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Philosophie der Muster    Buch "Die Intelligenz der Regeln"


Klaus Neubeck

Die Intelligenz der Regeln

Wie die Sprache das Denken verändert


Dr. Klaus Neubeck, Dr. phil., geboren 1939, Studium der Soziologie, Philosophie und Psychologie in Frankfurt am Main, Stadtplaner, Atemtherapeut, Heilpraktiker.

Anschrift des Autors: Dr. Klaus Neubeck, Destouchesstr. 29, 80803 München, Email: klaus.neubeck@mnet-online.de


Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliographische Daten sind im Internat über http://dnb.d-nb.de abrufbar.


ISBN 9783848212811


Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt

Das Foto "Full House" auf dem Umschlag stammt von Ilagam (Ausschnitt). Quelle: www.piqs.de/fotos/105966

©Alle Rechte liegen bei dem Autor, München 2012

Inhaltsverzeichnis

1. Philosophie der Regeln 9

2. Die Kreativität der Regeln 17

2.1. Die abstrakte Natur der Regeln 18

2.2. Regeln und Spielregeln 22

2.4. Regeln formen das Verhalten 27

2.5. Implizites Lernen der Regeln 30

2.6. Regeln ermöglichen flexibles Handeln 32

2.7. Regelbewusstsein 34

2.8. Die soziale Natur von Regeln 37

2.9. Die Funktion der Regeln im Alltag 39

2.10. Zur Theorie des Handelns 43

2.11. Die Selbstorganisation der Regeln 46

2.12. Zusammenfassung 50

3.1. Begriffe als Zeichen für Regeln 54

3.2. Zur Bedeutung von Begriffen 62

3.3. Die Entstehung der Sprache 69

3.4. Begriffe als Werkzeuge 73

3.5. Die Ordnung der Begriffe 77

3.6. Missbrauch der Sprache 83

3.7. Kritik der Abbildtheorie der Begriffe 88

3.8. Magie der Wörter 91

3.9. Gewalt in der Sprache 95

3.10. Zusammenfassung 98

4. Die Regeln des Denkens 101

4.1. Denken als inneres Handeln 101

4.2. Das unbewusste Denken 110

4.3. Denken ohne Begriffe 119

4.4. Rational ist Regeln kombinieren 124

4.5. Die Bewertungen der Gefühle 127

4.6. Ziele des Handelns 134

4.7. Selbstreflexivität 137

4.8. Wissen ist Können 139

4.9. Wahrheit als Scheinproblem 145

4.10. Die Kraft des inneren Dialoges 148

4.11. Ethisches Denken ist Regeldenken 151

4.12. Die Grenzen des Verstehens 159

4.13. Zusammenfassung 162

5. Der Mensch als natürliches Wesen 165

5.1. Der Mensch als handelndes Wesen 166

5.2. Befreiung vom Mythos des Geistes 170

5.3. Kritik des mechanistischen Weltbildes 176

5.4. Die repressive Funktion der Willensfreiheit 181

5.5. Das Ich als Gewohnheit 183

5.6. Der Rhythmus des Atems 188

5.7. Mythos objektive Werte 193

5.8. Psychologie der Regeln 197

5.9. Pragmatische Ethik 201

5.10. Sinn und Transzendenz 204

5.11. Exkurs: Lachen macht glücklich 211

5.12. Zusammenfassung 220

6. Regelbewusstes Handeln 223

6.1. Zur Kunst, gekonnt mit Regeln umzugehen 224

6.2. Rituale der Selbstberuhigung 233

6.3. Gesund durch Meditation 238

6.4. Die Heilkraft der Musik 244

6.5. Kritisches Verhältnis zur Sprache 248

6.6. Kritisches Denken 251

6.7. Wider den Bewegungsmangel 253

7. Fazit 255

7.1. Unvollständige Aufklärung 255

7.2. Pragmatischer Ansatz 260

7.3. Versuch einer Bilanz 263

8. Literaturverzeichnis 267

9. Stichwortverzeichnis 271

1. Philosophie der Regeln

»Wer meint, alles zu durchschauen, philosophiert nicht mehr.« (Karl Jaspers)

Warum die Menschen denken können, ist erstaunlicherweise nach wie vor ein ungelöstes Rätsel. Weder Philosophie und Psychologie noch Gehirnforschung konnten bisher klären, auf welche Weise Gedanken entstehen. Es bleibt immer noch im Dunkeln, warum das Denken häufig unbewusst abläuft und woher seine erstaunliche Kreativität kommt. Die Frage nach dem Grund des Denkens lässt die Menschen aber nicht in Ruhe, weil es hier um die eminent praktische Frage geht, wie das Denken, das die wichtigste Ressource der Menschen im Kampf ums Überleben ist, gefördert werden kann.

Die große Unwissenheit bei einem so drängenden Problem wie dem Denken hängt vermutlich damit zusammen, dass beim Denken über das Denken bisher stets von der Überzeugung ausgegangen wird, dass es ein Werk des Geistes ist. Das Denken wird so verstanden, dass vom Geist sprachliche Begriffe miteinander verknüpft werden. Es wird als eine Fähigkeit angesehen, die aus eigener Kraft zu Erkenntnissen gelangen kann. Dabei ist es völlig unklar, was das Wesen des Geistes ist, in welcher Form er existiert und warum er die Fähigkeit des Denkens besitzt. Da der Begriff des Geistes nach meiner Auffassung nichts mehr als ein abstrakter Allgemeinbegriff ist, kann daraus unmöglich eine rationale Theorie des Denkens abgeleitet werden.

Ein alternativer Ansatz zum Verständnis des Denkens stellte sich bei mir ein, als ich mich wiederholt aus dem Blickwinkel der Gewohnheiten beobachtet habe. Beim Lösen handwerklicher Probleme, beim Schachspielen und beim Entwickeln von EDV-Programmen fiel mir immer wieder auf, dass das Denken nach dem gleichen Schema abläuft, dass geprüft wird, ob mit früher gelernten Bewegungen aktuelle Probleme gelöst werden können. Das Denken schien in allen Fällen die gleiche Struktur zu haben, dass im mentalen Innenleben1 probeweise mehrere Bewegungen miteinander verbunden werden, um ihre Wirkungsweise zu prüfen und dass es an seine Grenzen stößt, wenn Probleme gelöst werden sollen, für die keine geeigneten Bewegungen erlernt wurden. Bei der Beobachtung meines Denkens fiel mir immer wieder auf, dass das Denken mit verallgemeinerten Bewegungen arbeitet. Beim Schachspielen muss bekannt sein, welche Bewegungen die Figuren prinzipiell machen dürfen, abhängig von ihrer jeweiligen Position. Auch beim Programmieren führt der jeweilige Code bestimmte grundsätzliche Aktionen aus, unabhängig von der Aufgabe und von der Art und Qualität der Daten. Beim Handwerken stehen typische Bewegungsschritte für die Problemlösung zur Verfügung. Offensichtlich arbeitet das Denken in diesen Fällen stets mit verallgemeinerten Bewegungen, die auch als Bewegungsmuster bezeichnet werden können.

Es stellte sich die Idee ein, dass das Denken nicht in der Verknüpfung von Begriffen, sondern von Bewegungsmustern bestehen könnte. Daraus entstand die Hypothese, dass Bewegungsmuster die eigentlichen Bausteine des Denkens sind und dass die Begriffe ihre Bedeutung dadurch erhalten, dass sie sich auf bestimmte Bewegungsmuster beziehen. Das würde bedeuten, dass das, was für meine Erfahrungsquellen des Schachspielens, des Programmierens und Handwerkens gilt, auch für als geistig bezeichnete Probleme zutreffen müsste. Allgemeiner ausgedrückt, es bildete sich die Hypothese heraus, dass das Denken ein Bestandteil des Handelns, also des motorischen Systems ist.

Die Hypothese, dass das Denken mit Bewegungsmustern arbeitet, wird durch die These einiger Gehirnforscher unterstützt, dass das Gehirn nichts anderes kann, als Bewegungen zu organisieren. Wenn diese These richtig ist, müssten auch die Gedanken als Bewegungsprozesse verstanden werden können. Die Gehirnforscher haben diese Konsequenz nicht gezogen. Aber aus der Perspektive meiner Intuition, dass Bewegungsmuster der gemeinsame Nenner aller Phänomene im geistig-psychischen Bereich sind, kann die Idee, dass das Gehirn nur Bewegungen organisieren kann, konsequent zu Ende gedacht werden.

Da der Begriff des Bewegungsmusters das Typische und Regelmäßige an Bewegungen umfasst, ist er offensichtlich mit dem Begriff der Regel identisch. Von Regeln wird im Allgemeinen gesprochen, wenn eine Bewegung mit einer bestimmten Regelmäßigkeit abläuft. Seit Ludwig Wittgensteins Versuch, die Sprache als ein System von Regeln zu verstehen, hat der Begriff der Regel eine immer wichtigere Bedeutung in der Sprachphilosophie erhalten.2 Allerdings ist bis heute keine endgültige Klarheit darüber erzielt worden, wie der Zusammenhang von Regel und Begriff zu verstehen ist. In der vorliegenden Arbeit wird davon ausgegangen, dass sich Regeln grundsätzlich dadurch auszeichnen, dass sie Bewegungen formen und dass sie unentbehrlich sind, um Bewegungen und damit das Handeln zu organisieren. Auf diese Weise kann der Begriff der Regel für eine Theorie des Handelns nutzbar gemacht werden. Da die Sprache eine bestimmte Art des Handelns ist, kann mit dem Begriff der Regel auch die Begriffsbildung neu verstanden werden.

Wenn die Hypothese zutrifft, dass Begriffe ihren Gehalt aus dem Bezug zu Regeln erhalten, wird das bisherige Paradigma der Sprachphilosophie, dass die Begriffe ihre Bedeutung aus dem Bezug zu Vorstellungen von Objekten oder aus der Relation zur Sprache als Ganzer erhalten, infrage gestellt. Da sich erweisen wird, dass Regeln nichts Geistiges sind, sondern der Welt des Handelns angehören, kann mit ihrer Hilfe das Denken als ein biologischer Prozess verstanden werden. Vermutlich kann dann auch die Tatsache, dass das Denken unbewusst verläuft, besser verstanden werden. Es drängt sich der Verdacht auf, dass der Begriff des Geistes keine empirische Basis hat, sondern sich bloß auf eine geheimnisvolle mystische Kraft bezieht, an dessen Existenz geglaubt werden muss.

Da der neue Denkansatz daran ansetzt, dass das Denken aus seiner Funktion für das Handeln erklärt werden muss, kann von einer pragmatischen Sprachtheorie gesprochen werden. Der Begriff pragmatisch wird aber nicht im Sinne von nützlich, praxisbezogen oder sachlich verstanden, sondern in dem ursprünglichen Sinn, dass alles Denken nur aus dem direkten Bezug zum Handeln verstanden werden kann.3 Damit ist die Überzeugung verbunden, dass dies auch für alle geistig-psychischen Phänomene gilt. Diese Einsicht ist historisch zum ersten Mal vom amerikanischen Pragmatismus formuliert worden, aber sie konnte nicht schlüssig zu Ende gedacht werden. Erst auf dem Boden der modernen Gehirnforschung setzt sich allmählich die Einsicht durch, dass das Denken als eine Funktion des Handelns verstanden werden muss.

In der pragmatischen Sprachtheorie wird also davon ausgegangen, dass alle Überlegungen zur Sprache in den Rahmen des theoretischen Konzeptes gestellt werden müssen, dass die Menschen primär handelnde Wesen sind. Bisher war es ausgeschlossen, die Sprache und das Denken konsequent als Hilfsmittel des Handelns zu begreifen, da die philosophischen Begriffe des Geistes, der Seele, der Vernunft, des Ichs, der Freiheit und der Ethik stets mit dem Primat des Subjekts als der Quelle von Erkenntnissen und ethischen Urteilen verbunden waren. Geht man jedoch von dem Grundprinzip aus, dass die Menschen handelnde Wesen sind, die ihr Handeln mit Hilfe von Regeln organisieren, kann das Denken über das Denken auf eine völlig neue, vielleicht sogar revolutionäre Basis gestellt werden.

Wie sich zeigen wird, hat der neue Denkansatz den Vorzug, dass damit erstmals viele Probleme relativ einfach gelöst werden können, an denen die bisherigen Theorien des Denkens gescheitert sind. Dazu gehören folgende Fragen: Wie bringt es das Denken fertig, das Handeln zu steuern? Warum können Begriffe metaphorisch verwendet werden? Wie entsteht Kreativität? Wie hängt das Denken von den natürlichen biologischen Bedingungen ab? Wie frei ist das Denken? Warum ist unbewusstes Denken möglich?4

Es wird sich auch zeigen, dass sprachphilosophische Überlegungen mitten in alle Probleme der menschlichen Existenz hineinreichen und deshalb ein Schlüssel zum Verständnis vieler philosophischer Probleme sein können. So können mit diesem Ansatz z.B. die Probleme des Verhältnisses von Leib und Seele und der Willensfreiheit, die bisher als unlösbar gelten, überzeugend aufgelöst werden. Insbesondere kann damit die Neudefinition des Menschen als eines handelnden Wesens begründet werden.

Diese Überlegungen bestätigen, dass die Art, wie über philosophische Probleme nachgedacht wird, davon abhängig ist, von welchem Sprachverständnis ausgegangen wird. Als z.B. im religiösen Denken das sprachliche Denken als eine göttliche Fähigkeit begriffen wurde, mussten zwangsläufig alle philosophischen Probleme im religiösen Kontext gelöst werden. Solange die Überzeugung vorherrschte, dass die Begriffe angeboren sind, konnte man sich unbekümmert metaphysischen Reflexionen hingeben. Erst als das religiöse durch das naturwissenschaftliche Paradigma abgelöst wurde und die Sprache als eine natürliche Funktion der biologischen Entwicklung erklärt werden konnte, war es zwingend, alle philosophischen Probleme ohne Metaphysik zu behandeln.

Da alle Theorien über das Wesen des Menschen sprachlich abgefasst werden, ist es unumgänglich, dass dabei sehr kritisch mit der Sprache umgegangen werden muss. Ludwig Wittgenstein hat die Dringlichkeit der Aufgabe bewusst gemacht, dass die Prägung des Denkens durch die Sprache systematisch untersucht werden muss, um zu besseren Denkergebnissen zu gelangen. »Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unsres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache.«5 Aber sein Diktum, dass Philosophie Sprachkritik sein müsse, ist seitdem weitgehend Programm geblieben. Nach wie vor werden abstrakte Allgemeinbegriffe wie Geist, Seele, Ich, Freiheit, Bewusstsein, Gewissen u.Ä. relativ unkritisch verwendet. Genauso wenig macht man sich bewusst, welche Metaphern beim Denken zu Hilfe genommen werden. Das liegt wahrscheinlich daran, dass die bisherigen Sprachtheorien Sprachkritik nur in der Weise verstanden haben, dass die Bedeutung von einzelnen Begriffen zu klären ist. Es ist z.B. sicherlich wichtig zu wissen, dass das Bewusstsein ursprünglich mit Hilfe der Metapher des Spiegels verstanden wurde, wie Richard Rorty aufgezeigt hat.6 Aber zur Erkenntnis, wie Sprache und Denken zusammenhängen, gelangt man erst, wenn die Sprache als ein Bestandteil der sozialen Praxis aufgedeckt wird, wenn also der Zusammenhang von Denken, Sprechen und Handeln reflektiert wird. Erst dann kann die Frage behandelt werden, wie die Sprache von der sozialen Praxis geprägt wird und wie sie auf das Denken zurückwirkt.

In dieser Arbeit soll der Notwendigkeit von Sprachkritik dadurch Rechnung getragen werden, dass insbesondere die Begriffspaare geistig – materiell, mental – natürlich, geistig – biologisch u.Ä. kritisch hinterfragt werden. Diese Begriffspaare verdanken sich dem Dualismus von Geist und Materie, der aus sprachkritischer Sicht sehr fragwürdig ist, weil hier abstrakte Allgemeinbegriffe verwendet werden, denen nichts in der sinnlich wahrnehmbaren Welt entspricht. Bei den abstrakten Allgemeinbegriffen wird meistens vergessen, dass sie aus praktischen Zusammenhängen heraus entstanden sind und lediglich als sprachliche Etiketten benutzt werden, um das eigentlich Unsagbare anzusprechen.

Ohne Zweifel ist das Denken durch die verbale Sprache nachhaltig beeinflusst worden. Mit der begrifflichen Sprache ist die Fähigkeit entstanden, beim Denken abstrakte Allgemeinbegriffe und Metaphern zu benutzen. Dadurch wurde die Reichweite des Denkens gewaltig erweitert, aber zugleich entstand die Gefahr von Fehlschlüssen, Mystifikationen, Mythologien, die Verwechselung von Begriff und Wirklichkeit, die Blindheit gegenüber dem metaphorischen Charakter von Begriffen u.a. Die zahlreichen Fallstricke des Denkens sind trotz der seit mehr als 100 Jahren betriebenen Sprachphilosophie und Sprachkritik noch kaum ins Bewusstsein gedrungen.

Eine pragmatische Sprachtheorie kann nicht die Frage ausklammern, wie sich das Zusammenleben der Menschen durch die Sprache verändert hat. So wie historisch viele Werkzeuge tiefgreifende soziale Veränderungen bewirkt haben, muss angenommen werden, dass auch die Sprache kein neutrales Werkzeug ist, sondern tiefe Spuren im mentalen Innenleben der Menschen hinterlassen hat. Dies zeigt sich schon daran, dass sie die Art und Weise verändert hat, wie die Menschen mit sich selbst umgehen. Erst mit der Sprache, die nicht älter als ca. 25.0000 Jahre ist, sind Betrug, Lügen, Beleidigung, Demütigung u.a. möglich geworden. Ebenso ist erst mit der Sprache die Möglichkeit entstanden, sich selbst herabzusetzen, sich selbst abzulehnen, sich zu beschuldigen oder sich Vorwürfe zu machen. Dies ergibt sich zwar nicht zwangsläufig mit der Sprache, es wurde aber zunehmend Teil der menschlichen Lebenswelt, weil mit Hilfe der Sprache große Herrschaftsgebilde aufgebaut werden konnten, mit der Folge von sozialer Unterdrückung und Ausbeutung. Im Klima sozialer Unterdrückung geht das wechselseitige Vertrauen der Menschen untereinander verloren und gedeihen Betrug, Lüge und Beleidigung. Vor allem wurde das Verständnis der Menschen von sich selbst radikal verändert. Als geistige Wesen glauben sie eine Sonderstellung in der Natur einzunehmen und die übrige Natur beherrschen zu dürfen. Außerdem können mit der Sprache sehr leicht egoistische Interessen rationalisiert und Herrschaftsansprüche als rational legitimiert werden können. Diese ersten Argumente zeigen, dass vieles dafür spricht, dass die Sprache tief in das menschliche Leben eingreift.

Die herkömmlichen Sprachtheorien können zur Frage, wie die Sprache das menschliche Zusammenleben und Denken geprägt hat, wenig beitragen. Dies liegt daran, dass sie die Frage nach der kulturellen Rückwirkung der Sprache aus ihren Analysen ausgeblendet haben. Sie haben sich in der ersten Hälfte des 20. Jh. ausschließlich mit der Frage beschäftigt, wie die Bedeutung von Begriffen erklärt werden kann. In der zweiten Hälfte des 20. Jh. wurde erkannt, dass diese Aufgabe nur befriedigend gelöst werden kann, wenn der Bezug der Begriffe zur Realität mit in die Analyse einbezogen wird. Aber diese Konzepte sind so unbestimmt und allgemein, dass sie für die Fragestellung nach der kulturellen Bedeutung der Sprache völlig irrelevant sind. Vor allem ist ihr Ansatz viel zu partikular, so dass sie nicht das theoretische Rüstzeug liefern, mit dem die Wechselwirkungen zwischen Denken, Sprechen und Handeln analysiert werden können.

Bei der Darstellung meiner Theorie werden nur am Rande einige Gedanken der sprachphilosophischen Autoritäten ausgebreitet. Das ergibt sich daraus, dass der Grundgedanke dieses Buches, dass alle Begriffe ihre Bedeutung aus dem Bezug zu Bewegungsmustern erhalten, so sehr aus dem sprachphilosophischen Mainstream herausfällt, dass es keine philosophischen Autoritäten gibt, auf die sich die vorliegenden Gedanken stützen, deren Überzeugungskraft sie sich zunutze machen oder deren Überlegungen direkt fortgeführt werden können. Die Gedanken können sich allein auf die Überzeugungskraft der vorgelegten Argumente stützen.

In dieser Arbeit soll gezeigt werden, dass der Weg zu einem rationalen Verständnis des Menschen nur über eine nicht am Begriff des Geistes orientierte Theorie der Sprache führt. Im Zentrum der ersten beiden Kapitel steht deshalb der Versuch, auf der Basis der Intuition, dass das Denken ein motorischer Prozess ist, die dafür erforderlichen theoretischen Grundlagen zu entwickeln. Dazu wird zunächst eine Theorie der Regeln entwickelt. Auf dieser Basis wird das Konzept des Bewegungsmusters verständlich, das bei der Klärung der Bedeutung von Begriffen im Mittelpunkt steht. Danach wird geklärt, welche Konsequenzen sich daraus für die Theorie des Denkens ergeben. Dabei geht es um das zentrale Problem, ob und wie Denken und Sprechen zusammenhängen. Das Ergebnis wird als Bewegungstheorie des Denkens bezeichnet. Auf dieser Basis wird das Verständnis des Menschen als handelndes Wesen entfaltet. Obwohl ihr Denken und Fühlen unbewusst abläuft und nur die Resultate im Bewusstsein erscheinen, erleben sich die Menschen nicht als fremdbestimmt. Ihr Denken und Fühlen ist umso kreativer, je realitätsgerechter ihr Handeln ist. Abschließend wird gefragt, was die vorgelegte Theorie der Sprache und des Denkens für das konkrete praktische Tun bedeuten könnte.



