliktregulierung zur Verfügung, die nicht krank macht. Wenn dagegen der Ausdruck der Emotionen unter dem Zwang steht, sich anzupassen, sich zu fügen und zu disziplinieren, wird die Entwicklung der Selbstheilungskräfte geschwächt, weil jede Abhängigkeit und Fremdbestimmung mit körperlichen Dauerkontraktionen verbunden ist.

Die Stärke der Selbstheilkräfte hängt offensichtlich davon ab, inwieweit die soziale Gemeinschaft in der Lage ist, die Bedingungen für uneingeschränkten Kontakt im privaten und beruflichen Alltag herzustellen, sodass die aus dem Zusammenleben unvermeidlich entstehenden Konflikte immer an Ort und Stelle gelöst werden können. Gesundheit ist damit primär eine Angelegenheit der sozialen Gemeinschaft. Sie lebt davon, dass die Gruppenmitglieder fähig sind, sich wechselseitig bei der Lösung ihrer Konflikte zu helfen, dass sie sich wachsam beobachten und darauf aufmerksam machen, wenn einer die Tendenz hat, Probleme mit körperlichen Verspannungen zu beantworten. So kann eine Tendenz zur sozialen Isolierung frühzeitig erkannt und somit vermieden werden, dass aus ihr chronische psychische Störungen, Haltungs- oder Organschäden entstehen. Diese wechselseitige Kontrolle ist aber nichts Repressives, da sie von dem Wissen geleitet wird, dass die eigene Gesundheit auch von der des anderen abhängig ist.

Die soziale Gemeinschaft hat deshalb die Verantwortung, alles zu unternehmen, um dem Kranken wieder in die soziale Gemeinschaft einzugliedern. In erster Linie sind es die Personen, mit denen der Erkrankte zusammenlebt und arbeitet, die aufgefordert sind, gegebenenfalls Kontaktstörungen mit dem Erkrankten aufzuarbeiten. Sie müssen die Krankheit als eine Botschaft begreifen, dass die Regeln des sozialen Zusammenlebens gestört sind und falsche Prioritäten gesetzt wurden. Die Metapher von der <kranken Gesellschaft trifft den Kern: Auch eine Gesellschaft wird krank, wenn sie nicht mehr fähig ist, ihr Verhältnis zur Natur so zu organisieren, dass ihre Mitglieder sich gesund erhalten können.

Offensichtlich setzt die Entfaltung der Selbstheilungskräfte ein soziales Klima voraus, das relativ frei von Abhängigkeiten ist. Die Selbstheilungskräfte gedeihen nur in einem Klima relativ hoher emotionaler Autonomie. Sie setzen die Entfaltung der Emotionalität voraus. Damit wurzeln die Selbstheilungskräfte in der Kraft des Atems, eine Verbindung mit der Gemeinschaft herzustellen. Soziale Herrschaft führt unweigerlich zur Schwächung der Selbstheilungskräfte, da sie den angstfreien Umgang mit den Emotionen behindert. Dass dabei auch die Sinnlichkeit und das tiefe Bedürfnis nach sinnlichem Hautkontakt unterdrückt wird, trifft die Kontaktfähigkeit im Nerv. Hinzu kommt, dass soziale Herrschaft den Widerstand der Bevölkerung gegen die ökologische Zerstörung der Umwelt, insbesondere die Verpestung der Atemluft, die Verunreinigung des Trinkwassers und die industrielle Denaturierung der Lebensmittel gebrochen hat. Deshalb ist das schwache Immunsystem der meisten Menschen ein Symptom dafür, dass die soziale Gemeinschaft Lebensbedingungen akzeptiert, durch die die Selbstheilungskräfte geschwächt und dass der gemeinsame Blick von den kleinen Symptomen und der wechselseitigen Verantwortung abgelenkt werden.

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Da das soziale Zusammenleben unweigerlich mit Konflikten verbunden ist, muss jede Gesellschaft Rituale entwickeln, mit denen die aus Konflikten hervorgehenden Verspannungen abgebaut werden können. Der Einzelne ist bei der Entwicklung von geeigneten Strategien überfordert und muss mit sozialen Ritualen unterstützt werden. Rituale zeigen einen allgemein akzeptierten Weg, wie man sich mit den eigenen Verspannungen konfrontieren kann. Sie geben dem Einzelnen nicht nur die Erlaubnis, sich um die Befreiung von Verspannungen zu kümmern, sondern verpflichten ihn auch dazu. In den Ritualen wird so die individuelle mit der sozialen Verantwortung verbunden. Die Bedeutung allgemein anerkannter Entspannungsrituale kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Das Unbehagen an der gegenwärtigen Gesellschaft wurzelt sicherlich auch zum großen Teil darin, dass im Zuge der Aufklärung alle überlieferten Rituale der Selbstentspannung zerstört wurden, ohne dass angemessene neue Rituale entwickelt wurden. Solche Rituale würden allen therapeutischen Bemühungen eine größere Wirkung verleihen.

Die Tatsache, dass immer nur eine Minderheit erkrankt, widerlegt nicht die These, dass die soziale Gemeinschaft für die Erkrankung verantwortlich ist. Es trifft natürlich in erster Linie die Menschen, die traumatische Verletzungen durch den Verlust von Eltern, durch seelischen oder sexuellen Missbrauch u.a. am eigenen Leib erfahren mussten, oft zu einem frühen Zeitpunkt, wo diese Erfahrungen nicht verarbeitet werden konnten. Solche Menschen spüren die lebensfeindliche Wirkung von repressiven gesellschaftlichen Werten (z.B. absoluter Gehorsam, Leistungsorientierung, Sexualfeindschaft) stärker, sodass sie sich nicht damit identifizieren können. Deshalb sind sie unfähig, die sozialen Konflikte in ihrem eigenen Körper so auszubalancieren, dass sie nicht daran erkranken. Viele Menschen stehen an sozialen Schnittpunkten, wo die sozialen Widersprüche besonders stark aufbrechen, wie z.B. die Manager, die vor dem Problem stehen, wie sie den persönlichen Einsatz für ihre Firma mit ihrer Verantwortung für ihre Familie vereinbaren sollen, sodass ihre Widerstandskräfte oft relativ schnell erschöpft sind.

Da die gegenwärtige soziale Gemeinschaft vor der Aufgabe versagt, den gestörten Kontakt mit dem Erkrankten zu erneuern, wird die Verantwortung an die Ärzte delegiert. Dies liegt nahe, da sie diejenigen sind, an die sich die Erkrankten wenden, wenn sie mit ihren Konflikten nicht mehr zurechtkommen und somatische Symptome entwickeln. Zu Recht wird von den Ärzten gefordert, dass sie dem Patientengespräch ein größeres Gewicht einräumen (vgl. Kap. 8.3). Auch die Patienten erwarten vom Arzt, dass er sich ihnen uneingeschränkt zuwendet und sie in ihrem Sosein akzeptiert. Sie erwarten unbewusst einen Austausch über ihre emotionalen Probleme und sind enttäuscht, dass sie noch nicht einmal einen Ersatz dafür finden. Die Ärzte sind sichtlich überfordert, da sie darin nicht von der sozialen Gemeinschaft unterstützt werden, ganz unabhängig davon, dass das naturwissenschaftlich geprägte Berufsverständnis und die vorherrschende Praxis der Symptombekämpfung keinen Platz für ausführliche Gespräche lassen. Deshalb kultivieren sie die überkommene magische Komponente im Verhältnis zum Patienten.

Wenn die Heilungsimpulse primär von außen kommen, bedeutet das keineswegs, dass damit die Schuld für die individuelle Krankheit ausschließlich der sozialen Gemeinschaft zugeschoben werden darf. Das subjektive Element der Entscheidung für die Krankheit darf nicht vergessen werden. Man muss dazu stehen, dass die muskuläre Verspannung in der Situation, die der Erkrankung vorausging, eine richtige Entscheidung war, weil keine andere Handlungsmöglichkeiten gesehen wurden. Die Krankheit war ein sinnvoller Selbstheilungsversuch mit untauglichen Mitteln, da angepasstere Mittel nicht zur Verfügung standen. Jeder Mensch hat aber die Chance, die ursprüngliche Entschei-

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dung zum sozialen Rückzug rückgängig zu machen und die fehlenden Kommunikationsfähigkeiten nachholend zu erlernen. Insofern stellt jede Krankheit auch eine Herausforderung dar, über die eigene Lebensführung nachzudenken.

Viele Genesende berichten, dass ihnen klar geworden ist, welchen Wert soziale Beziehungen haben und dass sie ihnen künftig mehr Aufmerksamkeit widmen wollen. Krankheiten können so zu einer Wende im Leben führen, weil die Prioritäten neu geordnet werden und Konflikte erzeugende Aktivitäten aufgegeben werden. Es wird dann meist auch das Selbstbild korrigiert, das zu hohe Anforderungen an Leistungskraft, Selbstbeherrschung u.a. verlangt. Man erkennt die Notwendigkeit, den Forderungen anderer gegenüber nein zu sagen und die eigenen Bedürfnissen mehr zu bejahen. Heilung tritt ein, wenn in der Verspannung die Absicht, sich selbst abzutöten, erkannt wird. Aber Krankenberichten, in denen die Genesung einer Reise nach innen zugeschrieben wird, ist zu misstrauen, da sie unreflektiert eine esoterische Interpretation der Krankheit übernehmen und deshalb die Bedeutung von Veränderungen im sozialen Umfeld nicht richtig einschätzen3.

Die Einsicht in die Teilschuld der sozialen Gemeinschaft kann vermeiden helfen, dass sich der Kranke mit Heilungsabsichten überfordert. Wenn man erkennt, dass zwischen dem Verhalten der Gemeinschaft und dem individuellen Entwicklungsprozess ein kompliziertes Wechselverhältnis besteht, wird man sich nicht in dem primitiven Schuldvorwurf gegenüber der Gesellschaft verfangen, der verhindern würde, dass die eigenen Veränderungsmöglichkeiten ausprobiert werden.

Auch wenn die Zuwendung von außen der dominante Faktor im Heilungsgeschehen ist, sind die individuellen Techniken der Imagination, Autosuggestion, Atemtherapie, Entspannung, Hypnose, Biofeedback u.a. nicht wertlos. Sie vermitteln die Erfahrung, dass der Einfluss auf vegetative Prozesse noch nicht endgültig verloren ist und zurückgewonnen werden kann. Das Selbstwertgefühl wird gestärkt, wenn zu der mit der Krankheit verloren gegangenen Selbstkontrolle zurückgefunden wird. Der Patient gewinnt das Vertrauen zurück, die Lebensprobleme bewältigen können, mit denen er vor Ausbruch der Krankheit konfrontiert war. In der therapeutischen Trance kann erkannt werden, dass man in stressbelasteten Situationen Vorstellungen gebildet hat, die so verallgemeinert wurden, dass sie das ganze Verhalten beeinflussen. Sie können dann leichter losgelassen werden. Die großen Erfolge, die in der Krebstherapie mit Imaginationsarbeit erzielt wurden, belegen, dass hier wirkungsvolle Methoden zur Verfügung stehen, um an dem Genesungsprozess mitzuwirken4.

Entscheidend ist, mit welcher Einstellung die mentalen Techniken angewandt werden. Wenn sie als Mittel zur Heilung instrumentalisiert werden, wird das Ziel verfehlt. Sie können nur wirksam werden, wenn sie als in sich selbst befriedigende Schritte zu einem aktiveren und lustvolleren Leben gesehen werden, ohne dass damit die direkte Hoffnung auf Heilung verbunden wird. So kann das Training des inneren Dialogs das Bewusstsein für die Abhängigkeiten von der sozialen Umwelt sensibilisieren und damit den Kontakt zu sich selbst und zur Umwelt verbessern. Wer hingegen Heilung direkt anstrebt, verfehlt das Ziel, weil in der angespannten Erwartungshaltung keine Lösung der Atemmembran zugelassen werden kann.

Zu Recht wird in vielen Gesundheitskonzepten die Selbstverantwortung als der Schlüs

3 Vgl. Barasch 1996

4 Vgl. Simonton 1999

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sel für die Stärkung der Selbstheilungskräfte angesehen. Es wäre aber problematisch, wenn sie als eine Fähigkeit verstanden werden würde, über die jeder verfügt und für die man sich jederzeit entscheiden kann. Das traditionelle Konzept der Selbstverantwortung hat den Mangel, dass Selbstverantwortung als ein moralischer Begriff angesehen wird und unberücksichtigt bleibt, dass sie kein selbstverständlicher Besitz ist, sondern in einem langwierigen Lernprozess erworben wird und ebenso wieder verloren gehen kann. Denn Selbstverantwortung ist letztlich mit einer funktionierenden Selbstorganisation identisch, die auf Grund höher entwickelter Sensibilität alle Veränderungen in der Atemmembran und den übrigen Organen wahrnimmt und geeignete Korrekturen veranlasst.

Somit kann Selbstverantwortung nicht übernommen werden, sondern stellt sich allenfalls ein, wenn man ausreichende Sensibilität für sich selbst hergestellt hat. Selbstverantwortung manifestiert sich in der spontanen Aktivität, für sich selbst zu sorgen. Sie äußert sich in der Kraft, mit der die eigenen Interessen und Bedürfnisse gegen entgegenstehende Erwartungen durchgesetzt werden. Der Selbstverantwortung wird ein zentraler Stellenwert eingeräumt, zu Recht, weil alle psychischen und somatischen Krankheiten auf der Entscheidung basieren, sich durch muskuläre Verspannungen zu schützen. Bei kranken Menschen manifestiert sich die funktionierende Selbstverantwortung darin, dass sich ein Leidensdruck einstellt. Der Leidensdruck basiert auf der Erfahrung, dass die bisherigen Abwehr- und Abspaltungsmechanismen nicht mehr funktionieren. Das wird daran gespürt, dass die Selbstvernichtung als ein zu hoher Preis für die Problemlösung mit Hilfe krankmachender Fehlspannungen erscheint. Entweder kommt Todesangst auf oder es wird gemerkt, dass die eigenen Ziele nicht mehr erreicht werden können. Das bedeutet, dass der Leidensdruck unmittelbar von dem Grad der persönlichen Sensibilität abhängig ist.

Die Erfahrung zeigt, dass häufig der Wille zur Gesundheit zunächst eher eine Anpassung an den Druck der Umwelt darstellt, der von einem fordert, etwas für seine psychischen oder somatischen Probleme zu tun. Vielfach werden körpertherapeutische Verfahren gewählt, weil man unbewusst davon ausgeht, sich dadurch leichter vor Veränderungen schützen zu können. Der subjektive Wille zur Gesundheit gewinnt meist erst im Verlauf der Sensibilitätsübungen an Substanz, wenn erfahren wird, dass man dadurch innere Verhaltenssicherheit zurückgewinnt und sich das Körpergefühl verbessert. Wie die Krebstherapie mit Imaginationsarbeit zeigt, kann dadurch auch der Lebenswille gestärkt werden5.

Das eigentliche Ziel der Heilung ist die Wiedereingliederung des Einzelnen in die soziale Gemeinschaft. Dieses Ziel wird durch die spirituellen Metaphern der Ganzheit und Einheit verschleiert, wenn z.B. Heilung als Annäherung ans Heilsein im Sinne der Einheit verstanden wird. Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, dass der Krankheitsprozess insofern als ein Verlust der Ganzheit verstanden werden kann, als Teile des Körpers aus der inneren Kommunikation abgespalten werden. Der tiefe Wunsch, die innere Zwietracht zu überwinden, darf aber nicht zum spirituellen Einssein mit dem Kosmos überhöht und damit die Krankheit als Weg zur spirituellen Vervollkommnung idealisiert werden, da gespürt wird, dass die innere Zwietracht die Folge einer Kontaktstörung ist. Mit der Hypostasierung der sozialen Harmonie zum spirituellen Ziel wird der notwendigen Kritik an den krankmachenden Verhältnissen aus dem Weg gegangen.

5 Simonton 1999, S.186.

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Der griechische Philosoph Plotin hat Krankheit als Verlust der Seele begriffen. Das bedeutet, dass er die Wurzel der Krankheit in der Zerstörung der natürlichen Einheit von Körper und Seele sah. Diese Auffassung ist bereits im Krankheitsverständnis der Schamanen angelegt6 und wird auch in vielen esoterischen Krankheitslehren vertreten. Die vorstehende Analyse zeigt, dass der Verlust der Seele als eine Metapher für die Erfahrung verstanden werden kann, dass der Kontakt zur sozialen Gemeinschaft gestört ist und dass dadurch der Atem und die vom Atem getragenen Emotionen beeinträchtigt werden.

Es wurde gezeigt, dass man dem Wesen der Krankheit nicht gerecht wird, wenn sie ausschließlich als eine Verkörperung seelischer Disharmonien betrachtet wird. Krankheit hat sich als die unbeabsichtigte Folge des Rückzuges aus dem sozialen Kontakt herausgestellt. Dem Erkrankten geht es primär darum, die Verbundenheit mit der sozialen Gruppe aufrechtzuerhalten. Dafür nimmt er die Reduktion des körperlichen Wohlbefindens in Kauf. Anerkennung und Zuwendung sind ihm wichtiger als körperliche Integrität. Da heute unter <Seele> die Gesamtheit der kommunikativen Fähigkeiten verstanden werden muss, die sich aus der Ausdifferenzierung der Atemmembran herausgebildet haben, müsste die These Plotins wie folgt umformuliert werden: Krankheit ist ein Verlust der kommunikativen Fähigkeiten.

Die abendländische Abwertung des Körpers war äußerst folgenreich für die Selbstheilungskräfte, weil dadurch die körperlichen Empfindungen aus dem Bewusstsein ausgeblendet wurden und die Selbstorganisation geschwächt wurde. Vermutlich war es ein geheimes Ziel der Inthronisierung des Geistes, die Selbstheilungskräfte zu lähmen, um dadurch die Gefolgsbereitschaft der Menschen abzusichern7. Wenn die Menschen verlernen, sich aktiv für eine gute Verbundenheit mit der sozialen Gruppe einzusetzen, und andererseits bereit sind, sich mit der trennenden Abhängigkeit abfinden, verlieren sie auch das Gespür für die Verspannungen, die zu Erkrankungen führen können. Es geht die einfache Wahrheit verloren, dass die Menschen leichter krank werden, wenn sie abhängig und unglücklich sind. Insofern sind schwache Selbstheilungskräfte und die Hypostasierung des Geistes die zwei Seiten einer Medaille.

Mit dem entwickelten Verständnis der Selbstheilungskräfte kann das Kardinalproblem der naturwissenschaftlichen Medizin gelöst werden, dass die Kranken als isolierte Wesen betrachtet werden und dass durch die Individualisierung der Krankheit der Heilungsprozess erschwert wird. Wenn die tiefe Verschränkung der körperlichen Leiden mit den Problemen des sozialen Umfeldes erkannt wird, geraten Emotionen als die zentralen Krankheitsfaktoren ins Blickfeld und kann sich ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass die Selbstheilungskräfte von der Verfassung der sozialen Gemeinschaft und der emotionalen Kompetenz abhängen. So, wie die Krankheit ein kulturelles Produkt ist, so werden auch die Selbstheilungskräfte kulturell geprägt.

7.3 Die Fiktion des inneren Heilers

«Ich möchte den Satz aufstellen: Kein wahrhaft freier Mensch kann krank sein.» (Christian Morgenstern)

Die Selbstheilungskräfte werden in den esoterischen Krankheitskonzepten häufig in der Gestalt des inneren Heilers oder des inneren Arztes personalisiert. Bereits Paracelsus hat

6 Barasch 1996, S.73

7 Vgl. Stopczyk 1996

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den Begriff des <inneren Arztes> verwendet. Der innere Heiler soll über das Wissen verfügen, wie psychische und somatische Verletzungen ausheilen können. Dazu müsse man sich für die Botschaften des inneren Heilers öffnen. Das tiefe Vertrauen in die Heilkraft des inneren Heilers soll der erste Schritt zur Genesung sein.

Wahrscheinlich ist die Vorstellung des inneren Heilers aus dem Schamanismus hervorgegangen, bei dem am Anfang der kulturellen Entwicklung systematisch Heilungserfahrungen gesammelt wurden und der Blick darauf gelenkt wurde, dass die Selbstheilungskräfte mit geistigen Kräften angeregt werden können. Da der Schamane auch nur ein Mensch ist, lag es nahe anzunehmen, dass sich jeder seine Fähigkeiten selbst aneignen kann. Dabei hat sich die Vorstellung des inneren Heilers als geeignet herausgestellt, um die im eigenen Inneren gesammelten Selbstheilungserfahrungen zu mobilisieren. Erfahrungsgemäß funktioniert das Gedächtnis besser, wenn man ihm gleichsam einen Auftrag gibt, als wenn man sich angestrengt um eine Erinnerung bemüht. Die Personalisierung der inneren Selbstheilungskräfte zum inneren Heiler war geeignet zu erklären, warum viele Erfahrungen wie von selbst innerlich verarbeitet und ebenso spontan zur Verfügung gestellt werden, wenn sie benötigt werden.

Die Zuwendung zum inneren Heiler löst einen inneren Dialog aus. Sie lenkt die Aufmerksamkeit nach innen und öffnet das Bewusstsein für die innere Stimme und die Sprache der körperlichen Symptome. Die gespeicherten Erfahrungen werden geweckt. Die selbst auferlegten Blockaden des Atems werden erkannt und können u.U. aufgelöst werden. Wenn manche Patienten davon berichten, dass ihnen geholfen hat, mit Gott zu reden, so weist dies auch auf die Bedeutung des inneren Dialoges hin8. Das Konzept des inneren Heilers enthält die Überzeugung, dass diese Kommunikation mit sich selbst für die Heilung von Krankheiten von entscheidender Bedeutung sei.

Die Fiktion des inneren Heilers ist problematisch, da es die individualistische Auffassung nährt, dass der Einzelne sich aus eigener Kraft heilen könne: «So hat jeder Mensch die heilende Kraft in sich. Er muß sie nur durch richtiges Denken und durch richtige Lebensführung zur Entfaltung bringen. Dann findet er zurück zum tiefen Quell seiner Kraft, zu seinem Selbst» (Stangl/Stangl 1991, S.132). Es ist ein esoterischer Irrtum, dass die Selbstheilungskräfte aus eigener Kraft geweckt werden könnten. Ihre Stärke hängt allein davon ab, inwieweit die soziale Gemeinschaft in der Lage ist, die Bedingungen für einen uneingeschränkten Kontakt im privaten und beruflichen Alltag herzustellen, sodass sich die kommunikativen Kräfte des Atems entfalten können.

Wenn der innere Dialog jederzeit angstfrei aufgenommen werden könnte, würde die Grundlage für die Mystifikation der Selbstheilungskräfte zum inneren Heiler entfallen.

Die Figur des inneren Heilers ist im Grunde ein Restbestand des kindlichen Glaubens an die Allmacht von Pillen oder Medizin. In zahlreichen Experimenten mit Placebos ist überzeugend nachgewiesen worden, dass der eigentlich heilende Faktor nicht das Medikament, sondern die daran geknüpfte positive Erwartung ist. Regelmäßig sind die Heilerfolge bei den Placebos genauso hoch wie bei den Medikamenten. Diese Experimente belegen die Wirkkraft der inneren Selbstheilungskräfte, wenn sie auf geeignete Weise angesprochen werden. Sie legen nahe, dass man versuchen sollte, den inneren Heiler direkt und dauerhaft ins Spiel zu bringen, ohne Täuschung und ohne den kindlichen Glauben an die Allmacht von Pillen oder Medizin. «Es geht also darum, uns dieses innere

8 Hirshberg/ Barasch 1995, S.268

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Potential bewußt zu machen und es selbst in Besitz zu nehmen. Anstatt ausschließlich auf Mediziner und Medikamente zu starren, haben wir die Möglichkeit, Hoffnung und Vertrauen auch auf uns selbst zu richten, auf das erstaunliche Heilungspotential, das in uns steckt, und auf unsere Fähigkeit, darüber verfügen zu können» (Grünn 1995, S.215).

Die Voraussetzungen dafür, einen direkten Zugang zu den Selbstheilungskräften zu finden, sind gegenwärtig nicht gegeben. Da in der Regel die Entwicklung von emotionaler Autonomie misslingt und dadurch der spontane innere Dialog blockiert wird, besteht eine große Neigung, an der Vorstellung des inneren Heilers festzuhalten. Es kann eine nützliche Fiktion sein, solange die Zusammenhänge von gestörter sozialer Kommunikation und Krankheit nur erahnt, aber nicht klar erkannt werden. Unter den heutigen Lebensbedingungen kann das Denkmodell des inneren Heilers versuchsweise dadurch überwunden werden, dass man an dieser Metapher in der Haltung des Als-ob festhält. Erfahrungsgemäß wird dadurch der Eintritt in den inneren Dialog erleichtert.

Es wäre eine Mystifikation, wenn den inneren Selbstheilungskräften eine höhere Intelligenz zugeschrieben würde. Vielmehr sammelt der Organismus alle Erfahrungen über die inneren und äußeren Faktoren, die eine Krankheit auslösen, den Krankheitsverlauf bestimmen und zur Genesung beitragen, und zwar bei sich selber und bei anderen Menschen. Dadurch wächst ein großer Erfahrungsschatz heran, der umso größer ist, je bewusster die Abhängigkeit des eigenen Wohlergehens vom eigenen Verhalten erfahren wird und sich ein Bewusstsein dafür entwickelt, wie man sich in verschiedenen Situationen festhält. Schließlich ist die Krankheit die stärkste Bedrohung des individuellen Wohlbefindens.

Die Überlegungen dieses Kapitels sollten zeigen, dass die psychischen Selbstheilungskräfte in der Resonanzfähigkeit des Atems wurzeln. Alle Fähigkeiten, äußere Störungen, Einschränkungen und Beschädigungen in ein weiterhin als lebenswert empfundenes Dasein zu integrieren und selbstschädigende Verhaltensweisen zu vermeiden, sind in der Selbstregulation des Atems begründet. Sie vermitteln das Gefühl, allen Anforderungen gewachsen zu sein. Dieses Kompetenzgefühl ist identisch mit emotionaler und geistiger Autonomie, mit dem Gefühl, dass der Organismus über ausreichende körperliche, seelische und geistige Kräfte verfügt, sodass er nicht zu den schädigenden Mechanismen der muskulären Verspannung greifen muss. Auf Grund des vorherrschenden individualistischen Grundverständnisses, das alle Krankheiten auf körperliche Prozesse zurückführt, kann nicht erkannt werden, dass die Stärke der Selbstheilungskräfte davon abhängig ist, wie stark man in die soziale Gemeinschaft eingebunden ist und ob das Vertrauen vorhanden ist, dass die individuellen Probleme im sozialen Austausch gelöst werden können. Denn die Selbstheilungskräfte werden geschwächt, wenn die Konfliktbewältigungsstrategien versagen und ersatzweise muskuläre Verspannungen der Atemmembran eingesetzt werden. Es bestätigt sich die hippokratische Überzeugung, dass jede Heilung eine Selbstheilung ist.

8 Der Prozess der Heilung

«Gott heilt, und der Arzt nimmt das Geld dafür.» (spanisch)

Wenn der eigentliche Anlass von somatischen Erkrankungen kommunikationsbedingte Atemstörungen sind, dann müsste auch der umgekehrte Weg möglich sein, dass die Normalisierung der Atmung einen Heilungsprozess auslöst. Sobald die Atemblockaden

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wegfallen, könnten die natürlichen Selbstheilungskräfte wirksam werden. In der Tat läuft der Heilungsprozess manchmal so rasch ab, dass er als ein Wunder erscheint. Basieren die bisher als mysteriös erscheinenden Prozesse der Spontan-, Geist- und Wunderheilung auf dem Faktor, dass Verspannungen aufgegeben werden?

Im Folgenden soll gezeigt werden, dass der Eindruck, dass es Spontanheilungen gebe, entstehen konnte, weil die emotionalen und mentalen Veränderungen, die zur Wiederherstellung der Reagibilität des Atems geführt hatten, unbeachtet blieben. Insofern ist der Begriff <Spontanheilung> ein aus Unwissenheit geborener Verlegenheitsbegriff. Ich vertrete im Folgenden die These, dass es keine Spontanheilungen und keine übernatürlichen Heilungen gibt, sondern dass jede Heilung stets das Werk der natürlichen Selbstheilungskräfte ist und die Schnelligkeit der Heilung davon abhängig ist, wie nachhaltig die Verspannungen losgelassen werden.

8.1 Heilung als Loslassen

«Heilung ist nie weiter von uns entfernt als der nächste Atemzug.» (Stephen Levine)

Wenn die These zutrifft, dass den einzelnen Krankheiten stets die Grundkrankheit Sauerstoffmangel zu Grunde liegt, kann daraus die Schlussfolgerung gezogen werden, dass es auch nur eine Strategie der Heilung gibt: den Sauerstoffmangel beheben. «Wenn du krank bist, frage nicht nach der Ursache der Krankheit, kümmere dich auch nicht um die Folgen. Beginne eine ganz neue Lebensweise und atme, indem du das Gesinn auf den Atem konzentrierst, und alles wird besser werden» (Hanish o.J., S.44). Diese Betrachtungsweise vergisst aber, dass Krankheiten aus dem dynamischen Wechselspiel von Organismus und sozialer Umwelt hervorgehen, so dass die Vorstellung, sich selbst wie Münchhausen am Schopf aus dem Sumpf ziehen zu können, irrig ist.

Es ist eine gefährliche Irreführung, wenn in esoterischen Krankheitslehren behauptet wird, dass das höhere Selbst über alle Fähigkeiten verfügen würde, um sich selbst zu heilen. Es wird die Illusion geweckt, dass der Einzelne sich aus eigener Kraft selbst heilen könne. Es wird unterschlagen, dass dazu kommunikative Fähigkeiten erforderlich sind. Krankheit ist gerade ein Beweis dafür, dass bei den psychischen Selbstheilungsfähigkeiten ein Defizit entstanden ist und der Kranke Zweifel hat, damit seine Probleme lösen zu können.

Wie Krankheitsgeschichten von Menschen zeigen, die wider Erwarten von scheinbar unheilbaren Krankheiten genesen sind, sind es regelmäßig Veränderungen im sozialen Umfeld des Kranken wie z.B. große Fürsorge, liebevolle Unterstützung, neue Beziehungen, der Wegzug von Eltern, Selbsthilfegruppen, Psychotherapie u.a., die den Heilungsprozess ausgelöst haben. Nach Überzeugung aller Autoren, die sich mit den Bedingungen der Selbstheilung beschäftigt haben, ist die Einbindung des Einzelnen in intensive, vertrauensvolle zwischenmenschliche Beziehungen der Angelpunkt bei der Vorbeugung und Überwindung von Krankheiten. Wer Fürsorge, Liebe, Zuwendung und selbstverständliche Unterstützung erfährt, findet raschere Genesung. In Untersuchungen wird der bekannte Zusammenhang, dass einsame Menschen häufiger krank sind und an ihren Krankheiten früher sterben, immer wieder bestätigt. Die beste Krankheitsprophylaxe scheint darin zu bestehen, stabile zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen und zu pflegen1.

1 Vgl. Hirshberg /Barasch 1995

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Warum soziale Beziehungen heilend wirken können, ist nach den bisherigen Überlegungen nicht mehr so rätselhaft. Viele Kranke erfahren anlässlich der Erkrankung, dass ihr Eindruck, nicht uneingeschränkt akzeptiert zu werden, unbegründet war. Darüber hinaus machen sie sich Gedanken über ihre Bedürfnisse und werden sich darüber klar, dass sie bisher ihre eigenen Bedürfnisse gegenüber denen anderer Menschen zurückgestellt haben. Sie merken, dass ihre Bedürfnisse entgegen ihren Befürchtungen akzeptiert werden. Deshalb können sich die Muskelverspannungen, hinter denen immer Ängste vor Zurückweisung, Ablehnung oder Liebesentzug stehen, auflösen. Den bisher blockierten Selbstheilungskräften wird Raum gegeben und damit ein Heilungsprozess ausgelöst.

Entscheidend ist nicht die Quantität, sondern die Qualität des Kontaktes. Die Kranken haben ein extrem sensibles Gespür für persönliche Beteiligung und Zuwendung. Im normalen Alltag werden Zweifel abgespalten, dass der Kontakt nur einseitig ist und dass man vom Partner nicht als Person, sondern als Funktion für die eigenen Bedürfnisse (z.B. nach einem Beschützer, nach einem Zuhörer u.a.) missbraucht wird. Krankheiten sind eine Bewährungsprobe für die Beziehungsfähigkeit der Menschen im sozialen Umfeld des Erkrankten. Es zeigt sich, ob sie zur Einfühlung in die Bedürfnisse des Erkrankten fähig sind und einen uneigennützigen Kontakt anbieten können oder ob sie in einem oberflächlichen, entfremdeten Kontakt verhaftet sind.

Die Erfahrung, dass man sich angenommen und geborgen fühlen kann, gibt den Anstoß, die Verspannungen aufzuheben, die den Atem gestört haben. Es entfallen die Belastungen für die Funktionsfähigkeit der inneren Organe, so dass die somatischen Selbstheilungskräfte zum Einsatz kommen können. Da jede Krankheit aus einer Entscheidung für muskuläre Verspannungen hervorgeht, besteht Heilung letztlich in der Korrektur dieser Entscheidung. Entweder erinnert sich der Kranke spontan an die Situation, die zur Krankheit geführt hat, oder der Therapeut hilft ihm, die Krankheitsgeschichte zu klären. Die frühere Entscheidung kann revidiert werden, wenn ihr damaliger Sinn verstanden und erkannt wird, dass es jetzt weniger gesundheitsgefährdende Lösungsmöglichkeiten gibt.