2. Die Kreativität der Regeln

»Wer von allen seinen Gewohnheiten Kenntnis nähme, wüsste nicht mehr, wer er ist.« (Elias Canetti)

Ein Esel steht zwischen zwei gleich großen und gleich weit entfernten Heuhaufen. Er verhungert schließlich, weil er sich nicht entscheiden kann, welchen er zuerst fressen soll. Dieses Gleichnis von Buridans Esel sollte ursprünglich die Unmöglichkeit zeigen, zwischen zwei gleichwertigen Lösungen eine logische Entscheidung zu treffen. Nimmt man aber das Gleichnis wörtlich, steckt darin auch der Vorwurf, dass der Esel stur nach der Regel vorgeht, stets zunächst den größeren Haufen zu fressen. Warum ist er nicht in der Lage, für den Fall von zwei gleich großen Haufen eine neue Regel zu entwickeln, z.B. dass zuerst der rechte Haufen drankommt? Das Gleichnis zeigt die überragende Bedeutung der Regeln für das Handeln, mahnt aber zugleich an, dass die Regeln nicht starr angewendet werden dürfen.

Die überragende Bedeutung der Regeln im menschlichen Handeln zeigt sich an der Macht der Gewohnheiten. Wenn die Menschen gelegentlich spöttisch als Gewohnheitstiere bezeichnet werden, soll damit hervorgehoben werden, dass ihr Verhalten durch und durch von Gewohnheiten geprägt wird und dass sie mehr oder minder Sklaven ihrer Gewohnheiten seien. Oft wird auch von der Despotie der Konventionen gesprochen. Dabei wird allzu leicht vergessen, dass die Gewohnheiten eine äußerst nützliche Funktion im Denken und Handeln haben. In meinem Buch »Geliebte Fesseln«7 habe ich gezeigt, dass Denken und Handeln ohne Gewohnheiten unmöglich wären. Es geht deshalb nicht darum, dass sich die Menschen von ihren Gewohnheiten befreien müssen. Vielmehr kommt es darauf an, dass ein Bewusstsein dafür entwickelt wird, dass den Gewohnheiten Regeln zugrunde liegen, die in bestimmten Zusammenhängen gelernt wurden und jederzeit wieder verändert werden können.

Um zu einem theoretisch abgesicherten Begriff der Regel zu gelangen, sollen im Folgenden die Regeln als ein wesentliches Merkmal allen Handelns herausgearbeitet werden. Es wird sich zeigen, dass auf dieser Basis die Besonderheiten des menschlichen Handelns, seine Intentionalität (Zielgerichtetheit), seine Lernfähigkeit, seine Anpassungsfähigkeit, seine Kreativität, seine Selbstreflexivität u.a. besser verstanden werden können, als es bisher mit den geistzentrierten Konzepten möglich war. Der Begriff der Regel ist der Schlüsselbegriff in der vorliegenden Arbeit, weil damit nicht nur das Handeln besser analysiert werden kann, sondern auch ein besseres Verständnis der Sprache und des Denkens ermöglicht wird.

2.1. Die abstrakte Natur der Regeln

»Alles, was die Natur selbst anordnet, ist zu irgendeiner Absicht gut. Die ganze Natur überhaupt ist eigentlich nichts anderes, als ein Zusammenhang von Erscheinungen nach Regeln; und es gibt überall keine Regellosigkeit.« (Immanuel Kant)

Das menschliche Handeln zeichnet sich dadurch aus, dass fast alle menschlichen Bewegungen erlernt werden müssen. Neue Bewegungen werden bei anderen Menschen zunächst beobachtet und dann nachgeahmt. Für die Nachahmung reicht es aber nicht aus, den wahrgenommenen Bewegungsablauf in einer eigenen Bewegung nachzubilden. Damit überhaupt mit der Nachahmung begonnen werden kann, muss das Muster der Bewegung zumindest in grober Form begriffen werden. So besteht z.B. das Muster beim Werfen darin, dass der ausgestreckte Arm nach hinten genommen wird, um ihn dann ruckartig nach vorn zu bewegen und am Endpunkt der Bewegung die Finger zu öffnen, die den zu werfenden Gegenstand festhalten. Diese Bewegung kann sehr unterschiedlich ausgeführt werden. Entscheidend ist der dabei erzielte Effekt, dass der Gegenstand nach vorne geschleudert wird. Mit jeder Übungsbewegung wird das Muster immer klarer in seinen Differenzierungen erkannt. Denn jede einzelne Bewegung ist eine komplexe Aktion des ganzen Körpers, die sich aus vielen Teilbewegungen zusammensetzt. Es ist deshalb unmöglich, gleich bei der ersten Nachahmung alle Aspekte einer Bewegung zu erfassen.

Das komplexe Muster jeder Bewegung muss durch wiederholtes Üben allmählich erfasst werden. Es muss ständig geprüft werden, ob die Bewegung perfekt gelungen ist. Optimal ausgeführte Bewegungen sind daran zu erkennen, dass sie ein Minimum an Energie verbrauchen und sich leicht und harmonisch anfühlen. Nur wenn das Muster der Bewegung vollständig erfasst wurde, hat man die Gewissheit, die Bewegung optimal zu beherrschen. Da es sehr schwierig ist, selbst zu prüfen, ob bereits die optimale Verlaufsform gefunden wurde, braucht man bei komplexen Bewegungen – wie z.B. dem Werfen, dem Klavierspielen oder dem Schwimmen – zusätzliche Korrekturhinweise von Lehrern, die die Bewegung von außen beobachten.

Nach den Erkenntnissen der Gehirnforschung hat das Gehirn die Fähigkeit, in allen Wahrnehmungen und Erfahrungen Muster zu erkennen. Jedes Muster ist das Ergebnis eines Abstraktionsvorganges. Aus komplexen Wahrnehmungsinhalten werden einige wesentlich Elemente herausgefiltert. Es wird davon ausgegangen, dass die Musterbildung ein Sparprogramm für das Gedächtnis ist. Da die unendliche Zahl von Wahrnehmungselementen auf diese Weise reduziert wird, kann das Ergebnis ökonomisch abgespeichert werden. Außerdem kann das Gehirn mit den abgespeicherten Muster relativ leicht aus einer Fülle von Objekten diejenigen herausfinden, die damit eine gewisse Ähnlichkeit haben. So gelingt es, andere Menschen sofort anhand ihrer typischen Gesichtszüge wiederzuerkennen.

Auch die Gestaltpsychologie hat nachgewiesen, dass der Organismus bei der Wahrnehmung von Objekten mit der Methode arbeitet, die Komplexität der sinnlichen Wahrnehmungen durch Musterbildung zu reduzieren. So geht z.B. in das Muster für Marmor ein, wie er sich anfühlt, welche Farbe er hat, wie er auf die Bearbeitung mit Hammer und Säge reagiert und wofür er verwendet werden kann.

Da alle menschlichen Bewegungen auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtet werden, wird beim Lernen einer neuen Bewegung ihr Muster zugleich mit einem bestimmten Ziel verbunden. Die Kombination aus Muster und Ziel wird als Regel bezeichnet. Unter Regel kann somit eine körperinterne Anweisung verstanden werden, wie eine bestimmte Bewegung grundsätzlich auszuführen ist, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Der Regelbegriff leitet sich etymologisch vom lateinischen Wort »norma« ab, das ursprünglich Winkelmaß, Richtlinie und Richtschnur bedeutete und später auch die Bedeutung von Maßstab, Regel und Vorschrift annahm. Alle Bedeutungen weisen auf die Aufgabe der Regeln hin, das Handeln zu ordnen bzw. ihm eine bestimmte Struktur zu geben.

Der Gehirnforscher Manfred Spitzer hat deshalb das Gehirn als eine Regelextraktionsmaschine bezeichnet. Er will damit hervorheben, dass die Hauptleistung des Gehirns darin besteht, für alle Aktivitäten des Organismus Regeln auszubilden.8 Offensichtlich hat der menschliche Organismus ein elementares Bedürfnis, die Regeln in seinem Verhalten und in der Natur zu erkennen. Regelbildung bedeutet, das allgemeine Muster eines zielorientierten Bewegungsablaufs zu erfassen. Deshalb können die bei anderen Menschen wahrgenommenen Bewegungen – wie z.B. das Werfen – nachgeahmt werden. Ein bemerkenswertes Beispiel dafür ist, wie kleine Kinder ganz nebenbei die grammatikalischen Regeln ihrer Sprache erfassen und anwenden.

Die Forschung hat sich bisher überwiegend mit der Mustererkennung bei der visuellen Wahrnehmung beschäftigt. Es spricht aber vieles dafür, dass die Mustererkennung auch bei der Wahrnehmung von Bewegungen eine wichtige Rolle spielt. Während das Gehirn bei der visuellen Wahrnehmung vor einer großen Datenfülle steht, gelingt die Regelbildung bei Bewegungen wesentlich leichter, da das Gemeinsame von gleichartigen Bewegungen einfacher zu identifizieren ist. Im Gegensatz zu bildhaften Wahrnehmungen kann man sicher sein, dass andere Menschen für bestimmte Bewegungen ganz ähnliche Regeln besitzen.

Bei einem Tierexperiment wurde festgestellt, dass bereits Ratten fähig sind, aus Erfahrungen Regeln abzuleiten. Die Ratten wurden darauf konditioniert, dass bei bestimmten Tonfolgen wie »hoch-tief-hoch« sich Futter im Futtertrog befindet. Die Forscher haben dann die Tonfolgen nach oben und unten transponiert, so dass sie einen ganz anderen Klang erhielten. Trotzdem eilten die Ratten sofort zum Futtertrog, wenn sie die veränderten Töne hörten. Die Forscher haben daraus geschlossen, dass sich die Ratten nicht die Töne gemerkt haben, sondern die Muster hinter deren Abfolge.9 Da sie das Muster der Töne mit einer Handlung verbinden, eignen sie sich offensichtlich Regeln an.

Der menschliche Organismus hat ein vitales Bedürfnis, für alle Bewegungen ihre Regeln zu erfassen, weil damit das Handeln so organisiert werden kann, dass es effizient und mühelos abläuft. Damit eine Bewegung nicht jedes Mal mühsam neu aufgebaut werden muss, legt der Organismus Wert darauf, dass die häufig ausgeführten Bewegungen quasi automatisch ablaufen können. Mit den Regeln kann das Handeln so organisiert werden, dass es völlig unbewusst ablaufen kann. Wie z.B. das Autofahren zeigt, kann das Verhalten sozusagen vom inneren Autopiloten übernommen werden. Deshalb kann man sich während des Autofahrens problemlos mit dem Beifahrer unterhalten. Insbesondere das Sprechen ist darauf angewiesen, dass für die Bildung von Begriffen und für die Verknüpfung von Begriffen zu Sätzen eine Fülle von automatisch funktionierenden Gewohnheiten erlernt wird.

Indem die Regeln spontanes, unbewusst gesteuertes Handeln ermöglichen, kann die kostbare Ressource Bewusstsein geschont werden. Das Bewusstsein kann dann gezielt dafür eingesetzt werden, nach Auswegen zu suchen, falls das vom Autopiloten geführte Handeln nicht zum gewünschten Ziel führt. Da das Handeln immer wieder mit unerwarteten Problemen konfrontiert wird, hat die Evolution es offenbar so eingerichtet, dass die bewusste Aufmerksamkeit auf die eigenen Unfähigkeiten gelenkt werden, aber der größte Teil des durch Erfahrungen abgesicherten Handelns unbewusst ablaufen kann.10

Die Regeln beziehen sich nicht nur auf Bewegungen, sondern auch auf Objekte, da es dem Organismus darum geht, sein Verhalten gegenüber den Objekten zu steuern. Wie weiter unten begründet wird, steht im Zentrum der Regeln für Objekte, wofür sie praktisch verwendet werden können und evtl. zusätzlich bei Werkstoffen, wie sie sich bearbeiten lassen. Insofern besteht zwischen den Regeln für Bewegungen und denen für Objekte kein wesentlicher Unterschied. Auch bei den Objekten geht es letztlich darum, wie sie behandelt werden.

Normalerweise werden die Regeln spontan vom Gehirn erzeugt. Sie werden aus den Erfahrungen des Organismus mit der Realität abgeleitet. Das zeigt sich am Eindrucksvollsten an der Sprache, die Ludwig Wittgenstein zu Recht als ein kompliziertes Regelwerk begriff. Obwohl er davon sprach, dass die Menschen beim Regellernen abgerichtet werden, ist es bei der Sprache eher so, dass sie aus spontaner Nachahmung, also ohne Zwang gelernt wird.

Seitdem die Menschen sprechen können, sind sie in der Lage, die Regeln ins Bewusstsein zu heben und mit Hilfe der Sprache weiterzugeben. Dadurch ist die Möglichkeit entstanden, durch bewusstes Nachdenken neue Regeln zu bilden. Dazu gehören alle von staatlichen Instanzen verordneten Regeln, alle Spielregeln, die Regeln des Handwerks und der industriellen Produktion, sportliche Wettkampfregeln, die Regeln des wissenschaftlichen Arbeitens u.Ä. Offensichtlich sind die Menschen dazu in der Lage, weil sie die Regelbildungskapazität der Natur in sich selbst zur Verfügung haben und bewusst nutzen können. Sobald solche Regeln beherrscht werden, werden sie genauso wie die spontan gebildeten Regeln unbewusst befolgt. Zu Recht spricht man davon, dass sie zur zweiten Natur werden.

Da die Regeln aus einem Abstraktionsvorgang hervorgehen und sie etwas Allgemeines darstellen, scheinen sie etwas Mentales zu sein. Auf jeden Fall gehören sie nicht zur sinnlichen Welt. Da sie aber auf der anderen Seite auch einen körperlichen Aspekt haben, weil sie sich auf körperliche Bewegungsprozesse beziehen, können sie nicht eindeutig nur dem mentalen Bereich zugeordnet werden. Sie sind also weder etwas rein Geistiges noch etwas rein Körperliches. Überhaupt passt der Begriff des Mentalen nicht so richtig, da er normalerweise für bewusste geistige Leitungen verwendet wird, es sich aber bei der Regelbildung um einen unbewussten Prozess handelt. Ebenso wenig passt der Begriff des Körpers, weil das Ergebnis der Analyse der körperlichen Bewegung, die Regelbildung, etwas Abstraktes ist. Offensichtlich sind die üblichen begrifflichen Schubladen, insbesondere der Begriffsdualismus von Körper und Geist, ungeeignet, das Phänomen der Regeln zu erfassen.

2.2. Regeln und Spielregeln

»Ausnahmen sind nicht immer Bestätigung der alten Regel; sie können auch die Vorboten einer neuen Regel sein.« (Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach)

Das gängige Verständnis des Regeln wird von den Spiel- und Verkehrsregeln geprägt. Regeln legen demnach fest, wie das Verhalten in bestimmten Situationen ablaufen soll. Im Folgenden soll herausgearbeitet werden, dass damit das Verständnis der fundamentalen Bedeutung der Regeln, grundsätzlich alles Handeln zu ordnen, verfehlt wird. Es wird übersehen, dass Regeln nicht nur im kulturellen Leben, sondern auch auf der biologischen Ebene der normalen Bewegungen existieren. Um den Begriff der Regel, wie er hier verwendet wird, richtig zu verstehen, muss deshalb der Unterschied zum Begriff der Spielregel sorgfältig herausgearbeitet werden.

Der Alltag aller Menschen wird von Handlungsregeln geformt. Handlungsregeln legen fest, welche Bewegungen in einem bestimmten Kontext ausgeführt werden sollen. Dazu gehören die Regeln des Zusammenlebens (moralische Normen, Verkehrsregeln u.Ä.), die Regeln für den Gebrauch von Werkzeugen und Geräten (auch Musikinstrumente), die logischen Regeln des Schlussfolgerns, die Regeln beim Gebrauch der Sprache (Grammatik) u.Ä. Solche Regeln, die das Verhalten steuern, werden in der Literatur als regulative Regeln bezeichnet.

Spielregeln sind eine Sonderform der Handlungsregeln, da sie die Aufgabe haben, das Verhalten in künstlichen Handlungssituationen, nämlich in Spielsituationen, zu regeln. Spielregeln legen z.B. fest, welche Bewegungen bei einer bestimmten Aktivität zulässig sind (z.B. beim Fußballspielen kein Torschuss aus der Abseitsposition). Spielregeln werden in der Literatur zu Recht auch als konstitutive Regeln bezeichnet, weil sie eine bestimmte Aktivität erst begründen.11 So legen z.B. die Fußballregeln fest, wann ein Ballspiel als Fußballspiel anzusehen ist.

Während Handlungsregeln festlegen, welche Bewegungen in einem bestimmten Kontext zulässig sind, bestimmen Bewegungsregeln, wie Bewegungen ausgeführt werden. So erlernt jeder Mensch eine Regel für das Gehen, die sehr ähnlich mit der entsprechenden Regel bei anderen Menschen ist, aber doch so abweichend, dass man jeden Menschen an der Art seines Gehens erkennen kann. Die Art und Weise, wie z.B. ein Ball geworfen wird oder wie ein Fußballspieler einen Pass schlägt, wird also nicht durch eine Spielregel, sondern durch die Regel bestimmt, die man sich dafür angeeignet hat. Um ein Spiel zu spielen, müssen also nicht nur die Spielregeln bekannt sein und eingehalten werden, sondern müssen auch Bewegungsregeln beherrscht werden, damit überhaupt die Spielzüge ausgeführt werden können.

Alle komplexen Aktivitäten, wie z.B. das Musizieren oder das Sprechen, bestehen aus einer Kombination von Bewegungs- und Handlungsregeln. So bestimmen die Bewegungsregeln, wie auf einem Musikinstrument einzelne Tönen erzeugt werden können. Mit Hilfe von Handlungsregeln (Tempo, Laufstärke, Rhythmus u.Ä.) entsteht aus der dynamischen Verbindung von mehreren Tönen Musik. Bei der Sprache bestimmen die Bewegungsregeln, wie Buchstaben und Begriffe ausgesprochen werden. Mit Hilfe der grammatikalischen Handlungsregeln werden aus den Begriffen Sätze geformt. Bewegungsregeln sind somit das Substrat aller Handlungsregeln. Während also die Handlungsregeln auf das äußere Ziel der Bewegung ausgerichtet sind, bestimmen die Bewegungsregeln deren Ablauf.

Bewegungsregeln werden selten isoliert, sondern fast immer im Zusammenhang mit anderen Bewegungsregeln gelernt. So eignet man sich bei der Benutzung von Werkzeugen, beim Kochen oder bei sportlichen Bewegungen immer eine Kette von miteinander verknüpften Bewegungsregeln an. Deshalb weiß man aus Erfahrung, welche Bewegungen gut zueinander passen und in welcher Reihenfolge sie ausgeführt werden müssen. Aus den typischen Verbindungen werden Regeln abgeleitet. Die tägliche Anwendung der Regeln lässt so Gewohnheiten entstehen, welche Regeln miteinander verknüpft werden können.

Im Kontakt mit der Realität werden nicht nur Regeln gelernt, die sich auf körperliche Bewegungen, sondern auch solche, die sich auf Objekte beziehen. Wie oben bereits erwähnt wurde, geht es bei den Regeln für Objekte primär darum, wie die Objekte bearbeitet und benutzt werden können. Insofern sind die Regeln für Objekte letztlich auch Bewegungsregeln. Sie unterscheiden sich nur insofern von den normalen Bewegungsregeln, als sie viel stärker mit Vorstellungen von den Eigenschaften der Objekte verknüpft werden. Die wahrgenommenen Eigenschaften dienen dem Zweck, den Umgang mit den Objekten möglichst effizient zu gestalten. Deshalb ist es problematisch, die Objekte mit Hilfe ihrer Eigenschaften zu definieren. So besteht die Regel für Tische nicht darin, dass Tische vier Beine besitzen, eine bestimmte Höhe haben oder aus einem bestimmten Material hergestellt werden, sondern dass man daran essen und arbeiten kann. Mit dieser Regel können beliebige Objekte als Tisch erkannt oder verworfen werden.

Aus den bisherigen Überlegungen geht hervor, dass sich alle Regeln ausschließlich auf Bewegungen beziehen. Es gibt keine Regel, die nicht etwas anderes tut, als Bewegungsabläufe zu ordnen. Selbst die Regeln, die sich auf Objekte beziehen, sind letztlich Bewegungsregeln. Dieses Verständnis steht im Widerspruch mit der allgemeinen Auffassung, dass Regeln auch Prinzipien sein können, die geistige Prozesse, wie z.B. die Logik eines Satzes ordnen oder die Wahrheit eines Satzes bestimmen. Wie weiter unten erläutert wird, muss das Denken als eine Art Handeln verstanden werden. Daraus folgt, dass auch geistige Prinzipien nichts anderes als Regeln sind, die sich nicht von normalen Regeln unterscheiden. Es wird sich zeigen, dass die Schwierigkeit, die Ludwig Wittgenstein und seine Nachfolger hatten, den Regelbegriff für das Verständnis der Sprache zu nutzen, damit zusammenhängt, dass nicht erkannt worden ist, dass Regeln primär dafür gebildet werden, Bewegungen zu ordnen.

Das Gemeinsame der Regeln besteht darin, dass sie die Aufgabe haben, Bewegungen zu formen, damit sie in Gewohnheiten umgeformt werden können. Der Unterschied zwischen Handlungs- und Bewegungsregeln ist minimal, da alle Regeln mit der Absicht verbunden sind, mit einer Bewegung etwas Bestimmtes zu bewirken. Der Unterschied wurde eingeführt, um deutlich zu machen, dass der Begriff der Regel missverstanden wird, wenn er auf die Handlungsregeln beschränkt wird. Am Anfang der menschlichen Entwicklung hat es nur Bewegungsregeln gegeben. Nachdem der menschliche Organismus dank der Sprache gelernt hat, seine Bewegungen absichtlich mit Hilfe von Regeln zu ordnen, können auch Handlungsregeln (Vorschriften u.a.) entwickelt werden, die festlegen, welches Verhalten in bestimmten Situationen zulässig ist.