Heilen besteht in der Tat im Loslassen von krank machenden Vorstellungen, wie es immer im esoterischen Denken behauptet wurde. Loslassen bedeutet zunächst, dass man bereit ist, sich mit den eigenen Schattenseiten, d.h. mit den Gefühlen zu konfrontieren, die aus Angst verleugnet wurden. Im nächsten Schritt können die Vorstellungen korrigiert werden, mit denen die Blockade begründet wurde. Letztlich läuft das Loslassen darauf hinaus, dass man die Kraft findet, sich einzugestehen, dass man keinen anderen Ausweg zur Lösung der individuellen Probleme als den Rückzug gesehen hat.

Die entscheidende Voraussetzung für die Genesung ist das Eingeständnis der eigenen Schwäche, Hilflosigkeit und Ohnmacht. Das verlangt auch den Verzicht darauf, andere mit Hilfe der Symptome zu kontrollieren. Es ist die Einsicht erforderlich, dass es eine Illusion ist, sich mit Hilfe der Muskelverspannungen dauerhaft schützen zu können, und dass solche Maßnahmen nur provisorischen Charakter haben. Zu Recht lautet die erste Regel der Anonymen Alkoholiker: «Wir gestanden ein, dass wir keine Macht über uns selbst hatten und unser Leben unkontrollierbar geworden ist.»

Es braucht nicht betont zu werden, dass das Eingeständnis der eigenen Schwäche und Hilflosigkeit nur wirksam ist, wenn es aus der wirklich persönlich erfahrenen Einsicht resultiert, dass der Versuch, sich durch Muskelanspannung zu schützen, zum Scheitern verurteilt ist. Dazu gehört die Einsicht, dass die eigene Entwicklung das Ergebnis zufäl-

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liger äußerer Umstände ist, für die man nicht verantwortlich ist, insbesondere derart, dass man nicht gelernt hat, gut mit Anforderungen und Konflikten umzugehen. Es ist anmaßend, wenn man sich selbst zum Vorwurf macht, dass man dies oder jenes nicht gemacht hat. Ebenso ist es ein Selbstbetrug, andere für die eigene Krankheit verantwortlich zu machen.

Der Verzicht auf die Allmachtsphantasie der Selbstheilung kann einen Heilungsprozess auslösen, weil sich damit die Verspannungen - insbesondere in der Rückenmuskulatur -auflösen können, die mit der ständigen Aktivierung des Willens verbunden sind. Dadurch wird die innere Kommunikation verbessert. Der Verzicht setzt die Bereitschaft voraus, die Krankheit als solche anzunehmen, egal wie schwer sie ist. In der bescheidenen Akzeptanz dessen, was ist, stellt man sich nicht mehr den möglichen Lösungen in den Weg, die aus der Selbstorganisation hervorgehen. Damit erklärt sich das Paradoxon, dass es Hoffnung auf Heilung nur gibt, wenn die Hoffnung auf Selbstheilung aufgegeben wird.

Es wird jetzt verständlich, warum in vielen esoterisch geprägten Krankheitstheorien behauptet wird, dass Heilung vom Gewahrsein abhängig ist. «Die bedeutendste Heilungsstrategie ist, gegenwärtig zu sein. Für uns alle, und ganz besonders für uns Therapeuten, gilt als Grundsatz der Heilung, den Menschen Raum zu geben, damit sie wieder fühlen können, was sie empfinden. Alles, was wir tun, stärkt oder schwächt unsere Fähigkeit, das zuzulassen, was gerade in uns vorgeht. Was Heilung auslöst, ist ein Moment der urteilslosen Achtsamkeit» (Hendricks/ Hendricks 1994, S. 169). Die Atemtherapeuten pflegen diese wertfreie Ausrichtung und Zentrierung der Aufmerksamkeit als Empfindungsbewusstsein zu bezeichnen. Es ist im Grunde die Fähigkeit, in der Gegenwart zu leben: es können alle Empfindungen ins Bewusstsein zugelassen werden und das Handeln kann sich an den inneren Impulsen orientieren. Das Leben wird wahrhaftig, da es die innere Wahrheit zulässt. Gegenwärtig-Sein ist identisch mit dem Zustand, in dem keine Verspannungen zur Angstabwehr aufgebaut werden müssen und der innere Monolog seine Zwanghaftigkeit und Unbewusstheit verliert. Insofern ist die esoterische Formel zutreffend, dass Wahrheit heilt. «Viele Probleme im Leben lösen sich in dem Moment, wo wir die ganze Macht der reinen Aufmerksamkeit auf sie lenken» (Hendricks/ Hendricks 1994, S.194).

Gewahrsein führt dazu, dass die innere Kommunikation verbessert wird. «Heilung bedeutet im wörtlichen Sinne Unversehrtheit, Ganzheit, und impliziert: Abgewiesenes und Ausgestoßenes in den Kreis zurückzuführen; mit dem inneren Ohr auf jene Teile zu lauschen, die zum Schweigen gebracht wurden; eine intensivere, genauere, kreativere Beschäftigung mit der Welt um uns herum zu suchen» (Barasch 1996, S.59). Dieser Prozess darf nicht als Kommunikation zwischen Psyche und Soma missverstanden werden. Er ist ein kommunikativer Austausch zwischen den einzelnen Körperteilen, so dass der Körper wieder mit mehr Bewusstsein erfüllt ist. Dann ist der Organismus fähig, die Anforderungen der sozialen Umwelt mit den körperlichen Bedürfnissen abzustimmen.

Da Verspannungen von der organismischen Selbstregulation vorgenommen wurden, entziehen sie sich der willkürlichen, absichtlichen Steuerung durch das Bewusstsein. Sie können erst aufgegeben werden, wenn der Organismus, der ständig wie ein Radargerät aufmerksam das soziale Umfeld prüft, überzeugt ist, dass er seine ursprüngliche Absicht, sich vor Bedrohungen zu schützen, aufgeben kann. Der Kranke wartet auf positive Signale, sei es, dass ihm ein bedingungsloser Kontakt angeboten, oder sei es, dass ihm

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bestätigt wird, dass seine Krankheit ein berechtigter Protest gegen die Lebensordnung ist. Dann können die inneren Introjekte ihre unbewusste Gewalt verlieren. Das Vertrauen darauf, angenommen und akzeptiert zu sein, kehrt also zurück, wenn der Kranke eindeutige Signale wahrnimmt, dass die Angst nicht mehr begründet ist.

Die Korrektur der früheren Entscheidungen kann dem Kranken von keinem Therapeuten abgenommen werden. Der Therapeut kann grundsätzlich nicht wissen, was der Patient für seine Heilung tun muss, da jede Entscheidung auf Grund ihrer Bindung an konkrete Erfahrungen einzigartig ist. Er kann lediglich die Aufmerksamkeit des Patienten in die Richtung lenken, in der er die Wurzel des Problems vermutet, aber er muss achtsam sein, dass er nicht seine Vermutung dem Patienten als Überzeugung aufdrängt. Dadurch würde die Aufmerksamkeit des Patienten eingeengt werden, und der Therapeut würde sich selbst daran behindern, dem Patienten dorthin zu folgen, wohin ihn seine Selbstheilungskräfte lenken. Die Formel, dass der Patient die Verantwortung für seine Heilung übernehmen müsse, hat den Sinn, dass nur er allein die eigentliche Absicht hinter den Atemblockaden erkennen kann.

Die These, dass die meisten Krankheiten mit gestörtem Kontakt Zusammenhängen, bedeutet aber keineswegs, dass sie deshalb alle heilbar sind. Über die Heilungschancen entscheiden viele Faktoren: der Zeitpunkt, zu dem Hilfe gesucht wird, die Akzeptanz durch die Umwelt, die Angemessenheit der Therapie, der entschiedene Wille zur Genesung u.a. Wenn der Wille zur Gesundheit gebrochen ist, kann wahrscheinlich die beste Therapie nicht mehr helfen (vgl. Kap. 8.2.10). Vermutlich sind die Heilungschancen bei Krebskranken meist deshalb relativ gering, weil, wofür diese Krankheit ja ein Symptom ist, die Selbstheilungskräfte schon lange nachhaltig gestört worden sind. Denn der Krankheit geht meist ein jahrelanger Prozess der Resignation und Hoffnungslosigkeit voraus, der nur mit anhaltend positiven Erfahrungen korrigiert werden könnte.

Das mysteriöse Phänomen der Geistheilung, bei der ohne direkte Einwirkung eine Heilung erzielt wird, stellt eine große Herausforderung für das Verständnis des Körpers dar. Nach den bisherigen Überlegungen besteht aber kein Zweifel, dass jede Geistheilung insofern eine psychische Heilung ist, als durch den Kontakt mit dem Heiler eine tiefe innere Lösung der Atemmembran bewirkt wird und dadurch die Selbstheilungskräfte wirksam werden können. Der tiefen Überzeugung von der Heilmächtigkeit des Heilers muss allerdings die innere Bereitschaft entsprechen, die Entscheidungen zu korrigieren, die zu den Verspannungen geführt haben. Die spontane körperliche Heilung setzt also die unbewusste Überzeugung voraus, dass jetzt die Kontaktprobleme gelöst werden könnten. Wahrscheinlich sind Wunderheilungen nichts anderes als beschleunigte Prozesse der Selbstheilung. Wenn die Überzeugung gewonnen wird, sich nicht mehr schützen zu müssen, können die Selbstheilungskräfte ihr Werk erledigen.

Aus diesen Überlegungen folgt, dass es in Wirklichkeit keine Spontanheilung in dem Sinne gibt, dass Heilung ohne Einwirkung von außen stattfindet. Wenn der Blick für die Begleitumstände des Heilungsprozesses geschärft werden würde, könnte man erkennen, dass sich stets die Einbindung des Kranken in sein soziales Umfeld verändert hat. Oft reicht es schon, dass der Patient seine Wahrnehmung der sozialen Situation verändert, weil dadurch die belastenden Faktoren wegfallen, die bisher zu der Krankheit geführt haben.

Zusammenfassend ist als Ergebnis festzuhalten, dass Heilung eintritt, wenn die emotionalen Belastungsfaktoren wegfallen, die den Atem eingeschnürt und damit auch die

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Selbstheilungskräfte blockiert haben. Die Heilung hängt also letztlich damit zusammen, dass der Organismus den Abwehrkampf gegen die Angst, also den inneren Zwiespalt, aufgeben, und sich entspannen kann und dadurch die eigentliche Krankheitsdynamik unterbrochen wird. Das Verständnis der Krankheitsentstehung und Heilung aus der Perspektive des Atems hat den Vorzug, dass damit auch bisher unverständliche Heilungsprozesse wie die Wirksamkeit von Placebos, des Gebets, des Glaubens, der Energieübertragung und ähnlicher Heilverfahren erklärbar werden. Wenn man davon überzeugt ist, dass den meisten Heilungsprozessen eine Befreiung des Atems vorausgeht, kann man auf den Begriff der Spontanheilung verzichten.

8.2 Heilkraft der Emotionen

«Die Gesundheit ist leichter verloren als gewonnen.»

Im Zentrum der psychischen Selbstheilungskräfte stehen Hoffnung, Glauben, Verantwortung, Vergebung, Akzeptanz, Trauer, soziale Geborgenheit, Weinen, Lachen, Entspannung und der Lebenswille. Wenn Vorstellungen aufgelöst werden, durch die diese Emotionen blockiert wurden, können sie das Werk der Selbstheilungskräfte unterstützen. Es zeigt sich, dass Emotionen deshalb wirksam sind, weil sie Störungen im Kontakt mit anderen Menschen beseitigen können. Dann kann der Atem in seine freie Reagibili-tät und Resonanzfähigkeit zurückfinden.

Insofern ist es richtig, dass Heilung von der Freisetzung der Gefühle ausgeht. Dabei wird oft der Eindruck erweckt, als könnte der Heilungsprozess durch körpertherapeutische Interventionen, die den Ausdruck der Gefühle forcieren, beschleunigt werden. Der Heilungsprozess kann aber nicht erzwungen werden. Heilung ist ein spontaner Prozess, ein Werk der organismischen Selbstheilungskräfte. Es können allenfalls die Bedingungen verbessert werden, damit sich die Selbstheilungskräfte entfalten können (vgl. Kap. 6.1). So ist z.B. der Ausdruck von Wut völlig nutzlos, wenn nicht die Angst bearbeitet wird, die zur Zurückhaltung der Wut geführt hat.

8.2.1 Prinzip Hoffnung

«Wo es Hoffnung gibt, besteht Aussicht auf Heilung.»

Die Hoffnung gilt als der Schlüssel zur Gesundheit. «Hoffnung hilft uns nicht nur, mit schwierigen Lebenssituationen fertig zu werden. Sie ist auch einer der Schlüssel, die uns den Zugang zu unserem eigenen Heilungssystem öffnen. Hoffnung wirkt wie ein Rezept für unsere innere Apotheke: Sie aktiviert körpereigene Heilungssubstanzen, die die Gesundheit stabilisieren» (Grünn 1995, S.211). Wer dagegen die Hoffnung aufgibt, gilt als jemand, der sich selbst aufgegeben hat und dem nicht geholfen werden kann. Warum die Hoffnung die Kraft hat, die inneren Heilkräfte zu mobilisieren, ist im aufgeklärten Denken unverständlich.

Hoffnung ist die Erwartung eines ersehnten oder gewünschten Zustandes oder die Erwartung in Bezug auf die Erreichung eines Zieles. Sie ist mit der Überzeugung verbunden, über genügend Kräfte zu verfügen, um mit Schwierigkeiten auf dem Weg dahin fertig zu werden. Sie ist eine typisch menschliche Emotion, da sie sich daraus ergibt, dass Menschen ziel- und damit zukunftsorientiert handeln können. Die Hoffnung ist scheinbar zukunftsorientiert, in Wirklichkeit ist sie rückwärtsgewandt, da sie sich an Erfahrungen bindet, in denen die Angst gut bewältigt worden ist. Die Hoffnung lebt damit

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von Erfahrungen gelungenen, befriedigten Lebens. Sie beruht auf überstandener Angst (vgl. Kap. 4.3.1). Die Hoffnungen greifen damit auf Erfahrungen zurück, wie die Angst gebändigt werden konnte. Es sind erlernte Fähigkeiten, wie die Angst auf eine Weise angenommen wurde, dass sie den Atem nicht einschnürt.

Die elementare Bedeutung der Hoffnung hängt sicherlich damit zusammen, dass die Menschen nur gut leben können, wenn sie ihrem Leben eine positive Perspektive geben können. Das Leben braucht eine offene Zukunft. Diese Erwartung stellt sich ein, wenn man sein Leben in Einklang mit der Perspektive der anderen Gruppenmitglieder organisieren kann. Das Handeln wird als sinnvoll erlebt, wenn es in die soziale Gemeinschaft eingebunden ist. Wenn dagegen die Zukunft als verstellt erscheint, fehlt dem Handeln die entscheidende Dimension.

Wenn allen Vorstellungen, die bisher das Verhalten gesteuert haben, der Boden entzogen wird, weil sie sich als illusionär herausstellen, verliert das eigene Handeln seinen Sinn. Flüche und Verwünschungen können eine destruktive Kraft entwickeln. Jede Selbstverurteilung und Selbstnegation ist der Beginn einer körperlichen Selbstzerstörung, weil die Menschen nur handeln können, wenn ihr Handeln in die soziale Gemeinschaft eingebunden ist und damit eine positive Perspektive hat. Selbstnegation ist ein Verrat an der Gemeinschaft, da man die Hoffnung aufgibt, sich mit ihr produktiv verbinden zu können.

Kaum etwas im menschlichen Leben zieht so stark beunruhigende und ängstigende Vorstellungen auf sich wie eine Krankheit. Denn Krankheit ist der Einbruch von Unbe-stimmheit, Ungewissheit und Unsicherheit in das eigene Leben. Krankheit ist ein Signal, dass die Kontrolle über das eigene Leben entglitten ist. Man ist unsicher geworden, weil die eigenen Muskeln nicht mehr den bewussten Bewegungsabsichten folgen. Jeder beginnende Kontrollverlust ist eine narzisstische Kränkung und droht mit Zusammenbruch, mit Ausschluss von der sozialen Gemeinschaft und letztlich mit Tod.

Es entsteht ein dringendes Bedürfnis, die mit der Krankheit verbundene Unruhe durch Vorstellungen aufzufangen, die der Krankheit eine bestimmte Bedeutung geben. Dies äußert sich in einer erhöhten Suggestibilität, d.h. der Empfänglichkeit, Vorstellungen aufzunehmen, die versprechen, dass es besser wird. Wenn der Krankheit ein Sinn gegeben wird - zum Beispiel als Strafe Gottes, als Herausforderung, sich auf die wahren Werte des Lebens zu besinnen, als Chance zum Wachstum und zur Vervollkommnung u.a. -, bedeutet dies, dass die Erwartung berechtigt ist, dass man nur vorübergehend die Kontrolle über sich verloren hat und dass man wieder den Kontakt zu sich und zur sozialen Gemeinschaft zurückerhalten wird. Man kann nur weiterleben, wenn die Ängste ihre Unbestimmtheit verlieren.

Die Hoffnung ist der Kern der Selbstheilungskräfte, weil sie der Inbegriff der Fähigkeiten ist, mit Schwierigkeiten und Belastungen fertig zu werden. Die Kraft der Hoffnung ist nichts von der Natur Gegebenes, sondern wird in dem Maße erworben, wie diese Fähigkeiten im Kontext bedingungsloser Liebe, d.h. uneingeschränkten Kontaktes entwickelt werden. Dann kann ein sicherer Umgang mit der Angst gelernt werden, so dass die Angst vor der Trennung von der Mutter, hinter der immer die Angst vor dem Tod steht, sich nicht als Atemeinschränkung im Organismus festsetzt. Wenn alle Gefühle von Angst offen geäußert und von den Eltern bestätigt werden, können flexible Strategien erlernt werden, die Angst als Warnsignal zu integrieren, anstatt sie durch muskuläre Verspannungen abzukapseln. Das bedeutet, dass man sich auf die mit einem Kontakt

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verbundenen Risiken einlassen kann, weil bisher Kontakte keine dauerhaften Wunden hinterlassen haben. Damit setzt Hoffnung die Erfahrung von bedingungsloser Liebe voraus. Sie wurzelt somit in Lebensumständen, in denen ein guter Umgang mit der Angst gelernt werden kann.

Die überragende Bedeutung der Hoffnung liegt wahrscheinlich darin, dass sie die Erinnerung an frühere Zustände des Wohlbefindens, der Ruhe und des Glücks weckt. In solchen Erinnerungen stehen dem Organismus Muster zur Verfügung, wie das Nerven-, Atem-, Immun-, Hormonsystem u.a. geändert werden müsste, um rasch zu einer Heilung zu gelangen. Sie sind quasi Programme für inneres Gleichgewicht und Wohlbefinden. Die Erinnerungen haben diese Kraft, da sie mit positiv besetzten Emotionen verbunden sind, die von sich aus Verspannungen auflösen können. So wie Vorstellungen Verspannungen bewirken können, lassen sie sich damit auch rückgängig machen. Deshalb sieht der amerikanische Arzt Herbert Benson zu Recht die Quelle der inneren Selbstheilungskräfte im Wohlbefinden, an das man sich erinnert. «Wir besitzen alle die Fähigkeit, uns an die Ruhe und das Vertrauen zu erinnern, die mit Gesundheit und Glück einhergehen» (Benson 1997, S.21). Er hat in seiner Praxis erfahren, wie über religiösen Glauben oder andere positive Überzeugungen die Erinnerungen an frühere Zustände des Wohlbefindens geweckt werden können und dadurch die Selbstheilung gefördert wird.

Seitdem durch die Placebo-Forschung nachgewiesen wurde, dass physiologisch neutrale Medikamente wirksam sein können, wenn sie vom Patienten mit positiven Erwartungen verbunden werden, gilt die Erwartung als ein Heilfaktor ersten Ranges. Darauf basieren die mentalen Techniken des positiven Denkens und der Affirmation. Es wäre falsch anzunehmen, dass die heilende Wirkung der Hoffnung allein von den positiven Vorstellungen ausgeht. Es ist eine Illusion zu glauben, dass man sich beliebig umprogrammieren könne. Es wird übersehen, dass die positiven Vorstellungen nur auf der Basis der inneren Überzeugung wirksam sind, dass man sich selbst helfen und mit allen Schwierigkeiten aus eigener Kraft fertig werden kann. Wenn diese Grundüberzeugung fehlt, hilft auch die häufige Wiederholung von affirmativen Sätzen nichts.

Hoffnungslosigkeit und Aussichtslosigkeit zerstören die Selbstheilungskräfte, weil sich die unbewältigte Angst lähmend auf den ganzen Organismus auswirkt. Wie oben dargestellt worden ist, kann z.B. die Kontraktion der Bauchmuskeln eine Kaskade der Selbstzerstörung einleiten. Wenn man in den Teufelskreis zunehmender Verhärtung der Atemmembran geraten ist, macht sich im Laufe der Zeit die Resignation breit, die verlorene Liebe zurückzufinden. In der Hoffnungslosigkeit steckt daher der Keim der Krankheit.

Hoffnungslosigkeit ist der somatische Ausdruck dafür, dass der Organismus daran zweifelt, mit einer Krise fertig zu werden. Es kann eine destruktive Dynamik entstehen, weil die unlösbar erscheinenden Konflikte und die versperrte Zukunftsperspektive den Atem lähmen und dadurch Sauerstoffdefizite in zentralen körperlichen Organen entstehen. Deshalb war Wilhelm Reich davon überzeugt, dass Krankheit die Folge emotionaler Resignation ist. Hoffnungslosigkeit und Aussichtslosigkeit untergraben die Selbstheilungskräfte, weil sie der organismische Ausdruck der Unfähigkeit sind, die Konflikte mit sich und anderen Menschen zu lösen. Es kann sich das Gefühl der Verzweiflung einstellen, wenn kein Weg mehr gesehen wird, Liebe und Anerkennung zurückzugewinnen. Dann bleibt nur noch der Tod als Lösung. So hat z.B. der Schizophrene alle Hoffnungen verloren, seine Ziele in der realen Welt zu erreichen, und zieht sich in eine selbst geschaffene irreale Welt zurück.

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Nach diesen Überlegungen erscheint es fraglich, ob man Kranken empfehlen sollte, zuversichtlich und hoffend der Krankheit zu begegnen. Dabei würde übersehen, dass die Hoffnung eine tief in der organismischen Selbstorganisation wurzelnde Fähigkeit ist, sich selbst zu helfen, die sich ebenso wenig einschalten lässt, wie man sich absichtlich in Liebe versetzen kann. Allerdings kann diese Empfehlung sinnvoll sein, wenn sie in einen liebevollen Kontakt eingebettet ist, die von sich aus dem Kranken die Hoffnung gibt, angenommen zu sein. Wichtiger wäre es, dem Kranken zu zeigen, wie er Handlungskompetenz zurückgewinnen kann, wie er also z.B. mit Hilfe der Atmung die Schmerzen verringern oder seine Beweglichkeit verbessern kann (vgl. Kap. 9.1).

8.2.2 Prinzip Glaube

«So ihr Glauben habt..., so mögt ihr sagen zu diesem Berge: Hebe dich von hinnen dorthin! So wird er sich heben, und wird euch nichts unmöglich sein.» (Matth.17,20)

Im religiösen Krankheitsverständnis kann die Heilung nur von Gott kommen. «Wer sich auf Medikamente verläßt, ohne mit Gott, mit sich selbst, mit der Natur ins reine zu kommen, der wartet vergeblich auf Heilung.» (Allgeier 1996, S. 152). Der Natur wurde Heilkraft zugesprochen, weil sie sich im Gegensatz zum Menschen nicht gegen die göttliche Ordnung auflehnen kann und dadurch heilig geblieben ist.

Im abendländischen Verständnis bezieht sich der Glaube stets auf überirdische, transzendente Kräfte. Er enthält das Vertrauen auf ihre Macht und Hilfsbereitschaft. Demgegenüber hat Erich Fromm die Überzeugung vertreten, dass er sich ursprünglich auf den Besitz der Fähigkeit bezieht, den Kontakt zu seinen eigenen inneren Kräften zu finden, die sich als Denk-, Beobachtungs-, Urteils- und Liebesfähigkeit manifestieren. «Wir glauben an die Möglichkeiten anderer, unserer selbst und der Menschheit nur deshalb, weil wir das Wachstum unserer eigenen Möglichkeiten, die Realität des Wachsens und die Stärke unserer eigenen Vernunft und unserer Liebesfähigkeit in uns erfahren haben; und wir glauben nur insoweit daran, wie wir diese Erfahrung in uns selbst gemacht haben» (Fromm 1994, S.188). Aus dem Glauben heraus zu leben, bedeutet für Fromm, produktiv zu leben, in dem Sinne, dass man sich im Denken und Fühlen aktiv mit der Welt auseinander setzt. Der Glaube an die inneren Möglichkeiten des Wachstums bezieht sich primär auf die emotionalen und kognitiven Fähigkeiten, die sich auf der Basis des Atems entwickelt haben. Glaube ist somit letztlich das Vertrauen in sich selbst und das Entwicklungspotenzial des Atems. Er wurzelt im Kontakt mit sich selbst. Der Glaube wird irrational, wenn die eigenen Fähigkeiten auf eine irrationale Autorität projiziert werden, der man sich unterwirft.

Der Glaube unterscheidet sich von der Hoffnung dadurch, dass die Hoffnung den Akzent auf den Besitz von Fähigkeiten legt, während der Glaube auf dem Vertrauen basiert, dass man Zugang zu ihnen wiederfindet. Denn häufig geht den Kontakt zu den eigenen Fähigkeiten verloren, wenn man an sich selbst zweifelt. Glaube basiert auf dem Vertrauen, dass man aus eigener Kraft den Kontakt zu sich selbst wiederherstellen kann.

Der Philosoph Eugen Rosenstock-Huessy hat erkannt, dass der Glaube im freien Atem wurzelt. «Schnürt es mir die Kehle zu und kann ich nicht atmen, dann glaube ich nichts... Der Glaube ist krank, wenn uns der Atem ausgeht» (Rosenstock-Huessy 1991, S.29). Glaube heißt, etwas zur Verfügung zu haben, «was mir meinen Atem als Geist wiedergibt, der durch mich als Teil der begeisterten Kinder des Geistes hindurchbläst» (Rosenstock-Huessy 1991, S.33). Der Glaube bezieht sich offensichtlich auf die Kraft,

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den Atem zu reaktivieren, wenn er durch die Lebensumstände aus dem Rhythmus geraten ist. Wenn erkannt wird, dass die Kräfte der Erneuerung im eigenen Inneren schlummern, wird der Glaube abhängig von der Art des Umgangs mit sich selbst. «Wenn die ehemals auf einen persönlichen Gott projizierten Ziele in das eigene Innere zurückgenommen werden, werden wir in diesem Sinne im richtigen Handeln eins mit Gott. Liebe zu Gott kommt in jeder Handlung zum Ausdruck: Sie wird identisch mit Selbstliebe» (Fromm 1994, S.121). Es kann nun akzeptiert werden, dass der Glaube die diesseitige Fähigkeit ist, sich von der Selbstorganisation der Atmung leiten zu lassen. Diese Lebensauffassung wurde am prägnantesten von Laotse formuliert, für den Lebensklugheit darin bestand, im Einklang mit dem Tao zu leben. Das Tao wurde als der Inbegriff der inneren Kräfte verstanden, die sich aber sowohl der Kontrolle als auch der Definition entziehen2. Das Leben gelingt danach am besten, wenn man dem Lauf der Dinge geschickt und intelligent folgt und das eigene Leben als einen integralen Bestandteil des ganzen Weltprozesses ansieht.

Der Glaube kann <Berge versetzen>, wie es in der Bibel heißt, weil man dann im Einklang mit sich und den eigenen Fähigkeiten steht. Die innere Spaltung, die die Konzentration aller Kräfte auf einen Punkt verhindert, ist aufgehoben. Das bedeutet, dass man sein Verhältnis zur Welt auf eine Weise regulieren kann, dass man sich dabei wohlfühlt. Sicherlich stecken in vielen Berichten über Wunderheilungen durch den Glauben zweckbestimmte Übertreibungen, aber es ist zweifelsfrei, dass die Überzeugung vom Gelingen ungeahnte innere Kräfte mobilisieren kann. Die Projektion der eigenen Kräfte auf die Gestalt eines Heilers oder eines Gottes kann ein Weg sein, um die Selbstblockaden der inneren Kräfte zu überwinden3. Ähnlich wird der Glaube an die Heilkraft von Medikamenten wirksam, weil man bereit ist, auf Blockaden mit Muskelverspannungen zu verzichten. So wirken z.B. Placebos bei der Beteiligung an Medikamentexperimenten besser als bei normaler Anwendung.

Ähnlich wie die Hoffnung gedeiht das Vertrauen zu sich selbst nur in Beziehungen, in denen Kindern das Vertrauen vermittelt wurde, dass sie in der Lage sind, ihre Fähigkeiten selbständig zu entwickeln und autonom damit umzugehen. Wo ein Klima des Vertrauens fehlt und die Regeln des Zusammenlebens nur aus Angst vor Strafe, nicht aus Überzeugung eingehalten werden, kann sich der Glaube an sich selbst nicht entwickeln.

8.2.3 Prinzip Verantwortung

Wie oben dargestellt worden ist, hat sich letztlich jeder für sein Verhalten und für seine Krankheit mehr oder minder unbewusst selbst entschieden. Deshalb kann mit einigem Recht behauptet werden, dass man für die eigene Krankheit verantwortlich ist, sofern sie nicht auf einer Verletzung basiert. «Unsere <Verantwortung> liegt nicht in dem, was uns andere angetan haben, sondern in der Art und Weise, wie wir darauf reagiert, <geantwortet> haben» (Laskow 1995, S.68). Strauch stellt fest, dass die größte Barriere für das Wachstum die Verweigerung ist, die Verantwortung für sich zu übernehmen4.

Mit dem Begriff der Verantwortung wird meist großer Missbrauch getrieben. Im konventionellen Verständnis wird unterstellt, dass man ans Verantwortungsbewusstein appellieren kann, da verantwortliches Handeln Ausdruck der bewusst steuerbaren Kräfte

2 Vgl. Watts 1983

3 Deshalb legen viele Ärzte großen Wert darauf, dass die Patienten Vertrauen in ihre Heilkunst haben, da sie erfahren haben, dass dadurch ein heilungsfördemder Kontakt aufgebaut wird.

4 Strauch 1994, S. 238

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sei. Dies führt dazu, dass man sich für seine Krankheit als Ausdruck von mangelnder Selbstbeherrschung oder Nachlässigkeit schämt und dass man sich selbst verurteilt, wenn man es nicht schafft, die Krankheit aus eigener Kraft zu überwinden. Der Effekt ist, dass man sich durch den unreflektierten Begriff der Verantwortung noch tiefer in die Krankheit hinein verstrickt und sich die Last der Krankheit allein aufbürdet, anstatt sie auch an die Gemeinschaft zurückzugeben.

Im konventionellen Denken wird unterstellt, dass die die Übernahme von Verantwortung das Ergebnis eines rationalen Denk- und Entscheidungsprozesses sei und dass man sich deshalb für sie entscheiden könne. Ganz offensichtlich wird der Mensch damit überfordert. Es wird verschwiegen, unter welchen Voraussetzungen allein die Verantwortung übernommen werden kann. Denn diese Übernahme setzt bestimmte Fähigkeiten voraus, die nicht als existent unterstellt werden dürfen, sondern die sich erst in einem langwierigen Bildungsprozess entwickeln. Der Begriff des Verantwortungsbewusstseins verweist darauf, dass man sich dabei aller körperlichen und geistigen Antworten bewusst ist, die sich spontan bei einem Kontakt mit einem Menschen oder sonstigem Objekt einstellen, dass man also in hohem Maße resonanzfähig ist. Verantwortung setzt also das Bewusstsein der Abhängigkeit von früheren Erfahrungen, von eigenen Erwartungen und Bedürfnissen u.a. voraus. Sie verlangt ein hohes Maß an Achtsamkeit und Sensibilität für den eigenen Körper und die Bereitschaft, die <Sprache der Symptome> ernst zu nehmen5. Sie schließt auch das Bewusstsein mit ein, dass man seine Erfahrungen selbst konstruiert. Daraus folgt, dass die Verantwortung ein spontaner Vorgang ist, der sich erst einstellt, wenn alle Empfindungen und Erfahrungen zugelassen werden können.

Die für die Verantwortung erforderliche Sensibilität bezieht sich vor allem auf die Emotionen. Die persönlichen emotionalen Probleme können nur angegangen werden, wenn ein direkter Kontakt mit den Gefühlen gefunden wird. Welche Gefühle habe ich gegenwärtig? Was hat sie ausgelöst? Welche Muskeln verspanne ich, wenn ich von einem bestimmten Gefühl beherrscht werde? Welche Gefühle hatte ich in einer früheren Situation, hatte aber nicht den Mut, sie auszudrücken? Inwieweit habe ich Interesse, mich mit den Gefühlen der Menschen in meiner sozialen Umwelt zu beschäftigen? Habe ich Hemmungen, mit anderen in Kontakt zu kommen? Wenn man sich immer wieder befragt, ob man mit bestimmten Gefühlen eine Beziehung vermeidet, gelangt man zu einem ehrlichen Kontakt mit sich selbst. Bei Erkrankungen bedeutet die Aufforderung, Verantwortung für sich zu übernehmen, dass man sich fragt, was man z.B. getan hat mit der Folge, dass man Kopfschmerzen bekommen hat. Es geht darum, eine Antwort zu finden, wie man sich den Schmerz antut, d.h. mit welchen Muskelverspannungen die Schmerzen hervorgerufen werden.