2.3. Regeln enthalten Ziele

»Erledige zuerst die Aufgabe. Kümmere dich um die Genehmigung später.« (Sargent Shriver)

Nach den bisherigen Überlegungen sind Regeln dadurch charakterisiert, dass sie eine Kombination von Mustern mit Zielen bestehen. Das hängt damit zusammen, dass eine Bewegung nur verstanden werden kann, wenn erkannt wird, welchem Zweck sie dient bzw. welche Absicht sie hat. Der Zweck kann auch als das Ziel der Bewegung bezeichnet werden. Eine Bewegung lernen, bedeutet deshalb nicht nur, ihr Prinzip zu erfassen, sondern immer auch ihren Zweck bzw. ihr Ziel zu lernen. Da jede Bewegung mit einer Absicht verbunden ist und Absicht und Bedeutung untrennbar zusammengehören, hat jede Bewegung auch eine bestimmte Bedeutung. Anders formuliert, besteht die Bedeutung einer Bewegung darin, dass sie auf das Erreichen eines bestimmten Zieles ausgerichtet ist.

Da Regeln aus einer engen Verbindung von Mustern und Zielen bestehen, wird automatisch eine bestimmte Regel aktiviert, wenn aufgrund eines Bedürfnisses ein bestimmtes Ziel angestrebt wird. So verbindet das kleine Kind ursprünglich mit dem Laufen das Ziel, damit leichter zur Mutter zu gelangen. Die Wahl eines bestimmten Zieles ist deshalb immer auch die Entscheidung für eine bestimmte Regel. Deshalb braucht man sich beim Handeln nicht unbedingt bewusst zu sein, welche Regel eigentlich befolgt wird.

Die Wirklichkeit des Handelns sieht so aus, dass man nicht erst ein Ziel hat und dann das dafür geeignete Mittel aussucht, sondern dass man auf ein Problem mit einem bestimmten Handeln reagiert. Wenn man z.B. ein Bild an der Wand aufhängen will, geht man nicht zunächst alle denkbaren dafür geeigneten Mittel durch, sondern weiß aufgrund der erlernten Gewohnheiten sofort, mit welcher Methode das Problem am besten gelöst werden kann, wobei auch die Art des Bildes und die Beschaffenheit der Wand berücksichtigt werden. Die Wahl des Handelns ergibt sich so mehr oder minder automatisch aus den gelernten Regeln. Übrigens kommt auch niemand bei den Spielregeln auf die Idee, dass sie ein Mittel zum Zweck sind. Wenn man ein Spiel spielen will, muss man sich an seine Regeln halten.

Es wäre deshalb falsch, die Regeln als ein Mittel zur Erreichung von gewählten Zielen zu betrachten. Die übliche Vorstellung, dass man beim Handeln von außen gesetzte Ziele verfolgt, muss korrigiert werden. Ziele sind keine geistige Kategorien, die zum Handeln hinzukommen, sondern gehören von Anfang an untrennbar zum Handeln. Das bedeutet, dass Ziele und Reflexion nicht als etwas Mentales aufgefasst werden dürfen. Als notwendige Bestandteile des Handelns sind sie nicht weniger natürlich als die Handlung selbst.

Es ist auffallend, dass bei den Regeln des sozialen Zusammenlebens ihr Zielaspekt meistens ausgeblendet wird. Da diesen Regeln absolute Gültigkeit zugesprochen wird, scheint sich die Reflexion über ihre Ziele zu erübrigen. Es wird deshalb von absoluten ethischen Werten gesprochen. Selbstverständlich verfolgten auch die moralischen Regeln Ziele. Vorrangig soll damit ein harmonisches Zusammenleben angestrebt werden. Es wird deshalb hier die Auffassung vertreten, dass sich die ethischen Werte grundsätzlich nicht von normalen Regeln unterscheiden, die z.B. die Handhabung von Werkzeugen anleiten oder den Straßenverkehr ordnen. Wie alle anderen Regeln müssen auch die Regeln des sozialen Zusammenlebens durch Nachahmung gelernt werden. Ebenso wird von ihnen verlangt, dass sie sich im praktischen Handeln bewähren.

Ludwig Wittgenstein hat die Auffassung vertreten, dass sich die Regeln nicht weiter erklären lassen. Wenn die Regeln ausschließlich auf die Sprache bezogen werden, wie dies Wittgenstein tut, ist diese Behauptung nachvollziehbar. Die Regeln, wie bestimmte Begriffe in der Sprachgemeinschaft verwendet werden, müssen einfach hingenommen werden. Auch Bewegungsregeln, wie z.B. für das Werfen, sind tatsächlich nicht weiter erklärbar. Aber die Regeln des instrumentellen Handelns sind durchaus begründbar. Denn die Regeln beanspruchen implizit, dass sie das Handeln so strukturieren, dass es effizient ablaufen kann. Regeln sind deshalb im Falle des instrumentellen Handelns mehr als bloße Gepflogenheiten, die sich nicht weiter begründen lassen. Da sich die Ziele aus praktischen Erfahrungen ergeben, lassen sich nicht nur für die ausgewählten Mittel, sondern auch für die angestrebten Ziele Gründe angeben. Die menschliche Fähigkeit, alles Handeln begründen zu können, ergibt sich somit direkt aus der Zielorientiertheit des Handelns. Die Regeln an ihrem Effizienzanspruch messen, heißt, sie erklären.

Da Regeln in konkreten Zusammenhängen gelernt werden, gehen in sie immer auch sinnliche Vorstellungen ein. Das gilt insbesondere für die Regeln von Objekten. So wird das Kleinkind mit dem Begriff »Tisch« die Vorstellung von dem konkreten Tisch verbinden, den es von seiner Wohnung kennt. Diese Vorstellung wird im Laufe des Lebens verblassen, wenn die Erfahrung zahlreicher unterschiedlicher Tische gemacht und eine immer abstraktere Regel für Tische gebildet wird. Es wird aber nie ganz verschwinden, so dass es jederzeit möglich ist, anhand von ihm eine allgemeine Regel des Tisches neu zu bilden.

2.4. Regeln formen das Verhalten
»Die Gewohnheit ist stärker als die Vernunft.« (George Santayana)

Seit Ludwig Wittgenstein wird die Frage diskutiert, was es bedeutet, einer Regel zu folgen. Wittgenstein selbst hielt die Frage für falsch gestellt. Wenn man so fragt, werde unterstellt, dass es eine Erklärung dafür geben müsse. Die Frage fordere heraus, irgendwelche Mittel zu finden, die dabei helfen, von der Regel zur richtigen Anwendung zu gelangen. Wittgenstein betonte, dass man die Regeln nicht von ihrer Anwendung trennen darf. Eine allgemeine Erklärung für das Regelfolgen hielt er nicht für notwendig. Denn im konkreten Handeln stelle sich die Frage nach dem Folgen von Regeln nicht.12

Tatsächlich werden normalerweise Regeln nicht befolgt, wenn darunter verstanden wird, dass sie absichtlich angewandt werden. In diesem Sinne werden sie nur solange angewandt, wie ein neues Verhalten gelernt wird. Beim Lernen wirken Regeln wie Anweisungen oder Vorschriften, die das Verhalten beeinflussen sollen. Sobald aber die Regeln beherrscht werden, gehen sie in das geformte Verhalten ein. Da das Handeln jetzt nach der neuen Form automatisch abläuft, spielen die Regeln für den Handelnden keine bewusste Rolle mehr. Die Regeln verwandeln sich von Anweisungen in Gewohnheiten. So wird z.B. beim Schreiben gelernt, die Regel, wie ein 'a' geschrieben werden soll, in eine Gewohnheit umzusetzen. Wenn dies gelungen ist, braucht man sie beim Schreiben nicht mehr anzuwenden, weil sie in den automatisch ablaufenden Schriftzug eingegangen ist. Die Regel formt, wie das 'a' geschrieben wird.

Weil die Regeln das Verhalten spontan formen, ist es auch nicht erforderlich, die Regeln intellektuell zu verstehen oder sie zu deuten. Wenn die Regeln beherrscht werden, braucht man sie nicht zu verstehen. Man kann sich von ihnen führen lassen, ohne dass eine Entscheidung oder eine Reflexion erforderlich ist. Die Regeln dürfen auch nicht als Grund für ein bestimmtes Verhalten verstanden werden. Ein bestimmtes Verhalten wird gewählt, weil man sich davon verspricht, dass damit ein bestimmtes Ziel erreicht werden kann. Die Regeln, die in die Verhaltensgewohnheiten eingegangen sind, legen unbewusst fest, welche Ziele angestrebt werden.

Die Regeln steuern somit das Handeln nicht von außen, sondern sind ein inhärenter Bestandteil des Handelns selbst. Die Regeln kommen nicht zur Handlung hinzu, sondern begründen sie. Deshalb ist es auch nicht richtig zu sagen, dass Bewegungen auf eine regelbedingte Weise vollzogen werden. Auch der berühmte Satz von Ludwig Wittgenstein: »Wenn ich der Regel folge, wähle ich nicht. Ich folge der Regel blind.«13, gibt die Verhältnisse nicht richtig wieder. Wer handelt, befolgt nicht Regeln, sondern verhält sich so, wie er es mit Hilfe der Regeln gelernt hat. Darum ist der berühmte Satz von Wittgenstein »Darum ist >der Regel folgen< eine Praxis.«14 so zu verstehen, dass man beim Regelbefolgen nicht bewusst handelt, sondern blind Verhaltensgewohnheiten folgt. Deshalb wäre es auch falsch, von der Anwendung von Regeln zu sprechen und dabei an einen intellektuellen Prozess zu denken.

Das schließt natürlich nicht aus, dass man sich die eigenen Regeln bewusst reflektierend vergegenwärtigen kann. Denn die Regeln sind implizit in den Verhaltensgewohnheiten enthalten. So wie die Regeln von beobachteten Bewegungen spontan erfasst werden, so können auch die Regeln des eigenen Verhaltens spontan begriffen werden. Über die eigenen Regeln nachdenken bedeutet also nicht, dass über mental abgespeicherte Regeln nachgedacht wird, sondern dass sie neu aus dem eigenen Verhalten abgeleitet werden.

Man darf deshalb nicht davon ausgehen, dass die Regeln als eigene Größen im Gehirn abgespeichert werden. Da sie zum Bestandteil der Bewegungen und diese in ihrer Grundstruktur automatisiert werden, brauchen sie nicht eigens abgespeichert werden. Das bedeutet, dass es kein spezielles neuronales Korrelat für die Regeln gibt. Deshalb wäre es verfehlt, Regeln als mentale Entitäten oder als geistige Steuerungsgrößen aufzufassen, die eine eigenständige Existenz unabhängig vom Verhalten besitzen. Aus dieser Sicht ist die Vorstellung von Aristoteles falsch, dass die Welt von inneren Formen bestimmt wird.15

Wenn man sich eine Regel vergegenwärtigen will, muss sie neu erfasst werden. Regeln existieren also als mentale Phänomene nur, wenn sie aktuell aus dem eigenen Verhalten abgeleitet werden. Zum Teil existieren die Regeln natürlich auch im Gedächtnis, insofern sie verbal aufgenommen wurden. Ob sie aber wirklich Bestandteil des eigenen Verhaltens sind, geht daraus nicht hervor. Deshalb hält man sich sinnvollerweise an die Regeln, die aus dem eigenen Verhalten herausgelesen werden können.

Die falsche Vorstellung, dass Regeln befolgt werden, rührt daher, dass Regeln nach dem Vorbild von Spiel- oder Verkehrsregeln gedacht werden. Es wird fälschlicherweise angenommen, dass sich alle Regeln dadurch auszeichnen, dass sie bewusst gelernt werden müssen. Es wird deshalb geglaubt, dass sie auch bewusst angewandt werden. Das ist ein Irrtum! Es wird nicht zur Kenntnis genommen, dass die Spielregeln genauso wie die Regeln des Handelns automatisch ablaufen. Bei den kulturellen Fähigkeiten wie Sprechen und Schreiben ist die Verhaltensautomatisierung so perfekt, dass man sich dessen überhaupt nicht mehr bewusst ist, dass ihnen erlernte Gewohnheiten zugrunde liegen.

2.5. Implizites Lernen der Regeln

»Die Kinder gehorchen den Eltern nur, wenn sie sehen, daß diese der Regel gehorchen. Ordnung und Regel, einmal gültig und anerkannt, sind die stärkste Macht. « (Joseph Joubert)

Bewegungen lassen sich am Leichtesten lernen, wenn sie vorgemacht werden. Beim Nachahmen werden die Regeln unbewusst erfasst. Sie werden quasi nebenbei, d.h. implizit erlernt. Wenn man hingegen eine Bewegung nach einer verbalen Beschreibung lernen soll, ist es erheblich schwerer, deren Regeln abzuleiten, weil es unmöglich ist, die Bewegung exakt in all ihren Aspekten zu beschreiben. Deshalb fällt es meistens schwer, sie anderen verbal zu erklären. So wie sie unbewusst gelernt werden, gehen sie meistens auch unbewusst in das Handeln ein. Das bedeutet, dass man Regeln verstehen und anwenden kann, ohne sie erklären zu können.

Beim Lernen von komplexen Bewegungen – wie z.B. dem Spielen von Musikinstrumenten – kann es nützlich sein, die Regeln bewusst auswendig zu lernen. Es fällt dann leichter, das Üben mit Hilfe der neuen Regeln zu kontrollieren. Das Besondere an den Regeln ist aber, dass es nicht ausreicht, sie bloß auswendig zu lernen. Solange sie nur im verbalen Gedächtnis aufbewahrt werden, können sie keine Wirkung entfalten. Wenn man z.B. die Regeln des Fahrradfahrens kennt, kann man noch lange nicht Fahrradfahren. Alle Regeln müssen durch Nachahmen in persönliche Verhaltensgewohnheiten transformiert werden. Sie müssen sozusagen einverleibt werden, d.h. »in Fleisch und Blut« übergehen. So wird man die Regel der Ehrlichkeit erst dann ganz selbstverständlich einhalten, wenn sie als Verhaltensgewohnheit eingeübt wurde.

Sobald neue Regeln beherrscht werden, wirken sie wie von selbst. Es wird dann allzu leicht vergessen, dass man eigentlich nach festen Regeln handelt. Sie werden gleichsam zur zweiten Natur. Die Regeln erscheinen als so selbstverständlich, dass der Schein entsteht, dass es ganz natürlich ist, wenn man so handelt, wie man handelt. Deshalb verlässt man sich im praktischen Handeln unbewusst auf ihre Wirksamkeit. Schließlich braucht man sich die Regeln nicht unbedingt bewusst machen, um effizient handeln zu können. Erst wenn die Verhaltensgewohnheiten scheitern, merkt man vielleicht, dass Regeln befolgt werden, vorausgesetzt, dass man ein ausgeprägtes Regelbewusstsein besitzt.16

Eine Regel verstehen, heißt nicht, dass man weiß, wie sie richtig angewandt werden muss. Ebenso wenig muss man fähig sein, die Regeln sprachlich auszudrücken. Es genügt, sie richtig anwenden zu können. Wenn man sie richtig anwendet, hat man sie verstanden. Das Verstehen ist deshalb nichts anderes als die Fähigkeit, eine Bewegung regelgerecht ausführen zu können. Verstehen ist Können. Regeln müssen nicht wie Sätze auf ihre Bedeutung hin untersucht werden, sondern verstehen sich von selbst. So wie man Spiele versteht, wenn man ihre Regeln kennt, so versteht man auch das Handeln anderer Menschen anhand ihrer Regeln. Das Verstehen von Regeln darf deshalb nicht als ein mentaler Prozess verstanden werden.

Wie oben bereits erwähnt wurde, ist es oft sehr schwierig, Regeln anhand ihres sprachlichen Ausdrucks zu erlernen. Wenn es bei einer Regel um ein einfaches Bewegungsmuster geht, kann dies gelingen, weil die Regeln problemlos sprachlich ausgedrückt werden können. Sobald aber die Regeln komplexer werden – wie z.B. das Fahrradfahren – versagen die Begriffe. Es ist unmöglich die ganze Komplexität des Fahrradfahrens sprachlich auszudrücken. Selbst wenn für alle Teilprozesse Begriffe existieren würden, was niemals der Fall sein kann, wäre die Darstellung so komplex, dass damit ein Dritter, der die Bewegung noch nicht wahrgenommen hat, sie unmöglich erlernen könnte. Sprachlich formulierte Regeln können deshalb nie das Muster für das Erlernen von unbekannten Bewegungen sein, allenfalls dienen sie als Gedächtnisstütze für bereits wahrgenommene und angelernte Bewegungen.

Zwischen dem Selbstverständnis und dem Handeln kann es deshalb zu großen Differenzen kommen. So kann man sich für altruistisch halten, weil man diese Regel gelernt hat, ohne zu bemerken, wie egoistisch eigentlich das eigene Verhalten ist. Für die Einschätzung eines Menschen ist es deshalb wichtiger zu wissen, wie er handelt, als zu wissen, von welchen Regeln er sich leiten lässt. Wenn man von Regeln spricht, darf nie der große Unterschied zwischen den Regeln als verbalem Gedächtnisinhalt und den Regeln als Verhaltensgewohnheit aus den Augen verloren werden.

Während vor der Entstehung der Sprache alle Regeln durch Nachahmung gelernt wurden, können sie seitdem mit Hilfe der Sprache weitergegeben und angeeignet werden. Man kann z.B. die Erfahrungen vergangener Generationen mit den Regeln des gesunden Lebenswandels übernehmen, ohne dass sie neu gemacht und im Einzelnen überprüft werden müssen. Oder man kann die Regeln einer fremden Kultur lernen, ohne sie aufsuchen zu müssen. Das beschleunigt den Lernprozess ungemein, hat aber den Nachteil, dass man allzu leicht Regeln ungeprüft übernimmt, ohne dass sie mit den eigenen Erfahrungen verbunden werden. Sprachlich übernommene Regeln können deshalb das kritische Denken untergraben und zu einem »Leben aus zweiter Hand« verführen.

2.6. Regeln ermöglichen flexibles Handeln

»Manche Probleme lassen sich nur lösen, wenn man Regeln intelligent bricht.« (Axel Haitzer)
»Die Ausnahme ist der Anfang einer neuen Regel.« (Günther Kraftschik)

Obgleich der menschliche Organismus die Tendenz hat, alles Verhalten zu automatisieren, ist er dennoch darauf bedacht, flexibel auf wechselnde Situationen reagieren zu können. Deshalb wird bei jedem Handeln unbewusst geprüft, ob die Verhaltensgewohnheiten der Situation angemessen sind bzw. ob die zugrunde liegenden Regeln in diesem Fall noch stimmen. Die Regeln werden bei Bedarf an die Situation angepasst. Sie können auf neuartige Weise angewandt oder in neuartigen Kombinationen ausprobiert werden. Aufgrund ihres formalen Charakters können Regeln leicht auf andere Bereiche übertragen werden, als für die sie ursprünglich gebildet wurden. Nachdem es z.B. Spiegel gab, konnte man versuchen, damit das Phänomen des Bewusstseins zu verstehen. Da die Regeln aus allgemeinen Verhaltensmustern bestehen, eröffnen sie einen großen Spielraum für kreatives Denken und flexibel angepasstes Handeln.

Ludwig Wittgenstein hat betont, dass die Regeln das Verhalten nicht eindeutig festlegen und dass wir einer Regel jedes Mal neu folgen. Er hat dies mit logischen Argumenten begründet.17 Eine bessere Begründung ergibt sich daraus, dass die Regeln abstrakte Bewegungsmuster sind und deshalb eine flexible Benutzung zulassen. Das Handeln nach Regeln kann immer wieder anders erfolgen, wenn es die Umstände erfordern.

Voraussetzung für den flexiblen Einsatz von Regeln ist, dass sie in einem angstfreien Milieu erworben wurden. Es muss erlaubt sein, dass man sich über den Sinn der Regeln Gedanken macht und modifizierte Regeln ausprobiert. Die so gelernten Regeln sind offen für situationsbedingte Anpassungen. Wer dagegen beim Lernen von Bewegungen ständig für falsches Verhalten bestraft wurde, speichert die Bewegungen zusammen mit der Angst vor Bestrafung ab. Er wagt dann nicht mehr, auch nur geringfügig von den Regeln abzuweichen. Er hält sich sklavisch an die einmal gelernten Regeln, auch wenn die Situation eigentlich deren Neuinterpretation verlangen würde. Noch automatischer werden diejenigen Regeln eingesetzt, die in Situationen gelernt wurden, in denen man emotional verletzt wurde. Weil man hilflos war, sich gegen die Verletzung seiner Bedürfnisse zur Wehr zu setzen, musste die Angst verdrängt werden. Um zu verhindern, dass diese Angst in ähnlichen Situationen ins Bewusstsein hochkommt, wurden spontan Regeln gebildet, um sie nicht spüren zu müssen. Solche Regeln manifestieren sich in neurotischen Verhaltensmustern wie Vermeidungsverhalten, Sucht, Depression, Rationalisierung, Verleugnung u.Ä. Es sind im Grunde dysfunktionale Abwehrstrategien, da sie kein situationsgerechtes Reagieren zulassen. Die Bildung von neurotischen Regeln stellt einen Rückfall in die animalische Konditionierung von bedingten Reflexen dar, bei denen es kein flexibles Reagieren gibt.

Die meisten Aphorismen über das Verhältnis von Regel und Ausnahme lassen den Eindruck entstehen, dass jeder gut beraten sei, wenn er sich von den Fesseln seiner Regeln befreit. »Regeln sind dazu da, dass sie gebrochen werden!« Darin drückt sich ein Missverständnis der Regeln aus. Regeln lassen sich nicht vorsätzlich ändern. Wer situationsgerechte Regeln besitzt, hat keinen Grund, sie zu verändern und merkt oft auch gar nicht, wenn sie sich spontan verändert haben. Wenn er den Impuls hat, von einer Regel abzuweichen, kommt der Anstoß von einer neuen Erfahrung, die meistens der Anfang einer neuen Regel ist. Wenn bei einem neuen Problem die bisherigen Regeln versagen, wird er unter normalen Umständen nicht ruhen, bis mit bekannten oder neuen Regeln eine Lösung gefunden wird. Wer dagegen viele angstbesetzte Regeln gelernt hat, entwickelt die Sehnsucht, aus dem Gefängnis seiner Regeln auszubrechen, ohne aber die Kraft dazu zu besitzen. Das verbreitete Missverständnis, dass Regeln bewusst manipuliert werden können, hängt offensichtlich damit zusammen, dass das Bewusstsein als eine aktive Kraft verstanden wird. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird deutlich werden, dass dies eine Fehleinschätzung ist.