Wenn emotionale Autonomie zu keimen beginnt, wird klar, welche Strategien bisher benutzt worden sind, um die Verantwortung für das eigene Verhalten abzuwälzen. Insbesondere tritt die zentrale Strategie der Projektion ins Bewusstsein. Der Mechanismus der Projektion lässt den Eindruck entstehen, als wären für die eigenen Probleme die anderen verantwortlich. Die eigene Entscheidungsfähigkeit wird auf den anderen projiziert. Damit wird die Angst vor der Entscheidung verleugnet. Dies ist der Mechanismus der Sucht. Indem man sich anderen Menschen oder von Stoffen abhängig macht, kann scheinbar die Verantwortung für die eigene Entscheidung abgetreten werden. Aus dieser

5 Vgl. Neubeck l992, S.130ff

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Sicht erscheint auch das objektivistische Weltverständnis, in dem die Welt als unabhängig von den subjektiven Wahrnehmungsmechanismen gilt, als Ausdruck projektiven Verhaltens. Auch der Begriff der Seele hat eine entlastende Funktion, da ihr die Verantwortlichkeit für die eigenen Gefühle zugeschoben werden kann. Die Kernaufgabe der Sensibilitätsschulung ist deshalb, die unbewussten Projektionen aufzudecken, mit denen das Bewusstsein für die eigenen Entscheidungen abgewehrt wird.

Verantwortlichkeit ist letztlich ein utopischer Begriff, da sie ein Maximum an Bewusstheit voraussetzt. Sie basiert auf einem sensiblen Atembewusstsein, das nichts Unintegriertes und Abgespaltenes zulässt und das die Kraft gibt, sich mit den eigenen Ängsten zu konfrontieren. Insofern kann umso mehr Verantwortung übernommen werden, je besser die Kommunikationsfähigkeiten und Selbstheilungskräfte entfaltet werden können. Man ist sich dann der eigenen Antworten bewusst und kann zu ihnen als einem Ausdruck der ganzen Person stehen.

Das Besondere am Verantwortungsbewusstsein besteht darin, dass es auch ansprechbar ist, wenn sie partiell eingeschränkt ist. Denn die Erinnerung an die selbstverschuldete Blockierung, die zu dem unverantwortlichen Verhalten geführt hat, kann immer geweckt werden. Schließlich verfügt jeder Mensch über das Potenzial, aktiv die Sensibilität für die körperlichen Prozesse zu schulen. Verantwortlichkeit bildet sich heraus, wenn die soziale Gemeinschaft ihre Mitglieder so ausbildet, dass jeder distanziert und bewusst mit den eigenen Gefühlen umgehen kann. Die Übernahme von Verantwortung ist dann identisch mit persönlichem Wachstum6.

8.2.4 Prinzip Vergebung

Häufig wird die Vergebung als der entscheidende Weg dargestellt, um Gesundheit und psychische Ausgeglichenheit zu erlangen. Dabei wird unterstellt, dass die Vergebung ein reiner Entscheidungsakt sei und dass es jederzeit möglich wäre, sich damit von Groll und Hass zu befreien. So wird oft bei Erkrankungen empfohlen, um Vergebung zu bitten und sich selbst zu vergeben. «Laß diese Vergebung Deinen ganzen Körper erfüllen. Fühle die Wärme und Fürsorge, der es um Dein eigenes Wohlergehen zu tun ist. Betrachte Dich so, als wärst Du selbst Dein einziges Kind, und laß Dich in dieser Barmherzigkeit und Güte baden. Laß Dich mit Liebe beschenken. Erkenne, daß die Vergebung immer darauf wartet, daß Du in Dein Herz zurückkehrst» (Levine 1992,

Das Thema Vergebung ist ein verwirrender Bereich, da Unklarheit besteht, ob man dabei einem moralischen Imperativ befolgen muss oder ob man sich den eigenen Gefühlen überlassen darf. Denn wenn man nach dem eigenen Gefühl vorgeht, scheint Vergebung nicht in jedem Fall gerechtfertigt zu sein, wie z.B. bei einer ungerechten Behandlung. Kann Vergebung gelingen, wenn noch Gefühle des Grolls und Ärger unausgelebt sind?

Vergebung wird meist so verstanden, dass dabei die Vorstellungen (Überzeugungen, Werturteile, Anschauungen) losgelassen werden, mit denen anderen Menschen Vorwürfe gemacht werden und damit eine Trennwand zu ihnen aufgebaut wurde. Fixierung von Vorstellungen bedeutet, dass die Personen, von denen eine Einschränkung ausgeht und vor denen man sich zu schützen meint, verinnerlicht werden. Dadurch ist der Abwehrkampf gegen die Einschränkung allerdings nicht beendet, sondern wird nur aus dem Blickfeld des Bewusstseins gerückt. Insofern setzt das Loslassen voraus, dass die Schuldzuweisungen nicht bloß erkannt und aufgelöst werden, sondern dass ein aktiver

6 Strauch 1994, S. 238

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Prozess begonnen wird, in dem die Auseinandersetzung mit den einschränkenden Personen zu Ende geführt wird, so dass man sich von ihrer unbewussten inneren Herrschaft befreien kann. Es muss das Bewusstsein entstehen, dass man sich dem anderen unterworfen hat, um damit einer früheren Beziehungsperson zu helfen, mit der man noch verstrickt ist. Nur dann kann dauerhaft die <Energie> freigesetzt werden, die von der Wut über Verletzungen oder von enttäuschten Gefühlen festgehalten wird.

Die Kontaktstörung ist schließlich dadurch entstanden, dass man sich dafür entschieden hat, sich von den Personen, von denen die Verletzung oder Einschränkung ausging, innerlich zu trennen. Dadurch hat man auch den Kontakt zu sich selbst verloren und den Nährboden für Krankheiten bereitet. Es muss am eigenen Leibe gespürt werden, dass nicht der andere allein schuldig ist, sondern man auch an sich selbst schuldig geworden ist, da man dem anderen das Recht auf Achtung, Anerkennung und Liebe entzogen hat. Statt vom anderen zu verlangen, sich zu verändern und sich zu entschuldigen, steht einem es an, sich selbst zu verändern. Vergebung bedeutet im Grunde, sich selbst zu vergeben.

Solange der Kontakt blockiert ist, ist die Empfehlung, die trennende Vorstellung loszulassen, wirkungslos. Sie verwechselt die Ursache mit der Wirkung. Vergebung muss vielmehr als Aufgabe verstanden werden, sich mit den Gefühlen des Grolls und des Hasses zu konfrontieren.

Negative Überzeugungen können sich erst auflösen, wenn man in den Kontakt mit den trennenden Gefühlen gegangen ist. Vergebung entwickelt ihre heilende Kraft, wenn die zurückgehaltene Wut in die Beziehung eingebracht werden kann.

Vergebung gibt dem anderen zu erkennen, dass man bereit ist, die trennenden Vorwürfe aufzugeben. Sie ist ein Versprechen, das eigentlich erst gegeben werden kann, wenn der Prozess des Loslassens bereits in Gang gekommen ist, weil man sich aktiv um die Lösung der Konflikte bemüht. Der Versöhnungsprozess wird gefördert, wenn der Partner die Auseinandersetzung aufnimmt und die Bereitschaft erkennen lässt, sein Verhalten künftig zu ändern. Demgegenüber führt die konventionell erzwungene Vergebung, die sich um das ehrliche Eingeständnis der Wut und die ehrliche Auseinandersetzung drückt, noch tiefer in die Verspannungen hinein. Wenn Vergebung zum Ersatz für aktive Konfliktbewältigung wird, verliert sie ihre heilende Potenz. Vergebung wird dann zur Ideologie, zum mechanischen Akt der verordneten Liebe.

Aus der Sicht der Atemmembran ist Loslassen ein Prozess, bei dem die körperliche Fixierung von Vorstellungen aufgehoben wird. Dies setzt voraus, dass der Organismus die Überzeugung gewonnen hat, dass die muskuläre Schutzmaßnahme nicht länger erforderlich ist, da die Wut ausgedrückt werden kann und die Emotionen nicht mehr festgehalten zu werden brauchen. Wenn der freie Fluss der Vorstellungen, der sich nach den jeweiligen Handlungserfordernissen richtet, zugelassen werden kann, wird sich die Vergebung mehr oder minder spontan einstellen und die verlorene Selbstliebe erneuern.

8.2.5 Prinzip Akzeptanz

«Wer sich ablehnt, kann sich nicht ändern.»

Aus der Erfahrung, dass häufig der Genesungsprozess damit zusammengeht, dass der Patient sein bisher negatives Verhältnis zur Krankheit in eine akzeptierendes verändert, wird oft die Empfehlung abgeleitet, dass man seine Krankheit akzeptieren müsse. In die

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selbe Richtung geht die Aufforderung, mit sich Frieden zu schließen, sich selbst zu lieben, mit sich in Kontakt zu kommen oder für sich selbst zu sorgen.

Bei dem Faktor Akzeptanz wird oft der gleiche Denkfehler wie bei der Verantwortung gemacht, dass er als ein moralisches Prinzip missverstanden wird. So wird z.B. gefordert, dass der Patient Mitverantwortung für den Gesundungsprozess übernehmen müsse, indem er sich um die Lösung seiner psychischen Beziehungskonflikte kümmert. Akzeptanz kann man aber nicht sich selbst verordnen. Sie stellt sich als Ergebnis eines inneren Transformationsprozesses ein, nachdem der Widerstand gegen die inneren Introjekte aufgegeben werden kann, weil man die Kraft gewonnen hat, sich ihren Ansprüchen zu stellen.

Eine Sichtweise, die dem Patienten einen Einfluss auf die Eindämmung der Krankheit einräumt, belastet ihn indirekt mit Mitschuld, wenn die Heilung misslingt. Sie weckt die Angst vor dem Versagen und verstärkt damit den verhängnisvollen Kreislauf von Angst und Verspannung. Wahrscheinlich ist das religiöse Krankheitsverständnis, dass die Krankheiten von Gott geschickt werden, eine angemessenere Vorstellung als das psychosomatische Krankheitsverständnis, da es den Kranken von jeder Mitschuld entlastet. Der religiöse Glaube macht es möglich, die eigenen Entscheidungen auf eine höhere Instanz zu projizieren und sich mit der angeblich göttlichen Entscheidung von der eigenen Verantwortung zu entlasten. Sicherlich hat auch der Schicksalsglaube die Funktion, die eigenen somatischen Entscheidungen zu akzeptieren und den Kampf gegen die Krankheit aufzugeben. Darauf basiert ohne Zweifel auch das tiefe Einverständnis der meisten Menschen mit der naturwissenschaftlichen Medizin, auch wenn sie als seelenlos kritisiert wird. Denn solche Vorstellungen erleichtern es, die Krankheit zu akzeptieren. Voraussetzung ist natürlich, dass die Krankheit nicht wiederum mit bedrohlichen Metaphern beladen wird (Krebs als Krankheit zum Tode u.ä.), so dass dadurch erneut ein Abwehrkampf provoziert wird.

Die Selbstakzeptanz unterstützt den Heilungsprozess, weil sie bedeutet, dass der innere Kampf gegen die von anderen Menschen ausgehenden Verletzungen und damit der Kampf gegen die verinnerlichten Personen beendet wird. Dann können die damit verbundenen Verspannungen der Atemmembran losgelassen werden. Der Kranke hört auf, sich gegen seine inneren Impulse - Wut, Schuldgefühl oder Trauer - zu stellen. Wenn er sich mit ihnen identifiziert, hebt er den inneren Zwiespalt auf, der zu der Anspannung des Atems geführt hat. Die Beobachtung, dass Krebskranke eine größere Chance auf Heilung haben, wenn sie Frieden mit sich geschlossen haben, demonstriert die heilende Wirkung der Akzeptanz7.

Die Voraussetzung für ein Akzeptieren der Krankheit besteht darin, dass gelernt wird, seinen eigenen inneren Impulsen zu folgen. Die Krankheit zu akzeptieren setzt also im Grunde voraus, dass man sich selbst akzeptieren kann und noch genügend Restselbstvertrauen hat, den Teil der Selbstakzeptanz, den man wie die Krankheit signalisiert, verloren hat, aus eigener Kraft zurückzugewinnen. Dann kann man auch den eigenen Anteil an der Entstehung der Erkrankung annehmen, ohne sich dadurch in Schuldgefühle zu verstricken. Wer sich aus innerer Unsicherheit von äußeren Erwartungen abhängig macht und sein Leben weitgehend von anderen führen lässt, dem fehlt die Fähigkeit zur Selbstakzeptanz.

7 Vgl. Siegel 1988, S. 154

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Zuweilen wird gefordert, dass die Krankheit (z.B. der Krebs) geliebt werden müsse, wenn ein Heilungsprozess eingeleitet werden soll8. Das bedeutet im Grunde nicht anderes, als dass man in Kontakt mit den Emotionen gehen und akzeptieren soll, dass man sich selbst für den Krebs entschieden hat. Es darf aber nicht vergessen werden, dass die Gefühle, die den Anstoß zur Krankheit gegeben haben, erst angenommen werden können, wenn man die Erfahrung macht, dass man vom sozialen Umfeld angenommen wird. Selbstakzeptanz setzt immer Akzeptanz durch die anderen voraus.

8.2.6 Prinzip Trauerarbeit

«Trauer ist das heilende Gefühl.» (John Bradshaw)

Da die meisten Kontaktstörungen und somit die meisten Krankheiten mit Verlusterfahrungen verbunden sind, ist die Fähigkeit zur Trauerarbeit eine wesentliche Voraussetzung für den Heilungsprozess. In der Trauer laufen die oben erwähnten Heilfaktoren der Akzeptanz, Vergebung und Verantwortung zusammen. Sie zielen alle darauf ab, dass die an andere Menschen oder Dinge gebundenen Vorstellungen losgelassen werden (vgl. Kap. 4.4.1).

Der tiefe Schmerz der Trauer erscheint oft als so unerträglich, dass er abgewehrt wird. Viele suchen die Schuld für die eigenen Schmerzen beim anderen, weil sie ihnen entrinnen wollen. Dahinter steht die Angst vor der Veränderung, vor dem Unbekannten, letztlich vor dem Tod. Wenn bei den alltäglichen Verlusterfahrungen nie Trauer zugelassen wird, kann sich die Trauer schließlich zur manifesten Depression akkumulieren. Trauer kann chronisch werden, wenn die Identifikation mit dem verlorenen Partner so stark war, dass darunter die Entwicklung emotionaler Autonomie gelitten hat. Dies zeigt sich z.B. daran, dass man auf den verlorenen Menschen böse ist. Die Vorstellung, allein leben zu müssen, weckt tiefe Ängste. Der Verlust des Partners bedeutet dann einen völligen Verlust der inneren Orientierung und damit eine Zerstörung der eigenen Identität. Die Angst vor der eigenen Autonomie verhindert, dass der verlorene Partner losgelassen wird. Der äußere Verlust führt zu innerem Kontrollverlust. Wird die Trauer unterdrückt, bleibt man innerlich an den alten Partner gebunden und lähmt sich mit Vorwürfen an sich und den anderen.

Die Angst vor der Trauer ist identisch mit der Angst davor, dass dysfunktional gewordene Vorstellungen aufgegeben werden müssen, und ist immer mit Rückzug verbunden. Das vorübergehende Niederfallen in der Trauer kann zum chronischen Zusammenbruch der Depression führen, vor allem, wenn man bereits bei den alltäglichen Verlusterfahrungen keine Trauer zulassen konnte. Der Zusammenbruch verschärft sich, wenn die fehlende Selbststeuerung nicht durch Hilfe von Verwandten und Freunden kompensiert wird9.

Die Unfähigkeit zur Trauer führt in einen Teufelskreis, indem sich die Verpanzerung des Körpers weiter verstärkt. Es wäre deshalb dringend erforderlich, ältere Rituale wieder zu beleben, bei denen sich die Trauernden über längere Zeit, von allen Verpflichtungen befreit, zurückziehen und sich den Trauergefühlen überlassen können. Dadurch kann vermieden werden, dass die spontane Trauerreaktion bei einem Verlustereignis unterdrückt und die unverarbeitete Trauer aus älteren Verlusterfahrungen weiter verstärkt wird.

8 Vgl. Weil 1997, S.151

9 Bacque 1996, S.141

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Trauer hat oft den Charakter von Selbstmitleid. Beim Selbstmitleid wird das Objekt der Trauer zur Abwehr von als zu intensiv empfundener Trauer nach innen genommen, mit der Folge, dass man sich selbst betrauert. Die Vorwürfe gegenüber dem anderen verwandeln sich in Selbstvorwürfe. Selbstmitleid ist so die Folge vermiedener Trauerarbeit. Es ist deshalb nicht nur völlig unproduktiv, sondern macht auch die Trauer chronisch10 11.

Die Trauer reagiert auf alles, was vom Leben trennt. Deshalb ist die Heilung jeder Trauer unerlässlich, um im Kontakt mit dem Leben zu bleiben. Trauerarbeit besteht darin, dass die Trauergefühle akzeptiert werden und ihre Bedeutung für das eigene Leben ergründet wird. Es kann hilfreich sein, in die Trauer hineinzuatmen, um die Trauer zu verstehen. Trauerarbeit kann nur gelingen, wenn auf Schuldzuweisungen verzichtet wird. Die Überwindung gelingt leichter, wenn man gute Erinnerungen an die verlorene Person zurückholt. «Die Trauer erscheint oft unermeßlich, doch wenn man ihr nachgibt, hört sie schnell auf und man fühlt sich frei für Neues. ... Es ist vor allem die Trauer für das Versäumte, das nicht mehr nachzuholen ist, was uns so schmerzt. Doch zeigt die Erfahrung, wenn man der Trauer und dem Schmerz nachgibt, hört das Gefühl des Verlustes auf» (Hellinger 1996, S. 175). Die Trauer ist überwunden, wenn die Erinnerung an den Verlust keine Trauerreaktion und keine Tränen mehr auslöst.

Die Verarbeitung von Enttäuschungen ist eine leichte Form von Trauerarbeit. Der Begriff der Enttäuschung macht klar, dass man von Erwartungen Abschied nehmen muss, die sich als Täuschung herausgestellt haben. Die Intensität der Identifikation mit den Erwartungen bestimmt das Ausmaß der Enttäuschung.

Die durchlittene Trauer macht fähig, den Verlust zu akzeptieren. Wenn die damit verbundenen Verspannungen entfallen, können auch die daraus entstandenen Krankheiten ausheilen. Die Fähigkeit zur Trauerarbeit ist deshalb ein zentraler Heilfaktor.

8.2.7 Das befreiende Weinen

Weinen ist ein spezifisch menschlicher Ausdruck für Schmerz und Trauer, aber auch für unerwartete Freude. Es kann auch als Abwehrmechanismus für andere Gefühl eingesetzt werden11. So ist Weinen häufig ein sozial annehmbareres Ausdrucksmittel für Wut und Zorn. Weinen ist immer mit einem Zusammenbruch der Beherrschung und der inneren Distanz verbunden. Es ist unmöglich, ohne Gefühl zu weinen.

Die Hauptfunktion des Weinens besteht in der Befreiung von inneren Spannungen, die bei Trauer, Freude, Sexualität oder Wut auftreten. Bei kleinen Kindern ist Weinen die einzige Form der Spannungsabfuhr, da die anderen Formen wie Ärger, Vermeidung oder Lachen erst im Laufe der Kindheit gelernt werden. Während die Spannungen beim Lachen angenehm und anregend sind, sind sie beim Weinen unangenehm,

werden jedoch durch einen ähnlichen Mechanismus ausgelöst und führen schließlich zu einem Ruhezustand12. Das Weinen scheint damit ein allgemeiner Entspannungsmechanismus zu sein, der nicht nur für die Trauer reserviert ist. Nach der Auffassung von Hellinger ist Weinen demütig. Beim Weinen wird niemand angegriffen. Es werden keine Vorwürfe erhoben, die im Grunde immer eine Anmaßung sind. Das Weinen drückt aus, dass man das Erlittene annimmt13.

10 Vgl. Weber 1994, S. 266

11 Baker 1980, S.205

12 Gharote 1997, S. 29

13 Hellinger 1997, S. 158

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Weinen ist ein Ausatemgeschehen. Die Atmung zeichnet sich durch eine kurze und verstärkte Einatmung und ein ausgiebiges und verlängertes, stoßweises Ausatmen gegen einen Widerstand aus14. Häufig wird noch die Stimme eingesetzt, so dass es zu einem Schluchzen kommt, das den ganzen Körper erschüttert. Das Schluchzen, das durch krampfartiges Zusammenziehen von Kehlkopf und Zwerchfell zu Stande kommt, ist ein starker Mechanismus der Spannungsabfuhr. Da durch die starken Erschütterungen vor allem die Verspannungen im Brustkorb aufgelöst werden, fühlt man sich danach entspannter. Darauf basiert das Gefühl der Reinigung bzw. der Katharsis beim Weinen.

Das in Gruppenübungen gern eingesetzte ganzkörperliche Zittern simuliert den entspannenden Effekt des Weinens, ohne aber seine Wirkung erreichen zu können.

Tränen sind für die emotionale Erleichterung nicht unbedingt erforderlich. Sie haben wahrscheinlich die Funktion, die Stresshormone, mit denen der Körper überschwemmt ist, schnell abzuleiten. Natürlich haben sie auch die soziale Funktion, den anderen unmissverständlich den eigenen inneren Zustand mitzuteilen und ihr Mitfühlen anzuregen.

Unfähigkeit zum Weinen hat ihren Ursprung in unbewusster Rigidität, die eine tiefe Ausatmung blockiert. Neben dem Zwerchfell sind meistens auch die Augenringmuskeln und die Mundmuskulatur stillgestellt, um das Schluchzen zu kontrollieren und das Schreien zu unterdrücken15. Der Unfähigkeit zum Weinen liegen stets unterdrückte Konflikte zu Grunde.

8.2.8 Prinzip Lachen

Schon die Bibel wusste, das ein fröhliches Herz der beste Arzt ist. Das Lachen gilt therapeutisch als ein äußerst wirksames Gefühl. In zahlreichen Büchern wird die Heilkraft des Lachens beschworen16. So hat z.B. Cousins die Heilung von einer schweren Krankheit darauf zurückgeführt, dass er sich täglich zum Lachen gebracht hat17r

In der Tat ist das Lachen ebenso wie das Weinen ein Atemtraining, da das Zwerchfell durch die rhythmischen Staccati in der Ausatmung heftig erschüttert wird und dadurch seine Spannkraft verbessert wird. Die Wirkungen des Lachens stehen im Zusammenhang mit seinem typischen Atemmuster, bei dem wie bei keinem anderem Gefühl die Ausatmung eindeutig über die Einatmung überwiegt. Einer kurzen Einatmung folgt eine lange, forcierte Ausatmung, ähnlich dem Weinen. Auffallend sind die Atemstöße (Sac-caden) in der Ausatmung, meist bei geöffnetem Mund und charakteristischer Mimik.

Die heftigen Zwerchfellerschütterungen bewirken eine nachhaltige Entspannung des ganzen Körpers. Es werden ca. 240 der 600 Muskeln aktiviert und dadurch eine umfassende Entspannungsreaktion ausgelöst. Außerdem wird die Endorphinproduktion im Gehirn stimuliert. Insgesamt steigert das Lachen die Atmungsaktivität, den Sauerstoffaustausch und die Herzfrequenz. Deshalb kann das Lachen zu einem Ausgleich von emotionalen Spannungen führen und einen Zustand inneren Friedens, der Ruhe und des Wohlseins herbeiführen18. Das Lachen ist offensichtlich das Gegenmittel zur Wut, bei der sich die Zwerchfell-, Bauch- und Rückenmuskeln verspannen.

Lachen ist aber nur gesund, wenn der Impuls zum Lachen von innen kommt. Im Gegen

14 Gharote, 1997, S. 28

15 Keleman 1992, S. 65

16 Z.B. Titze 1995

17 Cousins 1996

18 Gharote 1997, S. 29

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satz zum Lächeln, das bewusst eingesetzt werden kann, ist das Lachen ein rein unwillkürlicher Vorgang. Wenn man Distanz zu sich gewonnen hat und die inneren Impulse zulassen kann, kann man spontan über sich selbst lachen; aber durch ein La-chen-über-sich-selbst kann keine innere Distanz erzeugt werden. Insofern hat das angestrengte Lachen nach Witzen u.ä. nur einen mechanischen Wert.

Das Lachen geht keineswegs aus dem Lächeln hervor, wie es üblicherweise dargestellt wird. Beide Gefühle haben völlig unterschiedliche Funktionen. Das Lächeln hat die Funktion, sich für einen guten Kontakt einzusetzen, und gehört deshalb zur Emotion der Freude, wie oben dargestellt wurde (vgl. Kap. 4.1). Demgegenüber hat das Lachen die Funktion, Spannungen abzubauen, die auf Grund von falschen Erwartungen entstanden sind. Dieser Unterschied zeigt sich daran, dass sich das Atemmuster des Lachens deutlich von dem des Lächelns unterscheidet. Während das Lachen eine heftige, stoßweise Ausatmung zeigt, weist das Lächeln fast keine Veränderung gegenüber der Ruheatmung auf.

Die entspannende Wirkung des Lachens geht wahrscheinlich darauf zurück, dass es Ausdruck spontaner Wut ist und sich gegen einschränkende und verletzende Lebensbedingungen wendet. Das Lachen, insbesondere der Witz, ermöglicht den Ausdruck aggressiver oder sexueller Tendenzen, er bietet ihnen eine Verkleidung und versetzt sie so in die Lage, die Kontrollen des Ichs und des Gewissens zu umgehen. Lachen ist meistens ein Auslachen derer, die Verbote verhängen. Das Lachen kann aber auch bei psychischen Störungen sowie Kitzelempfindungen auftreten und hat hier die Funktion, durch sie ausgelöste innere Spannungen abzubauen.

Es wird oft festgestellt, dass Weinen und Lachen physiologisch nicht sehr verschieden sind. Beides sind unwillkürliche konvulsivische Reaktionen, bei denen die Stimme eingesetzt und dadurch die Atmung angeregt wird. Beide weisen eine stoßweise Ausatmung auf. Sie entziehen sich der Kontrolle und haben einen natürlichen Sättigungspunkt. Ihre funktionale Gemeinsamkeit besteht darin, dass sie Verspannungen des Zwerchfells aufweichen und die Chance eröffnen, fixierte Vorstellungen und Gewohnheiten neu zu ordnen. Deshalb können sich beide Gefühle gegenseitig ergänzen. Ebenso ist ein plötzlicher Übergang vom Weinen zum Lachen und umgekehrt zu beobachten. Der Unterschied zwischen Lachen und Weinen ist primär auf der Ebene der Vorstellungen festzumachen. Im Falle des Lachens erfolgt eine Kritik an einschränkenden Normen; im Falle des Weinens wird der Verlust von gewohnten Bindungen betrauert.

8.2.9 Prinzip Entspannung

Viele Therapieformen knüpfen ihr Heilungsversprechen daran, dass die Selbsthilfekräfte durch tiefe Entspannung geweckt werden (z.B. Imaginationstechnik, Unterwassermassage Watsu u.a.). Allerdings ist der Entspannungsbegriff sehr irreführend. Er enthält die problematische

Vorstellung, dass das Erregungsniveau herabgesetzt und der Patient praktisch ruhig gestellt werden soll. Die negative Bestimmung des Entspannungszieles, Spannungen abzubauen, wird häufig so missverstanden, dass auch die ekstatische Erregung, die mit der Entspannung der Muskeln einhergeht, abgewehrt werden soll. In physiologischer Hinsicht ist Entspannung aber kein Freiwerden von Spannungen, sondern nur eine Herabsetzung der nervlichen Erregung auf das Niveau, das für die freie Reagibilität des Atems, die Ausbreitung der Pulsation und für die Arbeitsweise des parasympathischen

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Nervensystems optimal ist. Dann führt Entspannung zu einer umfassenden Veränderung des Körpergefühls, so dass alle Bewegungen aus der Leichtigkeit kommen, weil sie vom Atem und von der Lust getragen werden19. Wenn die Entspannung als Befreiung von Verhärtungen der Atemmembran verstanden wird, kann eher vermieden werden, Entspannung als mechanischen Vorgang misszuverstehen.

Die meisten Entspannungstechniken (Imagination, Meditation, Autosuggestion, Biofeedback, Selbsthypnose u.a.) machen den Fehler, Entspannung ausschließlich im isolierten Schutzraum des Rückzugs einzuüben. Solche Rituale haben ohne Zweifel großen Nutzen, wenn man sich kurzfristig regenerieren will. Sie können aber kaum bewirken, dass man sich künftig in belastenden Situationen weniger erregt und verspannt. Mit der bloßen Entspannung können die Schmerzen der verspannten Muskeln nicht beseitigt werden. Die technische Entspannung führt nicht zur Lebenskunst, die darin besteht, in allen Situation nur so viel Anspannung zuzulassen, wie für die beabsichtigten Aktionen erforderlich ist.

Entspannung führt nur dann zu mehr Ausgeglichenheit, wenn sie die Resultante der oben aufgeführten subjektiven Bemühungen um Vergebung, Akzeptanz und Selbstverantwortung ist. Dies wird zweifellos im Zustand tiefer Entspannung erleichtert20. Die Entspannung kann aber ihr heilendes Potenzial nur entfalten, wenn die Bereitschaft und die Kraft vorhanden sind, sich mit den eigenen Ängsten zu beschäftigen. Das bedeutet, dass die emotionalen Regungen, die sich in der entspannten Situation in den Vordergrund des Bewusstseins schieben, als eine Einladung zum inneren Dialog oder zur Gesprächstherapie angenommen werden. Jede Situation, in der man sich unbehaglich gefühlt hat, sollte zum Anlass genommen werden, sich im inneren Dialog mit den inneren Introjekten zu konfrontieren. Entspannungsarbeit muss deshalb immer mit Methoden verbunden werden, die auch die Kontakt- und Konfliktbewältigungsfähigkeit verbessern.

Die heilende Wirkung wirklicher Entspannung basiert darauf, dass sich die Verhärtungen der Atemmembran auflösen, so dass der Atem frei schwingen und dementsprechend ein offener Austausch mit der Umwelt aufgenommen werden kann. Auf diese Weise wird der Zugang zu den eigenen Ressourcen geöffnet, sich mit den eigenen Problemen zu konfrontieren, und die Hoffnung geweckt, sie bewältigen zu können. Erinnerungen an traumatische, noch unverarbeitete Situationen können auftauchen. Ebenso kann die stärkende Erinnerung an gut bewältigte Situationen kommen. Wenn der Organismus lernt, nach produktiven Lösungen für die persönlichen Konflikte zu suchen, wird die Selbstregulation des Atems auch in kritischen Handlungssituationen funktionieren. Entspannung kann so der erste Schritt aus der Hilflosigkeit heraus sein.

Vermutlich beruht die heilende Wirkung der Entspannung darauf, dass sich in der Ruhe der Entspannung die Atempause nach der Ausatmung einstellt, die im hektischen Alltagsatem meistens fehlt. Der Atem hat dann einen völlig gelösten, leichten und mühelosen Charakter. Das Körpergefühl ändert sich radikal. Man muss die Atempause erfahren haben, um diese Aussagen nachvollziehen zu können.

In der Literatur wird die Atempause häufig mystifiziert. Sie erscheint als die Quelle

19 Ich habe deshalb den Eindruck, dass die eigentliche Funktion des Entspannungsbegriffs darin besteht, die Wahrnehmung der ekstatischen Reaktion zu verhindern.

20 Vgl. Neubeckl992, S.265ff. (Methode des sozial-intuitiven Atems)

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kreativer Energie für den Wandel21. Die Atempause «wird als der verhaltene, innerliche Teil des Atemvorgangs erlebt, in dem sich der Neubeginn vorbereitet» (Jacobs 1985, S.195). «The pause is a core, a center of power, a source that nourishes and su-stains. I shall call it the unconscious, spiritual seif. To find one’s true <self> is to be able to return to this original state, to return to the promising silence» (Johnson 1981, S.13). Für Dürckheim kann die Atempause, in der Bruchteil einer Sekunde, «eine Endlosigkeit erschütternder Begegnung mit den Mächten der Tiefe sein, mit den dunklen sowohl wie mit den lichten, aber auch die Erfahrung einer kosmischen Kraft, einer funkelnden Fülle aus unendlichen Weiten» (Dürckheim 1994, S.161). Da die Atempause das Kennzeichen des gelösten Atems ist, beziehen sich die Theorien über die Bedeutung der Atempause im Grunde auf den Zustand des gelösten Atems.

Physiologisch betrachtet findet in der Atempause eine Erholung des Zwerchfells statt. Alle während der Atmung beanspruchten Muskeln können sich völlig entspannen. Im Zustand der absoluten Ruhe kann der Organismus seine Kräfte optimal erneuern. Deshalb kann er sich in der folgenden Einatmung allen Reizen neu öffnen und einen Neubeginn wagen. Die Kreativität verdankt sich deshalb nicht der Atempause, sondern dem gelösten Atem.

Vermutlich schwingt in jeder Atempause die Erinnerung an den Zustand im Mutterbauch mit. Dies ist ein Zustand der absoluten Geborgenheit und Verbundenheit, der in alle Vorstellungen vom Paradies einfließt. Hier wurzelt die leibliche Erinnerung an das ursprüngliche Einssein mit der Natur, das <oceanische Gefühl>, von dem Sigmund Freud in seinem Aufsatz <Unbehagen in der Kultur> sprach22. In vielen esoterischen Ritualen wird bewusst versucht, die Erinnerung an diesen Zustand zu wecken. So wird z.B. im Taoismus dem Nabelzentrum eine hohe Bedeutung bei der Regeneration der Energie zugesprochen. In der meditativen Versenkung auf diesen Punkt unterhalb des Nabels wird man in den Zustand tiefer Ruhe und Ausgeglichenheit versetzt, wie man sich vielleicht als Fötus empfunden hat.