Weiter unten wird erläutert, dass sich die erstaunliche Kreativität des Denkens mit der Abstraktheit der Regeln erklären lässt. Kreatives Denken ist im Grunde nichts anderes als die Fähigkeit, flexibel auf Problemsituationen zu reagieren.18 Auch der flexible Gebrauch der Sprache, wie er sich z.B. in der metaphorischen Nutzung von Begriffen zeigt, ist in der Abstraktheit der Regeln begründet. Jede Metapher ist ein Versuch, mit bekannten Regeln etwas Unbekanntes, begrifflich noch nicht Benanntes zu erfassen. Ohne die Abstraktheit der Regeln, die den Begriffen zugrunde liegen, wäre die metaphorische Übertragung von Begriffen nicht denkbar.19 Regeln sind die Quelle von Kreativität.

Die Regeln haben auch den großen Vorteil, dass sie den Blick auf das Besondere und Abweichende lenken. So fällt sofort auf, wenn eine Bewegung geringfügig anders ausgeführt wird, als wie man sie gelernt hat. Regeln schärfen so die Achtsamkeit bei der Wahrnehmung der Realität. Diese Fähigkeit ist äußerst nützlich, da so auf drohende Probleme oder sogar Gefahren hingewiesen wird.

Ein Verhalten wird als intelligent bezeichnet, wenn die Regeln situationsgerecht angewandt werden. Intelligentes Handeln muss aber nicht in jedem Fall erfolgreich sein. Denn in vielen Fällen kommt es darauf an, dass die Regeln der Situation entsprechend abgewandelt oder sogar neue Regeln geschaffen werden. Da die Regeln den Raum der Phantasie öffnen, kann dies prinzipiell gelingen.20

2.7. Regelbewusstsein

»Gewohnheiten sind die Fingerabdrücke des Charakters.« (Alfred Polgar)

Seitdem die Menschen sprechen können, hat sich ihr Verhältnis zu den Regeln radikal verändert. In früheren Zeiten mussten die Menschen die Regeln indirekt durch Nachahmung lernen. Sie wussten, wie Bewegungen richtig ablaufen, wussten aber nicht, dass dabei Regeln befolgt werden. Mit der Sprache setzte sich die Tendenz durch, die Regeln primär über sprachliche Anweisungen, Vorschriften, Gesetze u.Ä. weiterzugeben. Die Regeln, die in Handbüchern, Regelwerken, Gesetzestexten u.a. fixiert werden, sollen zu Inhalten des Gedächtnisses werden. Dadurch entsteht der Eindruck, als würden die Regeln unabhängig vom Handeln existieren und als würde sich das Handeln automatisch ändern, wenn man neue Regeln verbal aufnimmt und begriffen hat. Es kann dann leicht vergessen werden, dass das Wesentliche an den Regeln darin besteht, dass sie in Verhaltensgewohnheiten umgeformt werden müssen.

Da die Sprache das Bewusstsein dafür geschaffen hat, dass im Handeln Regeln befolgt werden, hat sie den großen Vorteil gebracht, dass das Handeln leichter optimiert werden kann. Im Bewusstsein für die eigenen Regeln fällt es leichter, sie zu verändern. Die naturwüchsige Naivität des Handelns geht verloren und macht so eine größere Selbstreflexivität des Handelns möglich. Die Regeln werden zwar zum größten Teil unbewusst befolgt, sobald aber das Handeln ins Stocken kommt oder sogar scheitert, kann bewusst werden, dass man nach Regeln handelt bzw. dass geeignete Regeln fehlen. So wie es inzwischen im Sport selbstverständlich ist, dass man ein gutes Regelbewusstsein entwickeln muss, um erfolgreich zu sein, so zeichnet sich gutes Handeln dadurch aus, dass man sich seiner Regeln relativ klar bewusst ist. Das bedeutet, dass man ziemlich genau weiß, wie der optimale Bewegungsablauf aussehen müsste. Je ausgeprägter das Regelbewusstsein ist, umso mehr wird man sich fragen, welche Regeln dazu geführt haben, dass das Handeln gescheitert ist, und wie die Regeln verbessert werden können. Man gibt sich dann immer wieder Rechenschaft über seine Regeln und prüft, ob sie noch tauglich sind und zusammenpassen. Achtsames Handeln fördert das Regelbewusstsein. Es führt dazu, dass man achtsamer handelt. Dummheit und Naivität bestehen in der fehlenden Fähigkeit, die eigenen Regeln wahrzunehmen und zu reflektieren.

Die Möglichkeit, dass die Regeln des eigenen Handelns ins Bewusstsein treten können, ist darin begründet, dass jede körperliche Bewegung so organisiert ist, dass in jeder Phase der Bewegung geprüft wird, in welchem Zustand sich die Bewegung gerade befindet und ob sie noch auf das angestrebte Ziel ausgerichtet ist. Anhand der Rückmeldungen durch das propriozeptive Nervensystem21 kann jederzeit das Handeln korrigiert werden. Diese Fähigkeit, sich beim Handeln bewusst zu beobachten, ist unentbehrlich, damit das Handeln in jedem Moment in der Lage ist, sich an die wechselnden Bedingungen der Umwelt anzupassen.22 Ohne Bewusstsein könnte keine einzige Bewegung gelernt werden. Oben wurde bereits erwähnt, dass das Bewusstsein auch dafür benötigt wird, Lösungen für Probleme zu suchen. Deshalb kann die These aufgestellt werden, dass das menschliche Bewusstsein eine notwendige Voraussetzung für regelgesteuertes Handeln ist.

Spiele haben in der Entwicklung von Kindern eine große Bedeutung, weil hier die Befolgung, Entwicklung und kritische Reflexion von Regeln gelernt wird. Spiele sind für Kinder keine bloße Unterhaltung, sondern ein Versuch, die Regelhaftigkeit des Handelns zu lernen und kreativ mit Regeln umzugehen. Wenn man die Regeln beherrscht, kann spielerisch mit ihnen umgegangen werden.

Zum Regelbewusstsein gehört auch das Wissen, wie das Lernen strukturiert werden muss, damit die Regeln sicher in neue Verhaltensgewohnheiten transformiert werden können. So muss man sich immer wieder mit Hilfe von Merkzetteln u.Ä an die Regeln erinnern und von Lehrern dazu ermahnt werden, bis sie spontan eingehalten werden. Ein regelbewusster Mensch weiß, dass Regeln erst beherrscht werden, wenn sie nicht mehr bewusst befolgt werden. Regelbewusstsein zeigt sich auch daran, dass spontan darauf geachtet wird, dass die Regeln des gemeinsamen Lebens und Arbeitens von allen eingehalten werden.

Wenn die Regeln aus Angst vor Strafe befolgt werden, wird die Entfaltung eines sensiblen Regelbewusstseins erschwert. Besonders in Gesellschaftssystem mit ausgeprägter sozialer Herrschaft ist eine starke Neigung zu beobachten, alle Regeln absolut zu setzen und ihre kritische Reflexion zu unterbinden. Das hängt damit zusammen, dass soziale Herrschaft die spontane Bildung von Regeln nicht zulassen kann, um zu vermeiden, dass sich Regeln herausbilden, die die bestehenden Ungerechtigkeiten infrage stellen. Deshalb geht in einem Klima von Angst die flexible, situationsangemessene Anwendung der Regeln verloren. Es entsteht die Neigung, die Regeln wie Dogmen oder Gesetze zu betrachten, die unter allen Umständen eingehalten werden müssen. Es wird vergessen, dass die Regeln die Funktion haben, das Leben zu vereinfachen, indem sie den Rahmen für die Bildung von Gewohnheiten abstecken. Wenn die Regeln erstarren und wichtiger genommen werden, als was in ihrem Rahmen an Leben abläuft, werden sie zu Fesseln des Lebens. Ohne Regelbewusstsein kann keine flexible, situationsangepasste Regelinterpretation entwickelt werden.

Wenn man sich seiner Regeln relativ gut bewusst ist, wird sich eine große Toleranz gegenüber abweichenden Regeln anderer Menschen entwickeln. Es nimmt die Neigung ab, die eigenen Regeln absolut zu setzen. Man wird bei Konflikten mit anderen Menschen spontan danach fragen, ob Regeln angewendet werden, die von denen der anderen abweichen. Wenn man z.B. verärgert ist, dass ein Freund regelmäßig unpünktlich zu einem Treffen kommt, mag das daran liegen, dass er eine weniger rigide Regel der Pünktlichkeit ausgebildet hat. Der beste Weg, Konflikte zu vermeiden, besteht deshalb darin, abweichende Regeln offen zu legen.

2.8. Die soziale Natur von Regeln

»Wer etwas will, sucht Wege. Wer etwas nicht will, sucht Gründe.« (Harald Kostial)

Fast alle Regeln gehen aus dem gemeinsamen Handeln hervor. Da sie eine Richtschnur für das Handeln vorgeben, haben sie einen normativen Charakter. »Wenn Du das erreichen willst, dann musst Du das tun!« Bei den Spielregeln ist ihr normativer Charakter evident. Sie sind kein Mittel zum Zweck, sondern begründen vielmehr das Spiel, indem sie festlegen, welche Spielzüge zum Spiel gehören und welche nicht erlaubt sind. Im normalen praktischen Handeln wird der normative Charakter der Regeln meistens übersehen, weil die Regeln in die Struktur des Handelns selbst eingeflossen sind. Ihre normative Prägekraft wird deshalb vergessen. Ihre Verbindlichkeit wird erst erfahren, wenn das Handeln scheitert, weil sie nicht beachtet werden.

Bei den Regeln des sozialen Zusammenlebens weiß man um ihren normativen Charakter, aber im Alltag spielt er keine Rolle. Normalerweise ist kein Zwang erforderlich, um die Einhaltung der Regeln zu erreichen.23 Sie werden freiwillig eingehalten, um die Bestätigung und Anerkennung der anderen zu erhalten und zu bewahren. Ludwig Wittgenstein hat das Lernen, wie junge Menschen in die soziale Praxis hineinwachsen, als Abrichten bezeichnet. »Einer Regel folgen, ist analog dem, einem Befehl folgen. Man wird dazu abgerichtet und man reagiert auf ihn in bestimmter Weise.«24 Der Begriff »Abrichten« enthält ein falsches Bild davon, wie das Lernen normalerweise geschieht. Er ist offensichtlich Ausdruck einer autoritären Gesellschaft, die sich Erziehung nicht ohne Zwang vorstellen kann. Er lässt vergessen, dass die Regeln des Zusammenlebens primär aus einem inneren Bedürfnis nach harmonischem Zusammenleben eingehalten werden.

Jede Nachahmung ist von dem Bestreben motiviert, so wie die anderen zu sein. Indem das Verhalten anderer Menschen imitiert wird, eignet man sich implizit deren Regeln an. Die so gewonnenen Regeln sind nur dem Anschein nach privat. Da in der Kindheit alle Regeln aus der Nachahmung des Verhaltens anderer Menschen hervorgehen, sind sie ausschließlich sozialer Natur. Das schließt nicht aus, dass man im späteren Leben private Regeln für die persönliche Lebensführung bilden kann. Aber das ist eher die Ausnahme als die Regel.

Die Menschen erleben tagtäglich, wie stark Regeln das Leben erleichtern und fehlende oder unklare Regeln es erschweren. Sie haben deshalb ein großes Interesse daran, dass die Regeln eingehalten werden. Es wird darauf geachtet, dass die Regeln auch eingehalten werden, wenn keine äußeren Kontrollen das Verhalten überwachen. Da allen Handlungen Regeln zugrunde liegen, rechnet man damit, dass man für sein Handeln kritisiert oder gelobt, bestraft oder belohnt, abgelehnt oder akzeptiert werden kann. Handeln ist immer mit dem Risiko verbunden, dass man Fehler macht und unabsichtlich von den Regeln abweicht. Die Bewertungen des eigenen Verhaltens durch andere Menschen werden akzeptiert, weil man selbst darauf bedacht ist, das Verhalten der anderen an den Regeln zu messen.

Beim Lernen von Bewegungen wird immer zugleich mitgelernt, welche Folgen es hat, wenn Regeln nicht eingehalten werden. So können z.B. die Finger verletzt werden, wenn der Hammer nicht genau auf den Nagel geschlagen wird, der von den Fingern gehalten wird. Bei den Regeln des sozialen Zusammenlebens ist es ganz selbstverständlich, dass für jede Regel zugleich gelernt wird, mit welchen Konsequenzen man bei der Nichteinhaltung zu rechnen hat. Wer bei Rot über die Ampel fährt, muss evtl. eine Geldstrafe bezahlen. Wer sich beim Spiel nicht an die Regeln hält, hat verloren. Insofern werden beim Lernen von Regeln immer auch Regeln gelernt, die bei ihrem Nichteinhalten zum Zuge kommen.

Wenn Kinder in einem angstfreien Klima aufwachsen, zeigen sie eine hohe Bereitschaft, das Verhalten ihrer Bezugspersonen (Eltern, Lehrer u.a.) an den Regeln zu messen, die sie von ihnen gelernt haben. Dabei wird die wichtige Fähigkeit gelernt, die Regeln daraufhin zu überprüfen, ob sie sich im gemeinsamen Handeln bewähren. Das schafft die Bereitschaft, über Modifikationen der Regeln nachzudenken und Alternativen im praktischen Handeln auszuprobieren. Der Mut zur Kritik entsteht also beim frühen Lernen von Regeln.

Die soziale Bedeutung der Regeln wird noch klarer, wenn man den Unterschied zwischen Regeln und Gesetzen betrachtet, wobei hier nicht die von Menschen gemachten Gesetze, sondern die Naturgesetze, also die in der Natur beobachteten Regelmäßigkeiten, gemeint sind. Regeln unterscheiden sich prinzipiell von Naturgesetzen. Während Regeln von Menschen gemacht werden bzw. sich im Handeln spontan herausbilden, werden Naturgesetze nicht gemacht, sondern vorgefunden bzw. aus Beobachtungen abgeleitet. Während Regeln Bestandteil einer bestimmten sozialen Praxis sind und gelernt werden müssen bzw. geändert werden können, sind Naturgesetze unveränderlich und wirken unabhängig davon, ob sie erkannt werden oder nicht. Von Regeln kann abgewichen werden, aber nicht von Naturgesetzen. Obwohl sich viele Regeln aus der Natur der Sache ergeben, wie dies auch bei den Naturgesetzen behauptet wird, sind die Menschen nicht gezwungen, Regeln anzuwenden. Aus diesen Überlegungen geht hervor, dass es problematisch ist, den Begriff der Naturgesetze auf das ausschließlich von Regeln geprägte menschliche Handeln anzuwenden.

2.9. Die Funktion der Regeln im Alltag

»Ständige Arbeit wird leichter durch Gewöhnung.« (Demokrit)

Die These, dass der menschliche Alltag in allen Bereichen von Gewohnheiten geprägt wird, bedeutet, dass er von Regeln beherrscht wird. Gewohnheiten sind im Grunde nichts anderes als Verhaltensweisen, denen bestimmte Regeln zugrunde liegen, die so automatisiert wurden, dass sie unbewusst ablaufen können. So setzt sich z.B. die Gewohnheit, einmal in der Woche zum Schwimmen zu gehen, aus den einzelnen Schritten zusammen, wie man zum Schwimmbad gelangt, wie man sich dort verhält und was man danach unternimmt. Wenn man also von Gewohnheiten spricht, muss man immer an Regeln denken. Das gilt für alle Aktivitäten im Haushalt, Beruf und Freizeit, insbesondere auch für das Sprechen. So muss für jeden Begriff mit der Basis von Regeln eine Gewohnheit gebildet werden, wie er artikuliert wird, damit er treffsicher angewandt werden kann und von anderen verstanden wird.

Die Regelwerke, die das Zusammenleben, die beruflichen und sportlichen Aktivitäten und auch die Sprache ordnen, verlangen, dass daraus Verhaltensgewohnheiten gebildet werden, damit die alltäglichen Probleme schnell und ohne Aufwand bewältigt werden können. Nur wenn die Regeln in Verhaltensgewohnheiten eingehen, kann in konkreten Problemsituationen ohne Nachdenken zielsicher gehandelt werden. Normalerweise besteht deshalb ein vitales Interesse daran, die eigenen Gewohnheiten ständig zu verbessern. So wird z.B. nach Regeln gesucht, wie das Lernen von Vokabeln einer Fremdsprache oder wie die Benutzung von Werkzeugen oder Musikinstrumenten optimiert werden kann.

Wahre Kompetenz zeigt sich daran, dass man nicht überlegen muss, sondern sofort handeln bzw. entscheiden kann. Es stellt sich nicht die Frage nach den Regeln, weil man intuitiv weiß, wie man richtig handeln muss. Würde man sich überlegen, welche Regeln anzuwenden sind, würde man nur unsicher werden und evtl. Fehler machen. Wenn eine Regel beherrscht wird, zeigt sich das übrigens auch daran, dass die neuronale und muskuläre Aktivität wesentlich niedriger ist, als wenn die Regeln erlernt werden.25

Die Regeln nehmen nicht nur Entscheidungen ab, sondern helfen auch, andere Menschen zu verstehen. Mit Hilfe der Regeln kann voraussagt werden, welche Handlungen der andere beabsichtigt. Bereits die Andeutung einer Bewegung kann ausreichen, um ihren weiteren Verlauf vorauszusehen. Wenn z.B. jemand eine Hand mit einem Ball in die Höhe hebt, wird sofort angenommen, dass er wahrscheinlich beabsichtigt, den Ball zu werfen. Bei einem Experiment wurden Basketballspielern und Nicht-Basketballspielern Filme gezeigt, in denen ein Basketball in Richtung Netz geworfen wird, allerdings wurde der Film in dem Moment angehalten, in dem der Ball die Hand verlässt. Die Basketballspieler konnten wesentlich sicherer voraussagen, ob der Ball ins Netz geht oder nicht. Das ist damit zu erklären, dass sie besser in der Lage sind, den Freiwurf innerlich zu wiederholen und seine Qualität abzuschätzen.26 Das Beispiel zeigt, welche große Fähigkeit das Gehirn hat, mit Hilfe der Regeln Bewegungsabläufe abzuschätzen. Diese Fähigkeit erleichtert es, sich auf die Handlungen des anderen einzustellen. Da man nicht das Ende der Bewegungsfolge abwarten muss und frühzeitig festgestellt wird, ob das Verhalten der anderen den eigenen Regeln entspricht oder davon abweicht, kann man sich besser auf die eigene Reaktion vorbereiten.

Gewohnheiten sind das Gerüst des Lebens. Sie haben neben ihrer Orientierungskraft auch die Funktion, Ängste vor Unsicherheit und vor dem Unbekanntem in Schach zu halten. Wenn Gewohnheiten nicht mehr tragen, tritt eine Krise ein. Wenn sie wegbrechen, kann sogar Panik ausbrechen. Menschliches Leben ist ohne Regeln überhaupt nicht vorstellbar.27 Sie müssen gepflegt werden, damit sie ihre stützende und ordnende Funktion behalten. Ihre Pflege besteht in der regelmäßigen Anwendung, vor allem, wenn es sich um neu gebildete Verhaltensweisen handelt, die noch nicht sicher abgespeichert wurden. Gedächtnistrainer empfehlen deshalb, neu Gelerntes in immer größeren zeitlichen Abständen zu wiederholen (z.B. eine Stunde, ein Tag, eine Woche, ein Monat, ein Jahr), bis sie absolut sicher beherrscht werden.

Aus dieser Sicht wird verständlich, warum es neue Regeln so schwer haben, befolgt zu werden. Die Menschen haben einen starken Widerstand gegen jede Veränderung von Verhaltensgewohnheiten. Denn jede Veränderung ist mit Unsicherheit, Desorientierung und dem Risiko von fehlerhaftem Verhalten verbunden. Der Widerstand ist meistens nicht in fehlender Einsicht, sondern in der Mühe begründet, seine eingespielten Gewohnheiten neu zu organisieren.

Eine feste Abfolge von mehreren Handlungen wird als Ritual bezeichnet. So zeichnen sich Gottesdienste, Begrüßungen, Hochzeiten, Begräbnisse, Aufnahmefeiern u.Ä. dadurch aus, dass sie durch eine festgelegte Abfolge von Regeln eine relativ feste Struktur erhalten. Dadurch wird der feierliche oder festliche Charakter von solchen sozialen Ereignissen unterstrichen. Jeder weiß, welche Rolle er dabei hat und was ihn erwartet. Auch im Alltag sind Rituale eine hilfreich ordnende Kraft. So ist z.B. die beste Methode, Kinder ins Bett zu bringen, nach einem festen Ritual vorzugehen. Die Erfahrung zeigt, dass Kinder bereit sind, Regeln zu akzeptieren, wenn sie in ein Ritual eingekleidet werden. Es ist sinnvoll, den Begriff des Rituals aus seinem ursprünglich religiösen Kontext herauszulösen und für alle festgelegten Abfolgen von privaten oder öffentlichen Regeln zu verwenden.

In der weit verbreiteten Missbilligung der Gewohnheiten wird ihre zentrale Bedeutung für die Ordnung aller kulturellen Aktivitäten verkannt. Das zentrale Vorurteil über die Gewohnheiten lautet, dass das Denken und Handeln umso besser seien, je freier sie von Gewohnheiten sind. Denn Gewohnheiten würden das Denken und Handeln in ein starres Korsett zwingen und die Menschen unfrei machen. Gewohnheitsmäßiges Handeln sei gedankenlos und unkontrolliert. Die hier vorliegende Arbeit ist ein Plädoyer für die Sichtweise, dass die Gewohnheiten die zentrale kulturstiftende Kraft im menschlichen Leben sind. Ohne die ordnungsstiftende Kraft der Regeln und Gewohnheiten wären alle kulturellen Aktivitäten undenkbar. Regeln und Gewohnheiten machen das Verhalten der anderen Menschen berechenbar. Die Gewohnheiten haben vermutlich deshalb einen so schlechten Ruf, weil viele Gewohnheiten dazu benutzt werden, Ängste vor emotionalen Verletzungen abzuwehren. Da diese sogenannten schlechten Gewohnheiten, unter denen viele Menschen leiden, eine psychische Abwehrfunktion haben, kann man sich so schwer von ihnen befreien.

Im buddhistischen Denken wird den Gewohnheiten vorgeworfen, dass sie die Menschen daran hindern, im Hier und Jetzt zu leben. Da erfülltes Leben nur im Hier und Jetzt gefunden werden könne, müsse die Anhaftung an Gewohnheiten überwunden werden. Es wird sich im weiteren Verlauf dieser Arbeit zeigen, dass die Störungen für das Leben im Hier und Jetzt nur von einem Teil der Gewohnheiten ausgeht und zwar von denjenigen, die zu dem Zweck gebildet wurden, emotionale Verletzungen zu bewältigen. Da die Wirkung dieser Gewohnheiten nur darin besteht, dass verletzte Gefühle verdrängt werden, haben sie die Tendenz, sich immer wieder in den Vordergrund des Bewusstseins zu schieben, um daran zu erinnern, dass noch unerledigte Konflikte anstehen. Dadurch wird das Bewusstsein gehindert, sich mit ungeteilter Aufmerksamkeit den aktuell zu lösenden Problemen zuzuwenden.

2.10. Zur Theorie des Handelns

»Lerne die Regeln, damit du sie richtig brechen kannst.« (Dalai Lama)

Da die Regeln das Handeln strukturieren, ist die Analyse der Regeln zugleich ein Beitrag zur Theorie des Handelns. Sie gibt auf die zentralen Fragen der Theorie des Handelns, wie das Handeln angestoßen wird (Gründe, Motive, Wünsche), was Zielorientierung (Intentionalität) des Handelns bedeutet und wie Handeln und Erfahrung zusammenhängen, neue Antworten.

Das Hauptmerkmal des Handelns ist seine Lernfähigkeit. Über das propriozeptive Nervensystem wird an das Gehirn zurückgemeldet, ob und inwieweit beim Handeln das angestrebte Ziel erreicht worden ist. Je weniger das Handeln erfolgreich ist, desto bewusster machen sich Signale des Misslingens geltend. Das Ergebnis der sensomotorischen Rückmeldungen sind Erfahrungen, die für das künftige Handeln ausgewertet und abgespeichert werden. Erfahrungen stoßen die Modifikation von bisherigen bzw. die Entwicklung von neuen Regeln an. Er ist hervorzuheben, dass sie eine Folge des Handelns sind. Erfahrungen drücken sich zwar in neuronalen Prozessen aus, können aber nicht damit erklärt werden.28

Aus der Fähigkeit der Menschen, bewusst Ziele anzustreben, wird immer wieder die These abgeleitet, dass der Grundzug des menschlichen Denkens seine Intentionalität sei. Pierre Bourdieu hat dagegen eingewandt, dass die Grundlage des Handelns ansozialisierte Gewohnheiten des Denkens, Wollens, Sich-Bewegens und Empfindens sind.29 Solches Handeln beruht also auf geregeltem Verhalten, zu dem man keinen wissenden Zugang hat, obwohl die damit etablierten und tradierten Normen auf implizite Weise bekannt sind. Das gewohnheitsmäßige Handeln ist für Pierre Bourdieu kein intentionales Handeln, wenn mit der Bezeichnung intentional ein bewusstes absichtliches Handeln gemeint wird. Intentionales Handeln ist nur in Ausnahmefällen zu beobachten, wenn das gewohnheitsmäßige Handeln an den Zwängen der Realität scheitert und eine Neuorientierung des Handelns erzwungen wird. Intentionalität ist deshalb kein Spezifikum allen menschlichen Handelns.

Gewohnheitsmäßiges Handeln ist allerdings mit dem Risiko verbunden, dass man nicht mit vollem Bewusstsein handelt. Vor allem wenn man von neurotischen Regeln geleitet wird, befindet man sich in einem chronisch halb konzentrierten Bewusstseinszustand. Es kann dann leicht passieren, dass man in einer Handlungssituation vorschnell eine Regel auswählt, die nur oberflächlich passt, aber letztlich nicht allen Aspekten der Situation gerecht wird. Das Handeln kann nur optimal gelingen, wenn sich das Bewusstsein uneingeschränkt der anstehenden Aufgabe zuwendet.

Da das Handeln immer auf ein Ziel gerichtet ist, wird es in der traditionellen Handlungstheorie als ein mentaler Prozess begriffen. Die Handlung wird als ein Mittel verstanden, um damit ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Deshalb könne die Handlung verstanden werden, wenn man das Ziel kennt. Wenn aber davon ausgegangen werden muss, dass das Handeln überwiegend nach Gewohnheitsmustern abläuft, ist die bewusste Kenntnis der Ziele für das Verständnis nicht erforderlich. Denn die Ziele können intuitiv aus dem Handeln erschlossen werden. Das Verständnis der Handlung ergibt sich primär aus dem inneren Nachvollzug der wahrgenommenen Bewegungen des anderen, der inneren Mitbewegung. Das Verhalten der anderen Menschen wird verstanden, weil unbewusst erfasst wird, welche Regeln befolgt werden. Diese Art des Verständnisses kann nicht als intellektuell bezeichnet werden.30

Da bei jedem Handeln geprüft wird, ob ein Anlass besteht, das künftige Handeln in ähnlichen Situationen zu ändern, hat Arnold Gehlen zu Recht von einem Handlungskreis gesprochen.31 Bei jedem Handeln nimmt der Organismus Kontakt mit der Realität aus. Er empfängt die Antworten der Realität und richtet sein künftiges Verhalten darauf aus. So wie man im zwischenmenschlichen Gespräch den anderen kennenlernt, so macht man im Handeln Erfahrungen über die Realität. Insofern ist jedes Handeln eine Art Gespräch mit der Realität. Man könnte auch sagen, dass das Handeln im Prinzip eine dialogische Struktur hat.

Eine bisher noch nicht hervorgehobene Eigenschaft der Regeln besteht darin, dass sie den Bezug zur Realität herstellen. Sie verbinden die Menschen mit ihrer Umwelt. Da sie im Kontakt mit der Umwelt gelernt werden, drückt ihnen die Umwelt ihren Prägestempel auf. »Unser Heranreifen ist also weniger ein Prozess der Selbstwerdung und Loslösung als ein Einleben in das Umfeld. Wir entwickeln uns zu etwas Eigenständigen, binden uns aber trotzdem an die Welt um uns herum. Wir integrieren uns. Indem wir lernen, zu laufen, eine Sprache zu beherrschen, eine Freundschaft aufzubauen, einen Beruf auszuüben, die Technik zu steuern und sie zu nutzen, verwurzeln wir uns in einem praktischen Umfeld.«32 Da sich die Regeln in Gewohnheiten verfestigen, bringen sie eine tiefe Abhängigkeit von der Umwelt mit sich.

Wenn es zutrifft, dass das menschliche Handeln von Regeln gesteuert wird, muss die kausale Betrachtungsweise des Handelns abgelehnt werden. Es ist problematisch anzunehmen, dass Bedürfnisse, Motive oder Wünsche als Ursachen das Handeln determinieren. Diese subjektiven Antriebsfaktoren steuern nicht das Handeln, sondern regen bloß an, welche Regeln in einer bestimmten Situation ausgewählt werden. Auch wenn die Regeln unbewusst angewandt werden, heißt das nicht, dass sie das Handeln verursachen. Die Regeln legen nur den Rahmen fest, in dem das Handeln an die Situation angepasst wird. Regelgeleitetes Handeln ist offen für flexible Anpassungen, während dies beim gesetzmäßigen Handeln grundsätzlich ausgeschlossen ist. Das gilt allerdings nur für die Regeln, die aus angstfrei erlernten Bewegungen abgeleitet wurden. Bei neurotischen Regeln wird zu Recht davon gesprochen, dass sie automatisch abreagiert werden, wenn entsprechende Schlüsselreize ausgelöst werden.

Da man davon ausgehen muss, dass der überwiegende Teil des Handelns nach gelernten Gewohnheiten abläuft, ist es problematisch, das Subjekt oder das Ich als Agent des Handelns zu betrachten.33 Wie weiter unten begründet wird, sind alle Überzeugungen, dass innere Instanzen existieren, die das Fühlen, Denken und Handeln steuern, die Folge eines falschen personalisierenden Denkens, das entstanden ist, weil die Menschen dazu neigen, die inneren Mechanismen nach dem Modell des personalen Handelns zu begreifen.

2.11. Die Selbstorganisation der Regeln

»Wege entstehen dadurch, dass man sie geht.« (Franz Kafka)

Um zu verstehen, warum die Menschen dazu fähig sind, ihr Verhalten mit Regeln zu organisieren, liegt es nahe, das theoretische Konzept der Selbstorganisation, das in der Biologie entwickelt wurde, auf das Phänomen der Regeln anzuwenden. In der Biologie wird unter Selbstorganisation verstanden, dass biologische Prozesse nicht von einer zentralen Steuerinstanz gelenkt werden, sondern gleichsam selbsttätig ablaufen. Selbsttätig bedeutet, dass diese Prozesse nicht von vornherein determiniert sind, sondern kreative Anpassungen an die Umwelt darstellen.

Aus der Sicht der modernen Biologie stellen alle mehrzelligen Organismen einen Zusammenschluss von zahlreichen Einzellern dar, die ursprünglich selbständig waren und im Verbund einen Vorteil sehen. Im Verbund des Organismus übernehmen sie spezielle Funktionen, ohne aber ihre ursprüngliche Autonomie aufzugeben.34 Jeder Organismus bildet Regeln, mit denen sowohl der interne Austausch der einzelnen Zellen untereinander als auch der Kontakt des ganzen Organismus mit der Umwelt organisiert wird.35 Die Regeln werden im genetischen Code verankert, aber verändert, wenn sie sich nicht mehr für ihre Aufgabe bewähren, das Überleben zu gewährleisten. Aus dieser Sicht ergibt sich die Erfordernis von Regeln daraus, dass die Kooperation von selbständigen Zellen nach einem festen Schema geregelt werden muss, wobei jede Zelle darauf bedacht ist, dass sich alle Bestandteile des Organismus miteinander in gleichberechtigter, interdependenter Kooperation befinden.36

Im Modell der Selbstorganisation hat die innere und äußere Kooperation eine zentrale Bedeutung. In der inneren Kooperation wird das Zusammenspiel der einzelnen Körperzellen mit Hilfe einer Fülle von Informationsmedien (Hormone, Neurotransmitter, elektrische Impulse, Biophotonen u.a.) sichergestellt. Die äußere Kooperation mit der Umwelt gelingt mit Hilfe der Sinnesorgane. Für die Kooperation mit den Artgenossen werden Gefühlen, Gesten oder die verbale Sprache verwendet. Das bedeutet, dass das Leben auf allen Ebenen Kommunikation stattfindet und dass Kommunikation das Leitprinzip sowohl in der Evolution der Arten als auch in der Organisation eines jeden Lebewesens ist.

Im Laufe der Evolution haben sich die Formen der Kommunikation innerhalb der Organismen und im Kontakt der Organismen mit ihrer Umwelt ständig weiterentwickelt. Während die innerorganismische Kommunikation immer mit Hilfe des Transports von Stoffen erfolgt, haben sich im Außenkontakt Formen der Kommunikation entwickelt, die symbolisch genannt werden, weil Botschaften mit Hilfe von Bewegungen übermittelt werden. Der zwischenmenschliche verbale Dialog ist nur eine Form der Kommunikation unter vielen anderen. Die Regelbildung beim Lernen von Bewegungen ist somit aus der Sicht des Modells der Selbstorganisation der Ausdruck eines umfassenden natürlichen Prinzips, die Kommunikation des Organismus mit sich selbst und mit der Umwelt mit Hilfe von selbst gebildeten Regeln zu organisieren.

Wie bereits erwähnt wurde, soll der Begriff der Selbstorganisation die traditionelle Vorstellung überwinden, dass biologische Prozesse von zentralen Steuerorganen gelenkt werden. »Offensichtlich hat die Evolution das Gehirn mit Mechanismen zur Selbstorganisation ausgestattet, die in der Lage sind, auch ohne eine zentrale koordinierende Instanz Subprozesse zu binden und globale Ordnung herzustellen. Der Vergleich mit Superorganismen liegt nahe. Auch Ameisenstaaten kommen ohne Zentralregierung aus.«37 Aus der Sicht der Selbstorganisation ist das Gehirn lediglich eine Clearingstelle, in der die Vielzahl von Einzelimpulsen, die von den einzelnen Körperzellen kommen, nach den Regeln des Organismus koordiniert wird. Ebenso wird mit der Vorstellung gebrochen, dass das Leben von Gesetzen beherrscht wird. An die Stelle von fixen Gesetzen treten offene Regeln, die im Austausch mit der Umwelt gebildet und bei Bedarf verändert werden.

Es ist unbestritten, dass sich das Gehirn in der Evolution der Lebewesen aus der Aufgabe heraus entwickelt hat, Bewegungen zu organisieren. Das Nervensystem hat sich immer weiter ausdifferenziert, damit sich Lebewesen mit Hilfe von Sinneswahrnehmungen in einer komplexen Umwelt bewegen können. So können sich einfache Lebewesen wie Bakterien in ihrem Milieu zielgerichtet bewegen, obwohl sie noch kein Gehirn besitzen. Sie können trotzdem Lernprozesse machen.38 Diese Tatsache zeigt, dass die Vorstellung, dass das Gehirn ein Kontrollzentrum ist, falsch ist. Sie lehrt auch, dass das Gehirn als eine Ausstülpung des Nervensystems im Kopf von vornherein auf die Umwelt bezogen ist und dass es deshalb nur aus der Interaktion mit der Umwelt heraus verstanden werden kann.

Aus der Sicht der Evolution kann davon ausgegangen werden, dass beim Menschen die Regelbildung die Funktion hat, die Bewegungsfähigkeit zu verbessern. Mit Hilfe der Regeln können Bewegungen so gelernt werden, dass sie flexibel an die Umwelt angepasst werden können. Die Regeln ermöglichen den Aufbau von differenzierten Gewohnheiten für das praktische und kommunikative Handeln. Da die Kommunikation mit willkürlich gesetzten Zeichen arbeitet, sind Regeln dafür unerlässlich. Beim Menschen sind die angeborenen Instinkte völlig in den Hintergrund getreten. Die menschlichen Regeln ersetzen die Instinkte.

Die Selbstorganisation drückt sich nicht nur in der automatischen Bildung von umweltangepassten Regeln, sondern auch darin aus, dass der Organismus automatisch darauf achtet, dass die Regeln miteinander vereinbar sind. Angesichts der Vielzahl der Aufgaben und Anforderungen von anderen Menschen kann es leicht zur Bildung von widersprüchlichen Regeln gekommen. Inkonsistenzen können auch dadurch entstehen, dass Regeln in unterschiedlichen Kontexten gelernt und häufig ohne Überprüfung von anderen übernommen werden. So kann die Regel, bei sehr warmem Wetter ins Schwimmbad zu gehen, in Konflikt mit der Aufgabe geraten, sich auf eine in Kürze stattfindende Prüfung vorzubereiten. Es ist die Aufgabe der Selbstorganisation, solche Inkonsistenzen auszuräumen. Denn das Handeln kann nur gelingen, wenn alle Regeln miteinander verträglich sind. Die wichtigsten Mechanismen, mit denen die Regeln spontan auf ihre Konsistenz geprüft werden, sind das Gefühl der Verwirrung und der Humor.39

Die Selbstorganisation arbeitet mit Signalen, die der Körper spontan aussendet, wenn das Handeln zu scheitern droht. Wenn man sich z.B. bei sportlichen Aktivitäten überanstrengt, meldet sich ein deutliches Signal, dass eine Ruhepause erforderlich ist. Werden solche Signale missachtet, treten körperliche Störungen auf, die letztlich zur Erkrankung des Körpers führen können. Ähnliche Prozesse treten auf, wenn die Signale nicht beachtet werden, dass man sich den Anforderungen einer Aufgabe oder im Kontakt mit anderen Menschen nicht gewachsen fühlt. Da die spontane Achtsamkeit für alle Störungssignale die Basis für körperliche und seelische Gesundheit ist, kann die Selbstorganisation nur reibungslos funktionieren, wenn mit ungeteilter Aufmerksamkeit gehandelt wird.

Diese Überlegungen legen die These nahe, dass das Prinzip der Selbstorganisation auch für das Verständnis der mentalen Innenwelt bedeutsam ist. Da das Denken letztlich ein unbewusster Prozess ist40, kann angenommen werden, dass es nicht von einem geistigen Steuerzentrum gelenkt wird, sondern selbsttätig abläuft. Deshalb muss das kulturelle Dogma, dass das Denken ein bewusster Prozess ist, infrage gestellt werden. Noch deutlicher ist die Selbsttätigkeit bei den Gefühlen, die sich jeder direkten Einflussnahme entziehen. Wenn die Selbstorganisation auch im geistig-psychischen Bereich wirksam ist, muss die Überzeugung von der Existenz des Geistes infrage gestellt werden. Die Behauptung der Evolutionstheorie, dass der Geist ein Produkt der Evolution ist, muss dann so interpretiert werden, dass im Laufe der Evolution die Fähigkeit entstanden ist, komplexe Handlungsketten probeweise durchzudenken. Für das bisher unlösbare Rätsel, wie das Geistige aus natürlichen Prozessen hervorgeht, kann damit eine überzeugende Erklärung gefunden werden.41

Es wird zu Recht immer wieder darauf verwiesen, dass die traditionellen Unterscheidungen von Natur und Geist oder Natur und Kultur ungeeignet sind, damit das Wesen des Menschen zu erfassen. Es wird oft gefordert, nach einem neuen Vokabular zu suchen, um über die Stellung des Menschen in der Welt nachzudenken.42 Vielleicht gehört der hier entfaltete Begriff der Regel dazu, weil er deutlich macht, wie fließend die Übergänge zwischen der Natur und der Kultur sind.

2.12. Zusammenfassung

»Die Macht der Gewohnheit behauptet sich selbst in den leidenschaftlichsten Augenblicken.« (Stendhal)

Für die Analyse des menschlichen Handelns ist ein Regelbegriff entwickelt worden, der von der üblichen Verwendungsweise abweicht. Normalerweise wird der Begriff »Regel« mit den von Menschen gesetzten Regeln (Spielregeln, Verkehrsregeln, Regeln des Zusammenlebens) gleichgesetzt. Regeln werden demnach immer absichtlich, d.h. mit Bewusstsein geschaffen. Es sollte deutlich gemacht werden, dass Regeln viel grundsätzlicher verstanden werden müssen, da sie eine zentrale biologische Funktion für die Organisation von Bewegungen haben. Für alle gelernten Bewegungen bildet der Organismus spontan, also ohne Beteiligung des Bewusstseins Regeln, mit denen der Bewegungsablauf strukturiert werden kann. Da fast das gesamte Verhalten der Menschen gelernt werden muss, gibt es bei ihnen keine Bewegung, für die es keine Regeln gibt. Ohne Regeln wäre das Handeln der Menschen undenkbar. Bereits einfache Lebewesen arbeiten mit dem Steuerungsmechanismus der Regeln

Wenn normalerweise von Regeln gesprochen wird, sind Regeln gemeint, die festlegen, welche Bewegungen für einen bestimmten Zweck zu machen sind. Solche Regeln wurden als Handlungsregeln bezeichnet. Bei den biologisch bedeutsamen Bewegungsregeln geht es hingegen darum, wie Bewegungen ausgeführt werden sollen. Bewegungsregeln bilden sich meistens spontan, sie können aber auch bewusst gesetzt werden. Wenn die Menschen Regeln erfinden, ahmen sie bloß die Fähigkeit der Natur zur Regelbildung nach. Die komplexen Regeln des menschlichen Verhaltens und Denkens sind also möglich geworden, weil die natürliche, unbewusst erfolgende Regelbildungsfähigkeit auch bewusst für das menschliche Handeln genutzt werden kann.

Die Regeln haben vielfach einen schlechten Ruf. Regeln scheinen identisch mit Fremdbestimmung und Zwang zu sein. Das trifft für normale Regeln nicht zu. Sie werden in Situationen ohne Angst gelernt und zeichnen sich dadurch aus, dass sie flexibel an neue Situationen angepasst werden können. Diese Qualität fehlt den neurotischen Regeln, die spontan gebildet wurden, um damit übermäßige Angst zu kontrollieren. Nur neurotische Regeln laufen automatisch wie konditionierte Reflexe ab. Der schlechte Ruf der Regeln hängt offensichtlich damit zusammen, dass nicht klar zwischen normalen und neurotischen Regeln unterschieden wird.

Die Regeln haben die Funktion, das Leben zu erleichtern, indem sie die Bildung von Verhaltensgewohnheiten ermöglichen. Damit sollen die alltäglichen Probleme schnell und sicher gelöst werden. Intelligenz besteht darin, dass man fähig ist, aus Erfahrungen Regeln abzuleiten und sie auf unterschiedliche Aufgaben anzuwenden. Wenn allerdings die flexible Nutzung der Regeln verloren geht, weil die Regeln wie Gesetze behandelt werden, die unter allen Umständen einzuhalten sind, werden sie zu Fesseln, die das Leben behindern.

Da die Regeln überwiegend unbewusst wirksam sind, dürfen sie nicht als Vorschriften oder Handlungsanweisungen in dem Sinne verstanden werden, dass sie das Handeln absichtlich anleiten. Regeln wirken als Muster, die die Bewegungen formen, ohne sie im Detail festzulegen. Da sie implizit in den abgespeicherten Verhaltensgewohnheiten enthalten sind, werden sie nicht als mentale Einheiten abgespeichert. Die Regeln dürfen auch nicht als Gesetze verstanden werden, da sich Gesetze gerade dadurch auszeichnen, dass sie alles bis ins Einzelne festlegen. Deshalb müssen Formulierungen wie »eine Regel befolgen« oder »die Regeln leiten das Handeln an« sehr kritisch verstanden werden.