8.2.10 Lebenswille

Patienten, die kämpferisch mit ihrer Krankheit ringen, die hartnäckig nach für sie angemessenen Heilungswegen suchen, die ein unerschütterliches Vertrauen in ihre Kräfte zur Besiegung der Krankheit u.a. haben, wird im Allgemeinen eine gute Prognose gegeben. Ihnen wird ein starker Lebenswille zugeschrieben. Er ist ohne Zweifel eine wichtige Ressource für die Genesung. Aber er ist kein eigenständiger Faktor, auf dessen Stärke vom Einzelnen Einfluss genommen werden kann. Er umfasst vielmehr die Gesamtheit der gelernten Fähigkeiten, sich für seine Bedürfnisse einzusetzen und sozialen Kontakt aufzunehmen, vor allem die Kraft der Hoffnung und des Glaubens. «Sich Ziele zu setzen ist eine wichtige Voraussetzung für die Erhaltung einer hohen Lebensqualität. Wer sich ein Gefühl für den Sinn seiner Lebens und Lebensfreude bewahrt, stärkt seinen Lebenswillen selbst, wenn das Leben von einer schweren Krankheit bedroht ist» (Simonton 1999, S. 135). Ob man eine Krankheit überwindet, hängt also entscheidend davon ab, ob man die krankhafte Tendenz, sich Beschränkungen aufzuerlegen und sich vom Kontakt mit Freunden und Bekannten zurückzuziehen, umkehren kann, indem man an alte Lebensziele anknüpft.

21 Laskov 1995, S. 105

22 Freud 1955, Bd.14

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Dieser Überblick über die wichtigsten Einflussfaktoren des Heilungsprozesses zeigt, dass sie verschiedene Aspekte eines gelungenen Kontaktes kennzeichnen. Sie haben das Gemeinsame, dass sie in Krisensituationen eine Kraftquelle darstellen, um den Kontakt zu anderen Menschen zu sichern und wiederherzustellen. Da die Kontaktfähigkeit als Ganzes eine Ausdrucksform der Atemmembran ist, ist es nicht verwunderlich, dass alle Einflussfaktoren mit der Atmung Zusammenhängen und wirksam werden, wenn sich die Atemmembran löst.

8.3 Der Arzt im Selbstheilungsprozess

«Die natürliche Heilkraft in jedem von uns ist die größte Heilkraft, um wieder gesund zu werden.» (Hippokrates)

Die Überzeugung vieler Ärzte, dass jede Heilung im Grunde eine Selbstheilung ist, findet damit im Rahmen einer Atemtheorie der Krankheit eine rational nachvollziehbare Erklärung. Wenn alle Krankheiten als Sauerstoffmangelerkrankungen betrachtet werden, verlangt Heilung in erster Linie, dass die emotionale Grundstörung aufgehoben wird, an der der ganze Mensch erkrankt ist. Hinter einem vordergründig medizinischen Problem steht so immer ein emotionales Problem. Wenn es gelöst wird, kann der Mensch seinen eigenen Weg in die Krankheit rückgängig machen, was dann als Selbstheilung erscheint.

Fortschrittliche Ärzte heben hervor, dass es Krankheiten als eigenständige Wesenheiten nicht gibt und es sich nur um Etiketten handelt, die für das höchst individuelle Verhalten von Menschen verwendet werden23. Damit wird der Blick darauf geöffnet, wie der Einzelne mit Hilfe der Krankheit eine Lösung seiner individuellen Probleme sucht. Wenn hinter der Oberfläche der verschiedenen Krankheitsbilder die Grunderkrankung, nämlich dass die emotionale Autonomie fehlt, erkannt wird, kann eine angemessene, den ganzen Menschen fördernde Therapie gefunden werden.

Die Überzeugung, dass nicht der Arzt, sondern die Natur heilt, macht den Arzt nicht überflüssig. Ein Arzt jedoch, dessen Verständnis von der Krankheit als äußerem Feind und von dem geschickten Umgang mit Hightech-Diagnose- und Operationsverfahren geprägt wird, kann der Aufgabe, die Selbstheilungskräfte der Natur zu unterstützen, nicht gerecht werden. Denn dazu ist in erster Linie erforderlich, dass mit dem Erkrankten ein Gespräch geführt wird, in dem der Zusammenhang zwischen der Krankheit und seinen psycho-sozialen Problemen sichtbar gemacht wird. Das Gespräch ist ein Heilfaktor, weil dabei der Patient den verlorenen Zugang zu seinen Emotionen wiederfinden und damit die Suche nach anderen Formen der Bewältigung der persönlichen Krise als mit der Krankheit aufgenommen werden kann.

In seinem Buch <Ein guter Arzt ist die beste Medizin> drückt Jacob Needleman die Überzeugung aus, dass das Geheimnis des guten Arztes seine Aufmerksamkeit sei24. So liege Freuds Bedeutung als Arzt in der intensiven Energie, mit der er die seelischen Probleme zu verstehen versuchte. Er ging aus der normalen Behandlungsroutine heraus und öffnete sich jedem Patienten. Es ist anzunehmen, dass die Patienten die Qualität der Aufmerksamkeit spüren. Sie registrieren genau, ob sie bloß als Krankheitsfall wahrgenommen oder als einmalige Person ernst genommen werden. Wenn sie in ihrer Besonderheit, mit ihren Schwächen und Unvollkommenheiten akzeptiert werden, kann Reso

23 Bastian 1998, S. 71

24 Needleman 1996

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nanz entstehen. Dabei kommt man auch mit sich selbst in Kontakt, so dass die inneren Dissonanzen und Entzweiungen ihre Starrheit verlieren. Insofern kann bereits ein guter Kontakt ein Heilfaktor sein. Meistens werden aber statt wirklichen Kontaktes nur Symbole ärztlicher Weisheit inszeniert.

Meist ist eine genaue Diagnose der Krankheit nicht erforderlich. Dem Dogma der naturwissenschaftlichen Medizin, dass die Krankheit gleichsam von außen komme und ein genau definiertes stoffliches Defizit oder eine Funktionsstörung bedeute, entspricht der Mythos der speziellen Therapie. «Zum Glück benötigen jedoch - dieser Punkt wird häufig übersehen - etwa 99 Prozent aller <Krankheiten>, die wir in unserem Leben durchstehen, keine spezifische Therapie, und in vielen anderen Fällen, in denen uns angeraten wird, dass wir etwas tun können oder gar sollen, genügt es durchaus, etwas zu unterlassen.« (Bastian 1998, S.94)

Auf jeden Fall ist zunächst eine schulmedizinische oder naturheilkundliche Heilung von akuten Erkrankungen erforderlich, damit mit der Suche nach dem psychischen Hintergrund der Krankheit begonnen werden kann. Die Beseitigung der schmerzhaften Symptome ist die Voraussetzung dafür, dass sich der Organismus mit seinen Ängsten konfrontieren kann. So ist z.B. bei chronischen Entzündungen zunächst die Regeneration der Darmflora mit naturkundlichen Verfahren erforderlich, bevor mit einem psychotherapeutischen Gespräch begonnen wird.

Da jede Erkrankung bedeutet, dass in den erkrankten Körperteilen auf Grund der mangelnden Blut- und Sauerstoffversorgung ein stoffliches Ungleichgewicht entstanden ist, können Heilmittel durchaus Heilwirkungen haben, da sie dieses stoffliche Defizit ausgleichen können. So können auch Behandlungen mit <Energie> (Energieübertragung durch Bioresonanzverfahren, Qigong, Energieakkumulator u.ä.) zu einer vorübergehenden Verbesserung der Energieversorgung führen und die Symptome zum Verschwinden bringen. Der Einsatz von Medikamenten sollte aber auf die Phase der akuten Entzündung beschränkt werden, da alle Medikamente, gleichgültig ob aus natürlichen Stoffen oder synthetisch hergestellt, Nebenwirkungen haben, die bei längerem Gebrauch zu sekundären Gesundheitsstörungen führen können. Man sollte sich außerdem vor der Illusion hüten, dass das Verschwinden der Symptome auf Grund der Heilmittel oder Behandlungen bereits eine Heilung bedeute.

Im ärztlichen Gespräch ist herauszufinden, welche Vorstellungen sich der Patient über seine Erkrankung macht. Jede Krankheit fordert den Patienten auf Grund der narzisstischen Verletzung infolge des Kontrollverlustes dazu heraus, sich Vorstellungen über ihre Heilungschancen zu machen. Wenn die Chancen negativ beurteilt werden, kann dies den Heilungsprozess erheblich belasten. Es ist bekannt, dass die Vorstellung, an einer unheilbaren, tödlichen Krankheit wie z.B. Krebs zu leiden, u.U. die Selbstheilungskräfte ruinieren kann. Das Krankheitsetikett kann wie ein Todesurteil wirken. Darin liegt das Risiko vorschneller Diagnosen.

Es gehört zur Kunst des Arztes, dem Patienten ein Verständnis zu vermitteln, dass seine Krankheit im Grunde ein kreativer Versuch der Konfliktlösung ist. Mit der Blockierung der Emotionen werden Handlungen zurückgehalten, die Liebe und Zuwendung gefährden oder zu ihrem Verlust führen könnten. Insofern steht hinter jeder Muskelverspannung der Wunsch nach Liebe. Wenn es zu somatischen Phänomenen wie Entzündungen, Geschwüren, Steinbildungen oder Schmerzen kommt, bedeutet dies, dass der Körper bemüht ist, die somatischen Folgeerscheinungen des Sauerstoffmangels auf Grund der

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emotionalen Zurückhaltung aufzufangen. Wahrscheinlich entgleitet die Krankheitsdynamik in keinem Moment der organismischen Selbststeuerung, da auch als unheilbar geltende Krebserkrankungen noch ausheilen können. Auch wenn das ursprüngliche Ziel in den somatischen Symptomen nicht mehr erkennbar ist, ist es noch wirksam. Da die Krankheitsdynamik auch in weiter fortgeschrittenem Stadium noch an die ursprüngliche Absicht gebunden ist, ist es immer sinnvoll, die somatische Krankheit nicht bloß als einen Defekt anzusehen. Krankheit muss deshalb immer als ein Ausdruck von positiven Absichten, als ein Versuch der Selbstheilung verstanden werden. So machen Psychotherapeuten die Erfahrung, dass die positive Einschätzung von Störungen psychischer und somatischer Art das Selbsthilfepotenzial stärker anzuregen scheint als die übliche negative, den Defekt betonende Diagnose25.

Wenn die Symptome und die dahinter stehenden Muskelverspannungen als gelungene Erfindung anerkannt werden können, um die von innen oder außen auferlegten Konflikte zu lösen, verändert sich die Bewertung der eigenen Krankheit. Die Symptome brauchen nicht mehr als Fremdkörper angesehen zu werden, die es zu bekämpfen und zu beseitigen gilt. Die verhängnisvolle Dynamik, dass sich die Symptome verschlimmern, wenn sie durch Kontrolle bekämpft werden, wird durchbrochen. Der Patient kann aufhören, die Verantwortung für seine Heilung anderen Menschen oder Institutionen zu übertragen, weil er sie selbst übernehmen kann. Es gewinnt die Hoffnung, dass andere Handlungsmöglichkeiten und Verhaltensweisen möglich sind und dass die verlorene Handlungskompetenz zurückgewonnen werden kann.

Das Ziel des ärztlichen Gespräches besteht darin, beim Patienten die Motivation zu wecken, seinen ganzen Lebenswandel zu überdenken und neue Wege auszuprobieren.

Denn eine dauerhafte Heilung kann nur erwartet werden, wenn die Ursachen der stofflichen und energetischen Defizite durch eine Umstellung der Ernährung, insbesondere durch konsequente Vermeidung von Risikostoffen, durch mehr Bewegung, durch mehr Ruhe- und Entspannungsphasen und insbesondere durch die Verbesserung der Konfliktfähigkeit beseitigt werden. Andernfalls kommt es bald zu Rückfällen oder zu Verschiebungen der Krankheitssymptome. Denn es ist zu beobachten, dass die ausschließliche Bekämpfung von Symptomen regelmäßig dazu führt, dass die Krankheit an anderen Körperstellen in neuem Gewand ausbricht. Meist resultiert daraus eine Verschlimmerung des Krankheitsbildes, weil die Symptome von der Körperoberfläche auf die Organe im Körperinneren verlagert werden. Da das ursprüngliche emotionale Bedürfnis nach Zuwendung nach wie vor besteht, muss der Organismus nach neuen Wegen suchen, um dieses Ziel zu erreichen.

Gesundheit wurzelt in der Summe der Bemühungen des Patienten, des Arztes und der sozialen Gemeinschaft, die Kommunikationskompetenz zu entwickeln, damit alle Verletzungen des inneren Gleichgewichts jederzeit aufgefangen werden können. Wenn die soziale Kommunikation funktioniert, kann bereits in der Frühphase allen Kommunikationsstörungen mit der inneren Kommunikation entgegengewirkt werden. Diskrepanzen zwischen den sozialen Anforderungen und den individuellen Bedürfnissen können bewusst gemacht und gelöst werden. Wenn dies nicht gelingt, bleibt noch der Weg der Trauerarbeit. Da Emotionen die Basis der inneren Kommunikation sind, wurzeln die individuellen Gesundheitsfaktoren primär in der Kultivierung der eigenen Emotionen. Allerdings setzen die individuellen Gesundheitsfaktoren ein soziales Umfeld voraus, das

25 Peseschkian 1993

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ihre Entfaltung fördert. Gesundheit gedeiht am besten auf emotionaler Autonomie. Insofern ist Gesundheit ein utopischer Begriff.

Im antiken Krankheitsverständnis war es selbstverständlich, dass es eine ständige Aufgabe des Einzelnen ist, sich gesund zu erhalten. Denn die inneren Abwehrkräfte gegen psychische und somatische Verletzungen müssen ständig erneuert werden, so wie jeder Muskel geübt werden muss, damit er funktionsfähig bleibt. Dieses Verständnis ist im naturwissenschaftlichen Medizinverständnis verloren gegangen. Seitdem kann Gesundheit nur als Abwesenheit von Krankheit verstanden werden.

In der Atemtheorie der Krankheit kann das antike Verständnis der Gesundheit erneuert werden. Gesundheit besteht demnach primär aus der fortwährenden Bemühung, einerseits die innere Kommunikation zu stärken, um sich für die geringsten Verspannungen der Atemmembran zu sensibilisieren, also spürsam die körperlichen Reaktionen auf die Umweltreize wahrzunehmen, und andererseits an den Verhaltensgewohnheiten zu arbeiten, mit denen man auf Belastungen reagiert. Gesundheit kennzeichnet einen Organismus, der die Verantwortung für den Zustand seiner Kontaktzone zur stofflichen und gemeinschaftlichen Welt übernimmt. Ärztliche Kunst sollte primär darin bestehen, die Patienten zur Übernahme diese Selbstsorge zu bewegen. Gesundheit setzt aber keineswegs voraus, dass der Körper völlig frei von Defekten ist. Auch bei unheilbaren Erkrankungen bleibt die Aufgabe bestehen, einen möglichst lustvollen Kontakt zur Welt herzustellen.

Gesundheit ist damit keine feste Norm, sondern der aktive Vorgang der ständigen eigenen Sorge, sich unter wechselnden Lebensumständen gesund zu erhalten. Wie Aaron Antonovsky festgestellt hat, ist der Kampf um Gesundheit permanent und nie ganz erfolgreich. Das liegt daran, dass Verspannungen im gesellschaftlichen Zusammenleben unvermeidlich sind. Dieser Zusammenhang wird in den esoterischen Gesundheitsdefinitionen verschleiert, wenn als Ziel angegeben wird, dass der Mensch sich seiner Natur gemäß verhalten und die Harmonie mit dem übergreifenden Ganzen wiederherstellen soll. Selbstsorge muss deshalb die Verantwortung für die soziale Gemeinschaft mit einschließen.

9 Aktivierung der Selbstheilungskräfte

«Gott, gewähre mir die Gelassenheit, die Dinge anzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, den Unterschied zu erkennen.» (Ruhegebet von Franz v. Assisi)

Die Selbstheilungskräfte wurden in den letzten Jahren immer mehr als Bezugspunkt der Psychotherapie anerkannt. Viele Psychotherapien kommen zur Einsicht, dass jede Therapie letztlich Selbsttherapie ist und dass jede Therapie dadurch wirksam wird, dass der Patient das Vertrauen in die Selbstheilungskräfte zurückgewinnt. Nach den bisherigen Überlegungen kann das geforderte Vertrauen in die Selbstheilungskräfte nichts anderes bedeuten, als dass die emotionale und gedankliche Kommunikationsfähigkeit wiederhergestellt wird. Denn die Selbstheilungskräfte haben die Aufgabe, die aus dem sozialen Zusammenleben sich ergebenden Gleichgewichtsstörungen aufzuheben. Sie basieren auf der Gesamtheit der kommunikativen Fähigkeiten, in kritischen Situationen die eigenen Bedürfnisse zu erkennen und sich energisch dafür einzusetzen. Sie wirken umso besser, je mehr das kontrollierende <Ich> zurücktritt. Deshalb hat Viktor von Weizsäcker in

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Anspielung auf das therapeutische Credo von Freud, dass aus Es Ich werden müsse, hervorgehoben, dass aus zu viel <Ich> mehr <Es> werden müsse1. Das bedeutet, dass die organismische Selbstregulierung aus der Abhängigkeit von sozialer Fremdbestimmung befreit werden muss. Im Folgenden werden einige Ansätze dargestellt, die unmittelbar am Atem ansetzen. Dies schließt natürlich nicht aus, dass dieses Ziel auch mit anderen Therapieformen erreicht werden kann.

9.1 Selbstaktivierung der Selbstheilungskräfte

«Tue deinem Körper Gutes, damit die Seele Lust hat, darin zu wohnen.» (Theresia von Avila)

Wie können die Selbstheilungskräfte gestärkt werden? Aus den bisherigen Überlegungen geht hervor, dass sich die Selbstheilungskräfte einer direkten, bewussten Aktivierung entziehen. Eine Heilung kann ebenso wenig mit bewusster Anstrengung herbeigeführt werden, wie der bewusste Vorsatz hilft, einzelne Faktoren der immunologischen oder psychischen Abwehrkräfte zu verbessern. Dies liegt daran, dass die Selbstheilungskräfte in der organismischen Selbstorganisation verwurzelt sind. Somatische und psychische Heilungsprozesse folgen ausschließlich der unbewusst operierenden Selbstorganisation. Oben wurde herausgearbeitet, dass Emotionen und Gedanken Bestandteil der inneren Selbstorganisation sind und von ihnen deren Schwächung ausgeht. Dabei dürfen solche Blockierungen aber nicht als Störungen abgewertet werden, denn sie haben eine Funktion. Ihre Funktion besteht darin, das Individuum vor Kontaktverlust zu schützen. Deshalb muss die Frage nach den Aktivierungsmöglichkeiten der Selbstheilungskräfte anders gestellt werden: Wie können die Blockaden der Selbstheilungskräfte aufgelöst werden?

Von vielen älteren Kulturen ist bekannt, dass sie wussten, dass eine Selbstveränderung zum Scheitern verurteilt ist, wenn sie direkt angestrebt wird. So wird im Zenbuddhismus davor gewarnt, dass jeder Gedanke an Selbstveränderung die Veränderung vereitelt. Im Taoismus wurde diese Einsicht so ausgedrückt: Wenn Einklang mit dem Tao beabsichtigt wird, weicht man bereits davon ab. In diesem Sinne wurde stets empfohlen, sich vom <wahren Selbst> führen zu lassen. In vielen Psychotherapien wird dieser Gedanke so formuliert, dass die Veränderungen von selbst geschehen, wenn der Boden dafür bereitet ist. So wird formuliert, dass die Veränderungen aus dem Unbewussten herauswachsen oder es wird empfohlen, die Entscheidungen vom Unbewussten treffen zu las-sen1 2. Veränderungen seien nicht möglich, wenn man sich selbst nicht akzeptiert. «Das Thema der Psychotherapie ist die Anerkennung des Selbst durch das Ich. Das Ich muß akzeptieren, daß das eigentliche Subjekt der Handlung nicht seiner Kontrolle untersteht, obwohl unsere gesamte Kultur das Gegenteil beschwört - wir müßten nur ein wenig fromm und diszipliniert sein» (Mohr 1992, S.47).

Der angestrengte Wille, die Selbstheilungskräfte durch den Abbau von Verspannungen zu stärken, schwächt sie. Denn die Verspannungen werden dadurch weiter verstärkt. Solange sich an der Qualität des sozialen Kontaktes nichts verändert hat, führen alle Maßnahmen zum Gegenteil, weil man sich Verhaltensgewohnheiten ankonditioniert, die nicht aus der spontanen Selbstregulation hervorgehen. Deshalb müssen alle gesundheitsfördernden Maßnahmen gleichzeitig in Bemühungen um eine Verbesserung des Kontak-

1 Weizsäcker 1951, S.331

2 Z.B. Mohr 1992, S. 47

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tes eingebettet sein. So fällt z.B. die Kontrolle des Körpergewichtes erheblich leichter, wenn sie von Übungen zur Verbesserung der Sensibilität und des Kontakts unterstützt wird. Eine isolierte Gewichtskontrolle ist zum Scheitern verurteilt, da sie ein Zuviel an Selbstdisziplin abverlangt3.

Die Selbstheilungskräfte können darüber hinaus auch deshalb nur indirekt aktiviert werden, weil man nie sicher sein kann, ob die getroffenen Maßnahmen ausreichend sind. Es liegt im Wesen der Selbstorganisation begründet, dass nur versucht werden kann, sie zu erleichtern und zu begünstigen, dass es aber ausgeschlossen ist, sie aktiv zu manipulieren. Jede Manipulation rächt sich mit einem Verlust an Selbstorganisation, die sich in zunehmender Unsicherheit und verstärkten Manipulationsanstrengungen äußert. Deshalb ist es unerlässlich, dass die soziale Gemeinschaft dem Einzelnen Rituale zur Verfügung stellt, mit denen der Irrweg der Selbstmanipulation vermieden werden kann.

Es liegt in der Natur der Kontaktstörung, dass dem Einzelnen ein gewisser Spielraum für Veränderungen des eigenen Verhaltens bleibt, der durch Therapie ausgeschöpft werden kann. Denn die Kontaktstörungen basieren meist darauf, dass zu einem frühen Zeitpunkt in der Entwicklung der emotionale und sprachliche Dialog mit der Umwelt eingeschränkt oder abgebrochen wurde. Infolgedessen wurde es versäumt, höher entwickelte Reaktionsmechanismen zu erlernen, mit denen ein weniger leidvoller Kompromiss mit den vorherrschenden repressiven Lebensbedingungen gefunden werden kann. Therapie hat deshalb die Aufgabe, die Versäumnisse im frühkindlichen emotionalen und sprachlichen Lernprozess in einem Nachreifeprozess nachzuholen.

Aus der Analyse der Selbstheilungskräfte geht hervor, dass alle emotionalen und mentalen Fähigkeiten auf Bewegungen basieren. Die Blockierung der Bewegungen geht von inneren Vorstellungen aus und manifestiert sich in eingeschränkten Atemmustern. Es gibt deshalb prinzipiell zwei Ansätze für den Nachreifeprozess, die verbal orientierte Psychotherapie und die an der Beweglichkeit orientierte Körpertherapie. Entweder wird primär an den Vorstellungen gearbeitet, sodass die schlecht angepassten Vorstellungen aufgelöst und durch realitätsgerechtere Vorstellungen ersetzt werden. Damit können sich sekundär die Blockaden der Beweglichkeit und des Atems auflösen. Oder es wird primär an der körperlichen Beweglichkeit gearbeitet, um die Atembehinderung aufzulösen, damit der Ausdruck der bisher blockierten Emotionen zugelassen werden kann und die mit ihnen verbundenen Vorstellungen einer kritischen Revision durch die innere Selbstorganisation zugänglich werden. Im Grunde sind beide Wege gleichwertig: Eine innere Neuordnung kann in Gang kommen, wenn die Fixierung von Vorstellungen an emotionale Bewegungsmuster aufgebrochen wird.

Entsprechend der Zielsetzung dieses Buches, die Bedeutung des Atems für die Selbstheilungskräfte zu bestimmen, soll im Folgenden nur der körpertherapeutische Weg betrachtet werden. Aus geschichtlicher Perspektive betrachtet ist dieser Weg ohne Zweifel der ältere. So stellen die großen, jahrtausendalten Traditionen des indischen Yoga und Pranayama und des chinesischen Qigong wirkungsvolle Wege dar, um einen gestörten Kontakt mit Training der körperlichen Beweglichkeit zu heilen.

Wie oben dargestellt, besteht das gemeinsame Prinzip der körpertherapeutischen Ansätze darin, dass die Verspannungen der Muskeln und Festhaltungen der Gelenke aufgelöst werden, damit sich der Atem in Reaktion auf die Situationsbedingungen voll entfalten

3 Vgl. Grout 1996

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kann. Die Blockaden können umso besser aufgelöst werden, je mehr das verlorene Bewusstsein für die Blockaden zurückgewonnen wird. Deshalb zielen die körpertherapeutischen Ansätze darauf ab, durch die Konzentration des Bewusstseins auf den Körper die Sensibilität für den körperlichen Zustand, insbesondere für den Tonus der Muskeln und den Zustand der Gelenke, zu erhöhen. Die Verbesserung der Eigensensibilität ist die Einstiegspforte für die Stärkung der Selbstheilungskräfte. Daraus resultiert der dominante Stellenwert von Begriffen wie Achtsamkeit, Empfindungsbewusstsein, Schulung der Sinne, Sammlung oder erweitertes Bewusstsein in allen Sensibilitätsprogrammen4.

In den Sensibilitätsprogrammen nimmt stets der Atem die zentrale Rolle ein. Wie gezeigt ist dies darin begründet, dass alle sozialen Fähigkeiten Gestaltungen des Atems sind. Da sich alle muskulären Verspannungen in den Atemmuskeln niederschlagen, können sie hier auch am leichtesten bewusst gemacht und aufgelöst werden. Im Folgenden soll dies mit Hilfe von einigen Atemübungen beispielhaft veranschaulicht werden. Es ist notgedrungen eine kleine, von meinen eigenen Vorlieben geprägte Auswahl, die Atemübungsbücher nicht ersetzen kann5.

Entspannung

Am Anfang jeder Gesundheitsvorsorge stehen regelmäßige Entspannungsübungen, da Entspannung die Voraussetzung für jede Veränderung von Vorstellungen und Emotionen ist. In fast allen Entspannungsübungen wird der Atem zur Hilfe genommen. Wenn die Aufmerksamkeit auf den Atem gelenkt und sein Kommen und Gehen beobachtet wird, ohne ihn beeinflussen zu wollen, gelingt es relativ leicht, sich mit den körperlichen Empfindungen in den verspannten Körperzonen zu sammeln. Damit wird der unkontrollierte zwanghafte Gedankenfluss im Hintergrund des Bewusstseins, der verhindert, dass man ganz in der gegenwärtigen Aufgabe aufgeht, zum Stillstand gebracht. Durch die bewusste Hinwendung zum Atem können so Zerrissenheit und Unruhe des Atems aufgehoben werden.

• Konzentriere dich auf dein Gesicht und spüre die Spannungen um die Augen. Jedes Mal, wenn du einatmest, presse die Augenlider fest aufeinander. Beim Ausatmen entspanne sie wieder, sprich dabei im Stillen <Entspanne dich> und spüre, wie sich die Entspannung über das Gesicht ausbreitet. Mehrmals wiederholen! Führe dann das Wechselspiel von Anspannung beim Einatmen und Loslassen beim Ausatmen mit allen Körpermuskeln durch: Stirn, Kaumuskeln, Lippen, Hals, Schulter, Rücken usw.

Diese Übung wird erfolgreich bei der Therapie von Krebskranken eingesetzt6.

• Lege dich mit dem Rücken auf den Boden. Drücke nacheinander beim Ausatmen mit den Fersen, Händen, Ellenbogen, Schultern, dem Kopf und dem Kreuzbein fest gegen den Boden. Spanne jetzt alle Muskeln während der Ausatmung gleichzeitig an, lasse los und beobachte, wie der Atem von selbst kommt und sich entfaltet. Lass dich atmen! Beim Ausatmen wieder möglichst viele Muskeln anspannen und loslassen, wenn sich der Einatemimpuls meldet.

• Lege Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger gegeneinander und spüre den Pulsschlag zwischen den Fingern. Lenke die Aufmerksamkeit auf die Strömungsempfindungen, die

4 Z.B. Dächer 1993

5 Z .B. Cardas 1989, Langguth 1998, Schüneraann 1997

6 Vgl. Simonton 1999, S.175

157

von hier ausstrahlen. Während du weiterhin den Pulsschlag spürst, beobachte das Kommen und Gehen deines Atems!

• Lächle still in dich hinein, ohne dass dies in der Gesichtsmuskulatur sichtbar wird. Beobachte, wie sich der Atem verändert! Dies ist eine Basisübung des Qigong7.

Aktivierung

Wie man bei aufmerksamer Selbstbeobachtung erkennt, wird im Alltag eine Fülle von Atemmechanismen wie z.B. Gähnen oder Niesen eingesetzt, um Schwäche- oder Verspannungszustände zu überwinden. Andere Atemmechanismen verfolgen dieses Ziel nicht direkt, haben aber die angenehme Nebenwirkung einer Aktivierung des ganzen Organismus. Diese Mechanismen können mit der Einbildungskraft ausgelöst oder simuliert werden, um die Atemregulation zu verbessern.

• Gähnen ist eine Reflexreaktion auf Sauerstoffmangel und eine natürliche Form der Tiefatmung. Bei den meisten Menschen ist dieser Reflex verkümmert. Er kann dadurch ausgelöst werden, dass man sich vorstellt, wie jemand in unserer Gegenwart wohlig gähnt, oder indem man das Gähnen rein äußerlich nachahmt.

• Dehnen ist das Lebenselixier des Atems. Man sollte es sich zur Angewohnheit machen, sich mindestens jeden Morgen durchzudehnen. Achte darauf, dass alle Muskeln berücksichtigt werden, also auch z.B. die Muskeln des Gesichts, der Hände, der Füße u.a.

• Töne ein scharfes <S> beim Ausatmen. Lass den Atem frei und ohne Druck fließen. Richte das Bewusstsein auf die Bauchmuskeln. Die dabei zu beobachtende Energetisie-rung macht deutlich, dass das Sprechen ein ideales Mittel der Aktivierung des Atems ist.

• Versuche in einem Raum mit mehreren Menschen schnüffelnd die Gerüche und die emotionale Atmosphäre zu erkennen!

• Du kannst mit einem raschem Luftholen blitzartig erkennen, welche Probleme du mit deinem Gegenüber hast.

Einheit von Atem und Bewegung

Durch die Hinwendung des Bewusstseins zum Atem kann ein Gespür dafür entwickelt werden, wie man sich durch muskuläre Verspannungen aus dem Spüren der Emotionen und damit aus dem Kontakt herausnimmt. Das Bewusstsein des Atems sollte mit der wahrgenommenen Bewegung verschmelzen. Bewegung und Atem können sich wechselseitig aneinander anpassen, und so kann die der Bewegung angemessene Atemweise gefunden werden. Jede Bewegung profitiert davon, wenn sie mit dem Atem verbunden ist.

• Auf einem Stuhl sitzend spüre die beiden Sitzbeinhöcker, also die beiden Knochenvorsprünge am unteren Rand des Beckens, auf denen beim Sitzen das ganze Gewicht des Rumpfes lastet. Kippe den oberen Rand des Beckens langsam nach hinten, sodass sich der Rücken rundet und der Kopf etwas nach vorne sinkt. Schwinge anschließend das Becken nach vorn, sodass der Bauch nach vorn drängt und sich der Kopf zurücklegt. Lass so das Becken in deinem Rhythmus hin und her pendeln. Richte die Aufmerksamkeit auf deinen Atem und beobachte seine Reaktion. Bleibe mit deinem Bewusstsein beim Atem. Wenn sich das Bewusstsein im Becken gesammelt hat, können die folgen-

7 Vgl. Lewis 1997

158

den drei Übungen durchgeführt werden.

• Stell dir vor, du hättest einen Kirschkern im Mund. Spucke ihn so weit wie möglich fort! Diese Übung ist nur sinnvoll, wenn man sich vorher im Becken gesammelt hat. D er Kirschkern wird in der Vorstellung aus dem Beckenraum heraus gespuckt.

• Stell dir vor, in einiger Entfernung von dir würde eine brennende Kerze stehen. Blase sie aus!

• Langsam, sanft und mit weit geöffneter Kehle auf den Handteller hauchen!

• Beim Gehen ist es zweckmäßig, die Schritte mit dem Atem zu synchronisieren. In welchem Rhythmus pendelt sich der Atem ein, wenn du den Atem beobachtest und darauf verzichtest, ihm einen bestimmten Rhythmus aufzuerlegen? Spüre, wie das Becken beim Einatmen nach vorn und im Ausatmen zurückschwingt.

• Wenn man in die Tiefe springen will, kann die Angst überwunden werden, indem man im Ausatem abspringt. Auch der Wurf eines Balles oder das Abdrücken eines Gewehres gelingen beim Ausatmen besser!

• Von Augentherapeuten wird bei Sehstörungen empfohlen, beim Sehen den Atemrhythmus in den Augenmuskeln zu spüren8. Beim Einatmen fühlt es sich an, als würden die Augen aufgerissen; im Ausatmen lässt die Spannung um die Augen herum nach.

• Auch die sexuelle Erfahrung kann dadurch bereichert werden, dass die Bewegungen bewusst mit dem Atem verbunden werden. Dies ist ein zentrales Element der tantrischen und taoistischen Sexualpraktiken.

Innerer Dialog

Neu gewonnene Sensibilität und Achtsamkeit kann sich darin ausdrücken, dass während des Übens Emotionen ins Bewusstsein treten. Es ist sehr wichtig, ihnen Beachtung zu schenken und sie im inneren Dialog zu verarbeiten. Dadurch kann der Heilungsprozess erheblich gefördert werden. Denn letztlich geht es darum, dass mit Hilfe der höheren Achtsamkeit die alten Reaktionsmuster transformiert werden. Das setzt die aktive Mitwirkung voraus. Man muss bereit sein, in die Schmerzen der Verletzungen hineinzugehen, statt ihnen wie bisher auszuweichen. Allerdings geben die Atemübungen auch die Kraft dazu.

• Es ist zweckmäßig, die durch die Atemübungen erzielte Entspannung der Atemmembran für einen inneren Dialog über ein Thema zu benutzen, das man sich vor Beginn der Übung ausgewählt hat oder das sich in der kurzen Nachwirkphase zeigt, in der man sich nach Beendigung der Übungen den körperlichen Empfindungen zuwendet, die sich spontan einstellen. Es kommt darauf an, sich die Situationen, auf die sich die Emotionen beziehen, möglichst konkret vorzustellen und den beteiligten Personen die Erlaubnis zu geben, sich mit ihrer Stimme zu artikulieren. Nur dann kann sich ein wirklicher Dialog entwickeln, der in den Kern der eigenen Probleme hineinführt9.

• Auch die oben beschriebene Drei-Finger-Übung kann mit einem inneren Dialog verknüpft werden. Welches Ereignis fällt mir ein, bei dem ich unsicher war und Angst hatte? Wie hätte ich anders reagieren können? Wenn man vor einer unangenehmen Situati-

8 Selby 1987

9 Vgl. Neubeck 1992, S.265

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on steht, kann man sich die Situation vorstellen und sich fragen, welche Reaktion sinnvoll ist.

• Lenke in emotional belastenden Situationen einen Teil deines Bewusstseins auf den Atem. Wenn man z.B. erfahren hat, dass man in Stresssituationen mit Atemanhalten reagiert, gelingt es eher, sich dieses Atemmusters gewahr zu werden und eine ruhigere Atemweise zu wählen.

• Wenn du Schmerzen hast, stelle dir vor, dass du durch die Nase einatmest, und spüre dabei, wie sich die Nüstern aufblähen. Atme in die schmerzende Körperzone. Stelle dir vor, dass der Atem von dort den Körper verlässt und störende Schlacken aus der verletzten Zone abtransportiert. Verbinde das Ausatmen mit affirmativen Vorstellungen, indem du innerlich <Heilung> oder <Reinigung> sprichst.

• Sehr wirkungsvoll ist auch das sanfte Anhauchen schmerzender Körperstellen (z.B. Gelenke) (max. drei- bis fünfmal).

Einige Therapieschulen setzen eine forcierte Atmung ein, um den Bewusstseinszustand so zu verändern, dass zurückgehaltene emotionale Prozesse leichter ins Bewusstsein gelangen und dort bearbeitet werden können (holotropes Atmen nach Grof, Rebirthing, Biodynamik, einige Übungen von Pranayama u.a.). Durch die forcierte Atmung werden sowohl das biochemische Gleichgewicht (Anteil von Sauerstoff und Kohlendioxid im Blut) als auch das muskuläre Gleichgewicht (Lockerung der gesamten Muskulatur durch die aktive Atemarbeit) gestört, sodass die bisherigen Abwehrmechanismen aufgebrochen werden. Der tiefe Atem kann der Katalysator für emotionale Prozesse sein, weil ein Rahmen geschaffen wird, in dem die Ursprungssituationen der verdrängten Erlebnisse und der damit verbundenen Gefühle durchlebt und verarbeitet werden können. So wird empfohlen, <mit der Energie zu gehen> und zu warten, bis der Körper bereit ist, das psychische Problem freizugeben. Der Nachteil dieser Methode besteht darin, dass die Gefahr besteht, dass man sich überfordert und mehr an abgespaltenen Inhalten ins Bewusstsein drängt, als verarbeitet werden kann. Entsprechende Übungen setzen deshalb eine therapeutische Begleitung voraus. Gravierender ist der Nachteil, dass nicht an der Sensibilität für die inneren Impulse gearbeitet wird, sodass die eigentliche Basis für die Selbstheilungskräfte unverändert bleibt.

Das Ziel aller Sensibilitätsübungen besteht darin, dass die inhaltliche Selbstanalyse, also die fortwährende Arbeit an den eigenen Vorstellungen spontan aufgenommen wird, wenn jene sich für das Handeln als ungeeignet erweisen. Denn der flexible Abgleich zwischen den gesellschaftlichen Anforderungen und den inneren Impulsen ist eine Daueraufgabe, die nie zum Abschluss kommt. Das eigentliche Lernziel der Sensibilitätsübungen besteht darin, das Atembewusstsein wiederherzustellen und damit die Fähigkeit zurückzugewinnen, es in der Gegenwart mit all ihren emotionalen Verwicklungen auszuhalten. Es ist identisch mit der «eigenleiblichen Sichtweise»10, die ebenfalls das Ziel verfolgt, die Sensibilität für die eigenen Prozesse der Emotionen, Empfindungen und Impulse zu wecken. Nur so kann Handlungskompetenz, die auf hohe Atemreagibili-tät angewiesen ist, gesichert werden. Wenn in den traditionellen Konzepten als Ziel die Beruhigung des Geistes und der Seele genannt wird, geht dies an der eigentlichen therapeutischen Aufgabe vorbei, weil damit eher der soziale Rückzug gefördert wird.

Häufig sind aber die inneren Widerstände gegen eine Selbstveränderung so stark, dass

10 Stopczyk1996

160

mit Körpertherapie nichts erreicht werden kann. Da der Widerstand in den unbewusst fixierten Vorstellungen begründet ist, ist es unerlässlich, mit Hilfe eines Psychotherapeuten auch direkt an den Vorstellungen zu arbeiten.

Aus diesen Überlegungen lässt sich der Schluss ziehen, dass Selbstverantwortung für die Gesundheit in erster Linie bedeutet, ein Gefühl für den eigenen Atem herauszubilden. In dem Maße, wie ständig ein marginaler Teil des Bewusstseins spontan den Zustand der Atemmembran beobachtet, um sie neu stimmen zu können, wird sich die Selbstverantwortung als permanente Bereitschaft der Selbstsorge herausbilden. «Das klingt so banal, das kann so hohl und nichtssagend klingen - aber wenn man einmal kapiert hat, was Atmen wirklich ist, dann wird es zum Dreh- und Angelpunkt des ganzen Lebens, zum Schlüssel für alle angestrebten und ersehnten Veränderungen» (Neidhöfer 1993, S.78). Die Verantwortung für die Gesundheit schließt somit die Fähigkeit mit ein, eine Minderung der Resonanzfähigkeit der Atemmembran immer wieder mit Atem- und Bewegungsübungen und Selbstanalyse zu beseitigen.

Im Einklang mit den inneren Impulsen zu leben ist Kern jeder Utopie. Dieser erstrebte Einklang hat die unterschiedlichsten Namen wie Tao, Selbst oder inneres Wesen erhalten. Das taoistische Prinzip des Nicht-Handelns drückt nicht Passivität und Nichtstun, sondern den absoluten Vorrang des spontanen Handelns aus, das frei ist von gesellschaftlicher Fremdbestimmung. Während das fremdbestimmte Handeln mühsam und anstrengend ist, erscheint das spontane Handeln als mühelos und leicht. Selbstbestimmung ist deshalb das Ziel jeder Erziehung, jeder therapeutischen Nacherziehung und jeder Selbstkritik. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass sich unter gesellschaftlichen Bedingungen so etwas wie eine zweite Natur wiederherstellt. Selbstbestimmung darf aber nicht als Führung durch den <Geist> oder das <Ich>, sondern sollte eher als Führung durch die innere Selbstorganisation verstanden werden.

Emotionale Autonomie kann nur im Kontakt mit Menschen gelernt werden, die keine Angst vor freiem emotionalen Ausdruck haben. Das Postulat, sich vom <wahren Selbst> führen zu lassen, setzt deshalb den Abbau von sozialer Herrschaft voraus. In der gegenwärtigen repressiven Gesellschaftsstruktur kann dieses Ziel allenfalls angestrebt, aber niemals dauerhaft erreicht werden. Therapien sind letztlich nur Reparaturmaßnahmen, damit man sich mit den krank machenden Verhältnissen besser arrangieren, und das heißt, eine Krankheit wählen kann, die mit weniger Leiden verbunden ist.

9.2 Königsweg Atemtherapie

«Das Erste, was zu lernen ist, ist der Atem.» (Gautama Buddha)

Wenn es zutrifft, dass der Atem das zentrale Vermittlungsorgan zwischen dem menschlichen Körper und der Umwelt ist und jede Form der seelischen Entwicklung und Selbstkontrolle im Atem stattfindet, wäre anzunehmen, dass die Atemtherapie die ideale Therapie ist. Gegenüber den anderen Körpertherapien hat die Atemtherapie den Vorzug der, dass sie unmittelbar am eigentlichen Ort der Krankheit, der Atemmembran, ansetzt. Wenn dennoch der Anspruch der Atemtherapie, eine zielführende Psychotherapie zu sein, bisher keine allgemeine Anerkennung gefunden hat, ist dies primär darauf zurückzuführen, dass die Atemtherapie es bisher nicht verstanden hat, ihren Anspruch theoretisch zu begründen. Bisher konnten die Zweifel, ob eine rein körperorientierte Atemtherapie nachhaltige psychische Wirkungen haben kann, nicht beseitigt werden. Die folgenden Überlegungen gehen der Frage nach, wo die Chancen und Grenzen der Atemthera-

161

pie zur therapeutischen Aktivierung der Selbstheilungskräfte liegen.

In der Atemtherapie gibt es zwei unterschiedliche Grundorientierungen, wie mit dem Atem umgegangen werden sollte. Im ganzheitlichen Lager folgt man dem Grundsatz, dass der Atem nicht gelenkt, sondern befreit werden muss. Die Atemtherapie soll sich deshalb nicht an einzelnen Krankheitssymptomen orientieren, sondern versuchen, die Blockaden des Atems aufzulösen, sodass damit indirekt die Fähigkeit wiederhergestellt wird, sich in Konfliktsituationen besser zu behaupten. Sie lehnt Atemübungen ab, bei denen der Atem bewusst geführt wird, da sie überzeugt ist, dass sich der Atem spontan die Form gibt, die ihm angemessen ist. Dagegen setzt das medizinische Lager auf die Notwendigkeit, den Atem durch gezielte Übungen zu vertiefen, damit die durch Atemstörungen bedingten Krankheiten ausheilen können. Während bei der ganzheitlichen Methode der Patient vom Therapeuten behandelt wird, erwartet die symptomatische Behandlung vom Patienten, dass er selbständig die therapeutisch vorgeschlagenen Atemübungen ausführt.

Ganz offensichtlich spiegelt der zweifache Weg der Atemtherapie die Doppelgesichtig-keit des Atems wider, der sich einerseits spontan den Wechselfällen des Lebens anpasst und andererseits auch bewusst verändert werden kann. So setzen z.B. Sprechen und Singen voraus, dass auf den Atem bewusst Einfluss genommen werden kann, während sich der Atem bei körperlichen Anstrengungen von selbst den Anforderungen anpasst.

9.2.1 Der ganzheitliche Weg der Atembehandlung

Die Atemtherapie hatte von Anfang das Problem, ihre therapeutische Wirkungsweise zu begründen. Sie konnte auf kein theoretisches Modell zurückgreifen, das plausibel macht, warum mit ausschließlich körperlichen Berührungen psychische Effekte erreicht werden können. Da die Begründer der Atemtherapie meist aus praktischen Berufen kamen und kein akademisches Studium hatten, hatten sie wenig Interesse daran, die Wirkungsweise der Atemtherapie theoretisch zu begründen. Ihnen reichte die praktische Bestätigung durch das psychische Wachstum ihrer Patienten. Allenfalls wurden einige Anleihen bei den jeweils aktuellen Theorien der Psychotherapie oder der Esoterik vorgenommen. Auch bei den gegenwärtigen Vertretern hat sich an der theoretisehen Abstinenz nichts geändert. Das erschwert die öffentliche Anerkennung der Atemtherapie, da auf Grund der Vorherrschaft des naturwissenschaftlichen Denkens eine nachvollziehbare Begründung der Wirkungsweise der Atemtherapie verlangt wird.

Aus der oben entwickelten Atemtheorie ergibt sich ein neuer theoretischer Ansatz zur Erklärung der Wirkungsweise der Atemtherapie. Nach dem hier entwickelten Krankheitsverständnis resultieren die Krankheitssymptome aus dem Entschluss, sich teilweise oder vollständig aus dem Kontakt zurückzuziehen und darauf zu verzichten, auf den Partner bzw. die soziale Umwelt im Sinne der eigenen Bedürfnisse Einfluss zu nehmen. Die Krankheitssymptome stellen eine Reaktion auf als negativ erfahrene Beziehungen dar, die mit Reaktionsmustern beantwortet werden, die entweder mit Allmachtsphantasien und Größenwahn oder mit Selbstverleugnung und Selbstnegation verbunden sind.

Offensichtlich muss die Struktur der Beziehung ins Zentrum gerückt werden, wenn man die Wirkungsweise des Atems verstehen will. In der systemischen Familientherapie wurde die Erfahrung gemacht, dass die Struktur der Beziehung für die Krankheitsentstehung wichtiger ist als die konkreten psychischen Inhalte. So ist z.B. das allgemeine Verhaltensmuster, dass man sich den einschränkenden Botschaften der Eltern ohne reflexi-

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ve Bearbeitung unterwirft, bedeutsamer, als welche inhaltlichen Botschaften übernommen werden. Der amerikanische Familientherapeut Jay Haley hat die Theorie entwickelt, dass Symptome regelmäßig in Beziehungen entstehen, in denen unvereinbare Anweisungen gegeben werden, wie z.B. «Verhalte dich spontan, aber befolge meine Gebote!» Die Symptome stellen offenbar einen Versuch dar, sich aus der Abhängigkeit zu befreien, die dadurch entsteht, dass man für Bedürfnisse anderer missbraucht wird. So wie die Symptome aus paradoxen Anweisungen herrühren, so können nach Haleys Auffassung gestörte Beziehungen durch den Einsatz paradoxer Interventionen wieder normalisiert werden11. Wenn z.B. der Patient aufgefordert wird, seine Symptome bewusst zu verstärken, kann er nicht mehr länger daran festhalten. Folgt er den Anweisungen des Therapeuten, spürt er einen inneren Widerstand, in dem sich sein Wille nach Unabhängigkeit vom Therapeuten meldet und der ihn dazu bringt, die Verantwortung für sein Verhalten zu übernehmen. Es war für mich überraschend festzustellen, dass dieses theoretische Erklärungsmuster der Symptomentstehung auch geeignet ist, meine Atemerfahrungen neu zu interpretieren.

Wenn man sich fragt, worin hinsichtlich der therapeutischen Beziehung das Charakteristikum der Atemtherapie besteht, so gibt die traditionelle Atemtherapie die Antwort, dass die Beziehung zwischen dem Atemtherapeuten und der Person, mit der sie arbeitet, «als ein Kontakt zweier gleichberechtigter Menschen» verstanden wird, «in dem der Atemtherapeut nicht heilt oder hilft, sondern lediglich begleitet, unterstützt, anregt, ermutigt usw» (Fischer/Kemmann-Huber 1999, S. 60). Diese Formulierung trifft aber allein das Selbstverständnis des Therapeuten. Aus der Sicht des Patienten handelt es sich dagegen um eine sehr einseitige Beziehung. Der Therapeut berührt mit seinen Händen den Körper des Patienten auf unterschiedliche Weise, während der Patient sich nicht bewegt und sich innerlich mit seinem Bewusstsein den Berührungen zuwendet. Die Initiative geht allein vom Therapeuten aus. Der Patient hat nicht die geringste Chance, die Beziehung als eine gleichrangige zu gestalten. Er erwartet bloß passiv, dass der Therapeut ihn heilt, ohne dass ihm zunächst klar ist, welchen Beitrag er dazu leisten kann oder muss.

Die Beziehung zum Therapeuten ist also dadurch definiert, dass der Patient sich in ein Abhängigkeitsverhältnis begibt. Er macht schnell die Erfahrung, dass er hier seine bisherigen Reaktionsmuster nicht mehr anwenden kann, sich mit Hilfe von Symptomen aus der Abhängigkeitsbeziehung zu befreien und dadurch hinterrücks die Beziehung zu kontrollieren. Vielmehr wird die Abhängigkeit, aus der er bisher mit Hilfe seiner Symptome entfliehen konnte, verstärkt. Da seine Reaktionsmuster, mit denen er bisher seine Ohnmacht und Hilflosigkeit kompensieren konnte, versagen, gerät er in eine Krise, der er sich meist nicht bewusst ist. Die Abhängigkeit erzeugt Gefühle des Selbstverrats und der Schuld. Er wird ratlos, wie er sich der Abhängigkeit entziehen und einen Rest von Selbstbestimmung in der Beziehung retten soll.

Zwar fordert der Therapeut den Patienten dazu auf, sich seinen, des Therapeuten, Händen zu sammeln, seinen Atem wahrzunehmen und zu spüren, sich also aktiv an dem Geschehen zu beteiligen. Dies ändert allerdings nichts an der Abhängigkeit, da der Patient diesen Aufforderungen zunächst unbewusst Widerstand entgegensetzt. Seine Probleme sind gerade dadurch entstanden, dass er sich dafür entschieden hat, seine inneren Impulse nicht wahrzunehmen. Sein typischer Widerstand besteht darin, dass er immer wieder seinen Gedanken nachgeht, die im Bewusstseinsstrom kommen und gehen, dass er in

11 Vgl. Haley 1987

163

Bilder oder Gefühle eintaucht oder sogar einschläft. Jedes Mal geht er aus dem Kontakt bzw. leugnet er, im Kontakt zu sein. Andere Patienten reagieren zwar auf die Interventionen des Therapeuten, aber der Patient «wirkt darin sehr nach innen gewandt, manchmal gleichgültig gegenüber der Begegnung oder verschlossen» (Fischer/Kem-mann-Huber 1999, S.46). «Ein anderes Extrem kann so aussehen, dass der Mensch in seinem Atem jedem meiner Angebote sofort und unverzüglich nachkommt, der Atem aber etwas Leeres, in seiner Angepasstheit Gleichförmiges und Unwesentliches behält. Auch hier findet kein wirklicher Kontakt statt, sondern nur ein vermeintlicher. Der Mensch ist nicht wirklich anwesend mit seinem Inneren» (Fischer/Kemmann-Huber 1999, S.46).

Eine andere Form des Aus-dem-Kontakt-Gehens besteht darin, dass der Patient sich den angenehmen Empfindungen überlässt, die ihn überfluten, wenn sich der Atem etwas löst. Wenn dem Patienten während der Behandlung empfohlen wird, sich z.B. in die Fersen zu dehnen oder den Kontakt des Rückens mit dem tragenden Boden zu spüren oder den Atem in den Leisten zu spüren, kann dies auch die Wirkung haben, dass er vermeidet, den Kontakt des Therapeuten noch wahrzunehmen. Es wäre sicherlich falsch, die Kontaktvermeidung als Regression zu bezeichnen. Es ist nichts anderes als die Fortsetzung des pathologischen Verhaltens, intensiven Kontakt zu vermeiden und sich aus dem Kontakt zurückzuziehen. Ebenso wenig hat diese therapeutische Beziehung etwas mit der Mutter-Kind-Beziehung zu tun, wie es oft interpretiert wird12, da jene sich gerade durch einen intensiven wechselseitigen affektiven Austausch auszeichnet. Es handelt sich vielmehr um die Wahl des symbiotischen Atemmusters (vgl. Kap. 5.1).

Trotz der unangenehmen Abhängigkeit kann der Patient erfahren, dass der Therapeut seine Machtposition nicht dazu benutzt, ihn zu einem bestimmten Verhalten zu zwingen. Dessen Interventionen gehen nur in die unspezifische Richtung, dass er sich dem Atem zuwenden und wahrnehmen soll, was passiert, oder dass er sich allen Emotionen und Empfindungen öffnen soll. Er kann spüren, wie sich die verschiedenen Körperzonen für den Atem öffnen und wie sich der Atem über den ganzen Körper ausbreitet. Der Patient nimmt weiterhin als positiv zur Kenntnis, dass der Therapeut auf seine somatischen Symptome eingeht und sie ernst nimmt. Er fühlt sich vom Therapeuten auch noch akzeptiert, wenn er nicht reagiert, aus dem Kontakt geht und den Kontakt verleugnet. Der Patient spürt dankbar, dass er einen so bedingungslosen Kontakt erfährt, wie er es schon lange nicht mehr erlebt hat.

Der Patient kann im Kontakt mit den Händen des Therapeuten spüren, ob der Therapeut in jedem Moment präsent ist. Sein Unbewusstes hat ein tiefes Gespür dafür, ob der Therapeut selbst in seinen Händen anwesend ist oder ob sich dessen Gedanken und Emotionen außerhalb des Kontaktes befinden. Die Erfahrung von Präsenz ist ein tiefes Bedürfnis, weil das eigene Leiden letztlich im Mangel an Präsenz wurzelt, also in der Unfähigkeit, in der Gegenwart zu leben. Der therapeutische Kontakt kann so die Erinnerung an früher erfahrene intensive Formen des Kontaktes aktivieren und den Wunsch wecken, das Kontaktangebot anzunehmen. Erfahrene Präsenz gibt so die Ermutigung zu mehr Selbstpräsenz und Kontaktaufnahme.

Aus dieser Atemerfahrung erwächst früher oder später die Einsicht, dass der eigene Atemrhythmus von den inneren Bedürfnissen und Impulsen bestimmt sein kann, obwohl man sich in der Beziehung in abhängiger Position befindet. Das müsste nach den bishe

12 Vgl. Rufer 1985, S.86

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rigen Erfahrungen eigentlich zum Verlust des eigenen Atems führen. Obwohl man abhängig ist, reagiert der Atem, als ob er unabhängig wäre. Offensichtlich ist es möglich, im Kontakt mit anderen zu sein, ohne den Kontakt zu sich selbst zu verlieren. Am eigenen Leibe wird gespürt, dass man sich als autonom fühlen kann, obwohl man sich in Abhängigkeit befindet.

Dabei ist sicherlich die erfahrene Akzeptanz seitens des Therapeuten eine wichtige, aber nicht hinreichende Erfahrung. Entscheidend ist, dass die Akzeptanz im Kontext der Abhängigkeit erfahren wird. Denn gerade der Widerspruch zwischen erfahrener Abhängigkeit und angestrebter Unabhängigkeit ist der Motor, nach neuen Wegen zu suchen. Das symptomatische Verhalten hatte dazu geführt, dass man das Verhalten anderer kontrolliert und die Abhängigkeit verleugnet hatte. Die positive Erfahrung, dass die Abhängigkeit nicht wie in früheren Beziehungen missbraucht wird, stellt eine Chance dar, die Tatsache der Abhängigkeit neu zu bewerten. Es wird unbewusst die therapeutische Botschaft übernommen, man solle sich mit der Abhängigkeit abfinden und nicht länger dagegen aufbegehren. Es entsteht der paradoxe Effekt, dass durch die therapeutische Verstärkung des abgelehnten Verhaltens der Abhängigkeit die Übernahme von Verantwortung für sich selbst provoziert wird.

Der Patient, der ständig nach einem Ausweg aus der als unerträglich empfundenen Abhängigkeit sucht, findet so eine Lösung, indem er sein Verhalten auf einer tieferen Ebene verändert. Die Lösung besteht darin, dass der Atem aus den mentalen und emotionalen Abhängigkeiten von anderen Personen gelöst wird. Damit löst sich der Gegensatz von Abhängigkeit und Unabhängigkeit auf. Das eine schließt das andere nicht aus, denn beide werden als wechselseitig aufeinander bezogen erlebt. Daraus leitet sich die neue Aufgabe ab, in Beziehungen, die immer mit Abhängigkeit verbunden sind, mehr Autonomie einzubringen. Dass dies möglich ist, zeigt der Atem.

Die entscheidende Entdeckung scheint darin zu bestehen, dass spontan ein inneres Bedürfnis nach Kontakt zum Therapeuten entsteht. Die Wende im Heilungsprozess geschieht also, wenn erfahren wird, dass sich das neue Körpergefühl im zugelassenen Kontakt einstellt, dass aber der Kontakt nicht erzwungen werden kann. Offensichtlich kann für den Kontakt keine unmittelbare Verantwortung übernommen werden, weil der Kontakt nur gelingt, wenn er spontan zu Stande kommt. In der Atemtherapiesitzung kann aber die Erfahrung gemacht werden, dass sich die Kontaktfähigkeit verbessert, wenn man die Verantwortung für den Atem übernimmt. Das kann auf die Weise geschehen, dass man wiederholt die muskulären Verspannungen im Vertrauen auf die natürliche Selbstorganisation loslässt, bevorzugt beim Ausatmen (z.B., indem man bewusst das Gesicht oder der Rücken im Ausatem entspannt). Er kann erfahren werden, wie sich der Kontakt zum Therapeuten intensiviert, wenn der Atem losgelassen wird.

Immer häufiger wird die Erfahrung gemacht, dass sich im Verlauf der Atemtherapiesitzung die Qualität des Atems deutlich verändert. Die Frequenz kann auf etwas mehr als die Hälfte der alltäglichen Frequenz von ca. 15 Atemzyklen pro Minute absinken, so-dass der Atem als ruhig und ausgeglichen erlebt wird. Die Übergänge zwischen dem Ein- und Ausatem werden so fließend, dass sie kaum noch wahrnehmbar sind. Der Atem erfasst den ganzen Körper, sodass man mit seinem ganzen Körper in Kontakt kommt. Er wird völlig mühelos, sodass man den Eindruck gewinnt, dass man geatmet wird. Vor allem kostet es immer weniger Anstrengung, mit dem Bewusstsein beim Atem zu bleiben. Es ist eher so, dass es als ganz selbstverständlich empfunden wird,

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dass das Bewusstsein mit dem Atem geht. Es identifiziert sich mit dem Atem, der damit als mein Atem gleichsam ins Zentrum des Seins tritt. Gleichzeitig reagiert der Atem differenzierter auf die Berührungen in unterschiedlichen Körperzonen. Die veränderte Qualität des Atems teilt sich als ein Gefühl der Freude, des Erfülltseins und der Leichtigkeit mit. Es stellt sich die sehnsüchtige Frage, warum der Atem nicht immer so sein kann.

Man könnte diesen Atemzustand als zugelassenen Atem bezeichnen, wie es von vielen Atemtherapeuten unter dem Einfluss von Ilse Middendorf getan wird13. Das Verb <zulassen> ist etwas irreführend, da es auch das aktive Moment enthält, dass <ich> etwas zulasse. Das Zulassen ist aber keine Aktivität im üblichen Sinne, sondern es stellt sich von selbst ein, wenn der Kontakt keine Ängste mehr weckt. Dieser Atemzustand sollte als autonomer Atem bezeichnet werden, da sein hervorstechendes Merkmal ein neu gewonnener Zustand innerer Freiheit zum Kontakt ist. Vor allem ist das Gefühl damit verbunden, dass sich darin das eigene innere Wesen ausdrückt.

Sicherlich wird diese Erfahrung des autonomen Atems durch das Setting der Atemtherapie begünstigt. Der Kontakt ist auf die körperlichen Berührungen beschränkt, und die Beziehung zum Therapeuten ist von allen psychischen und mentalen Inhalten entleert, sodass keine persönlichen angstbesetzten Themen direkt angesprochen werden. Allein der Atem gerät ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Es wird gespürt, wie die Sammlung auf den Punkt des Kontaktes den Atem holt, und die Erfahrung gemacht, dass sich dort der Atem einstellt, wo man sich in den Empfindungen sammelt. Der Patient wird ermuntert, sich mit seinem Bewusstsein immer öfter der berührenden Hand des Therapeuten zuzuwenden und die spezifische Reaktion des Atems darauf wahrzunehmen. Zwischen den fragenden Händen des Therapeuten und den Atemantworten des Patienten kann sich ein Art von Dialog entwickeln, der immer mehr gleichberechtigte Züge annimmt, wenn er aus dem autonomen Atem heraus erfolgt. Das Bewusstsein pendelt dann zwischen der Hinwendung zum Kontakt und der Rückwendung zu den eigenen Empfindungen hin und her.

Offensichtlich bietet der Therapeut einen Kontakt an, in dem die inneren Vorstellungen, die Angst vor Kontakt wecken, außer Kraft gesetzt werden können. Die Erfahrung zeigt, dass sich die Vorstellungen gleichsam von selbst auflösen, wenn die Erfahrung eines akzeptierenden Kontaktes gemacht wird, in dem der Atem zugelassen werden kann. Es finden wie von selbst verschiedene innere Lösungsprozesse statt: muskuläre Entspannung, emotionale Freisetzungen, spontane Gedanken, innere Stimmen. Es sind Erfahrungen von selbsttätigen autonomen Prozessen, die individuell sehr unterschiedlich ausfallen können.

Während oder nach der Behandlung wird immer wieder deutlich gespürt, wie sich bestimmte muskuläre Verspannungen spontan auflösen, auch wenn der Therapeut gar nicht direkt daran gearbeitet hat. Oft wird man sich der Verspannung erst bewusst, wenn sie sich auflöst. Es wird oft beobachtet, dass jeder Mensch eine bestimmte Schlüsselverspannung hat (z.B. im Kiefergelenk). Löst sie sich auf, strahlt dies entspannend auf den ganzen Körper aus. Im Zuge der Auflösung von Verspannungen wird das Empfindungsbewusstsein so verfeinert, dass gespürt wird, wie der Atem den ganzen Körper in seinen Rhythmus einbezieht. Es kann gespürt werden, wie sowohl die harten, überspannten, als auch die schlaffen, unterspannten Körperzonen aus der körperinternen Kommunikation ausgesperrt werden und dadurch den Atem blockieren. Wenn sich das Bewusstsein ih

13 Z.B. K. Fischer/ E. Kemmann-Huber 1999

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nen zuwenden kann, füllen sie sich mit Lebendigkeit, da sie für den Atem durchlässiger werden. Es fällt leichter, dem Fluss der mit der Atemdynamik wechselnden Empfindungen zu folgen, ohne sie mit Gedanken oder Vorstellungen zu stören.

Die ersten Verbesserungen des Körpergefühls und des Verhaltens werden ausschließlich dem Therapeuten zugeschrieben. Solange aber alle Veränderungen als vom Therapeuten kommend erlebt werden, können keine psychischen Veränderungen geschehen. Das Muster, die Schuld für die eigenen Symptome anderen zuzuschreiben, wird sich erst wandeln, wenn man aufhört zu leugnen, dass man für seine Symptome selbst verantwortlich ist. Dies geschieht, wenn wiederholt der autonome Atem erfahren wird und sich die Erfahrung aufdrängt, dass das verbesserte Körpergefühl allein davon abhängig ist, dass man den Kontakt zum Therapeuten zulässt bzw. aus dem eigenen Bedürfnis heraus herstellt.

Im wachsamen Bewusstsein für den Atem wird gelernt, beim Kontakt mit den von außen kommenden Berührungsreizen gleichzeitig auch im Kontakt mit den damit verbundenen eigenen Empfindungen zu sein. Diese Empfindungs- und Spürfähigkeiten begründen ein sensibles Körperbewusstsein, das sein Zentrum im Bewusstsein für den eigenen Atem hat. Sie sind die Basisfähigkeit für emotionale Autonomie, da autonomes Handeln davon abhängig ist, dass man sich von dem inneren Spürsinn leiten lassen kann, der umso sicherer ist, je mehr man mit seinen eigenen Empfindungen in Kontakt ist14. Die neu gelernte Empfindungsfähigkeit bewährt sich im Alltag als die Fähigkeit, etwas angstfreier in der Gegenwart zu leben.

In dem Maße, wie der Patient in der vertrauensvollen und geborgenen therapeutischen Beziehung spontan in Kontakt geht, kann er auch mehr Gefühle zulassen. Dies ist aber keine entscheidende Bedingung für den Heilungsprozess. Oft findet die Auseinandersetzung mit den Gefühlen vorrangig direkt im Alltag statt, weil man jetzt in den konkreten Handlungssituationen näher an seinen Gefühlen ist. Der autonome Atem äußert sich als Selbstvertrauen, als Bereitschaft, sich mit allen Mängeln und Schwächen anzunehmen, und als das Gefühl der Kraft, mit den eigenen Problem fertig zu werden. Die verbesserte Selbstakzeptanz wirkt sich darin aus, dass die inneren Stimmen aufhören, das eigene Denken und Verhalten ständig negativ zu bewerten. Es entsteht ein Vertrauen in die innere emotionale Orientierung, von der man sich führen lassen kann.

Jede gelungene Sitzung gibt einen Anstoß, im Alltag spontan kleine Veränderungen auszuprobieren. Die Impulse zu anderem Verhalten stellen sich spontan ein; es kommt nur darauf an, sie nicht abzuwehren. Der Mut, den Impulsen zu einem anderen Verhalten nachzugeben, kommt zum einen aus der Überzeugung, dass sich Veränderungen nur einstellen, wenn man anders handelt, da das Wohlbefinden davon abhängig ist, inwieweit man seine Bedürfnisse in die Kommunikation einbringen kann. Zum anderen aus der Überzeugung, dass man jetzt mehr Kraft hat, mit den daraus erwachsenden Problemen fertig zu werden. Es wird öfter bewusst gespürt, wie man im Interesse der Bedürfnisse des Partners oder aus Angst vor dessen Meinung die eigenen Bedürfnisse zurückhält. Der eigentliche Heilungsprozess findet so meist zwischen den Sitzungen statt.