Das Wissen von Objekten besteht ebenfalls aus Regeln. So wie das Wissen über andere Menschen darin besteht, wie sie sich verhalten, so weist das Wissen von Objekten darauf hin, wie sie bearbeitet und für die menschlichen Bedürfnisse genutzt werden können. Die Eigenschaften der Objekte erhalten ihre Bedeutung allein aus ihren kulturellen Verwendungsmöglichkeiten. Deshalb wäre es falsch, die Objekte mit ihren Eigenschaften zu definieren.

Wenn in dieser Arbeit von Bewegungsmustern bzw. Regeln gesprochen wurde, muss immer mitgedacht werden, dass dies nur abstrakte Formeln sind, die helfen sollen, über die komplexen inneren Prozesse sprechen zu können, die bei der Organisation von Bewegungen ablaufen. Wie weiter unten erläutert wird, suggerieren Allgemeinbegriffe fälschlicherweise anzunehmen, dass ihnen etwas in der Realität entspricht. Dies ist auch beim Allgemeinbegriff »Regel« zu beachten.

Der Grundgedanke dieses Kapitels, dass die Erfassung von Regeln eine fundamentale biologische Fähigkeit ist, bedeutet, dass alle Konzepte, die diese Fähigkeit dem Verstand oder dem Geist zuschreiben, fragwürdig sind. Es wird sich zeigen, dass sich auch der gesamte geistig-psychische Bereich der Wirksamkeit von Regeln verdankt. Aus der Perspektive der Regeln kann das Denken und Fühlen der Menschen besser verstanden werden. Daraus ergibt sich ein völlig neues Verständnis des Denkens.43 Es sollte auch deutlich gemacht werden, dass die sozialen Normen und ethischen Werte nichts anderes als spezielle Regeln sind, die genauso wie andere Regeln gelernt werden müssen und ebenso wie diese einer kritischen Analyse unterzogen werden können.

Im folgenden Kapitel soll zunächst geklärt werden, wie auf der Basis des hier entwickelten Regelbegriffs eine neue Theorie der Begriffsbildung entwickelt werden kann. Es wird sich zeigen, dass auf der Grundlage der hier entwickelten Theorie der Regelbildung eine Theorie der Sprache möglich wird, die ohne den problematischen Begriff des Geistes auskommt.


3. Die Regeln der Sprache

»Wenn die Begriffe sich verwirren, ist die Welt in Unordnung.« (Konfuzius)

Seit Ludwig Wittgenstein wird die Sprache als ein System von Regeln definiert. Es wird davon ausgegangen, dass es für jeden Begriff eine Regel gibt, die seinen Gebrauch festlegt. Obwohl diese Definition auf den ersten Blick plausibel erscheint, ist es in der sprachphilosophischen Diskussion keineswegs zu einer abschließenden Definition des Begriffs der Regel gekommen. Das liegt wahrscheinlich daran, dass der Begriff der Regel stets nach dem Muster der Spielregeln verstanden wurde. Die folgenden Überlegungen sollen zeigen, dass damit das Regelhafte an der Sprache nicht richtig verstanden werden kann.

Es ist verblüffend festzustellen, wie wenig sich das Lernen von normalen Bewegungen vom Lernen von Begriffen unterscheidet. Genauso wie es bei Bewegungen darum geht, damit etwas zu bewirken, werden Begriffe gelernt, um damit etwas zu erreichen. Mit den Sprachorganen des Rachens, des Kehlkopfes und des Zwerchfells werden Laute erzeugt, um anderen Menschen etwas mitzuteilen oder sie zu etwas aufzufordern u.Ä. So fordert das kleine Kind mit dem Begriff »Bonbon« seine Mutter auf, ihm ein Bonbon zu geben.

Natürlich besteht zwischen dem Lernen von normalen Bewegungen und von Begriffen ein wesentlicher Unterschied. Während normale Bewegungen direkt auf Objekte einwirken, ist die Wirkung der Begriffe nur indirekt. Ob Worte die gewünschte Wirkung haben, hängt nicht nur davon ab, dass der andere sie versteht, sondern dass er auch bereit ist, sich davon ansprechen zu lassen. So wie die Objekte den Einwirkungen einen Widerstand entgegensetzen, muss auch der Sprecher damit rechnen, dass seine Worte abgewehrt, ignoriert oder nicht verstanden werden. Im Sprechen wird die Sprache wie ein Werkzeug benutzt. Dabei werden unbewusst eine Fülle von Regeln beachtet. Im Hinblick auf die erreichte Wirkung muss evtl. der sprachliche Ausdruck nachgebessert werden. Daraus folgt die These, dass ein gekonnter Gebrauch der Sprache ein hohes Maß an Selbstreflexivität bezüglich der der Sprache zugrunde liegenden Regeln verlangt. Im Folgenden soll deshalb die Bedeutung der Regeln für die Begriffsbildung ausführlich erläutert werden.

3.1. Begriffe als Zeichen für Regeln

»Wovon man spricht, das hat man nicht.« (Novalis)

In der klassischen Sichtweise sind Begriffe Zeichen, die sich auf Objekte beziehen. Dafür gibt es unterschiedliche Modelle. Entweder verweisen die Begriffe auf innere Vorstellungen von den Objekten oder die Begriffe sollen direkt die Gegenstände bezeichnen. Das Konzept der inneren Vorstellungen geht auf Aristoteles zurück und ist in der Neuzeit besonders stark von John Locke vertreten worden. Locke sprach von Ideen (idea), die meist als innere Vorstellungen oder als inneres Bild übersetzt werden. Ideen verstand John Locke als mentale Repräsentationen von Objekten und deren Eigenschaften. Das andere Konzept, dass Begriffe Objekte bezeichnen, geht auf Gottlob Frege und Bertrand Russell zurück. Eigennamen bezeichnen besondere Gegenstände. Dagegen bezeichnen Allgemeinbegriffe (Nomen) keine Einzeldinge, sondern eine besondere Art von Gegenständen, die Russell als Universalien oder Ideen im Sinne von Platon verstanden werden. So bezieht sich z.B. der Begriff »Mensch« auf die Idee des Menschseins. Offensichtlich ist der Unterschied zwischen beiden Konzeptionen relativ gering, weil letztlich immer Begriffe als Stellvertreter bzw. Zeichen von Objekten verstanden werden.

Im klassischen Verständnis der Begriffe bleibt es ziemlich unklar, wie die Stellvertreter beschaffen sein sollen und wie sie gebildet werden. Das zeigt schon die Vielzahl der dabei verwendeten Begriffe wie innere Vorstellungen, inneres Bild, Anschauungen, Ideen, mentale Repräsentanz oder mentales Konzept. Auffallend ist ihr überwiegender visueller Charakter. Sehr deutlich geht dies aus dem berühmten Satz von Immanuel Kant hervor: »Begriffe ohne Anschauungen sind leer, Anschauungen ohne Begriffe blind.«44

Die Sprachphilosophen des 20. Jh. von Ludwig Wittgenstein bis Donald Davidson verfolgten das Ziel, das klassische Sprachverständnis, das als psychologisch verstanden wurde, weil es an individuellen Vorstellungen ansetzt, zu überwinden. Sie gingen von der Überzeugung aus, dass die Sprache nicht mit inneren Vorstellungen erklärt werden kann, da diese bereits durch die Sprache geprägt seien. An die Stelle der Beziehung der Wörter zu Gegenständen wurde die Beziehung der Wörter untereinander gesetzt. Die Generalthese lautet: Die Begriffe haben keine eigene Bedeutung, sondern die Bedeutung ergibt sich aus dem Zusammenhang mit anderen Begriffen und der Sprache insgesamt. Isolierte Begriffe seien unverständlich. So ist z.B. völlig unklar, was jemand meint, wenn er das Wort Baum ausspricht. Meint er seine schattenspendende Wirkung, seine Verwendbarkeit als Bau- oder Brennholz oder seine klimatische oder landschaftsprägende Bedeutung? Erst wenn der Begriff mit weiteren Begriffen zu einem Satz verbunden wird, werden die Unklarheiten beseitigt. »Einen Satz verstehen, heißt, eine Sprache verstehen.«45 Solche Sprachtheorien werden deshalb im Gegensatz zu den atomistischen Theorien des klassischen Sprachverständnisses häufig als holistisch bezeichnet.

Es ist überraschend, dass alle Begriffstheorien in der sprachphilosophischen Diskussion sehr umstritten sind. Die Schwächen der verschiedenen Theorien sollen hier nicht ausgebreitet werden, weil dies in der Literatur nachzulesen ist.46 Aus dem aktuellen sprachphilosophischen Diskussionsstand soll hier nur der Schluss gezogen werden, dass die existierenden Sprachtheorien offensichtlich für das Verständnis der Sprache völlig unzureichend sind.

Aus den bisherigen Überlegungen zur Funktion der Regeln kann die Hypothese abgeleitet werden, dass Begriffe Zeichen für Regeln sind. Es wurde oben dargestellt, dass für alle Bewegungen, die für das praktische Handeln bedeutsam sind, eine Regel gebildet wird und dass sie damit von anderen Bewegungen abgegrenzt werden. Die Regeln nehmen so Unterscheidungen vor. Ebenso werden alle Objekte, die die Menschen für ihr Überleben herstellen und benutzen, durch Regeln identifiziert und von anderen Objekten unterschieden. Was keine Regel erhält, existiert nicht. Ohne Übertreibung ist festzustellen, dass die Regeln die Welt strukturieren. Da die Regeln das Allgemeine an Bewegungen und im Gebrauch der Objekte erfassen, sind sie etwas Abstraktes. Deshalb können ihnen problemlos abstrakte Zeichen zugeordnet werden.

Während die klassische Begriffserklärung vom visuellen Erscheinungsbild eines Objektes ausgeht, setzt der neue Ansatz primär bei seiner Funktion im Rahmen des menschlichen Handelns an. Während z. B. im klassischen Denken ein Teller mit seiner typischen Form definiert wird, geht der hier vorgeschlagene Denkansatz von der Funktion des Tellers aus und betrachtet Form, Farbe und Material des Tellers als völlig nebensächlich. Ein anderes Beispiel: Nach dem neuen Denkansatz wird der Begriff der Kirche nicht durch eine bestimmte Bauform definiert, sondern durch die Aktivitäten, die in dem Gebäude stattfinden (Gebete zu Gott, religiöse Feiern u.Ä.). Deshalb kann auch ein Raum, dem alle Attribute einer traditionellen Kirche (Kirchturm u.Ä.) fehlen, in dem aber religiöse Aktivitäten vollzogen werden, dennoch als Kirche betrachtet werden. Oder: Der Begriff »Haus« wird am besten verstanden, wenn das bezeichnete Objekt dafür geeignet ist, dass man darin wohnen kann. Begriffe können also besser verstanden werden, wenn davon ausgegangen wird, dass sie durch die Bewegungen geprägt werden, wie mit den Objekten der Realität umgegangen wird.

Es ist nicht zufällig, dass die meisten Begriffe für Objekte ursprünglich von den Aktivitäten abgeleitet wurden, die im Umgang mit den Objekten ausgeübt werden. So leitet sich z.B. der Begriff Holz von »schlagen« (Baum fällen) ab. Es wurde offensichtlich bei der Begriffsbildung davon ausgegangen, dass das Typische an allen Bäumen ist, dass daraus Holz für die Herstellung von kulturellen Artefakten gewonnen werden kann. Die typische Gestalt von Bäumen mit ihren relativ geraden Stämmen spielt dagegen offensichtlich nur eine untergeordnete Funktion bei der Begriffsbestimmung. Andere Beispiele: Der Begriff »Wand« geht ursprünglich auf »winden« zurück. Um eine Wand herzustellen, musste früher ein Flechtwerk gewunden werden, das mit Lehm ausgefüllt wurde. Der Begriff Tisch leitet sich von »Teller« und dieser wiederum von »schneiden« (»Speisen schneiden«) ab. Zum Begriff »Hand« ist es über das altdeutsche Verb für greifen gekommen. Der Begriff »Spiegel« geht auf das lateinische Verb »spicere« für sehen und schauen zurück. Im Duden Herkunftswörterbuch kann für fast jedes Substantiv nachgelesen werden, wie es ursprünglich aus einem Verb abgeleitet wurde.

Auch abstrakte Allgemeinbegriffe wie Geist, Seele oder Wahrheit können nur deshalb benutzt werden, weil sie auf bestimmte Regeln verweisen. So kann z.B. der Begriff des Geistes mit der Regel verbunden werden, dass er der Initiator der Gedanken ist oder dass er ein Kürzel für die Gesamtheit der mentalen Prozesse ist. Da sich aber die Regeln von abstrakten Allgemeinbegriffen nicht ohne weiteres aus der sinnlichen Wahrnehmung ableiten lassen, sind abstrakte Allgemeinbegriffe so schwierig zu begreifen und zu lernen.

Ein Beleg für die These, dass Regeln für die Begriffsbildung wesentlich sind, kann darin gesehen werden, dass im Zentrum der Sprache die Verben (Tätigkeitsworte, Tunworte) stehen. Sätze können nur verstanden werden, wenn man weiß, auf welche Bewegungen (Tätigkeiten, Handlungen, Aktionen u.Ä.) verwiesen wird. Das ist die Aufgabe der Verben. Wenn man die anderen verwendeten Begriffe nicht kennt, so weiß man doch, dass es sich um eine bestimmte Bewegung mit einem Zweck handelt und kann alles andere dazu vermuten. Das ist unmöglich, wenn man die Verben nicht kennt. Deshalb bestimmen die Verben die Satzaussage (Prädikat). Da Verben nur verstanden werden können, wenn man die Regel der von ihnen bezeichneten Bewegungen kennt, folgt daraus, dass sich Sätze nur erschließen, wenn man die Regeln der verwendeten Verben kennt.

Alle anderen Begriffe, die sich auf Objekte und deren Eigenschaften oder auf den raum-zeitlichen Bezug einer Handlungssituation u.a. beziehen, werden im Kontext von Handlungen gelernt und erfahren daher ihre Bedeutung. So hat der Begriff »Hammer« nur Bedeutung in Bezug auf die Handlung des Einschlagens von Nägeln u.Ä. oder des Zertrümmerns von Gegenständen. Der Begriff des Hammers wird also mit den Regeln verbunden, die sich aus seinen Verwendungsmöglichkeiten ergeben. Das bedeutet, dass auch die Begriffe für Objekte letztlich durch Bewegungsregeln bestimmt werden. Natürlich gibt es viele Objekte in der Natur, die die Menschen bloß zur Kenntnis nehmen, weil sie noch keinen erkennbaren Nutzen für das menschliche Handeln haben. So wurden von den Biologen alle bekannten Pflanzen und Tiere klassifiziert. Dabei stützen sich die Begriffe zunächst auf die gestalthaften Muster, die aus der sinnlichen Wahrnehmung dieser Objekte gewonnen werden. Sobald aber die Objekte Bestandteil der menschlichen Handlungswelt sind, werden die Begriffe primär von der funktionalen Verwendung der Objekte geprägt.

Aus naturwissenschaftlicher Sicht scheinen die Begriffe für Objekte durch deren Eigenschaften definiert zu sein. Diese Ansicht kommt offensichtlich dadurch zustande, dass ausgeblendet wird, dass alles Wissen über Objekte aus dem handelnden Umgang mit ihnen hervorgeht und dass deshalb immer nur eine begrenzte Zahl von Eigenschaften wahrgenommen wird. Die Eigenschaften der Objekte bekommen ihre Bedeutung erst aus dem Bezug zu ihren Verwendungsmöglichkeiten. So ist die Härte des Holzes bedeutsam, weil es für bestimmte Anwendungen besser geeignet ist als für andere. In den Begriff für Holz gehen nur die bekannten Möglichkeiten ein, wie Holz verwendet wird. Andere Eigenschaften des Holzes werden nicht beachtet. Deshalb gehen in die Begriffe nicht alle Eigenschaften der Objekte ein, sondern nur deren bekannten Verwendungsmöglichkeiten.

Für die Begriffe von Handlungssubjekten gilt ebenso, dass sie auf bestimmte Verhaltensweisen verweisen. So bezeichnet der Begriff »Mutter« alle Verhaltensweisen, wie sich eine Mutter zu ihren Kindern verhält. Bei Eigennamen (wie z.B. München) ist zu beobachten, dass sie zunächst bloße Bezeichnungen sind, da sie durch einen Akt der Benennung, nicht durch eine Definition, entstehen, dass sich aber an die Namen sofort besondere persönliche oder allgemeine Verhaltensweisen anheften. Im Laufe der Zeit werden sie also mit Bedeutungen beladen (München als nördlichste Stadt Italiens, München als Stadt der Olympiade von 1972 u.a.), die sie ursprünglich bei der »Taufe« nicht hatten.

Das Allgemeine an den Begriffen wurde ursprünglich damit erklärt, dass den Begriffen angeborene Ideen zugrunde liegen. Später wurde es damit erklärt, dass die Menschen fähig sind, Ähnlichkeiten festzustellen. Ähnliche Gegenstände könnten identifiziert und von anderen Gegenständen unterschieden werden. Jeder Begriff der menschlichen Sprache umfasse so eine Klasse ähnlicher Gestalten oder Sachverhalte. So umfasst z.B. das Wort »Baum« unendlich viele Gewächse mit ähnlichen Eigenschaften. In den Begriff gehen die Elemente ein, die für die erfasste Klasse von Erscheinungen typisch sind. Begriffe werden deshalb als Bündel von abstrahierten Vorstellungen begriffen. Bei diesem Konzept wird fälschlicherweise unterstellt, dass die Abstraktion eine rein mentale Leistung sei. Es wird also das Denken vorausgesetzt, dass eigentlich erst mit der Abstraktionsleistung erklärt werden soll. Wenn aber davon ausgegangen wird, dass die Abstraktion keine geistige, sondern eine fundamentale biologische Fähigkeit ist und dass die Begriffe auf Regeln verweisen, kann dieser Denkfehler vermieden werden. Die Abstraktion ist nicht das Denken selbst, sondern dessen wesentliche Voraussetzung.

Zwischen Regeln und Begriffen gibt es keinen zwingenden Zusammenhang. Regeln können mit beliebigen Zeichen bezeichnet werden: mit Gesten, Gebärden, akustischen Lauten (Begriffe, Töne, Melodien u.a.) oder Schildern (Zeichen auf Papier, Tafeln u.Ä.). Zeichen sind etwas Sinnliches, da sie selbst aus etwas Wahrnehmbarem bestehen und zugleich auch etwas Allgemeines, da sie ihre Bedeutung aus einer Verweisung auf etwas anderes erhalten. Deshalb können Begriffe nicht durch ausdrückliche Definitionen, Introspektion oder andere Verfahren der Begriffsbestimmung, sondern nur durch das Nachahmen im alltäglichen Umgang mit den bezeichneten Objekten und Aktivitäten gelernt werden. Die Zeichen können nur für die Kommunikation genutzt werden, wenn man weiß, wie sie von anderen Menschen in der Praxis gebraucht werden.

Dieses Konzept der Sprache kann mit dem Spielen von Musikinstrumenten nach Noten veranschaulicht werden. Für jede Note muss eine bestimmte Art und Weise, wie das Instrument zu bedienen ist, gelernt werden. Jeder Note entspricht eine bestimmte Regel. Alle Zeichen, die die Lautstärke, den Rhythmus, die Tonart u.a. festlegen, sind differenzierte Anweisungen, wie die Bewegungsregeln ausgeführt werden sollen. Sie sind sozusagen die Grammatik der Musik. So wie die Begriffe auf Regeln im Umgang mit der Realität verweisen, so steuern die Noten unterschiedliche Bewegungsformen bei der Benutzung von Musikinstrumenten.

Ebenso können die Computerprogrammiersprachen ein Licht auf das vorgeschlagene Begriffsverständnis werfen. Jeder Code enthält eine eindeutige Handlungsanweisung an den Computer. Sein Verständnis erschließt sich daraus, dass man sich vergegenwärtigt, welche Aktionen der Rechner ausführen soll. Offensichtlich funktionieren die Programmiersprachen nach dem Modell der verbalen Sprache, dass die einzelnen Sprachelemente (Code) mit Regeln (Aktionen des Rechners) verknüpft werden. Programmiercode kann deshalb wie eine Abfolge von Begriffen gelesen werden.

In den klassischen Begriffstheorien wird davon ausgegangen, dass der Gehalt der Begriffe vom konkreten Bezug zu Vorstellungen bestimmt wird. Dabei stellt sich das Problem, dass Vorstellungen eigentlich eine abstrakte Beschaffenheit haben müssten, damit sie das Typische einer Mehrzahl von Objekten umfassen können, dass aber die Vorstellungen von vornherein immer konkret sind. So gelingt es z.B. kaum, sich zu vergegenwärtigen, welche bildhafte Vorstellung mit dem Begriff der Wahrheit zu verbinden ist. Wenn dagegen Bewegungsregeln ins Zentrum der Begriffsdefinition gestellt werden, verschwindet dieses Problem. Da Regeln prinzipiell abstrakt sind, können sie ohne weiteres mit Begriffen verknüpft werden.

Weiter unten wird dargestellt, dass die klassische Theorie mit ihrem Akzent auf den inneren Vorstellungen nicht völlig falsch ist.47 Vorstellungen haben zweifellos eine bestimmte Rolle bei der Begriffsbildung. Da Begriffe für Objekte immer in konkreten Situationen gelernt werden, gehen die damit zusammenhängenden Vorstellungen mit in sie ein. Die Vorstellungen spielen aber nur eine untergeordnete Rolle, da der semantische Gehalt der Begriffe durch Regeln festgelegt wird. Das Sinnliche tritt im Laufe der Zeit gegenüber dem Allgemeinen und Identischen zurück. Weil mit Regeln gedacht wird, kann das Bildhafte, das beim Erlernen des Begriffs da war, in den Hintergrund des Bewusstseins treten. Es kann aber jederzeit wieder in die anschauliche Vorstellung zurückgeholt werden.

Es ist festzuhalten, dass jeder Begriff seinen Gehalt daraus bezieht, dass er auf eine bestimmte Regel verweist. Wenn man die Regel eines Begriffs nicht kennt, bleibt der Begriff ein leeres Wort. Insofern kann die Position von John Locke, dass jedes Wort eine Bedeutung hat, nach wie vor vertreten werden, nur müssen an die Stelle der inneren Vorstellungen innere Regeln gesetzt werden. Das gegen Locke vorgebrachte Bedenken, dass der allgemeine Gehalt von Begriffen nicht mit privaten Vorstellungen erklärt werden könne, gilt für die Regeln nicht. Die Regeln sind zwar auch private Gebilde, da sie aber aus dem gemeinsamen Handeln mit anderen Menschen hervorgehen und sich die anderen Menschen ähnlich verhalten, haben sie einen sozialen und damit allgemeinen Charakter. Natürlich kann man für neu erfundene private Bewegungen einen eigenen Begriff prägen. Da solche Bewegungen aber von anderen Menschen nicht prima vista verstanden werden, erscheint ihnen der neue Begriff zunächst als fremd. Wenn jedoch die neue Bewegung als sinnvoll erscheint, kann der neue Begriff in das Sprachrepertoire übernommen werden.

Begriffe werden erst richtig verstanden, wenn man sich vergegenwärtigt, dass sie nicht bloß Lautzeichen sind, sondern auf komplexen körperlichen Bewegungen basieren. Sprache entsteht dadurch, dass die ausgeatmete Luft in Schwingung versetzt wird. Die sprachlichen Laute, die Vokale und Konsonanten, entstehen durch differenzierte Bewegungen der Atemorgane, insbesondere durch die Gestaltung des Rachenraums, die Aktivität des Kehlkopfes und des Zwerchfells. Ilse Middendorf hat beobachtet, dass jeder Vokal einen spezifischen Körperraum hat, in dem er gebildet wird.48 So wird das 'u' im Beckenraum, das 'i' im Schultergürtel, das 'e' in den Flanken und das 'o' in der Mitte des Rumpfes gebildet. Das 'a' umfasst den ganzen Atemraum. Die Konsonanten haben keine ausgesprochenen Atembewegungsräume, sondern haben eher den Charakter von Anschlägen, Zentrierungen, Antrieben, Verbindungen und Lösungen in der Gesamtheit der Körperwand. So erhält z.B. das 'f' seinen Charakter durch den Beckenbodenmuskel, die Konsonanten 'p', 't', 'k', 'b', 'd' und 'g' kommen durch das Zusammenwirken des Zwerchfells mit unterschiedlichen Rippenpaaren zustande, bei 's', 'sch', 'z' und 'c' ist dominant die Bauchdecke beteiligt, das 'n' beansprucht den Schultergürtel usw. Deshalb können Sprachlaute nur artikuliert werden, wenn das Becken fähig ist, minimale Rotations- und Kippbewegungen durchzuführen. Wie sehr das Sprechen auf einen großen Schatz an subtilen Bewegungsregeln angewiesen ist, zeigt sich daran, dass bei Kindern Störungen in der Sprachfähigkeit zu beobachten sind, wenn ihre Feinmotorik beeinträchtigt ist und dass die Störungen durch geeignete Gymnastik behoben werden können.

Begriffe bestehen aus Verknüpfungen von mehreren Konsonanten mit Vokalen und sind damit nichts anderes als komplexe Bündel von aufeinanderfolgenden Lauten. Da die Laute aus Schwingungen bestehen und Schwingungen körperliche Bewegungen sind, sind Begriffe selbst körperliche Bewegungsmuster. Wenn also Begriffe artikuliert werden, wird mit Bewegungen auf andere Bewegungen verwiesen. Die Begriffsbildung ist nichts anderes als eine gewohnheitsmäßige Verknüpfung von mehreren Bewegungsregeln. Deshalb kann die Begriffsbildung als ein rein motorischer Prozess verstanden werden. So wenig wie z.B. das Kauen als ein mentaler Prozess anzusehen ist, so wenig ist die Begriffsbildung etwas Mentales.

Die Fähigkeit des Sprechens verdankt sich somit der Fähigkeit des menschlichen Organismus, hochkomplexe Bewegungsabläufe zu organisieren, die für die Artikulation von differenzierten Lauten geeignet sind. Der Blick in die biologischen Grundlagen der Sprache macht deutlich, dass Sprechen selbst ein Handeln ist. Deshalb ist die Ähnlichkeit zwischen Handeln und Sprache nicht weiter überraschend. Zu Recht hat Arnold Gehlen an der Sprachphilosophie kritisiert, dass sie die Sprache einseitig vom Begreifen, Erkennen und Denken her interpretiert und die motorische Seite der Sprache, ihre Einbettung in den Gesamtbereich des Handelns, übersehen hat.49 Erst wenn die Sprache aus ihrer Funktion für das Handeln betrachtet wird, kann man ihre Eigentümlichkeiten richtig verstehen. Der traditionelle Weg, Sprache als ein Mittel der Erkenntnis zu verstehen, muss zwangsläufig in die Irre führen.

Das Besondere an diesem Ansatz zur Erklärung von Begriffen besteht also darin, dass sich mit wenigen Ausnahmen alle Begriffe auf die Regeln für Bewegungen beziehen. Bei den Verben ist das evident, aber es gilt auch für die Substantive. Denn alle Begriffe für Objekte setzen an ihrem Nutzen für die Menschen an. Sie werden somit von den Regeln geprägt, die für ihren Umgang typisch sind.

3.2. Zur Bedeutung von Begriffen

»Was dein Wort zu bedeuten hat, erfährst du durch den Widerhall, den es erweckt.« (Marie von Ebner-Eschenbach)

Wie der Begriff der Bedeutung schon andeutet, bestand seine ursprüngliche Bedeutung darin, dass er auf etwas »hin-deutet«. Offensichtlich kommt er aus einer Zeit, wo es noch üblich war, mit einer Handbewegung auf etwas hinzudeuten, was man es einem anderen Menschen erklären will. Es liegt deshalb nahe anzunehmen, dass Begriffe ihre Bedeutung daraus beziehen, dass sie auf etwas Bestimmtes hindeuten.

Für das Verständnis der Bedeutung von Begriffen ist es sehr hilfreich, sich zu vergegenwärtigen, wie die Sprache von Kindern gelernt wird. Wenn junge Menschen aufwachsen, erfahren sie von allen Objekten, die zu ihrer Lebenswelt gehören, welchen Nutzen sie haben, meist bevor sie überhaupt deren Begriffe kennen und beherrschen (z.B. Löffel, Messer und Gabel). Indem sie den Nutzen der Objekte für die kulturelle Praxis erfassen, lernen sie deren Bedeutung. Deshalb haben viele Objekte bereits eine Bedeutung, bevor ihre Begriffe bekannt sind. Da die Menschen immer schon die Bedeutung der Objekte in ihrer Lebenswelt kennen, besitzen sie ein Vorverständnis ihrer Realität, das unbewusst in ihr Handeln einfließt.

Alle neuen Erfahrungen werden in dieses Vorverständnis integriert. Das gilt sowohl für neue Begriffe als auch neue Praktiken im Umgang mit der Realität. Ebenso muss alles gehörte und angelesene Wissen in das aus dem früheren Handeln hervorgegangene Vorverständnis eingebettet werden. Die Realität wird also nie als sinnleer und bedeutungslos erfahren und erfährt nicht erst durch die Sprache ihre Bedeutung. Wenn Philosophen behaupten, dass die Welt immer schon sprachlich erschlossen sei, kann das nur so viel bedeuten, dass in alle neu erlernten Begriffe das Vorverständnis eingeht. Es wäre aber ein Irrtum anzunehmen, dass die Realität nur wahrgenommen werden kann, weil die Menschen Begriffe besitzen. Nicht die Begriffe filtern, sondern das vorsprachlich gebildete Vorverständnis legt die Bedeutung der Begriffe fest. Am Anfang war also nicht das Wort, sondern die erfahrene Bedeutung. In diesem Sinne sagte Martin Heidegger: »Die Bedeutungen wachsen Worte zu. Nicht aber werden Wörterdinge mit Bedeutungen versehen.«50 Da sich in den Begriffen die kulturelle Praxis spiegelt, ist die Sprache in ständigem Wandel. Begriffe verschwinden, wenn die Praxis aufgegeben wird, auf die sie bezogen waren. Mit neuen Praktiken tauchen neue Begriffe auf. Die Begriffe werden feinkörniger, wenn feinere Unterscheidungen erforderlich werden.

Die Muttersprache wird nicht auf der Schulbank, sondern gleichsam nebenbei beim Handeln und Spielen gelernt. Da man für alle bekannten Objekte und Aktivitäten immer schon ein mehr oder minder differenziertes Vorverständnis von deren Bedeutung hat, gelingt es relativ leicht, die dafür verwendeten Begriffe zu lernen. Sobald die Begriffe für die Objekte beherrscht werden, ist es unvermeidlich, dass sie in die Wahrnehmung und den Umgang mit den Objekten einfließen. Ebenso lassen Begriffe an andere Begriffe denken, weil die von den Begriffen gekennzeichneten kulturellen Objekte und Praktiken eng miteinander zusammenhängen. Wenn die Muttersprache schließlich beherrscht wird, erscheint sie als völlig selbstverständlich, gleichsam als zweite Natur. Ein Leben ohne Sprache kann man sich überhaupt nicht mehr vorstellen.

Aus dieser Perspektive ist die klassische Erklärung der Bedeutung von Begriffen zutreffend. Die Bedeutung eines Begriffes ergibt sich demnach daraus, dass er auf etwas gerichtet ist. Allerdings erweist sich die klassische Antwort, dass sich Begriffe auf Vorstellungen von Objekten oder Objekte direkt richten, als falsch. Damit sind zahlreiche Probleme verbunden.51 Das zentrale Problem besteht darin, dass unklar bleibt, auf was eigentlich die Begriffe gerichtet sind. Denn wenn sich die Menschen auf Objekte beziehen, beziehen sie sich letztlich immer nur auf die subjektiven Vorstellungen von ihnen. Da aber die Vorstellungen grundsätzlich etwas Privates sind, stellt sich die Frage, woher dann die Begriffe ihre allgemeingültige Bedeutung erhalten.

Wenn dagegen die Bedeutung von Begriffen daraus abgeleitet wird, dass sie sich auf Regeln beziehen, stellen sich solche Probleme nicht. Wie dargestellt wurde, ergeben sich die Regeln aus einem natürlichen Abstraktionsvorgang, bei dem die allgemeinen Muster von Bewegungen erfasst werden. Die Regeln dürfen deshalb nicht als ein Produkt des individuellen Geistes verstanden werden. Die Regeln sind etwas Allgemeines, weil sie sich auf Bewegungen beziehen, die in ähnlicher Gestalt auch von anderen Menschen ausgeführt werden. Demnach darf die Bedeutung nicht als etwas Mentales begriffen werden.

Obwohl jeder Begriff seine eigene Bedeutung hat, stellt sich im Gebrauch der Sprache selten die Frage, welche Bedeutung einzelne Begriffe haben. Die Gewohnheiten, die beim Hören und Sprechen von Begriffen gebildet wurden, ermöglichen es, die Sprache so selbstverständlich zu gebrauchen, als wäre sie eine natürliche Fähigkeit. Eine Sprache zu beherrschen heißt deshalb nicht, bewusst Regeln anzuwenden.

Wenn man davon ausgeht, dass Begriffe ihre Bedeutung dadurch bekommen, dass sie sich auf Bewegungsregeln beziehen, wird verständlich, warum Kommunikation unter Menschen, die in der gleichen Lebenswelt leben, überhaupt kein Problem ist. Alle Lebensgefährten wachsen in die gleiche Welt mit ihren kulturell bedeutsamen Bewegungen hinein und lernen dabei die dafür verwendeten Begriffe. Die Begriffe selbst sind Konventionen, aber ihr Inhalt ist fest bestimmt durch die Bewegungsregeln, die bei allen Menschen, die in einer gleichartigen Kultur aufwachsen, relativ gleichartig sind. Die Menschen verstehen Sätze, weil sie sich anhand der Begriffe die Handlungen vergegenwärtigen können, die gemeint sind. Man braucht nicht zu wissen, was die Sätze wahr oder akzeptabel macht, wie die Sprachphilosophen behaupten. Sätze werden verstanden, wenn ihre Handlungsanleitungen innerlich nachvollzogen werden können.

Das Verstehen der Mitteilungen von anderen Menschen wird eigentlich erst zum Problem, wenn die Begriffe als etwas Subjektives definiert werden. Wenn jeder Mensch mit einem Begriff andere Vorstellungen verbindet, wird es zum Rätsel, wie sie dennoch allgemeinverständlich sein können. Dass die Verständigung dennoch relativ reibungslos funktioniert, liegt daran, dass die Begriffe im Kern über ihren Verweis auf bestimmte Regeln von Bewegungen doch scharf definiert sind. Demgegenüber ist es relativ belanglos, welche Vorstellungen zusätzlich mit einem Begriff assoziiert werden. Wenn Begriffe mehrdeutig sind, liegt das daran, dass sie in verschiedenen Kontexten gebraucht werden und auf unterschiedliche Regeln verweisen (z.B. sexuelle und platonische Liebe). Solche mehrdeutigen Begriffe verlangen deshalb, dass sie in den richtigen Kontext gestellt werden, damit sie ihre Eindeutigkeit finden.

Missverständnisse in der Kommunikation treten immer dann auf, wenn die Gesprächspartner mit den gleichen Begriffen unterschiedliche Erfahrungen verbinden. Dies ist meistens bei abstrakten Begriffen der Fall, die nicht im praktischen Handeln aufeinander abgestimmt werden können. Wenn jedoch die Gesprächspartner über viele Jahre miteinander zusammenleben, ist die Wahrscheinlichkeit von Missverständnissen gering, da man dann genau weiß, wie der andere seine Begriffe verwendet. Verstehen setzt deshalb eine gemeinsame kulturelle und soziale Praxis voraus.

Wenn die Bedeutung von Begriffen mit dem Regelkonzept geklärt werden kann, stellt sich die Frage, welche Berechtigung dann noch die holistischen Bedeutungstheorien haben, die behaupten, dass sprachliche Ausdrücke nicht als solche eine Bedeutung haben, sondern diese nur aus dem Kontext mit anderen sprachlichen Ausdrücken erhalten? Diese Frage soll kurz anhand von zwei Exponenten dieser Auffassung – Ludwig Wittgenstein und Richard Brandom – diskutiert werden.

Die Kernthese von Ludwig Wittgenstein lautet »Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.«52 Dieser Satz wird meistens so interpretiert, dass sich die Bedeutung eines Begriffs aus seinem Gebrauch ergibt. Wie ein Wort verwendet wird, werde also durch Regeln festgelegt. Anhand der Regeln könne man bestimmen, ob ein Begriff korrekt oder inkorrekt benutzt wird. Allerdings wird der Begriff der Regel von Wittgenstein relativ unbestimmt verwendet. »Ich würde sagen, eine Regel ist etwas, was in vielen Fällen angewendet wird.«53 Es bleibt bei Wittgenstein völlig unklar, wie sich die Regeln bilden und was ihr Inhalt ist. Es ist nicht überraschend, dass Wittgenstein niemals versucht hat, bei einzelnen Begriffen den konkreten Inhalt der Regeln zu analysieren. Deshalb konnte es den Interpreten von Wittgenstein bisher nicht gelungen, die Gebrauchstheorie der Sprache mit Beispielen plausibel zu machen.

Gegen die Behauptung Wittgensteins, dass sich die Bedeutung der Begriffe aus dem Gebrauch der Sprache ergibt, ist einzuwenden, dass vor jeder Anwendung eines Begriffs im konkreten Handeln erfahren werden musste, welchen Zweck er hat. Indem der Zweck einer Bewegung bekannt ist, wird der dabei verwendete Begriff als bedeutungsvoll erfahren. Die Bedeutung von Begriffen wird also dadurch gelernt, dass man an einer Praxis teilnimmt. Aus reiner Beobachtung, wie andere Menschen Begriffe gebrauchen, kann man ihren Gebrauch nicht richtig lernen. Erst wenn man sich handelnd in die sprachliche Kommunikation mit anderen Menschen begibt, kann man von ihnen die Gewohnheiten übernehmen, wie Begriffe mit bestimmten Bedeutungen benutzt werden. Begriffe werden in der Praxis ihrer Benutzung gelernt. Ihre Bedeutung ergibt sich demnach nicht aus dem Gebrauch, sondern wird aus dem Kontext des Handelns erschlossen. Das bedeutet, dass die These, dass die Begriffe ihre Bedeutung durch den Gebrauch erhalten, falsch ist.

Das entscheidende Argument gegen die Gebrauchstheorie des Begriffs ist, dass die Regeln von Begriffen nicht lediglich als ihre stabile, gewohnheitsmäßige Verwendungsweise verstanden werden dürfen. Vielmehr beziehen sich die Regeln eines Begriffs darauf, welche Bewegung angesprochen werden soll. Der Gehalt eines Begriffs wird also durch die Regel für eine bestimmte Bewegung bestimmt, auf die er bezogen ist. Aus diesen Überlegungen ergibt sich, dass der Versuch Wittgensteins, mit dem Regelbegriff eine systematische Theorie sprachlicher Bedeutung zu begründen, daran gescheitert ist, dass sein Regelbegriff relativ unbestimmt geblieben ist und dass er nicht erkannt hat, dass sich Regeln immer auf Bewegungsmuster beziehen.

Christoph Pfisterer behauptet, dass die These, dass der Gebrauch die Bedeutung konstituiert, eine fehlerhafte Interpretation von Wittgenstein sei.54 Wenn man den Satz »Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.« in den Kontext aller Überlegungen von Wittgenstein stellen würde, müsste man zum Ergebnis kommen, dass Wittgenstein damit sagen wollte, dass sich im konkreten Sprachgebrauch die Frage nach dem allgemeinen Prinzip, wie Bedeutung zustande kommt, gar nicht stellt und dass auf eine allgemeine Theorie der Bedeutung verzichtet werden muss. Die bisherigen theoretischen Überlegungen zeigen, dass die Bedeutung von Begriffen eindeutig aus den Regeln abgeleitet werden kann, auf die sie verweisen.

Die Theorie des Inferentialismus von Richard Brandom erklärt die Bedeutung der Begriffe aus dem Netzwerk der Sprache.55 Man müsse zur Beherrschung eines Begriffs viele Begriffe beherrschen. Sprachliche Ausdrücke ließen sich also nur durch ihre wechselseitigen Beziehungen verstehen. Diese Auffassung knüpft an die Überzeugung von Ludwig Wittgenstein an, dass sich die Bedeutung der Wörter aus ihrem Bezug zum Ganzen der Sprache ergibt. »Einen Satz verstehen, heißt, eine Sprache verstehen.« 56

Dieser Ansatz, der auch semantischer Holismus genannt wird, hat eine gewisse Plausibilität, da sprachliche Ausdrücke in ihrer Bedeutung konstitutiv voneinander abhängen (warm – kalt, Körper – Geist u.Ä.) und dass aus Sätzen auf logischem Wege Folgerungen gezogen werden können (Aus »Frankfurt liegt östlich von Mainz« folgt »Mainz liegt westlich von Frankfurt«). Wenn die Sprache Folgerungen zulässt (Das Satz »Es blitzt!« lässt die Folgerung zu: »Es wird bald donnern«), ergeben sie sich aber nicht aus der Struktur der Sprache, sondern aus den realen Erfahrungen! Der holistische Ansatz verkennt, dass sich die meisten begrifflichen Beziehungen aus den Beziehungen zwischen den Objekten ergeben und dass sich die Begriffe eindeutig aus ihrem Verweis auf Bewegungsregeln erklären lassen. Deshalb verstehen Kleinkinder neue Begriffe, ohne dass sie bereits die Sprache als Ganzes kennen. Der holistische Ansatz verkennt, dass Sprache schrittweise gelernt wird. Das bedeutet, dass auch Bruchstücke einer Sprache verstanden werden können, ohne dass die Gesamtheit der Sprache zur Verfügung steht.

Der holistische Ansatz wird meist damit begründet, dass isolierte Begriffe keine klare Aussage enthalten. Daraus kann keineswegs auf ein Netzwerk der Sprache geschlossen werden, aus dem alle Begriffe erst ihre Bedeutung erhalten sollen, weil es primär Aufgabe der Sprache ist, eine Mitteilung über etwas zu artikulieren. Mitteilungen verlangen, dass ausgesagt wird, welche Bewegungen in Bezug auf welche Objekte ausgeführt werden. Eine Mitteilung setzt deshalb immer eine Kombination von mindestens zwei Begriffen voraus. So wie Begriffe für Objekte Verben verlangen, so erwarten die meisten Verben Objektbegriffe.57 Das begründet aber kein holistisches Verständnis der Sprache, sondern bedeutet lediglich, dass mit Begriffen primär Handlungen abgebildet werden und deshalb Begriffe nur verstanden werden, wenn sie Handlungen anleiten. Um einzelne Sätze zu verstehen, muss man deshalb nicht unbedingt die ganze Sprache kennen, in der sie formuliert werden.

Dass es ein Netzwerk der Sprache gibt, ist offensichtlich, aber es ist nicht in der Sprache selbst angelegt, sondern kommt dadurch zustande, dass jeder Begriff auf einen größeren praktischen Verwendungszusammenhang verweist, in dem er seine Bedeutung hat. Wenn z.B. vom Holz im Kontext eines Hausbaus gesprochen wird, schwingen darin viele kulturelle Praktiken mit, in denen Holz als Baustoff eine Rolle spielt. Da jeder intendierte Zweck meist auch auf andere Weise angestrebt werden kann, macht der Begriff indirekt auch Alternativen bewusst. Jeder Begriff öffnet so den Blick auf die globale kulturelle Praxis. Insofern ist das Netzwerk, auf das sich die Inferenztheoretiker berufen, nicht Bestandteil der Sprache, sondern ergibt sich aus der komplexen Interdependenz aller kulturellen Praktiken.