Aus dieser Perspektive wird verständlich, warum auch psychische Veränderungen geschehen können, ohne dass Emotionen direkt fühlbar freigesetzt werden. Offensichtlich muss das psychoanalytische Dogma, dass Heilungsprozesse an Einsicht und Bewusst-

14 Vgl. Pothast 1998

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werdung gebunden sind, in Frage gestellt werden. Für den Veränderungsprozess müssen die blockierenden Vorstellungen nicht bewusst reflektierend aufgelöst werden. Ebenso wenig müssen die Kindheitstraumata aufgearbeitet werden, da sie sich ohnehin alltäglich in jedem Kontakt aktualisieren und spontan daran bearbeitet werden können. Es ist auch nicht erforderlich, dass die Emotionen bewusst verstärkt werden. Sie melden sich spontan, wenn die Kraft zu ihrer Verarbeitung da ist bzw. sich die soziale Situation so weit geändert hat, dass sie verarbeitet werden können. Der eigentliche Veränderungsprozess läuft in einer tieferen Schicht ab. Sowenig wie man sich der Entscheidung für die Krankheit bewusst ist, sowenig muss der Entschluss für die Heilung in jedem Fall bewusst getroffen werden. Allerdings muss die Bereitschaft vorhanden sein, die Symptome, mit denen das Verhalten des an deren kontrolliert werden, aufzugeben und durch reifere Formen des Kontaktes zu ersetzen.

In der Praxis ist es oft angezeigt, die Arbeit im Liegen durch Arbeit im Sitzen oder in der Bewegung zu ergänzen. Dadurch kann die Mitwirkung des Patienten bei der Erarbeitung der Empfindungs- und Spürfähigkeiten gefördert werden. Ebenso sollten die Erfahrungen, die der Patient während der Atemsitzung macht, im mündlichen Gespräch nachbearbeitet werden. Es braucht nicht erwähnt zu werden, dass der Spielraum für Veränderungen erheblich größer ist, wenn der Partner bzw. die Bezugsgruppe bereit sind, Verhaltensveränderungen positiv aufzunehmen. Es ist deshalb empfehlenswert, dass auch der Partner des Patienten gleichzeitig eine Therapie aufnimmt.

Es zeigt sich, dass die Atemtherapie keine reine Körpertherapie ist. Sie verdankt ihre Wirkung dem Moment, dass auf einer tiefen Ebene ein vertrauensvoller Kontakt hergestellt und ein neues Beziehungsmodell erlernt wird, das sich durch Gleichrangigkeit und Abgrenzungsfähigkeit auszeichnet. Die Atemtherapie stellt ein extremes Abhängigkeitsverhältnis her, in dem die bisherigen Verhaltensweisen, mit Abhängigkeit umzugehen, verändert werden müssen. Sie ist offensichtlich, von ihrer Wirkungsweise her gesehen, ebenso Psychotherapie wie die rein sprachlich vorgehenden Methoden.

Die Atemtherapie ist insofern eine ideale Therapie, als sie einem Krankheitsparadigma folgt, das dem Verständnis der Krankheit als einer emotionalen Grundstörung entspricht. Sie bearbeitet nicht spezielle Krankheiten mit differenzierten Therapien, wie dies in der naturwissenschaftlichen Medizin die Praxis ist, sondern versucht die Grundstörung zu beseitigen, indem sie sich an das Kernproblem des gestörten Kontaktes und damit an die Person als Ganze wendet. Sie nimmt Kontakt mit dem Atem des Patienten auf und ermöglicht die Erfahrung, dass die eigentliche Regulation des Verhaltens auf der Ebene des Atems stattfindet. Atemtherapie kann wirksam sein, weil sich das Grundmuster der Beziehung im Atem abbildet. So entspricht z.B. der Selbstkontrolle ein kontrollierter Atem oder geht Fremdbestimmung mit dem Verlust der Fähigkeit einher, sich am Atem zu orientieren. In der Erfahrung des autonomen Atems wird spürbar, wie in ihm eine sichere Orientierung gefunden werden kann. Die spontane Veränderung der Atemmuster kann deshalb tief greifende Persönlichkeitsveränderungen herbeiführen.

Die Atemtherapie hat nur dann dauerhaft Erfolg, wenn das mechanistische Körperverständnis, das die Selbstverantwortung behindert, geändert wird. Vor allem dürfen die <Seele> u.ä. nicht mehr als Ursache für Störungen herangezogen werden. «Das landläufige Denken betrachtet Leib und Seele als zwei getrennte Größen. Wenn zugelassen wird, dass im Verlauf einer analytischen Therapie diese Denkweise beibehalten wird, entsteht ein Abgrund zwischen dem, was der Patient erfährt und der Art, wie er funktio

168

niert. So kann die Illusion fortbestehen, dass Wissen ein Ersatz für Gefühle ist» (Löwen 1993, S.403). Das Verständnis der Atemtherapie muss deshalb so aufgebaut werden, dass der Patient an sich selbst erleben kann, dass die begrifflichen Trennungen zwischen Körper, Geist und Seele irreführend sind und dass selbst noch die Formel von der leibseelischen Einheit problematisch ist, da sie immer noch einen Schnitt zwischen Leib und Seele macht. In Wirklichkeit spielt sich das ganze emotionale und geistige Leben im körperlichen Atem ab. Keine Therapie ist deshalb mehr als die Atemtherapie geeignet, ein ganzheitliches Körperbewusstsein zu vermitteln (vgl. Kap. 10.1).

9.2.2 Der symptomatische Weg der Atemübungen

«Solange der Atem im Leibe wohnt, ist Leben da. Schwindet der Atem, so schwindet das Leben. Daher lenke deinen Atem.» (Haha Yoga Pradipika, 11,3 )

Viele Ärzte empfehlen gezielte Atemübungen, um damit bestimmte Krankheiten zu heilen. Meist geht es um die bewusst herbeigeführte Vertiefung der Atmung, um damit eine Stärkung des Zwerchfells und eine Intensivierung der Bauchatmung zu erreichen15. Diese Formen des direkten Eingriffs in die Atemdynamik stehen in einer langen Tradition. So hat die indische Atemlehre des Pranayama ihre Substanz in Anleitungen, die die gestörte Selbstorganisation des Atems wiederherstellen, verbessern sollen. Wie die große Indikationsbreite des chinesischen Qigong zeigt, sprechen fast alle Krankheiten auf Atemübungen an. Es wird keineswegs der Anspruch erhoben, dass alle Krankheiten damit behandelbar seien. Im Qigong sind z.B. akute Erkrankungen und Geisteskrankheiten Kontraindikationen. Wenn Qigong nicht heilt, wird immerhin der Genesungsprozess gefördert, der Gesundheitszustand verbessert und das Leben verlängert. Diese Erfahrungen lassen sich auf die westliche Atemtherapie übertragen, deren Schwergewicht eher bei der Prophylaxe gesehen wird.

Wahrscheinlich gehen die orientalischen Vorstellungen der Atemregulation auf die Erfahrung zurück, dass sich für die meisten Menschen, die in Herrschaftsverhältnissen zu leben gezwungen sind, das Leben so radikal verändert, dass es kaum noch der menschlichen Natur entspricht. Die permanente Zurückhaltung des Widerstandes gegenüber mächtigeren Menschen, die Unterwerfung und Anpassung verlangen, führen zu einer Drosselung der Emotionalität und damit auch zu einer Schwächung der Atemmuskeln. Dieser Effekt wird durch den zunehmenden Mangel an körperlicher Bewegung auf Grund von wenig anstrengender Arbeit und der zunehmenden Benutzung von Transportmitteln weiter verstärkt. Auch der Trend zur Individualisierung, die mit relativ viel Angst verbunden ist, belastet die Atmung. Die Folge der veränderten Lebensweise besteht in chronischer Reduktion der Atmung, sodass bei Lebenskrisen leicht eine kritische Schwelle unterschritten wird. In den orientalischen Kulturen wurde intuitiv erkannt, dass das kulturell erzeugte Atemdefizit durch alltägliche Atemarbeit kompensiert werden muss. Aus den Überlieferungen geht nicht hervor, dass man sich dieser Zusammenhänge bewusst war. Aber die Tatsache, dass die Theorien der Atemregulation zu einer Zeit auftauchten und Verbreitung fanden, als sich die ökonomischen und politischen Verhältnisse in Richtung Geldwirtschaft und Zentralstaat veränderten, legt den Schluss nahe, dass die Atemtheorien ein Reflex auf die veränderten Lebensbedingungen waren (vgl. Kap. 3.4).

Auf den ersten Blick scheint die bewusste Atemregulation im Widerspruch zu der spon

15 Z.B. Hendricks 1995

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tanen Reagibilität des Atems zu stehen. In der europäischen Atemtradition wird jeder Versuch, den Atem willkürlich zu beeinflussen, mit dem Vorwurf der Manipulation verworfen. Jedes absichtliche tiefe Ein- und Ausatmen oder Atemanhalten wird als falsch angesehen, da dadurch die vegetative Steuerung des Atems geschädigt werde16. Es entstehe ein Kunstatem, der die inneren Kräfte in Unordnung bringe. Das Ziel, dass sich der Atem wieder flexibel den jeweiligen Handlungen des Organismus anpasst, könne nicht mit der willkürlichen Verlangsamung und Vertiefung der Atmung erreicht werden.

Diese Kritik der bewussten Atemregulation basiert auf einer falschen Entgegensetzung von Naturatmung und Willensatmung17. Bei der Naturatmung erfolge die Steuerung der Atmung aus den vegetativen Atemzentren im Hirnstamm, während bei der Willensatmung die Gehirnrinde (Neocortex) dominant sei. Oben wurde bereits die Vorstellung des natürlichen, freien Atems als Fiktion kritisiert (vgl. Kap. 3.3). Die Atmung des Menschen als eines animal sociale ist vom Schicksal seiner Emotionen abhängig geworden, die unvermeidlich vom sozialen Umfeld geprägt werden. Es gibt deshalb im Alltag keinen Atemzug mehr, der nicht von gesellschaftlich geprägten Vorstellungen mitbestimmt wird. Insofern ist jeder unwillkürliche Atemzug letztlich auch willkürlich. Die Unterscheidung zwischen willkürlichem und unwillkürlichem Atem wird bedeutungslos und ist untauglich, die zweifellos vorhandenen Unterschiede im Atem zu kennzeichnen18.

Nach den bisherigen Überlegungen liegt das entscheidende Prüfkriterium für die Qualität des Atems darin, ob sich jemand im Einklang mit den eigenen persönlichen Wünschen und Bedürfnissen verhält oder ob er sich fremdbestimmt an äußerlich übernommenen Vorstellungen orientiert. Da jedes Verhalten von vorstellungsgeleiteten Absichten geprägt ist, kann sich der Atem nur dann an das Verhalten anschmiegen, wenn es im Einklang mit den inneren Impulsen steht. Da dann alle körperlichen Schwingungen ein hohes Maß an Kohärenz haben, kann der Atem eine dem Verhalten gemäße Form finden. Das Verhalten wirkt dann gelöst, strömend und harmonisch. Aus der Einheit von Atem und Bewegung entsteht der Eindruck der naturgemäßen Atmung. Beim genauen Hinsehen handelt es sich aber um einen komplexen Gestaltungsvorgang, der nichts mit ursprünglicher Natur zu tun hat. Im besten Fall ist die hergestellte Spontaneität eine <zweite Nahm. Dagegen wird die Atmung bei der Orientierung an äußeren Erwartungen zwangsläufig zerstückelt, da natürlich auch die vernachlässigten eigenen Bedürfnisse ihr Recht fordern. Durch den inneren Zwiespalt wird der einheitliche Atem zerrissen. Dies ist am starren, unstetigen, ungeordneten und gewohnheitsmäßigen Verlauf der Bewegungen festzustellen.

Im spontanen, von der Selbstorganisation getragenen Handeln löst sich der Unterschied zwischen aktivem Handeln und passivem Gehandeltwerden auf. So, wie es für das Denken bestimmt wurde (vgl. Kap. 3.3), gibt es auch beim Handeln und damit auch beim Atmen nur Selbstregulation. Der scheinbar kontrollierte, vom Ich gemachte Atem ist Ausdruck eines Menschen, der in sich zerrissen ist und bestimmte Emotionen nicht zulassen kann. Der kontrolliert wirkende Atem ist somit genauso selbsttätig wie der natürlich wirkende Atem.

Damit muss die westliche Kritik an der angeblich mechanistischen Atemregulation der

16 Vgl. Jacobs 1985, S.264

17 Jacobs 1985, S.202ff

18 Schaarschuch 1979

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östlichen Atemlehren relativiert werden19. Wie gezeigt, gibt es zwingende gesellschaftliche Gründe, mit geeigneten Ritualen dafür zu sorgen, dass der spontane Atem ein größeres Volumen bekommt. Deshalb wird die bewusst vorgenommene Bauchatmung (Zwerchfellatmung), bei der sich das Bewusstsein in den Bewegungen des Zwerchfells sammelt, zu Recht immer wieder als ein hervorragendes Mittel zum Stressmanagement hervorgehoben. Deshalb ist die Atemregulation des Pranayama sinnvoll, da durch sie die Selbstregulation des Atems verbessert werden kann. So ist es auch sinnvoll, bei anstrengenden Tätigkeiten wie z.B. bei starkem Steigen forciert auszuatmen. Solche bewussten Eingriffe werden überflüssig, wenn die Ausatemmuskulatur so weit gestärkt ist, dass sich der Atem von selbst an die veränderten Anforderungen anpassen kann. In diesem Sinne kann es zweckmäßig sein, für die Heilung von Krankheiten bewusst den Atem zu vertiefen, um zunächst die physiologischen Bedingungen der erkrankten Organe spürbar zu verbessern.

Da kranke Menschen stets unter Gefühlskontrolle leiden, ist die Bereitschaft zur Mitarbeit größer, wenn aktiv durchzuführende Atemrituale verordnet werden. Dass die kontrollierte Atmung die bestehende Selbstdisziplin zunächst weiter verfestigt, kann in Kauf genommen werden, wenn damit das Sauerstoffdefizit beseitigt wird, sodass mehr Gefühle zugelassen werden können. Der regulierte Atem ist häufig ein Weg zur Entdeckung der körperlichen Entspannung. Entscheidend ist, dass die Atemübungen nicht dogmatisch angewandt werden, sondern dass von Anfang an der Umgang mit dem Atem eher spielerisch ist, immer mit der Achtsamkeit verbunden, welche körperlichen und emotionalen Auswirkungen er hat. Die Übungen stellen so ein erstes Kennenlernen des Atems dar. Sukzessive kann mehr autonomer Atem zugelassen werden. Im Folgenden werden kurz zwei Standardatemübungen dargestellt:

• Sitz aufrecht und spüre die Sitzbeinhöcker. Verfolge mit der inneren

Aufmerksamkeit die Einatembewegung des Zwerchfells in den Bauchraum hinein und die dadurch ausgelöste Dehnung der Bauchdecke. Es fühlt sich an, als würde ein Segel, das vorn am Rippenkorb und hinten an der Lendenwirbelsäule befestigt ist, nach unten und nach vorn bewegt werden. Beim Ausatmen soll wahrgenommen werden, wie sich die Bauchdecke entspannt und das Zwerchfellsegel in die Ausgangslage zurückschwingt. Man kann die linke Hand auf den Unterbauch legen, um das Gespür für die Prozesse zu erhöhen. Diese Grundübung wird erfolgreich in der Herztherapie einge-setzt20.

• Die Bauchatmung wird zur Tiefenatmung, wenn das Ausatmen bewusst verlängert wird. Es hat sich bewährt, dass man hierzu stoßartig ausatmet oder ein <U> tönt, ohne sich anzustrengen. Der Ausatem soll etwa doppelt so lang wie der Einatem sein. Wichtig ist, dass man den Einatem einfach kommen lässt, ohne ihn beeinflussen zu wollen.

Das Problem der Atemregulation besteht darin, dass die Gefahr besteht, dass sie den Irrtum der mentalen Selbstkontrolle bestärkt. Dies gilt insbesondere für das Pranayama, das mit seiner Betonung des Atemanhaltens nach der Einatmung, das der natürlichen Atemdynamik zuwiderläuft, eine starke mentale Kontrolle verlangt. Die Atemübungen

19 Es ist bemerkenswert, dass bei der westlichen Atemtherapie die Vertreter fast ausschließlich Frauen sind, während es bei den esoterischen Atemlehren Männer waren. Insofern spiegeln sich in den unterschiedlichen Auffassungen auch unreflektierte, kulturell anerzogene geschlechtsspezifische Unterschiede.

20 Ornish 1992, S.231

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können dazu missbraucht werden, die Fremdbestimmung über den Körper zu erhöhen, insbesondere da das Pranayama kein Wissen davon hat, dass die eigentliche Quelle der Energieblockierungen in unangepassten Vorstellungen liegt. Wenn allerdings berücksichtigt wird, dass die Pranayamaübungen eine Vorbereitung auf die Meditation darstellen und mit ihnen die Voraussetzungen für selbstorganisiertes Atmen während der Meditation geschaffen werden sollen, kann diese Gefahr vermieden werden.

Die gesundheitsfördernde Wirkung von Atemübungen (z.B. Tiefenatmung oder Bauchatmung) kann nach Ardenne damit erklärt werden, dass sie die Schwellung der Gefäßwände, die durch Sauerstoffmangel hervorgerufen wird und die den Transport des Sauerstoffs durch die Membranen der Blutgefäße behindert, rückgängig gemachen. Ardenne postuliert einen reversiblen Schaltmechanismus. Wenn die Sauerstoffzufuhr einige Zeit deutlich erhöht wird, löst sich die Schwellung der Gefäßwände wieder auf, sodass die Sauerstoffaufnahme in den Zellen nun auch nachhaltig wieder auf das normale Niveau gesunder Sauerstoffversorgung angehoben wird21.

Die mechanischen Atemübungen werden eigentlich erst zum Problem, wenn sie mit der Illusion verbunden werden, dass sie ein Garant ganzheitlicher Heilung seien. Mehr noch als bei der ganzheitlichen Atembehandlung ist bei mechanischen Atemübungen eine begleitende Psychotherapie erforderlich, in der die emotionalen Bedürfnisse nach Anlehnung und Abhängigkeit und die Unfähigkeit zur Abgrenzung direkt auf der mentalen Ebene bearbeitet werden. In dem Maße, wie die Bedürfnisse nach Fremdbestimmung erkannt und mehr Gefühle zugelassen werden, treten ganz von selbst die mechanischen Atemübungen zurück und machen einem Bewusstsein für die vielfältige Ansprechbar-keit des Atems durch äußere und innere Reize Platz. In den Übungen lernt der Organismus, dass sich Atem und Bewegung wechselseitig anpassen und einen Gleichklang herstellen. Der Atem gewinnt seine Reagibilität zurück, wenn die Bewegungen mit mehr Aufmerksamkeit, Achtsamkeit und Präsenz vollzogen werden.

Da die Atemtherapie direkt an der Atemmembran ansetzt, bezieht sie alle emotionalen und mentalen Aspekte der Krankheit mit ein. Dadurch werden aber keineswegs andere Therapieformen in Frage gestellt. Oft ist es wichtiger, dass die Art der Therapie der psychischen Struktur und den Erwartungen des Patienten angepasst wird. Vor allem muss der Therapeut von seiner Therapie überzeugt sein und fähig sein, einen vertrauensvollen Kontakt zum Patienten herzustellen. Therapie ist keine Frage der Technik. Die Therapieforschung hat gezeigt, dass jede Therapie nur so gut ist, wie es der Kontakt ist, den der Therapeut zum Patienten herstellen kann. Letztlich beruht wahrscheinlich die Wirksamkeit aller Therapien darauf, dass es ihnen gelingt, die Atemmembran anzusprechen und den Körper des Patienten für die Atemwelle zu öffnen. Die unentbehrlichen Voraussetzungen dafür sind, dass der Patient über einen starken Willen zur Gesundung verfügt und intensiv von seinem sozialen Umfeld unterstützt wird.

Grundsätzlich wäre zu prüfen, ob nicht die Befreiung des Atems von blockierenden Vorstellungen der gemeinsame Nenner aller Psycho- und Körpertherapien ist. Offensichtlich lassen sich die Vorstellungen mit den vielfältigsten Methoden auflösen. Letztlich geht es bei jeder Therapie darum, die subjektiven Definitionen des eigenen Verhaltens so zu verändern, dass sie mehr Lebensfreude ermöglichen. Lebensfreude ist aber nur möglich, wenn der Kontakt mit anderen Menschen ohne Angst aufgenommen werden kann, und das bedeutet, dass der Atem nicht durch einengende Vorstellungen blo

21 Vgl. Ardenne 1987

172

ckiert wird.

10 Folgerungen: Die Notwendigkeit der kulturellen Aufwertung des Atems

«Wer sich mit der Atemlehre beschäftigt, findet allmählich zu den Gesetzen des Rhythmus und der Einheit von Seele, Geist und Körper.» (Ludwig Schmitt)

Wenn die Rolle des Atems beim Denken und Fühlen begriffen wird, wird dadurch keineswegs die Erhabenheit des Denkens oder die Tiefe des Fühlens geschmälert. Im Gegenteil erweitert sich das Selbstbewusstsein um die Dimension, dass die Menschen tief mit ihrer Umwelt verbunden sind. Man leidet, wenn die emotionale Kommunikation gestört ist und zu wenig taktilen Kontakt und sinnliche Resonanz enthält. Dagegen gewinnen die Gedanken an Wahrhaftigkeit, wenn sie in einem bewussten emotionalen Kontakt eingebettet sind. Der vorliegende Versuch, Geist und Seele als Ausdifferenzierungen des Atems zu verstehen, hat deshalb nichts mit den früheren materialistischen Konzepten zu tun, in denen der Geist auf das Materielle reduziert wurde. Es geht vielmehr darum, sowohl die Mystifizierung des Geistes zu einer immateriellen Größe als auch die Mystifizierung des Materiellen zum Nur-Materiellen rückgängig zu machen und dadurch die Liebe zum Leben zu stärken.

10.1 Zur Überwindung des Dualismus von Körper und Geist

«Dualistisches Denken ist Suchtdenken.» (Anne Wilson Schaef)

Seitdem allgemein anerkannt ist, dass der Dualismus nicht nur die Erfahrung des eigenen Körpers behindert, sondern regelrecht krank macht, wird intensiv an seiner Überwindung gearbeitet. Das verbreiteste Interpretationsschema besteht darin, dass Geist und Materie nur «zwei verschiedene Aspekte oder Dimensionen ein und desselben Phänomens - des Lebens - darstellen» (Capra 1996, S.201). Diese Vorstellung, dass die eine Wirklichkeit sowohl einen mentalen wie einen physischen Aspekt hat, hilft allerdings nicht viel weiter, solange unklar ist, was das Gemeinsame von Geist und Materie ist und wie das eine aus dem anderen hervorgeht. Auch die materialistischen Theorien konnten ihren Anspruch, den Dualismus zu überwinden, nicht einlösen, da sie nicht in der Lage waren, ihre These, dass der Geist etwas Materielles sei, logisch widerspruchsfrei zu ent-falten1.

Auf der Grundlage der bisherigen Überlegungen ergibt sich, dass das Gemeinsame von Körper und Geist darin liegt, dass sowohl die körperlichen als auch die emotionalen Funktionen auf Bewegungsprozessen basieren. Daraus ergibt sich ein neues Paradigma für die Einheit des Körpers: Der Unterschied zwischen Körper und Geist liegt lediglich in unterschiedlich strukturierten Bewegungen. Stets liegt ein Austausch von Informationen vor.

Der Begriff des Geistes kann auf das körperliche Vermögen bezogen werden, mit Hilfe der Atemmuskulatur Laute zu produzieren, denen im kommunikativen Austausch der sozialen Gemeinschaft eine bestimmte Bedeutung zugewiesen wird. Indem sich der Atem bei den Menschen zu begrifflichen Gedankenbewegungen ausdifferenziert, wird das Prinzip, dass alles Leben von Anfang an aus Informationsaustauschprozessen be-

1 Vgl. Brüntrup 1996

173

steht, auf eine neue qualitative Stufe gehoben, ohne dass dabei aber die Verankerung des Informationsaustausches in physiologischen Prozessen aufgehoben wird. Das Mentale ist keineswegs eine vom übrigen Körper abtrennbare Funktion, sondern ist eine Erscheinungsform des ganzen Körpers, insbesondere der Atemmembran. Der Begriff Geist ist deshalb nicht mehr als ein Symbol für die Klasse der körperlichen Bewegungen, mit denen die begriffliche Kommunikation mit anderen Menschen durchgeführt wird.

Der Begriff <Körper> scheint sich primär auf das materielle Substrat zu beziehen. Wenn man aber genauer hinschaut, besteht der Körper in der Hauptsache aus Funktionen, die den Austausch der einzelnen Körperzellen innerhalb des Organismus und mit der Umwelt organisieren. Denn Leben kann sich nur erhalten, wenn alle Körperzellen in ununterbrochenem Informationsaustausch mit ihrem jeweiligen Milieu stehen. Während der innerorganismische Informationsaustausch mit biochemischen und physikalischen Faktoren arbeitet, wird der Austausch mit der Umwelt teils mit körperlichen Bewegungen (z.B. Essen) und teils mit symbolisch beladenen Bewegungen (Emotionen und Begriffen) hergestellt. Somit enthält auch der Begriff des Körpers materielle und informationeile Aspekte.

Es ist deshalb nicht zutreffend, dass die Wirklichkeit in dem Sinne bipolar sei2, dass den Begriffen Körper und Geist zwei Aspekte der physischen Welt entsprechen. Das Mentale ist von vornherein ein zentraler Bestandteil des Lebendigen, da alles Lebendige auf Informationsaustausch angewiesen ist. Wenn davon die Rede ist, dass das Leben beseelt sei, wird darauf Bezug genommen, dass sich das Lebendige mit Hilfe von Informationen selbst organisiert. Der Weg des Lebendigen besteht offensichtlich darin, physiologisch erforderliche Funktionen zusätzlich für den symbolischen Informationsaustausch zu benutzen. Der Gedanke der radikalen Körper-Geist-Einheit muss deshalb so interpretiert werden, dass das Physische das Mentale in sich enthält und dass das Mentale eine besondere Entfaltungsform des Physischen darstellt. Es gibt beim Menschen weder reine Materie noch reinen Geist, da alle Teile des Körpers an dem inneren und äußeren Informationsaustausch beteiligt sind.

Es ist interessant zu beobachten, dass in der Quantenphysik eine mentale Verursachung für möglich gehalten wird. «Es wird angenommen, dass es <Kräfte> gibt, die von der Form und damit dem Informationsgehalt eines Feldes abhängen und nicht von seiner Stärke (Amplitude) ...Wir könnten diese <neue> Art der Verursachung auch <physisch> nennen, aber sollten nicht vergessen, dass sie sich von der klassischen Vorstellung lokal interagierender Substanzen (nach Art von Billardbällen) oder von Feldeffekten, die mit der Distanz abnehmen, radikal unterscheidet» (Brüntrup 1996, S.148). Das würde bedeuten, dass auch in der Physik anerkannt wird, dass bereits in der materiellen Welt der Austausch von Informationen bedeutsam ist.

Aus der Atemanalyse der Emotionen und des Denkens geht hervor, dass die Begriffe Körper und Geist bloße gedankliche Konstruktionen sind, denen kein spezielles materielles Substrat entspricht, sondern denen unterschiedliche Kommunikationsformen zu Grunde liegen. Der Dualismus von Körper und Geist ist demnach nicht Teil der menschlichen Natur, sondern ein kulturelles Produkt. Er konnte entstehen, weil sich die Menschen mit ihren Vorstellungen identifizieren und zugleich die sie begleitenden körperlichen Veränderungen im Atem und im Muskeltonus aus dem Bewusstsein ausblenden. Dem abgestumpften Bewusstsein geht die Erfahrung verloren, dass das Denken stets auf

2 Brüntrup 1996, S. 145

174

dem Hintergrund von emotionalen Spannungs- und Entspannungszuständen stattfindet und von ihnen zutiefst geprägt wird. Das Empfinden für muskuläre Verspannungen, die durch die Unterdrückung entstandenen sind, geht verloren. Die positive Identifikation mit den begrifflichen Aktivitäten führt so zur Entstehung eines eigenen Bereiches <Geist> und die ihr korrespondierende Abwertung der körperlichen Empfindungen lässt den <Körper> entstehen. Wenn das Bewusstsein für die Zusammenhänge zwischen den körperlichen Empfindungen und den Gedanken verloren geht, entwickelt sich zwangsläufig das Bewusstsein, dass das Denken unabhängig vom Körper sei. Es neigt dazu, sich selbst höher zu bewerten und das ihm Entgegengesetzte abzuwerten. <Geist> entsteht so aus dem Nicht-Wahrnehmen und Vergessen der prägenden Abhängigkeiten des Denkens.

Der Begriff <Geist> kann so als die kompensatorische Ideologie des desensibilisierten Körpers begriffen werden, der sich mit der Illusion des unabhängigen Denkens über den Verlust der Orientierung an der eigenen emotionalen und mentalen Spontaneität zu täuschen versucht. Die Hochschätzung des Geistes hat die Abstumpfung der Sinnlichkeit erträglich gemacht. Die begrifflichen Polarisierungen erleichtern es offensichtlich, die innere Kommunikationsstörung erträglich zu machen. Wenn eine unüberwindbare Kluft zwischen <Körper> und <Geist> angenommen wird, kann man sich leichter mit dem Verlust der Verbindung zwischen den Vorstellungen und den Impulsen bzw. Empfindungen abfinden. Darauf basiert der Suchtcharakter des dualistischen Denkens.

Der Dualismus von Körper und Geist ist auch eine Folge der menschlichen Neigung, einheitliche und kontinuierliche Prozesse in polare Gegensätze aufzuspalten. Das polarisierende Denken wird durch die abstrakte Sprache begünstigt, die die Bildhaftigkeit der Begriffe unterdrückt und es somit schwierig macht, fließende Übergänge, wechselseitiges Bezogensein und wechselseitige Durchdringung von Phänomenen zu erfassen. Das Problem am polarisierenden Denken ist, dass diese konstitutive Schwäche der Sprache aus dem Bewusstsein gedrängt und so getan wird, als würden die Denkschemata die Wirklichkeit selbst reflektieren.

Aus pragmatischen Gründen mag es sinnvoll sein, weiterhin von körperlichen, geistigen oder seelischen Prozessen zu sprechen, um damit der Blick auf die körperlichen, emotionalen oder symbolischen Aspekte des einheitlichen Kommunikationsgeschehens zu lenken. Wird aber der körperliche oder der symbolische Pol der Kommunikation als ein eigener Gegenstandsbereich fixiert, wird die untrennbare Einheit von organismischer Bewegung und symbolischem Ausdruck, wie sie besonders bei den Emotionen sichtbar ist, verleugnet. Es darf nicht vergessen werden, dass die Begriffe Geist, Seele und Körper nur praktische Konstrukte sind, um leichter über innere Prozesse reden zu können. Wird ihr fiktiver Charakter vergessen, rächt sich die daraus folgende Personalisierung der Begriffe mit der Fixierung von inneren dynamischen Prozessen: An die Stelle von Achtung vor den inneren selbsttätigen Prozessen treten Gewalt und Intoleranz gegenüber sich selbst.

Der Prozess der Selbstveränderung kann sicherlich wirkungsvoll dadurch unterstützt werden, dass man in der alltäglichen Sprache sensibel gegenüber Formulierungen wird, die an der Fiktion der Zentralität des Geistes bzw. des Ichs festhalten. Statt zu sagen, dass ich traurig bin, müsste es heißen: <Mir ist traurig>. Oder statt zu sagen, <Ich habe die Überzeugung, dass...>, müsste es heißen: <Mir ist die Idee gekommen, dass...>. Mit solchen Formulierungen würde zum Ausdruck kommen, dass man die Gefühle und Ge

175

danken nicht macht, sondern empfängt.

Die Spaltung von Körper und Geist ist nicht ohne weiteres durch richtiges Denken aufzuheben. Wenn das Denken glaubt, mit den begrifflichen Mitteln zur verlorenen Sinnlichkeit zurückzufinden, wird die Suche vergeblich. Denn das Denken selbst ist nicht dazu in der Lage, die körperliche Selbstbeschädigung zu heilen. An die Stelle des Geistes muss vielmehr das Bewusstsein treten, dass jeder dafür zu sorgen hat, die Sensibilität für die eigenen Impulse und Empfindungen zu wecken und den Kontakt zu den Emotionen herzustellen. Das wird erst gelingen, wenn der Atem und die körperlichen Empfindungen spontan stärker ins Bewusstsein treten und in jedem Moment gespürt wird, wie der körperliche und emotionale Zustand von den aktuellen Vorstellungen und vom Zustand des Atems abhängen.

Wenn im esoterischen Denken gefordert wird, das Ich oder das Ego aufzulösen, ist darin letztlich die Hoffnung enthalten, dass damit jene Kraft im Organismus verschwindet, die die Fixierung der Vorstellungen und damit die Fixierung der Atemmembran verursacht. Es wäre aber ein falsches Verständnis der menschlichen Reaktionen, wenn als Ideal hingestellt wird, dass alle Formen der Identifikation aufgegeben werden sollen. Jedes Handeln braucht vorübergehende Identifikationen mit Gefühlen und Gedanken. Menschliches Handeln ist im Idealfall ein fließender Prozess zwischen Identifikation und Desidentifikation. Allenfalls im Ruhezustand der Meditation kann der bilderlose und begriffslose Zustand über eine längere Dauer erfahren werden.

Die Auflösung des Ichs ist eine Fiktion, da das Ich selbst eine Fiktion ist (vgl. Kap.3.2). Es geht vielmehr darum, dass die Atemmembran so reaktionsfähig wird, dass der Einzelne flexibel, d.h. situationsangemessen und kritisch mit seinen Vorstellungen, auf die er zum Handeln angewiesen ist, umgehen kann. Die Kunst des Lebens besteht darin, die Identifikationen nur so lange festzuhalten, wie dies für das Handeln erforderlich ist, und sie aufzugeben, wenn sie für die offene Erfahrung der Welt hinderlich sind. Das setzt eine Organisation des Lebens voraus, das viele Pausen der Muße hat. Das freie Spiel des Atems kann sich dann im <Tanz der Gedanken> ausdrücken. So, wie die tänzerischen Bewegungen spontan kommen, wenn man sich ganz auf den Tanz einlassen kann, so werden die inneren Bewegungen der Gedanken tanzen, wenn keine Ängste ihren Ablauf stören. So, wie der Organismus in den tänzerischen Bewegungen versucht, sich von eingefrorenen Bewegungsabläufen zu befreien, so haben die freien Gedankenbewegungen das Ziel, Harmonie im sozialen Kontakt mit anderen Menschen herzustellen. In diesem Sinn sind die esoterischen Formulierungen zu verstehen, «den Geist mit dem Strom fließen zu lassen» oder «sich dem Lauf der Dinge anzupassen»3.

10.2 Zur Kritik der esoterischen Anatomie

«Wenn du mit den Dingen gehst, vermeidest du die Trennung von ihnen. Wenn du den Gefühlen freien Lauf lässt, vermeidest du Ermüdung.» (Allan Watts)

Bei der Analyse der Emotionen und Gedanken wurde immer wieder auf esoterische Vorstellungen Bezug genommen und gezeigt, dass sie besser verstanden werden könnten, wenn sie aus der Atemdynamik abgeleitet werden. Im Folgenden soll das esoterische Energiekonzept aus der Perspektive der oben entwickelten rationalen Atemtheorie analysiert werden. Meine These ist, dass das Energiekonzept eine Interpretation von

3 Chia,1985, S.186 und 164

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Atemerfahrungen ist. Da es ursprünglich aus dem Atemkonzept heraus entstanden ist, ist es nicht überraschend, dass im Energiekonzept immer wieder auf den Atem Bezug genommen wird.

Im esoterischen Denken werden Krankheiten in der Regel als die Folge von Energiemangel oder von Energieblockaden erklärt. Daraus ergibt sich die therapeutische Anweisung, Energie entweder von außen durch Energieübertragung zuzuführen oder Staus im Energiesystem durch geeignete Interventionen aufzulösen. So geht z.B. die traditionelle chinesische Medizin von der Vorstellung aus, dass die kosmische Energie eine alles durchdringende Vitalkraft ist, die durch bestimmte Leitungsbahnen (Meridiane) des Körpers zirkuliert und die Teile des Körpers miteinander verbindet. Krankheiten entstehen, wenn in bestimmten Körperzonen ein Stau entsteht und der Energiefluss blockiert wird. Die Energie verliert ihre verbindende Funktion. Zur Vorbeugung und Heilung von Krankheiten muss der Fluss der Energie wiederhergestellt werden. Dazu kann Energie vom Arzt auf den vom Energiemangel betroffenen Körperbereich des Patienten übertragen werden. Der Patient kann auch mit Hilfe seiner Vorstellungskraft die Energie aus gesunden in kranke Bereiche lenken und auf diese Weise die Fähigkeit des Körpers, die Energie zu reinigen und zu regulieren, wiederherstellen.

Die spirituellen Krankheitslehren machen den Fehler, dass sie Ursache und Wirkung miteinander vertauschen. Selbstverständlich hat jede Krankheit einen energetischen Aspekt. Ohne Zweifel drücken sich alle physischen, emotionalen und mentalen Prozesse im elektromagnetischen Schwingungsfeld des Körpers aus, das z.B. mit Hilfe der Kir-lianphotographie als Aura sichtbar gemacht werden kann. Ebenso lassen sich die Cha-kren im elektromagnetischen Schwingungsfeld des Körpers nachweisen. In der Biophotonenforschung wurde nachgewiesen, dass sich Krankheiten auch in charakteristischen Veränderungen des elektromagnetischen Aurafeldes manifestieren. Diese Veränderungen können für die Diagnose benutzt werden. Aus den bisherigen Überlegungen ist aber abzuleiten, dass die gestörte Energieverteilung nicht die Ursache der Krankheit ist, sondern dass sie lediglich die Folge davon ist, dass emotionale Prozesse willkürlich zurückgehalten werden, um zu verhindern, dass die soziale Einbindung gefährdet wird.

So kann z.B. die esoterische Behauptung, dass die unbestreitbaren Heilerfolge durch Handauflegen darauf basieren, dass Energie übertragen werden wird, auf der Basis der bisherigen Überlegungen in Frage gestellt werden. Ohne Zweifel können bei Heilem Auffälligkeiten im elektromagnetischen Feld der Hände festgestellt werden. So hat der Biophotonenforscher Popp bei einer amerikanischen Heilerin eine deutlich verstärkte Biophotonenabstrahlung in den Händen gemessen4. Ebenso zeichnen sich Heiler durch synchrone Gehirnwellen und eine deutlich höhere elektrostatische Aufladung aus. Die gemessene Elektrizität darf aber nicht mit der Heilkraft gleichgesetzt werden. Vielmehr ist sie eine Begleiterscheinung im Körper des Heilers. Was eigentlich wirksam ist, ist im Sinne der bisherigen Überlegungen nicht die Energie, sondern der unbewusst erfahrene Kontakt mit dem Therapeuten. Wahrscheinlich nimmt der Patient den kohärenten inneren Zustand des Heilers wahr und schwingt sich auf ihn ein, sodass seine innere Unordnung verschwindet. Vielleicht ist es auch nur die uneingeschränkte Zuwendung, die den Patienten bewegt, sein Verhältnis zur Umwelt zu korrigieren und die Verspannungen loszulassen.

Viele esoterische Heilungslehren arbeiten mit der Vorstellung, dass zur Heilung Energie

4 Kerner/Kerner 1997, S. 68

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in die blockierten Zonen gelenkt werden könne. Indem visualisiert wird, wie man in den erkrankten Zonen ein- und ausatmet, könne der Energiefluss reguliert und damit die Krankheit geheilt werden. Das Modell der Atemmembran bietet dafür eine einfache Erklärung an: Da jede Körperzone Bestandteil der Atemmembran ist, kann überall der Atemrhythmus beobachtet werden und durch gesammelte Aufmerksamkeit die Durchlässigkeit dieser Zonen für den Atem verbessert werden. Die Energiezentren (Chakren) sind besonders wichtige Fixierungspunkte für die Atemarbeit, da sie empfindliche Knotenpunkte in der Atemmembran sind, die besonders stark zu Verspannungen neigen (vgl. Kap. 2.4). In Wirklichkeit wird aber nicht in die Zone <hineingeatmet>, sondern die Aufmerksamkeit wird so intensiv dorthin gelenkt, dass dadurch die Atmung von lokalen Blockaden befreit wird und die emotionalen Prozesse, die zu den chronischen Verspannungen geführt haben, wieder ins Bewusstsein treten und bearbeitet werden können (vgl. Kap. 8.1).

Sicherlich ist aus der Beobachtung, dass das Bewusstsein eine heilende Kraft entfalten kann, die esoterische Vorstellung entstanden, dass der Geist die Energie beeinflussen könne. Es sei die Aufgabe der Vorstellungskraft, die Energie an die Stellen zu lenken, wo Störungen zu beseitigen sind. Tatsächlich können mit der Vorstellungskraft physiologische Prozesse ausgelöst werden. Es darf aber daraus nicht auf die Allmacht des Geistes geschlossen werden. Es wird übersehen, dass die willentliche Lenkung der <Energie> nur eine Hilfstechnik zu dem Zweck ist, dass der Atem zu seiner Selbstregulation zurückfindet. Zusätzlich müssen die Vorstellungen aufgelöst werden, mit denen die Emotionen und damit der Atem zurückgehalten werden. Wenn gesagt wird, dass alles, was im Geist geschieht, den Atem beeinflusse, muss dies so verstanden werden, dass die Vorstellungen den Atem blockieren und dass sie deshalb losgelassen werden müssen.

Im Grunde werden alle Heilungsrituale, die mit der Beeinflussung der Energie arbeiten, letztlich nicht dadurch wirksam, dass sie die Energie neu regulieren, sondern dadurch, dass sie die Aufmerksamkeit des Patienten auf eine solche Weise auf die erkrankten Körperzonen lenken, dass die Verspannungen, die auf Grund von emotionalen Verletzungen entstanden sind, aufgegeben werden können. Was in der chinesischen Theorie als Energieblockade bezeichnet wird, wird in der Theorie der Atemmembran als eine vom Organismus selbst vorgenommene muskuläre Blockade interpretiert, mit der der Organismus im Interesse der Lebenserhaltung und Angstabwehr Teile des Körpers aus dem Bewusstsein abspaltet. Die Hinwendung des Bewusstseins zu den Verspannungen kann zu Veränderungen des Atems führen, da die innere Kommunikation mit dem verspannten Körperbereich wieder aufgenommen wird und die dadurch krank machenden Vorstellungen bewusst werden können.

Zum besseren Verständnis, warum der Energiebegriff eine so große Bedeutung einnehmen konnte, ist daran zu erinnern, dass die zentralen Begriffe wie z.B. Chi oder Prana, mit denen in verschiedenen Kulturen das Verhältnis des Menschen zur Transzendenz gedacht wurde, ein breites Bedeutungsspektrum aufweisen. Sie umfassen regelmäßig die Bedeutungen von Atem, Hauch, Luft, Kommunikation mit den transzendenten Kräften, Kraft, Lebenskraft, Energie und kosmische Energie. Darüber hinaus haben sie oft auch die Bedeutung von Seele und Selbst. Auch in anderen Kulturen wurde der Begriff der Seele mit der Vorstellung von Macht und Energie verbunden5. Darauf weist auch der in

5 Gebser 1949, S. 311

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den westlichen Atemtherapien verwendete Begriff der Atemkraft hin. Aus diesen Beobachtungen ist zu schließen, dass ursprünglich die Begriffe von Atem und Energie identisch sind und dass die weitgehende Abspaltung des Atems aus dem esoterischen Energiebegriff ein kultureller Vorgang ist, der wahrscheinlich mit der transzendenten Aufladung des Atembegriffs zu tun hat.

Im Qigong wird behauptet, dass die materielle Existenz der Energie Chi evident sei, da das wache und sensible Bewusstsein den Energiefluss in der Meditation wahrnehmen könne. Oben wurde dargestellt, dass die Empfindungen des Strömens, des Fließens, der Wärme und Belebtheit u.ä., die vom Qigong als Manifestationen der Energie interpretiert werden, in Wirklichkeit durch die natürliche Pulsation der Zellen entstehen. Wenn der Atem rhythmisch durch den ganzen Körper schwingt, synchronisiert sich die Pulsation der einzelnen Zellen, sodass sie vom Bewusstsein wahrgenommen werden kann (vgl. Kap. 4.1). Was subjektiv als strömende, fließende Energie erscheint, kann so aus westlicher Sicht als Ausdruck synchron pulsierenden Gewebes interpretiert werden. Damit beruht der Evidenzbeweis des Qigong auf einer Fehlinterpretation von physiologischen Prozessen.

Im esoterischen Energiekonzept wird davon ausgegangen, dass die Energie der Atemluft entnommen wird6. Der Atem sei deshalb nur die Voraussetzung der Energie. Die Energie werde in der Niere, im Sonnengeflecht oder im Nabelzentrum gespeichert. Die Atemübungen hätten den Zweck, die Speicher immer wieder aufzufüllen. Die modernen Naturwissenschaften haben nachgewiesen, dass die Energie weder von außen aufgenommen noch innerlich gespeichert werden kann. Das Energieträgermolekül Adenosintriphosphat (ATP) wird in jeder einzelnen Körperzelle gebildet und besteht nur wenige Minuten. Es muss im Bedarfsfall in ausreichender Menge produziert werden. Der Organismus muss deshalb die Voraussetzungen für eine schnelle bedarfsgerechte Energieproduktion bereitstellen: eine große Vitalkapazität der Atmung. Denn der Sauerstoff ist die kritische Größe bei der Produktion der Energieträgermoleküle. Wie oben (vgl. Kap. 6.1) dargestellt, wird die Energieproduktion auf den anaeroben Energiestoffwechsel umgestellt, wenn die Atemkapazität unzureichend ist. Daraus geht hervor, dass die Energiebereitstellung von einer flexiblen, reaktionsbereiten Atmung abhängig ist. Vermutlich konnten sich in den esoterischen Energielehren die Vorstellungen der Energiebildung und -Speicherung bilden, da früher die Bedeutung des Sauerstoffs für den Energiestoffwechsel unbekannt war.

In der indischen Kundalini-Lehre wird eine besondere Form der Energie, eine höhere Lebensenergie angenommen, die ihren Sitz an unteren Ende der Wirbelsäule habe.

Wenn die Kundalini-Energie erwache, steige sie entlang der Wirbelsäule empor und beseitige beim Passieren der Energiezentren alle Unreinheiten und Blockaden. Die Kunda-lini wirke so lange auf die Blockaden ein, bis sie sich auflösen7. Das Erwachen der Kun-dalini könne plötzlich stattfinden oder sich über mehrere Jahre erstrecken. Es werde als Befreiung, als höherer Bewusstseinszustand, als Aufhebung des Bruchs mit der Natur oder als Vereinigung von Geist und Körper erfahren. Ganz offensichtlich handelt es sich bei der Kundalini um ein Symbol für das ekstatische Lebensgefühl, das den Körper durchströmt, wenn sich alle Verspannungen auflösen, sodass sich der gelöste Atem entfalten kann. Deshalb ist das Kundalini-Konzept nicht mehr als eine Metapher für den

6 Wong Kiew Kit 1995, S.32

7 Sannella 1989, S.100

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Qualitätssprung im Selbsterleben auf Grund der gelösten Atemmembran.

In der esoterischen Energielehre wird angenommen, dass der Energiespiegel eines Menschen davon abhängig sei, dass die Energieleitbahnen (z.B. Meridiane) geöffnet sind, sodass die Energie frei fließen kann. Die Bewegungsübungen hätten primär den Sinn, die innere Blockaden zu beseitigen. Deshalb wird immer wieder betont, dass die Bewegungsübungen keine Atemschulung, sondern Energiearbeit seien8. Aus meiner Sicht ist das Ziel der Bewegungsübungen die Verbesserung der Reagibilität des Atems. Die Bewegungsübungen führen zur gezielten Entspannung von verspannten Körperzonen; sie werden dadurch für den Blutstrom durchlässiger und besser mit Sauerstoff versorgt. Sie können im Rhythmus des Atems mitschwingen und sich die davon bewirkten Druckveränderungen zunutze machen. Durch die verbesserte Versorgung der Zellen wird die nervale Steuerung der Bewegung durch das Gehirn erleichtert, sodass die Rückkoppelung zwischen mentaler Handlungsabsicht und motorischem Bewegungsablauf verbessert wird. Man könnte auch sagen, dass das Ziel der Bewegungsübungen die Wiederherstellung der Selbstorganisation und damit die Verbesserung der Kontaktfähigkeit ist. Wenn Kontakt besteht, stellt sich auch Energie ein.

Das zentrale Problem des menschlichen Körpers scheint damit keineswegs die Versorgung mit Energie zu sein. Freies Leben ist durch Lebendigkeit gekennzeichnet. Es quillt gleichsam über vor Lebendigkeit. Sie äußert sich in emotionaler Ausdrucksfreude und geistiger Kreativität. Die geringste Einschränkung der Lebendigkeit wird dagegen als unlustvoll erlebt. Größere Bewegungseinschränkungen äußern sich als Schmerzen.

Wenn die Blockaden losgelassen werden, wird die inhärente Bereitschaft des Körpers zur vollen Energieentfaltung freigesetzt. Die ursprüngliche Frage für Lebewesen ist deshalb nicht, wie sie ihre Lebendigkeit (Energie) aktivieren können, sondern wie sie die Behinderung ihrer Lebendigkeit vermeiden.

Aus den bisherigen Überlegungen zum Begriff <Energie> geht hervor, dass die zentralen Begriffe des esoterischen Krankheitskonzeptes wie Fließen, Speicherung, Stau, Reinigung, Regulation, Übertragung der Energie letztlich nur Metaphern sind, die dem körperlichen Geschehen nicht gerecht werden. Die spirituelle Anatomie erweist sich als ein Körpermodell, das nicht - wie behauptet - auf empirischen Erfahrungen beruht, sondern eine spekulative Gedankenkonstruktion ist, um eine Erklärung für die behauptete Macht des Denkens zu finden. Sicherlich waren früher solche Vorstellungen hilfreich. Denn für die Beseitigung von inneren Störungen sind Bilder der inneren Körperstruktur erforderlich, damit sich das Bewusstsein gezielt den Körperzonen zuwenden kann, die infolge von Abspaltungen aus dem Bewusstsein herausgefallen sind. Die Energiemetapher hatte die Funktion, der Achtsamkeit einen Halt zu geben und einen uneingeschränkten Kontakt zu sich selbst herzustellen. Seitdem aber die Naturwissenschaften die biochemischen Zusammenhänge der Energieproduktion in der Zelle geklärt haben, sind die Vorstellungen der spirituellen Anatomie kontraproduktiv.

Im Zusammenhang mit der Entstehung der Seele wurde dargestellt, dass Emotionen, Handlungsantriebe, Gedanken und Intuitionen als Manifestationen innerer Kräfte erfahren werden, die offensichtlich mit dem Atem Zusammenhängen. Der Atem stellte sich als eine eigenmächtige innere Kraft dar, die in allem wirksam zu sein scheint. Ist der Atem selbst die universelle Lebenskraft oder nur eine Manifestation von ihr? Diese Frage ist nicht beantwortbar, weil die Lebenskraft, sofern es sie gibt, nicht direkt gemessen

8 Olvedi 1997, S.77

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und gespürt, sondern immer nur indirekt über ihre Wirkungen und konkreten Ausdrucksformen registriert werden kann. Das Primäre, wie sich die inneren Kräfte äußern, scheinen die Erscheinungsformen des Atems zu sein. Insofern kann alles, was die Menschen über die inneren Kräfte wissen können, nur über den Atem erfahren werden. Daraus würde folgen, dass die Energie bzw. Lebenskraft ein spekulatives Konzept ist, da sie nicht mit der sinnlichen Wahrnehmung direkt erfahrbar ist. Die esoterische Lehrmeinung, dass es eine universelle Lebensenergie geben würde, der jedes Lebewesen seine Existenz verdankt, muss deshalb als eine spekulative Anschauung behandelt werden. Man kann nur so viel sagen, dass Atem und Energie zwei Aspekte eines einheitlichen Phänomens sind, das selbst begrifflich nicht verstanden werden kann.

Diese Überlegungen sollten zeigen, dass sich das angeblich durch Energiearbeit Bewirkte schlüssiger aus Qualitätsveränderungen der Atmung erklären lässt. Die eigentliche Wirkung geht von der wiederhergestellten Reagibilität des Atems aus, die sich in der Weichheit, Sanftheit und Mühelosigkeit der Bewegungen ausdrückt. Die Heilung tritt ein, weil durch die Hinwendung des Bewusstseins zu erkrankten Körperzonen diese Bereiche wieder in den ganzkörperlichen Atemrhythmus zurückgeholt werden. Heilung entsteht nicht aus der Umformung von negativen Energiemustern, wie häufig behauptet wird, sondern aus der Beseitigung von Selbsteinschränkungen des Atems. Es wäre ein Missverständnis, dass man mehr atmen muss, um mehr Energie zu erhalten. Es geht vielmehr um die Wiederherstellung der Selbstregulation der Atmung.

Es sollte deutlich gemacht werden, dass nicht der Mangel an Energie das eigentliche Problem ist, sondern dass sich der Einzelne für den sozialen Rückzug entscheidet und dabei chronische Muskelfehlspannungen in Kauf nimmt, die sehr viel Energie binden, sodass für normale Aktivitäten nicht mehr genügend Energie zur Verfügung steht. Sicherlich ist der Energiebegriff ein Reflex auf eine kulturelle Situation, in der die Einschränkung der Lebendigkeit so universell geworden ist, dass sich das Interesse auf die Frage verschoben hat, wie die Lebendigkeit gestärkt werden kann. So verschleiert der Energiebegriff die Tatsache, dass die Menschen als soziale Gemeinschaft es letztlich selber sind, die diesen Zustand herbeigeführt haben. Deshalb ist die Kritik am Energiebegriff notwendig, um die durch ihn bewirkte Zementierung des individualistischen Krankheitsverständnisses aufzulösen.

10.3 Kritische Spiritualität und Selbstheilungskräfte

«Bei allem, was ich tue, habe ich die Gemeinschaft im Sinn. Was mir geschieht, was mir zustößt, kommt von den Göttern.» (Marc Aurel)

Im Zusammenhang mit der Entstehung der Seele wurde dargestellt, dass die Vorstellung der Transzendenz die Funktion hatte, mit Veränderungen des menschlichen Selbstverständnisses fertig zu werden, die im Zusammenhang mit der Entwicklung von sozialer Herrschaft entstanden sind (vgl. Kap. 3.4). Es ging darum, den Bruch mit der Natur, der als Verlust der Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit erfahren wurde, zu verarbeiten. Spiritualität lebt sowohl von der Erinnerung an diesen Verlust als auch von dem Versuch, sie wiederherzustellen. Spiritualität ist aus dieser Sicht ein Versuch, unter herrschaftsgeprägten Lebensbedingungen den früheren, quasi vorkulturellen körperlichen Zustand wiederherzustellen. Sie ist ein Versuch der Rettung der verloren gegangenen Natürlichkeit, der unmittelbaren Erfahrung und des Lebens im Augenblick. Sie versucht, die Spannung im Menschen, dass er ein biologisches Naturwesen ist und sich zugleich

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mit dem Denken über die Natur erhebt, aufrechtzuerhalten.

Seitdem die Erfahrung gemacht wurde, dass man sich nicht mehr auf die inneren göttlichen Stimmen verlassen kann, hat die mythologische Vorstellung der Transzendenz als einer jenseitigen Welt der Götter einen Riss bekommen. Denn der Blick wurde darauf gelenkt, dass es auch im Inneren der Menschen Kräfte gibt, an denen man sich genauso gut orientieren kann. Diese unbewussten Kräfte äußern sich in Träumen, inneren Stimmen, Intuitionen, spontanen Bildern, spontanem Dialog mit imaginierten Personen, auch im gelungenen Gespräch, in dem man nach der Erkenntnis von Gadamer weit weniger der Führende als vielmehr der Geführte ist9. Sie äußern sich auch in dem Vertrauen, dass man sich von den inneren Kräften führen lassen kann. Die inneren Kräfte wurden als genauso selbständig und unbegreifbar wie das frühere göttliche Prinzip erfahren.

Es war nicht zu übersehen, dass diese inneren Kräfte mit dem Atem Zusammenhängen. Wurde früher im mythologischen Denken die Transzendenz im Himmel der Götter gesehen, verlagert sie sich jetzt in den inneren Seelenraum. Transzendenz wird zur transzendenten Immanenz. In einigen esoterischen Traditionen wird zu Recht hervorgehoben, dass das Spirituelle kein abgetrennter, außerkörperlicher Seinsbereich, sondern ein Teil des Inneren sei. Dieser innere spirituelle Bereich wird z.B. von den esoterischen Begriffen des wahren Selbst, der inneren Weisheit des Körpers u.a. erfasst. «Tief im Inneren ist das Göttliche.»

Seit der Erfahrung des inneren Seelenraumes sind die traditionellen Transzendenzvorstellungen obsolet geworden. Die Menschen brauchen jetzt im Grunde eine reflektiertere Form der Transzendenz, um in der Immanenz leben zu können. Denn der Kern des spirituellen Bedürfnisses besteht aus meiner Sicht letztlich darin, sich mit den inneren Kräften zu verbinden. Da sich die inneren Kräfte im Medium des Atems darstellen, bedeutet dies, dass im Grunde der Kontakt mit dem Atem gesucht wird10. Diese Definition der Spiritualität unterscheidet sich von der traditionellen Definition, die die kosmische Verbundenheit und die Einheit in den Vordergrund stellt. Mit dem Adjektiv <kritisch> in der Kapitelüberschrift soll hervorgehoben werden, dass das Ziel der Spiritualität primär darin besteht, sozial verschuldete Mängel auszugleichen. Die Rückbindung an die inneren Kräfte muss als ein somatisches Bedürfnis anerkannt werden. Es ist das Bedürfnis nach dem gelösten Atem, das identisch ist mit Bedürfnis, im Einklang mit der sozialen Gemeinschaft zu leben. Denn man kann nur im Einklang mit der Natur leben und die Verbundenheit mit allem spüren, wenn eine harmonische Beziehung zur sozialen Gemeinschaft besteht.

Wenn die immanente Transzendenz ihre Substanz im Atem hat, könnte vermutet werden, dass die Gottesidee letztlich aus der Personalisierung der Ateminstanz hervorgegangen ist. Schließlich wird von Gott alles erwartet, was in Wirklichkeit in der durch den Atem umgewandelten inneren Natur angelegt ist: Gewissheit, Vertrauen, Orientierung, Liebe. Die alte Behauptung, dass der Atem das wahre Tor für spirituelle Erfahrungen und für den Kontakt mit dem Göttlichen sei, würde dann in Wirklichkeit bedeuten, dass man über den Atem in Kontakt mit den im Inneren wirkenden unbewussten Kräfte kommen kann. In diesem Sinne ist Wilhelm Reich zu verstehen, wenn er schreibt: «Gott ist die psychische Vorstellung vom vegetativen Einklang des Ichs mit der Natur» (Reich 1981, S.269).

9 Vgl. Lang 1993

10 Im übrigen verweist auch die Wurzel des Begriffs <spirituell> auf den Atem.

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Häufig wird gegenüber dem Atem eine quasireligiöse Einstellung eingenommen: <Der Atem wird es schon machen>, <Gib es an den Atem ab!>, <Vertraue auf den Atem!>, <Lass dich vom Atem tragen>. Der Atem wird mit diesen unter Atemtherapeuten beliebten Redewendungen mehr oder minder unbewusst zur eigenständigen Instanz erhoben, der gegenüber die gleichen Gefühlsqualitäten wie gegenüber einem personalen Gott entwickelt werden können. Der Achtsamkeit und Hingabe, die gegenüber dem Atem gefordert werden, entspricht im religiösen Glauben das Begriffspaar Glaube und Vertrauen. Der Verantwortung für die Qualität des Atems entspricht die Verantwortung für die Beziehung zu Gott. Es hat durchaus die Qualität einer ehrfürchtigen Haltung, wenn man sich fragt, wie man seinem Atem dienen kann. Aber niemand bekennt sich zu der quasireligiösen Einstellung zum Atem.

Wahrscheinlich geht die Personalisierung der Ateminstanz zu einem göttlichen Prinzip darauf zurück, dass die Menschen ein dringendes Bedürfnis haben, den inneren Kräften einen Namen zu geben, damit sie mit ihnen in Kommunikation treten können. Auf Grund des begrifflichen Denkens ist es unmöglich, mit den inneren Kräften einen unmittelbaren Kontakt zu finden. Andererseits besteht jetzt der Zwang, sich nicht nur die Außenwelt, sondern auch die körperliche Innenwelt anzueignen. Nur dann können sich Menschen im eigenen Körper zu Hause fühlen. Wenn man den Atem als eine innere Kraft erkannt hat, ist wahrscheinlich seine Personalisierung unvermeidlich. Denn der Kontakt zur inneren Natur kann offensichtlich nur in der Form eines Dialoges mit einem inneren Gegenüber aufgenommen werden. Wenn man also die inneren Kräfte identifizieren will, werden sie ganz unvermeidlich zu persönlichen oder quasipersönlichen Instanzen erhoben. Wenn aber dem transzendenten Prinzip einmal ein Name gegeben wurde, besteht auf Grund der Natur des menschlichen Denkens die Gefahr, dass er sich im Laufe der Zeit verselbständigt und schließlich der ursprüngliche Erfahrungshintergrund verloren geht, wie dies z.B. beim Begriff <Seele> zu beobachten ist.

Wenn dieser Hang zur Personalisierung durchschaut wird, ist es eine falsche Konsequenz, die Personalisierung zu bekämpfen. Dadurch würde auch der durch sie ermöglichte Kontakt verloren gehen. Es bleibt nur die Haltung des Als ob: Obwohl man genau weiß, dass der persönlich antwortende Atem eine selbst erzeugte Fiktion ist, soll man sich so verhalten, als ob er eine persönliche Instanz wäre. Wenn man erfahren hat, dass es produktiv ist, den Atem wie einen geliebten Menschen zu achten, kann man an dieser Fiktion festhalten. Dies entspricht dem Muster des magischen Verhaltens, das seine Wurzel darin hat, dass man erfährt, wie man die Gedanken und Gefühlen anderer ohne direkten körperlichen Einwirkung beeinflussen kann11. In diesem Sinne ist jede kulturelle Produktion mit der magischen Hoffnung verbunden, dass damit Veränderungen bei anderen bewirken werden können.

Im Grunde gilt diese Verhaltensweise des Als-ob für jeden Umgang mit sich selbst. Die Menschen haben im Zuge der kulturellen Entwicklung eine Fülle von Begriffen zur Differenzierung des Innenlebens entwickelt (Seele, Ich, Vernunft u.a.). Sie behalten aber nur dann eine produktive Funktion, wenn sie im Bewusstsein so benutzt werden, als wären sie nicht mehr als nützliche Fiktionen, die jederzeit durch andere Begriffe ausgetauscht werden können, die den Umgang mit sich selbst produktiver gestalten helfen. Solange man sich bewusst ist, dass alle spontan eintretenden Bilder, Gedanken, Gefühle, Dialoge u.a. der innerste Ausdruck der selbsttätigen Verarbeitung der Erfahrungen sind,

11 Vgl. Neubeck 1992, S. 154ff

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kann die Vorstellung von transpersonalen Wesenheiten als nützliche Fiktionen akzeptiert werden.

Nachdem die Zeit der kollektiven Mythen vorbei ist, bleibt nur noch der Weg, sich eine persönliche Mythologie zu schaffen12. Dem Fremden im eigenen Inneren muss ein persönlicher Name gegeben werden, sodass mit ihm wiederholt ein innerer Dialog aufgenommen werden kann. Diese Aufgabe kann heute die offizielle Kultur dem Einzelnen nicht mehr abnehmen. Der Atem bietet sich dafür als Bezugspunkt an, da er als Medium der emotionalen und geistigen Kräfte erkannt worden ist. Wenn der Atem in diesem Sinne zu einer inneren Instanz erhoben wird, bedeutet dies keineswegs eine Rückkehr zur Mythologie, solange dabei die Haltung des Als-ob eingenommen wird.

Der Gedanke, dass das Göttliche eine Projektion der Ateminstanz ist, wirft ein neues Licht auf den Glauben vieler Naturvölker an die Beseeltheit der Natur. Offensichtlich liegt dem Animismus die Grunderfahrung zu Grunde, dass die menschlichen Antriebskräfte im Atem verwurzelt sind. Der im eigenen Leib erfahrene Atem wurde deshalb als das Urprinzip der eigenen Natur interpretiert und dann auf die Welt projiziert. Deshalb wurde alles als lebendig erfahren. Die Menschen haben sicherlich von Anfang an die Welt nach dem Modell wahrgenommen, wie sie sich selbst erfahren haben. Es ist deshalb nicht zufällig, dass in vielen Kosmologien die Welt aus dem Atem Gottes entsteht. Der Religionsphilosoph Edward Tylor vertritt die Ansicht, dass das Weltbild des Animismus der Ursprung jeglicher Religionen ist.

Mit der Entstehung der Seele hatte die Projektion der Atemerfahrung ins Transzendente ihre Naivität verloren. Es konnte jetzt reflektiert werden, dass sich die Menschen ihr Bild von den Göttern aus praktischen Bedürfnissen heraus gestalten. Es wurde von vielen Menschen gemerkt, dass die gesellschaftlichen Machthaber bewusst an den älteren Vorstellungen von Transzendenz festhalten, um die Werte der Unterordnung, Gefolgs-bereitschaft und Gehorsam besser begründen zu können und dadurch ihre Macht zu legitimieren.

In den so genannten Hochkulturen hat die Religion die verhängnisvolle Entwicklung genommen, dass das spirituelle Bedürfnis zu einem geistigen uminterpretiert und damit von seinem körperlichen Zusammenhang abgetrennt wurde. Seitdem wird das spirituelle Bedürfnis in die Fragen uminterpretiert, woher die Menschen kommen, was der Sinn des Lebens ist und wie die Ganzheit wiederhergestellt werden kann. Damit hat das religiöse Bedürfnis sein eigentliches Ziel aus den Augen verloren. Das spirituelle Denken musste scheitern, weil es den eigentlichen Antrieb verleugnet, aus dem es entstanden ist, nämlich die Erfahrung sozialer Disharmonie. Der Begriff der Ganzheit hat das eigentliche Problem verschleiert, dass es letztlich um die Verbundenheit mit der Gruppe geht. Der Begriff der Verbundenheit mit dem Kosmos hatte die gleiche Wirkung. An die Stelle der Kritik an unerträglichen Gesellschaftsverhältnissen wurde die Illusion gesetzt, dass in Meditationsritualen die Verbundenheit mit dem Kosmos erreicht werden könnte. Ohne Zweifel ist die Faszination der esoterischen Traditionen für viele Menschen darin begründet, dass sie die Hoffnung anbietet, dass Erlösung in dieser Welt möglich sei, ohne dass man mit den gesellschaftlichen Autoritäten in Konflikt gehen muss.

Spiritualität ist in der Gegenwart in eine tiefe Krise geraten, weil das Vertrauen in die Orientierungsfähigkeit der inneren Kräfte verloren gegangen ist. Alle Begriffe, die für

12 Vgl. Feinstein/ Krippner 1987

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die innere Orientierung bisher entwickelt wurden - Energie, Es, Selbst, höhere Intelligenz, Vitalkraft, inneres Wirken - sind daran gescheitert, dass sie das Vertrauen nicht wiederherstellen, geschweige denn ihr Wesen erfassen konnten. Der Kardinalfehler war, dass man darauf fixiert war, dass die Orientierung mit mentalen Mitteln wiederhergestellt werden könnte. Es wurde nicht gesehen, dass die innere Orientierung keine Sache des isolierten Einzelnen ist, sondern nur funktioniert, wenn die soziale Ordnung relativ frei von Fremdbestimmung ist. Nur wenn es dem Einzelnem gelingt, seine Vorstellungen mit denen der Gruppe abzustimmen, kann er sich der inneren Selbstorganisation überlassen. Spiritualität wäre deshalb nur zurückzugewinnen, wenn das Vertrauen in die inneren Orientierungskräfte des Atems durch eine Reform der Gesellschaft wiederhergestellt werden würde.

Im richtig verstandenen Sinne führt damit der spirituelle Weg nicht in einer höhere Wirklichkeit hinein, sondern in die beim Übergang zum begrifflichen Denken verlorene natürliche Wirklichkeit zurück. Er nimmt die Projektionen auf höherstehende irdische oder überirdische Wesen zurück und macht bewusst, dass wahre Orientierung nur in den eigenen inneren Kräften zu finden ist. Er hilft, die Selbstblockaden aufzulösen, die bei der zwanghaften Orientierung an den gesellschaftlichen Lebensmustern aufgebaut wurden. Der spirituelle Weg löst auch die falsche Hoffnung auf, dass eine transzendente Macht helfen könnte, wenn das Vertrauen in die eigenen Kräfte verloren gegangen ist. Wahre Spiritualität kann nur darin bestehen, den Kontakt zu sich selbst zu finden. Da dies aber nur möglich ist, wenn die Ordnung der sozialen Gemeinschaft eine Lösung aller Konflikte zulässt, könnte man auch sagen, dass Spiritualität darin besteht, im Einklang mit der sozialen Gemeinschaft zu leben. Traditionell wird Erleuchtung darin gesehen, dass die Einheit zwischen dem Menschen und dem Rest der Schöpfung wiederhergestellt wird, aber ihren eigentlichen Sinn hat sie darin, die Einheit mit den inneren Kräften wiederzufinden, die für ein reibungsloses Zusammenleben sorgen.

Der beste Weg, mit den inneren Kräften in Kontakt zu kommen und den Glauben an die eigenen Selbstheilungskräfte zu stärken, besteht darin, die eigenen Kräfte für die Lösung der Probleme der Gemeinschaft produktiv einzusetzen. Wenn die Verantwortung für die Probleme der Gemeinschaft übernommen wird, erfährt man ein Wachstum und eine Stärkung der Denk- und Kontaktfähigkeit. Denn die kollektiven Probleme können nur dann sinnvoll gelöst werden, wenn man seine emotionalen und geistigen Kräfte optimal entwickelt. Da alle kommunikativen Fähigkeiten Ausdrucksformen des Atems sind, wird in diesem Prozess auch der Atem aktiviert. Selbstverständlich dürfen die von anderen vorgeschlagenen Problemlösungen nicht unkritisch übernommen werden, sondern bedürfen stets der individuellen Interpretation aus persönlicher Sicht. Es können dann auch widersprüchliche, schmerzhafte Erfahrungen zugelassen werden, die auf soziale Konflikte hinweisen. Damit erhält das Spirituelle seine kritische Potenz zurück, Widerstand gegenüber den Zumutungen sozialer Herrschaft zu begründen. (In diesem Verständnis ist die gegenwärtige Kultur in hohem Maße unspirituell, da sie die Teilnahme an den gesellschaftlichen Problemen behindert und den Rückzug ins Private erzwingt.)

In dieser Grundeinstellung entstehen die Einheit von Denken und Handeln und die Wechselwirkung zwischen kollektiver Erfahrung und individueller Entwicklung. Der private Versuch, sein Leben isoliert von der Gemeinschaft in Ordnung zu bringen, muss scheitern, da sich die Selbstheilungskräfte nur in der Kommunikation mit anderen Menschen entwickeln können. In diesem Sinn muss der Satz von Erich Fromm verstanden werden: «Nicht das Denken, das Handeln (ist) das wichtigste im Leben» (Fromm 1994,

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S.122). Die dialektische Abhängigkeit von individueller und sozialer Entwicklung bedeutet im Umkehrschluss, dass Spiritualität umso irrationaler verstanden wird, je schwächer das Gemeinschaftsgefühl ausgeprägt ist. Es wurde gezeigt, dass die Suche nach einer transpersonalen göttlichen Instanz den Mangel an kommunikativen Fähigkeiten spiegelt, den jede soziale Herrschaft bewirkt. Es wird umso mehr Erleuchtung gesucht, je weniger der Einzelne sich in seiner Gruppe geborgen fühlt. Die <ekstatische Verbundenheit mit dem Kosmos> und das <Erlöschen des Selbst> werden zum Ersatz für das Gemeinschaftsgefühl. Deshalb beansprucht die <Seele> umso mehr Autonomie für sich, je weniger sie ihre Abhängigkeit von der Gemeinschaft erfährt. Das egoistische individuelle Denken, das seine Abhängigkeit von sozialer Herrschaft verleugnet, steht so einer rational verstandenen spirituellen Entwicklung entgegen.

Oben wurde erläutert, dass das ethische Verhalten in entfalteter Emotionalität begründet ist (vgl. Kap. 4.5). Gutes Handeln ergibt sich mühelos und wie von selbst aus den gut angeeigneten emotionalen Verbindungsfäden mit der sozialen Gemeinschaft. Deshalb ist jede Moral im Sinne von Geboten und Verboten immer ein Zeichen von emotionaler Fehlentwicklung. Der Mangel an Innenorientierung muss dann durch moralische Fremdbestimmung ersetzt werden. Es war ursprünglich ein Hauptantrieb der Hochreligionen, die gesellschaftliche Zwangsmoral durch eine innere, in den Emotionen wurzelnde Moral zu ersetzen. Symington ist zuzustimmen, dass Spiritualität und Moral nicht voneinander zu trennen sind. Wahre Spiritualität besteht «in einem Zustand, der durch gute Handlungen herbeigeführt wird» (Symington 1997, S.248).

Spirituell zu leben bedeutet somit die Bereitschaft, sich für die Erfahrungen des eigenen Atems zu öffnen und an der Befreiung des Atems zu arbeiten. Es wird auf die Notwendigkeit hingewiesen, sich auf eine radikale Immanenz gegenüber dem eigenen Körper einzulassen. Wenn von spirituellen Erfahrungen die Rede ist, sollte darunter allein der Versuch verstanden werden, mit dem Atem in Kontakt zu kommen. In diesem Sinne ist Spiritualität die Utopie des von Desintegration geheilten Körpers. Alle transzendentalen Beimischungen überfrachten den Begriff mit falschen Bedeutungen und verschleiern, worum es eigentlich geht.

Die Analyse der Atemmembran zeigt, dass die Ableitung der geistigen Kommunikation aus körperlichen Prozessen des Atemgeschehens keineswegs zu einer spirituellen Entleerung des Lebens führt, wie dies bei einer materialistischen Analyse anzunehmen wäre. Ganz im Gegenteil öffnet das Konzept der sich selbst organisierenden Atemmembran die Erfahrung für tiefe, bewusstseinsunabhängige Kräfte, mit denen Verbundenheit mit anderen Menschen und mit allem in der Welt angestrebt wird. Es könnte in eine kulturelle Phase hineinführen, in der die Bedürfnisse des Körpers nach Liebe und Anerkennung ernster genommen werden und mehr Kraft und Zeit aufgewandt wird, um ihnen angemessene Lebensbedingungen zu geben. Die Vision der zukünftigen Entwicklung wäre die einer Atemkultur, in der jeder Mensch die Verantwortung dafür übernimmt, dass optimale Bedingungen für die Selbstregulationskraft des Atems bestehen.

10.4 Prophylaktische Medizin

«Der Bauch des Kranken ist klüger als der Kopf des Arztes.» (russisch)

Es gibt eine Legion von Veröffentlichungen, in denen eine veränderte Medizin gefordert wird. Im Mittelpunkt des neuen medizinischen Paradigmas steht die Forderung, dass die «psychischen Faktoren für die Gesundheit des Patienten berücksichtigt» werden müssten

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(Hirshberg/Barasch 1995, S.267). «Die naturwissenschaftliche Medizin muß durch eine bio-psycho-soziale Medizin abgelöst werden» (Heim 1989). Solche Beschwörungsformeln sind allerdings wertlos, solange sie nicht von einem neuen Verständnis getragen sind, worin die Differenz von <psychisch> und <somatisch> besteht. Es ist zu wenig, wenn der Begriff <psychisch> als Blackbox für alles betrachtet wird, was sich den biochemischen Verfahren entzieht.

Die übliche Kritik an der Schulmedizin braucht an dieser Stelle nicht in voller Breite wiederholt zu werden. Am schwersten wiegt der Vorwurf, dass die Schulmedizin gegenüber den ständig zunehmenden chronisch-degenerativen Erkrankungen wie Herzkrankheiten, Rheuma, Immunschwäche, Magen-Darm-Störungen, Krebs, Defekten im Bewegungsapparat (Rückenschmerzen, Hüftgelenkserkrankungen u.a.) hilflos ist. Dieses Versagen ist darauf zurückzuführen, dass sie im Kern eine Prothesenmedizin ist, die Funktionsstörungen wie z.B. eine defekte Herzklappe mit technischem Ersatz kurzfristig perfekt beseitigt, aber nicht in der Lage ist zu verstehen, warum es zu der Funktionsstörung gekommen ist, und deshalb auch wenig Einfluss auf das Verhalten des Patienten nimmt. Je dominanter die Technik bei Diagnose und Therapie wird, umso mehr werden die Prophylaxe und die Wiederherstellung der individuellen Gesundheitsfaktoren vernachlässigt. Häufig wird zu Recht der Verdacht geäußert, dass die Mediziner durch ihr Verhalten die Nachfrage nach ihren Dienstleistungen erst produzieren13.

Die Schulmedizin weiß unendlich viel über die physiologischen Funktionsabläufe, aber es scheint ein Wissen zu sein, das im Grunde für den Heilungsprozess selbst wenig tauglich ist. Der äußerst aufwendige Forschungsprozess folgt einseitig dem naturwissenschaftlichen Paradigma und erforscht die Abläufe auf der zellulären Ebene, dagegen bleiben die Austauschprozesse des Kranken mit seiner Umwelt außer Betracht. Die Schulmedizin hat den rein stofflich bedingten Teilbereich zum Allgemeinmodell erhoben. Da sie die Wirkungen der emotional bedingten chronischen Verspannungen nicht berücksichtigt, ist sie einseitig geworden. Wenn Krankheiten aus dem sozialen Kontext herausgerissen werden, wird die Medizin zu einer konservativen Kraft, die den krank machenden Status quo stabilisiert.

Die gegenwärtigen Probleme der Medizin sind nicht dadurch zu lösen, dass die Schulmedizin mit den Naturheilverfahren ergänzt wird. Im Grunde haben die Naturheilverfahren mit Ausnahme der Homöopathie den gleichen Mangel wie die Schulmedizin, dass sie die Lebensumstände der Patienten zu wenig berücksichtigen. Sie genügen meist ihren eigenen Ansprüchen auf Ganzheitlichkeit nicht, da sie letztlich ebenso nur Symptombehandlungen vornehmen. So ist z.B. der in den Sauerstofftherapien mechanisch zugeführte Sauerstoff letztlich auch nur eine technische Prothese, die ohne Zweifel kurzfristig wirksam ist, aber langfristig die Selbstheilungskräfte untergräbt, da sie nicht an den kommunikativen Faktoren arbeitet, die zur Schwächung der Selbstheilungskräfte geführt haben.

Ebenso wenig kann die Ergänzung mit Psychotherapie weiterhelfen. Auf diese Weise bleibt das Problem bestehen, dass sich die Heilungserwartungen der Patienten primär auf die medikamentösen, physikalischen und sonstigen biochemischen Verfahren richten. Die psychotherapeutischen Verfahren erscheinen dann bloß als zusätzliche, unterstützende Hilfsmittel, die konsequenterweise nur halbherzig und mehr oder weniger als Alibi herangezogen werden.

13 Vgl. Illich 1975

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Die Medizin kann der kommunikativen Natur der Krankheit nur gerecht werden, wenn sie in ihrer inneren Struktur verändert wird. In der historisch entstandenen Aufspaltung der Gesundheitswissenschaften in somatische Medizin, psychosomatische Medizin, Psychologie, Psychotherapie und Soziologie wurde das Zusammengehörige arbeitsteilig auf verschiedene Experten aufgeteilt, die sich wechselseitig voneinander abgrenzen und tendenziell völlig widersprüchliche Sichtweisen der Krankheitsursachen und Heilungsvoraussetzungen entwickelt haben. Diese Aufspaltung muss rückgängig gemacht werden, da sie ein angemessenes Verständnis der Krankheit und damit auch eine sinnvolle Therapie verhindert. Erst wenn sich alle Humanwissenschaften wieder aufeinander beziehen, kann die Aufgabe gelöst werden, dass die individuelle Geschichte der Krankheit als Basis des Heilungskonzeptes ermittelt wird.

Es reicht zweifellos nicht aus, bloß eine interdisziplinäre Ausbildung zu fordern. Im Grunde müsste die traditionelle Aufgliederung der Wissenschaften radikal aufgeweicht werden. So müsste sich die Psychologie als die Medizin der gestörten Beziehungen verstehen. Sie wird dem Wesen der Krankheit nur gerecht, wenn sie die fließenden Übergänge zur körperlichen Veränderung mit berücksichtigt. Dasselbe gilt für die Soziologie, die sich auch als Medizin der kranken Gesellschaft verstehen müsste. Die Medizin müsste ihr Grundverständnis darin finden, dass sie es zum überwiegenden Teil mit Folgeschäden zu tun hat, die sich direkt oder indirekt aus sozialen Fehlentwicklungen ergeben. Vorrangig müsste die dogmatische Trennung zwischen den <exakten>, objektiven naturwissenschaftlichen Untersuchungsverfahren und den subjektiven, verstehenden Verfahren der Geisteswissenschaften überwunden werden, da sie Unterschiede postuliert, die in der Sache selbst nicht existieren. Eine weitere Spezialisierung der Wissenschaften ist nur sinnvoll, wenn sie auf der Basis einer weitgehenden Integration aller Humanwissenschaften erfolgt.

Das Atemverständnis der Krankheit ist ein neues Paradigma, da es die irreführende Trennung von geistlosem Körper und körperloser Seele überwindet. Es erfordert ein radikales Umdenken. Wenn sowohl bei der inneren Kommunikation als auch beim Kontakt mit der Gemeinschaft körperliche Mechanismen der Atemregulierung am Werke sind, bedeutet dies, dass die Trennung zwischen psychischen und körperlichen Aspekten der Krankheit willkürlich ist und dass die Vorstellung sinnlos ist, dass es eine Wechselwirkung von körperlichen und psychischen Faktoren gibt, da auch die psychischen Faktoren etwas Körperliches sind. Aus diesem Grund muss von einer einzigen Medizin ausgegangen werden, die für alle Krankheiten zuständig ist. Sie ist eine Sozialmedizin, da sie in ihrer Diagnose in jedem Fall von gestörten Beziehungen ausgehen muss.

Die bisherigen Überlegungen führen zu dem Ergebnis, dass der Streit zwischen der Schulmedizin und der esoterischen Medizin über die Frage beendet werden kann, ob Krankheit ein physisches oder ein mentales Geschehen ist. Wenn Krankheit als eine Verarbeitung von Kontaktstörungen verstanden wird, die nicht mit emotionalen oder mentalen Mitteln bewältigt werden konnten, muss anerkannt werden, dass am Anfang jeder Krankheit eine - meist unbewusste - mentale Entscheidung für diesen Lösungsweg steht. Auch mental verursachte Krankheiten haben somatische Aspekte, da Kontaktstörungen zwangsläufig mit muskulären Verspannungen verbunden sind, die zu komplexen physiologischen Veränderungen führen. Die esoterische Medizin basiert somit auf tiefen Erfahrungen über das Wesen von Krankheit und Gesundheit, allerdings verhindert ihr mythologisches Gewand ein wirkliches Verständnis der somatischen Seite des Krankheitsprozesses.

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Die rationale Atemtheorie stimmt mit dem esoterischen Krankheitsverständnis darin überein, dass Krankheiten tatsächlich kein Schicksal sind, sondern eine subjektive Antwort auf eine Problemsituation darstellen. Krankheiten stellen eine Herausforderung dar, sich den Problemen zu stellen, denen man ausweichen wollte, sodass man dadurch krank wurde. Zu Recht wird deshalb vielfach empfohlen, die Krankheit als eine Herausforderung zu begreifen, die eine grundsätzliche Neugestaltung des Lebens verlangt. Damit könnte die Kraft, die in der Krankheit steckt, freigesetzt werden und in eine Kraft der Veränderung der persönlichen und politischen Lebensbedingungen transformiert werden.

Aus diesem Krankheitsverständnis folgt, dass die Priorität medizinischen Denkens und Handelns bei der Prophylaxe liegen müsste, so wie es in der traditionellen chinesischen Medizin praktiziert wurde. Wenn die meisten ernsthaften Erkrankungen aus unbeachteten oder falsch behandelten harmlosen Erkrankungen hervorgehen, die mit emotionalen Problemen Zusammenhängen, sollte jede Krankheit zum Anlass genommen werden, die Lebensweise und die Einstellung zu sich selbst zu verändern und damit die Selbstheilungskräfte zu stärken. Mit solcher Transformation kann sichergestellt werden, dass künftige Störungen direkt von den Selbstheilungskräften abgefangen werden und ein Rückfall in die Krankheit vermieden wird. Heilung darf sich deshalb nie darin erschöpfen, nur die Krankheit zu heilen, sondern muss auch den Menschen heilen, damit seine seelischen Widerstandskräfte gegenüber Verletzungen aller Art gestärkt werden.

Prophylaxe bedeutet, dass der Schwerpunkt des Medizinsystems in der ambulanten Versorgung liegen müsste. Da die Einbindung des Kranken in seine soziale Gruppe absolute Priorität vor den angeblich medizinischen Erfordernissen eines Krankenhausaufenthaltes hat, sollten möglichst alle Heilungsprozesse zu Hause stattfinden. Der Hausarzt muss seine frühere Bedeutung zurückerhalten, da er aus der langjährigen Kenntnis der Familie die Funktion der einzelnen Erkrankungen besser einschätzen kann. Dadurch wird nicht nur der Heilungsprozess gefördert, sondern es wird auch die medizinische Unmündigkeit der Bevölkerung, die vom bisherigen Medizinsystem systematisch vorangetrieben wurde, rückgängig gemacht, da ein großer Teil der Versorgung an das soziale System zurückgeht.

Die Therapie der Wahl müssen Verfahren sein, bei denen primär die Selbstheilungskräfte des Patienten nachhaltig gestärkt werden, sodass jede Krankheit auch ein Weg zu mehr Gesundheit wird. Natürlich müssen zunächst die akuten Schmerzen mit konventionellen oder alternativen Heilverfahren gelindert werden. Im Vordergrund müssen aber die Förderung der kommunikativen Kompetenzen und der Umgang mit den Emotionen stehen. Solche kombinierten Verfahren müssen erst noch entwickelt werden; die Erfolge des chinesischen Qigong bestätigen die Forderung, dass dabei der Atem mit berücksichtigt werden muss. Wenn die krankheitsrelevante Bedeutung des Atems anerkannt wird, besteht die Chance, dass daraus das Paradigma einer medikamentenarmen Medizin entwickelt wird, bei der stoffliche Heilmittel allenfalls die Funktion haben, akute Krankheitsprozesse zum Stillstand zu bringen, damit die eigentliche Arbeit an den Krankheitsursachen beginnen kann.

Von den neuen ganzheitlichen Verfahren ist vor allem zu verlangen, dass sie von vornherein darauf aufmerksam machen, dass die individuelle Störung zugleich eine Störung im sozialen Zusammenleben anzeigt. Dies ist wahrscheinlich die schwierigste Aufgabe, da die Individualisierung der Krankheit ein tief verwurzeltes Dogma ist. Sie ist Aus

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druck des idealistischen Körperverständnisses der abendländischen Kultur. Die Reform der Medizin verlangt deshalb mehr als nur die Berücksichtigung des psychischen Faktors. Sie wird nur gelingen, wenn auch direkt an der Überwindung des Dualismus von Körper und Geist gearbeitet wird und Krankheit als Ausdruck gesellschaftlicher Pathologie anerkannt wird.

Allerdings sind die Hoffnungen, dass eine Reform der Medizin gelingen könnte, als gering einzuschätzen. Das liegt nicht nur an der Abhängigkeit des Medizinsystems von der Medizintechnik- und Pharmaindustrie, sondern vor allem daran, dass die Individualisierung der Krankheit einen Lösungs(aus)weg für eine Gesellschaft darstellt, die nicht bereit ist, sich zu verändern. Paradoxerweise sind die Menschen umso weniger zu einer Veränderung bereit, je mehr sie sie eigentlich auf Grund ihrer Verhärtung notwendig hätten.

10.5 Auf dem Weg zur Atemkultur

«Um klar zu sehen, genügt oft ein Wechsel der Blickrichtung.» (Antoine de Saint-Exu-pery)

Das Ziel meiner Ausführungen war, ein Bewusstsein dafür zu wecken, dass viele kulturelle Probleme gelöst werden könnten, wenn sie aus der Perspektive des Atems neu interpretiert werden würden. Das gilt sowohl für psychologische und philosophische Probleme als auch für praktische Probleme der Medizin. Im Grunde geht es beim Atemthema um eine Neubegründung der kulturellen Grundlagen. Die geistzentrierte Kultur des Abendlandes hat den Atem völlig aus dem Bewusstsein ausgesperrt und damit das menschliche Selbstverständnis einseitig auf die mentale Kontrolle gegründet. Dadurch ist das Bewusstsein dafür verloren gegangen, dass sich der Körper unter optimalen Bedingungen selbst reguliert und durch chronische Verspannungen in seiner Leistungsfähigkeit und Selbstheilungsfähigkeit beeinträchtigt wird. Es ist vergessen worden, dass das <Unbehagen in der Kultur> die Folge von selbst herbeigeführten Verspannungen ist, die verhindern, dass sich ein gelöster Atem entfalten kann. Dadurch sind die von älteren Kulturen entwickelten Atemrituale verloren gegangen, mit den man sich ins psy-cho-physische Gleichgewicht zurückbringen kann.

Die Renaissance des Atems wird mit einer Kultivierung des Fühlens und der Berührung einhergehen. Fühlen und Berühren sind in der geistzentrierten Kultur des Abendlandes nahezu erstickt worden. Berührungen werden aus Angst vor mit ihnen verbundenen Emotionen vermieden. Es wurde vergessen, dass jeder Kontakt zum Sinnlichen durch Emotionen vermittelt wird, sodass der sinnliche Kontakt umso intensiver ist, je freier Emotionen zugelassen werden. Weil der sinnliche Kontakt zur Außenwelt durch die Unterdrückung der Emotionen geschwächt wurde, wurde das Sinnliche zur Utopie. Die Bejahung des Sinnlichen setzt deshalb die Freisetzung der Emotionen voraus. Dann wird auch die Bedeutung des Atems für eine humane Lebensgestaltung evident. Denn eine Freisetzung der Emotionen ist ohne Befreiung des Atems von sozialer Fremdbestimmung undenkbar.

Das eigentliche Ziel der Befreiung der Emotionen besteht darin, ihre soziale Orientierungsfunktion zurückzugewinnen. Viele Philosophen haben erkannt, dass den Emotionen eine moralische Kraft innewohnt; es wurde aber meist übersehen, dass moralische Defizite, insbesondere der zunehmende Egozentrismus, darauf zurückzuführen sind, dass man sich unter dem Zwang, die Artikulation seiner Emotionen zurückzuhalten,

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chronisch verspannt, sodass die emotionale Basis für Gemeinschaftlichkeit zerstört wird. Die vielbeklagte Schwächung der sozialen Bindekräfte ist mithin die Folge davon, dass der Kontakt zu den Emotionen verloren gegangen ist. Lediglich das Vertrauen zu den Gefühlen wiederherzustellen, wie es überall gepredigt wird, kann deshalb nicht das Programm sein, da schließlich auch das Asoziale in Emotionen wurzelt. Vielmehr geht es darum zu lernen, sich von den Emotionen der Liebe und des Respekts gegenüber den Emotionen der anderen leiten zu lassen. Mit solchen reflektierten Emotionen kann man sich identifizieren, weil sie nie das Wohl des anderen aus den Augen verlieren und damit an der Aufrechterhaltung eines guten Kontaktes orientiert sind.

Das Atemverständnis steht damit diametral zum abendländischen Geistverständnis. Es scheint überlegener zu sein, da es das Bedürfnis nach Kontrolle anerkennt, ohne das Bedürfnis nach Loslassen, nach emotionalem Ausdruck und sinnlicher Freude abzuwerten. Es soll deshalb am Schluss des Buches gefragt werden, welche Chancen bestehen, dass in einer atemfeindlichen Gesellschaft ein breites Interesse am Atem geweckt werden könnte.

Ohne Zweifel war bisher das esoterische Denken der größte Wegbereiter einer zukünftigen Atemkultur, da es viele Menschen mit dem Atem bekannt gemacht hat. Auf der Suche nach Entspannungsübungen haben viele Menschen die besondere Qualität des Atems kennen gelernt und erfahren, dass der Atem ein sehr effektives Mittel der Entspannung sein kann. So haben die alten Einsichten, dass der Atem im Mittelpunkt von Entspannungsübungen stehen muss und dass Bewegungsübungen zur Stärkung der Selbstheilungskräfte wirksamer sind, wenn sie den Atem berücksichtigen, eine relativ große Verbreitung gefunden. Allerdings wird die lebendige Erfahrung des Atems dadurch getrübt, dass der Atem durch den Filter mythologischer Erklärungskonzepte, insbesondere des problematischen Energiekonzeptes wahrgenommen wird. Es fehlt deshalb noch das Bewusstsein, dass am Zustand des Atems abgelesen werden kann, in welchem Spannungszustand man sich gerade befindet, und dass es darauf ankommt, den Atem von jeglicher Manipulation zu befreien.

In der Psychologie ist erkannt worden, dass die Stärkung der Stressbewältigungskompetenz und Konfliktfähigkeit wesentliche Voraussetzung für Wohlbefinden und Ichstärke ist. Diese Fähigkeiten können allerdings nur begrenzt antrainiert werden, weil sie Grundkompetenzen wie Loslassen-Können, Entspannungsfähigkeit und Sensibilität voraussetzen, die nicht mechanistisch erlernt werden können, sondern vom sozialen Milieu abhängig sind, in dem der Einzelne steht. Wenn die Grenzen des Stresstrainings bewusst werden, besteht die Chance, dass der Atem als ein Zwischenglied in allen Umlernprozessen erkannt wird und auf der Basis des Atems Entspannungs- und Bewegungsrituale entwickelt werden, die zum festen Bestandteil des Erziehungsprozesses werden.

In der Medizin sind überhaupt noch keine Schritte in eine künftige Atemkultur festzustellen. Die von Außenseitern angebotenen Sauerstofftherapien sind ein falscher Weg, da sie den Sauerstoff mechanisch von außen zuführen, anstatt die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass im Alltag automatisch ausreichend geatmet wird. Die Hoffnung des amerikanischen Arztes Andrew Weil, dass die Medizin des nächsten Jahrhunderts eine Atemmedizin sein wird, erscheint heute angesichts des mächtigen Widerstandes der Ärzteschaft gegen jegliche Reformen und des völligen Fehlens der Bereitschaft, Außenseitermethoden zu fördern, noch als völlig illusorisch. Denn eine Atemmedizin würde ein radikales Umdenken voraussetzen, das den individualistischen Ansatz bei den

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Krankheitssymptomen aufgibt und die direkte und indirekte Mitwirkung des sozialen Umfeldes an der Erkrankung und Heilung des Einzelnen anerkennt. Das kann aber nur gelingen, wenn in einer breiten Gesundheitsbewegung die etablierte Ärzteschaft unter Reformdruck gesetzt werden würde. Sicherlich gehen von dem gegenwärtigen Trend zur Naturheilkunde wenig Impulse für ein neues Gesundheitsverständnis aus, da der soziale Faktor auch in der Naturheilkunde weitgehend ausgeklammert wird. Das gilt auch für die Homöopathie, die scheinbar auf die individuellen Verhältnisse des Erkrankten eingeht, aber letztlich doch auf die Wirkung von Heilmitteln setzt.

Der gegenwärtige Trend in der öffentlichen Gesundheitsbewegung geht in die falsche Richtung. Seit 1997 wird die Atemtherapie nicht mehr als eine wissenschaftlich erprobte Therapieform anerkannt und deshalb auch von den Krankenkassen nicht abgerechnet. Dies ist ein Symptom einer Rechtswende in der Gesundheitspolitik. Anstelle einer langfristigen Kosteneinsparung durch prophylaktische Gesundheitserziehung werden verstärkt die Methoden der Symptombekämpfung unterstützt, deren medizinische Unwirksamkeit und kostentreibende Wirkung längst erwiesen ist.

Langfristig wird sicherlich der stärkste Impuls, dem Atem einen größeren Stellenwert in der Lebenspraxis einzuräumen, von dem Rückgang der gesellschaftlich erforderlichen Erwerbsarbeit ausgehen. Der zunehmenden Freiheit steht heute noch ein absoluter Mangel an sinnvollen Formen der Eigenbetätigung gegenüber. Es herrscht eine große Ratlosigkeit darüber vor, wie sinnvolle Eigenbetätigung aussehen könnte. Gewiss wird ein wachsender Teil der Bevölkerung sich nicht mit den Konsumangeboten der Freizeitindustrie abspeisen lassen. Wahrscheinlich wird man zu der Einsicht gelangen, dass die früheren Formen religiöser Rituale, die bei archaischen Völkern einen großen Raum ihres Alltages eingenommen hatten, nicht nur sehr lustvoll, sondern auch für das Wohlbefinden sehr nützlich waren. Diese Rituale hatten zum großen Teil auch die Funktion, den Atem von körperlichen Verspannungen zu reinigen und damit das Denken zu erleichtern. Die Rituale müssen deshalb weniger aus religiösen Motiven als aus der Einsicht, dass sie primär eine wichtige reinigende Funktion haben, wiederbelebt werden.

Da die alten religiösen Rituale nicht ohne weiteres wieder zum Leben erweckt werden können, kommt es darauf an, ihnen eine neue, zeitgemäße Gestalt zu geben. Sie müssen die Bedürfnisse nach gemeinschaftlichen Betätigungen und Zusammengehörigkeit stärken, und dem Interesse an Verbesserung des Wohlbefindens durch Klärung der eigenen Gedanken und Vorstellungen gerecht werden. Mit Sicherheit wird bei den Ritualen der Atem im Mittelpunkt stehen. Angesichts des aufgeklärten Bewusstseins der meisten Menschen ist eine religiöse Rechtfertigung der Rituale nicht mehr notwendig. Seitdem bekannt ist, dass die Selbstheilungskräfte durch die Pflege des Atems gestärkt werden, kann die Pflege des Atems auf direktem Wege angegangen werden. Dies hat den entscheidenden Vorteil, dass dabei die sozialen und politischen Lebensbedingungen im Blickfeld bleiben, die die Lebendigkeit des Atems einschränken.

Im Grunde sind auf dem Weg zur Anerkennung des Atems gerade die ersten Schritte getan worden. Da noch wenige gesellschaftliche Kräfte vorhanden sind, die sich für den Weg in die Atemkultur einsetzen, kommt es darauf an, die Idee der Atemkultur durch die Weiterentwicklung der Atemtheorie zu unterstützen. Dadurch kann die Forderung, dem Atem einen größeren kulturellen Stellenwert einzuräumen, legitimiert werden. Die subjektive Selbstwahrnehmung wird geschärft, sodass auch die Verwandlungskraft des Atems am eigenen Leib gespürt wird.

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Die Kernfrage bei der Reform des kulturellen Selbstverständnisses besteht darin, wie groß der Spielraum des Einzelnen ist, sich der sozialen Fremdbestimmung zu entziehen bzw. die sozialen Erwartungen so weit kritisch zu relativieren, dass sie etwas von ihrer Kraft zur Atemeinschnürung verlieren. Sie lässt sich im Grunde nicht theoretisch beantworten. Wahrscheinlich werden die Spielräume der kulturellen Veränderung erst sichtbar, wenn einzelne Menschen in ihrem Leben realisiert haben, dass ein um den Atem zentriertes Selbstverständnis mehr Sicherheit, Wohlbefinden und Gesundheit garantiert.

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