Der Bedeutungsgehalt eines Begriffs kann also nicht durch die Analyse seiner Stellung im System der Sprache gewonnen werden, noch weniger aus der reinen Introspektion. Er kann allein im Blick auf die (möglichen) künftigen Konsequenzen geklärt werden, die mit der Anwendung der in den Begriffen angedachten Bewegungsregeln verbunden sind. Bedeutungen ergeben sich demnach daraus, was mit den Objekten getan werden kann. Aus diesen Überlegungen folgt, dass die holistischen Bedeutungstheorien nichts zum Verständnis der Sprache beitragen. Es war ein verhängnisvoller Fehler der Sprachphilosophie, dass sie das Bedeutungsproblem ausschließlich im Hinblick auf Objekte abgearbeitet hat! Dadurch ist übersehen worden, dass es bei den Begriffen zentral darum geht, wie die Menschen handelnd mit den Objekten umgehen.

Es zeigt sich, dass sich die Frage nach der Bedeutung von Begriffen mit dem Regelkonzept relativ leicht beantworten lässt. In den nächsten Kapiteln wird an anderen Fragen, die an die Sprache gestellt werden, demonstriert, wie produktiv das Regelkonzept ist. Wie ist die Sprache entstanden? Ist die Sprache ein Werkzeug der Kommunikation oder ein Medium der Welterschließung? Wie ist das Verhältnis der Sprache zur Realität zu verstehen? Woraus ergibt sich die Normativität der Sprache?

a name="_Kap3.3"> 3.3. Die Entstehung der Sprache

»Derjenige, der zum erstenmal an Stelle eines Speeres ein Schimpfwort benutzte, war der Begründer der Zivilisation.« (Sigmund Freud)

Unter Sprachwissenschaftlern scheint es unumstritten zu sein, dass die Menschen vor der Sprachentstehung, die vermutlich im Zeitraum von 250.000 – 100.000 Jahren58 erfolgt ist, mit Zeigegesten und Gebärden kommuniziert haben. Gebärden unterscheiden sich von Gesten dadurch, dass sie Handlungen anzeigen oder auf Gegenstände hinweisen, die nicht unmittelbar sinnlich wahrnehmbar sind. Sie haben damit den entscheidenden Vorteil, dass sich mit ihnen komplexe Inhalte mitteilen lassen. Mit Gesten können andere lediglich aufgefordert werden, etwas zu tun, aber mit Gebärden können auch Botschaften übermittelt oder sogar Geschichten erzählt werden.

Zwar können auch Menschenaffen mit Gesten kommunizieren, aber der Gebrauch von Gebärden ist allein bei den Menschen zu beobachten. Die entscheidende Voraussetzung für die Nutzung von Gebärden ist, dass Bewegungen imitiert werden können und dass dabei das Prinzip der Bewegung erfasst wird. Außerdem muss erkannt werden können, dass die Gebärde des anderen eine kommunikative Absicht enthält. Diese Fähigkeit konnte sich erst entfalten, als die Menschen ein Interesse daran entwickelt hatten, mit anderen zusammenzuarbeiten, um gemeinsame Ziele zu erreichen. Das bedeutet, dass erst auf dem Boden von gemeinsamen Aktivitäten, bei denen sich die Beteiligten in ihren Absichten erkennen und aufeinander abstimmen müssen, ein Anreiz bestand, differenziertere Gebärden für die Kommunikation zu entwickeln. Michael Tomasello vertritt auf der Basis von Studien mit Menschenaffen die These, dass sich diese Voraussetzungen erst beim Menschen entwickelt haben.59 Er vermutet, dass die grundlegenden Merkmale menschlicher Kommunikation bereits in den Gesten stecken.60 Es wäre aber unwahrscheinlich, dass sich die verbale Sprache hätte entwickeln können, wenn die Menschen nicht in der Lage gewesen wären, mit Gebärden miteinander zu kommunizieren.

Für die Theorie der Sprache folgt daraus, dass die menschliche Sprache ursprünglich aus dem gemeinsamen Handeln hervorgegangen ist. Als die Menschen gelernt hatten, gemeinsam ein Ziel anzustreben und dabei ihre Absichten und Wahrnehmungen aufeinander abzustimmen, entstand überhaupt erst die Motivation, Gebärden zu entwickeln, mit denen komplexe Botschaften übertragen werden können. Der Mensch spricht, so könnte man sagen, weil er ein genuin gemeinsam handelndes Wesen ist. Es reicht also nicht aus zu sagen, dass er ein soziales Wesen ist! Obwohl auch die Menschenaffen soziale Wesen sind, können sie nur Zeigegesten verwenden.

Der entscheidende Schritt zur verbalen Sprache war also sicherlich die Entwicklung von Gebärden. Nachdem Gebärden zur Konvention geworden sind, d.h. von allen Mitgliedern einer Gruppe in gleicher Weise benutzt und verstanden wurden, konnten sie problemlos durch Begriffe ersetzt werden. Der historische Übergang von den Gebärden zu Sprachlauten konnte relativ bruchlos erfolgen, da es sich in beiden Fällen um Symbolisierungen von Bewegungsregeln handelt. Nachdem gelernt wurde, bestimmte körperliche Bewegungen mit einem Zeichen zu verbinden, konnte dieses Muster auch mit anderen Symbolen ausprobiert werden. Schließlich unterscheiden sich die Sprachlaute von den Gebärden nur darin, dass es andere körperliche Bewegungsabläufe sind. Die verbale Sprache hatte sich sicherlich schnell durchgesetzt, da die Begriffe den großen Vorteil haben, dass die Hände nicht mehr für die Bildung von Gesten und Gebärden benötigt werden, sondern sich auf die Arbeit konzentrieren können und dass über größere Entfernung miteinander kommuniziert werden kann. Die heute noch vorhandene Neigung, das Sprechen mit Handbewegungen zu begleiten, spricht für die Entstehung der Sprache aus den Gebärden.

Die Erklärung der Sprachentstehung aus dem gemeinsamen Handeln setzt voraus, dass bereits die dafür erforderlichen anatomischen Veränderungen im Rachenraum und im Atemsystem stattgefunden haben müssen. Die anatomischen Entstehungsbedingungen der Sprache sollen hier nicht ausführlich dargestellt werden, weil sie bereits in meinem Buch »Geliebte Fesseln« erörtert wurden.61 Hervorzuheben ist, dass in den meisten Sprachentstehungstheorien nicht erwähnt wird, dass die Menschen als einzige Säugetiere die Fähigkeit haben, willentlich den Atem anzuhalten. Ohne die willkürliche Atemkontrolle wäre die differenzierte Artikulation von Sprachlauten nicht möglich. Diese Fähigkeit wurde wahrscheinlich erworben, als die Menschen in Ostafrika, das als die Wiege der Menschheit gilt, lange Zeit am und im Wasser gelebt und dabei die Fähigkeit der Atemkontrolle reaktiviert haben, die für die Fische selbstverständlich ist, aber bei allen anderen Säugetieren fehlt.62 Nicht weniger wichtig ist, dass erst der aufrechte Gang die Atmung so variabel gemacht hat, dass mehrere Begriffe hintereinander in einem Atemzug ausgesprochen werden können. Vierfüßige Tiere müssen bei jedem Schritt ein- und ausatmen. Deshalb können z.B. Schimpansen keine zerhacktes »Hahaha« wie die Menschen von sich geben, sondern müssen nach jedem Lach-Laut einmal Luft holen. Dadurch, dass der aufrechte Gang die Hände freigelegt hat, wurde überhaupt erst die Möglichkeit geschaffen, Geste als Verständigungsmittel zu benutzen, die als eine wichtige Zwischenstufe zur Entwicklung der Lautsprache angenommen werden. »Der aufrechte Gang, der eine veränderte Atmung ermöglichte, ist ein Schlüsselereignis für die Entwicklung der Sprache.«63 Hinzu kommt, dass bei den Menschen der Kehlkopf wesentlich tiefer liegt als bei den Menschenaffen, so dass ein größerer Rachenraum für die Artikulation von Lauten entstanden ist. All diese anatomischen Veränderungen haben das Atemsystem so flexibel gemacht, dass eine Fülle verschiedener Töne bewusst gestaltet werden kann.

Gerhard Neuweiler vermutet, dass sich die verbale Sprache erst entfalten konnte, nachdem die Menschen mit dem Gebrauch von Werkzeugen eine große manuelle Fingerbeweglichkeit entwickelt hatten.64 Auch der amerikanische Anthropologe Stanley Ambrose glaubt, dass die Kunstfertigkeit der Finger der Wegbereiter für die Evolution der Sprache war. Als wichtigen Hinweis wertet Ambrose das Ergebnis der Hirnforschung, dass die Sprache von einem Hirnbereich gesteuert wird, der gleich neben dem Areal für die Feinmotorik der Hand liegt.65 Die Fingerbeweglichkeit war deshalb für die Entwicklung der Sprache von so zentraler Bedeutung, weil dabei gelernt wurde, zahlreiche Bewegungsabläufe miteinander zu verketten. Denn letztlich ist Sprechen nichts anderes, als die Verknüpfung einer Vielzahl von körperlichen Bewegungsabläufen. Deshalb ist die häufig geäußerte Behauptung, dass sich das beachtliche Größenwachstum des menschlichen Gehirns der Sprache verdankt, infrage zu stellen. Das Wachstum des menschlichen Gehirns erhielt vermutlich vielmehr seine Impulse von dem intensiven Gebrauch der Hände, der durch den aufrechten Gang möglich wurde.

Die Entwicklung und der Gebrauch von Werkzeugen waren auch deshalb von großer Bedeutung, weil hier gelernt wurde, mit Regeln zu arbeiten und sie ständig weiterzuentwickeln. Werkzeuge konnten nur entstehen, weil bei der zufälligen Verwendung von vorfindlichen Gegenständen wie Steinen, Stöcken u.Ä. als Werkzeuge eine Regel entdeckt wurde, wie sie hilfreich benutzt werden können. So ist wahrscheinlich der Faustkeil dadurch entstanden, dass zufällig entdeckt wurde ist, dass spitze Steine geeignet sind, damit Fleisch zu zerlegen. Mit Hilfe der erkannten Regel konnten dann Steine so bearbeitet werden, dass sie besser in der Hand liegen und bessere Ergebnisse erzielt werden können.

Die Entdeckung, dass differenzierte Laute als Zeichen für Regeln von Bewegungen verwendet werden können, war für die kulturelle Entwicklung äußerst produktiv. Sie hat es ermöglicht, dass während des Handelns (Arbeiten, Essen, Tanzen u.Ä.) gleichzeitig miteinander gesprochen werden kann, da die Hände jetzt nicht mehr für die Mitteilung gestischer Botschaften benötigt werden.

Die Sprache, die zunächst aus der zwischenmenschlichen Kommunikation und Kooperation hervorgegangen ist, hat so die Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit extrem gesteigert. Sie hat die Arbeitsteilung beschleunigt und damit die kulturelle Entwicklung mit ihrer Erhöhung des Lebensstandards überhaupt erst möglich gemacht. Seitdem jeder Mensch bei Geburt einen Namen erhält, fällt es leichter, arbeitsteilige Prozesse zu organisieren und Absprachen und Vereinbarungen mit Verträgen abzusichern. Wer einen Namen hat, kann bei der Verletzung von Verträgen zur Verantwortung gezogen werden.

Der kurze Rückblick auf die Entstehung der Sprache macht deutlich, dass die verbale Sprache tatsächlich etwas Einzigartiges darstellt. Aber bereits vorher hat es differenzierte Formen der inhaltlichen Kommunikation gegeben. Die verbale Sprache ist nur eine weitere Variante in den Versuchen der Natur, den Dialog mit den Artgenossen zu verbessern. Da davon ausgegangen werden kann, dass der Dialog das Grundprinzip des Lebens ist, muss die verbale Sprache in die Kontinuität der animalischen Kommunikation gestellt werden.

3.4. Begriffe als Werkzeuge

»Allgemeine Begriffe und großer Dünkel sind immer auf dem Wege, großes Unheil anzurichten.« (Johann Wolfgang von Goethe)

Wenn man den Blick auf die Entwicklung der Sprache richtet, liegt es nahe, Begriffe als Werkzeuge aufzufassen, da mit ihrer Hilfe Gedanken in mitteilbare Sätze ausformuliert werden können. Erstaunlicherweise wird diese Auffassung häufig mit dem Argument infrage gestellt, dass Begriffe die Wahrnehmung der Welt konstituieren und die Erfahrungen prägen. So behauptet Richard Rorty: »dass wir nie imstande sein werden, aus der Sprache herauszutreten, dass wir nie imstande sein werden, die Realität ohne Vermittlung durch eine sprachliche Beschreibung zu erfassen.«66 Da es keinen unmittelbaren Bezug zur Realität gäbe, stellt sich für Richard Rorty auch nicht die Frage nach der Repräsentation durch die Sprache. Wer davon überzeugt ist, dass die Sprache das Medium des Denkens und der Erkenntnis ist, lehnt konsequenterweise die Auffassung ab, dass die Sprache nur ein Transportmittel für Gedanken und Informationen ist.

Einige Theoretiker gehen noch weiter und behaupten, dass die menschliche Existenz wesentlich durch die Sprache geprägt wird.67 Es wird argumentiert, dass die Menschen als soziale Wesen dadurch anerkannt werden, dass sie angesprochen werden. Da die Menschen als soziale Wesen auf Anerkennung angewiesen sind, müssen sie immer wieder angesprochen werden. Diese These übersieht, dass die Anerkennung primär auf dem Akt der körperlichen Zuwendung im Anblicken, Anlächeln, gemeinsamen Handeln, Umarmen u. Ä. beruht. Sie ist auch deshalb problematisch, da das Zusammenleben der Menschen bereits vor der Erfindung der Sprache funktioniert hat.

Aus der Sicht der hier entwickelten Begriffstheorie müssen Begriffe als Werkzeuge aufgefasst werden. So wie ein Werkzeug, wie z.B. ein Hammer, eine bestimmte Bewegung verlangt, so steht jeder Begriff für eine bestimmte Regel. Im Gespräch soll er das Gegenüber an eine bestimmte Bewegungsregel erinnern. So bewirkt der Begriff »Hammer« beim Zuhörer, dass die Regel des Nageleinschlagens aktiviert und die entsprechende Bewegung innerlich ausgeführt wird. Auch beim Lesen von Begriffen werden die Bewegungsregeln aktiviert, die mit den Begriffen verknüpft sind. Ein Satz soll beim Zuhörer die Vorstellung wecken, wie ein Subjekt eine bestimmte Handlung ausführt.

Begriffe legen wohl fest, welche Erfahrungen gemacht werden, weil sie bestimmen, wie auf die Realität eingewirkt wird und welche Aspekte der Wirklichkeit wie wahrgenommen und benutzt werden. Aber es ist fraglich, ob die Welt immer schon durch die Begriffe in ein normatives Licht getaucht wird, wie es Robert B. Brandom behauptet. Begriffe seien insofern normativ, als sie »die Form von Regeln [haben], das heißt, sie geben an, wie etwas (gemäß der Regel) getan werden sollte.«68 Als begriffliche Wesen seien wir also »spezifisch normative oder regelgeleitete Wesen«69. Da aber die Regeln, die in den Begriffen angesprochen werden, Ausdruck einer bestimmten kulturellen Praxis sind, ist es falsch, der Sprache eine eigene normative Bedeutung zuzusprechen. Die Sprache spiegelt bloß die Normativität wider, die in der kulturellen Praxis angelegt ist. Wenn z.B. in der französischen im Gegensatz zur deutschen Sprache der Tod den weiblichen Artikel hat, spiegelt das ein Verständnis des Todes wider, das zu dem Zeitpunkt vorherrschte, als der Begriff geprägt wurde. Die Sprache hält am Artikel des Begriffes fest, obwohl sich die aktuelle kulturelle Todesauffassung längst verschoben hat. Der prägende Einfluss geht also nicht von den Begriffen aus, sondern von den Regeln, auf die sie verweisen.

Den Begriffen wird häufig vorgeworfen, dass sie die Objekte vergewaltigen, weil durch die Klassifizierung vieles von der Konkretheit des Objektes verlorengehe. Es wird dabei übersehen, dass Begriffe von Haus aus die Funktion haben, etwas Allgemeines an den Dingen festhalten. Denn es wird immer nur das an den Dingen in die Sprache aufgenommen, was für das menschliche Handeln belangvoll ist. Das Abstrakte am Begriff ist gerade sein entscheidender Vorteil. Begriffe sollen an eine abstrakte Regel erinnern.

Das gleiche Argument kann gegen die Behauptung vorgebracht werden, dass die Sprache die Dinge verzerrt oder sogar verzaubert. Das hänge damit zusammen, dass die Begriffe den Blick auf die Dinge einengen, indem sie einseitig das hervorheben, worauf sie zeigen. Der fokussierte Blick gehört aber zum Wesen der Begriffe, weil es gerade darum geht, ein bestimmtes Handeln anzuregen. So werden neue Aspekte an den Objekten erst dann gesehen, wenn ein neuartiger Umgang mit den Dingen angestrebt oder entdeckt wird. Z.B. war lange Zeit unbekannt, dass Bäume auch die Funktion haben, Kohlendioxyd (CO2) aus der Luft auszunehmen und in Kohlenstoff umzuwandeln. Insofern ist die Behauptung, dass die Sprache die Dinge verzerrt, infrage zu stellen. Da die Sprache die Realität nicht abbildet, kann es auch keine verzerrte Darstellung geben.

In der feministischen Sprachkritik wird behauptet, dass die Frauen aufgrund der ausschließlichen Verwendung der maskulinen Form bei den Berufsbezeichnungen in der Sprache unterdrückt werden. Im Grunde spiegelt der Sprachgebrauch nur die dominante Position der Männer in der Berufswelt wider. Zu Recht wird von vielen Menschen der Gebrauch von weiblichen Berufsbezeichnungen als gekünstelt erlebt, weil sich dadurch an der Ungleichbehandlung der Frauen im Berufsleben überhaupt nichts ändert. Es ist fraglich, ob die Gleichbehandlung der Frauen durch den Sprachgebrauch gefördert werden kann.

Manche Begriffe können durchaus die Wahrnehmung der Realität prägen. Das gilt aber nur, wenn sie metaphorisch gebraucht werden und die Metaphern mit der Wirklichkeit gleichgesetzt werden, also vergessen wird, dass Begriffe im übertragenen Sinne benutzt werden. So hat die Übertragung des Maschinenmodells auf den menschlichen Körper die Wahrnehmung des Körpers radikal verändert und viele medizinische Entdeckungen möglich gemacht. So wäre z.B. sicherlich die Entdeckung des Blutkreislaufs ohne die neue mechanistische Sichtweise des Körpers nicht zustande gekommen. Die Wahrnehmung der Realität kann auch durch abstrakte Begriffe wie Geist, Seele, Verstand, Vernunft, Ich oder Wahrheit gefiltert werden, wenn sie unreflektiert verwendet werden. Daraus kann sich ein verzerrtes Verständnis der Natur des Menschen ergeben. Diese Beispiele zeigen, dass die prägende Kraft der Begriffe stets damit zusammenhängt, dass bei Begriffen, die sich nicht direkt auf sinnlich wahrnehmbare Objekte beziehen, vergessen wird, welche Funktion sie ursprünglich hatten. Ihre missbräuchliche Verwendung führt zwangsläufig zu einem verzerrten Blick auf die Realität. Es entsteht die Verhexung des Verstandes durch die Mittel unserer Sprache, vor der Ludwig Wittgenstein gewarnt hat. Es ist also nicht die Sprache, die zu einer verzerrten Wahrnehmung der Realität führt, sondern ihr fehlerhafter Gebrauch.70

Wenn man davon ausgeht, dass die Begriffe mit ihren Regeln eine bestimmte kulturelle Praxis widerspiegeln, muss die Theorie, dass die Begriffe das Verständnis der Realität prägen, abgelehnt werden. Unterschiede im Verständnis der Realität ergeben sich allein aus einer unterschiedlichen kulturellen Praxis. Wenn sich verschiedene Sprachen relativ leicht übersetzen lassen, liegt das an der großen Verwandtschaft der jeweiligen Kulturen. Bei großen kulturellen Unterschieden, wie z.B. zwischen der Sprache von Amerikanern und Indianerstämmen, ist äußerste Vorsicht bei der Übersetzung geboten, weil hier meist als Reflex einer andersartigen Praxis eine völlig andere Grammatik verwendet wird. So ist die Behauptung von Benjamin Lee Whorf, dass die Hopi ein radikal anderes Zeitbewusstsein haben, weil sie angeblich keine Begriffe für die Vergangenheits- und Zukunftsform haben, zu Recht als ethnozentrisch kritisiert worden. Auch die These von Wilhelm Humboldt, dass andere Sprachen mit einem anderen Weltbild verbunden sind, übersieht, dass die Sprache eine bestimmte kulturelle Praxis widerspiegelt, wobei nicht von vornherein klar ist, ob sich die kulturellen Praxen von verschiedenen Sprachen tatsächlich wesentlich unterscheiden.

Gegen die Theorie, dass die Begriffe konstitutiv für das Denken sind, spricht vor allem, dass das Denken unbewusst abläuft. Wie unten erläutert wird, spricht vieles dafür, dass das Denken mit Regeln arbeitet und dass Begriffe und Vorstellungen für das unbewusste Denken keine Rolle spielen.71 Begriffe werden nur als Hilfsmittel benutzt, um die Aufmerksamkeit auf ein Problem zu richten. Sie können die Wahrnehmung schärfen und das Denken stimulieren, da mit ihnen bestimmte Regeln aufgerufen und problematische Situationen vergegenwärtigt werden können. Wenn vom bewussten Denken gesprochen wird, geht es im Grunde nur darum, dass die Aufmerksamkeit auf die Details einer problematischen Situation gerichtet wird und neue Kenntnisse gesammelt werden. Die weitere Verarbeitung wird dann wieder vom unbewussten Denken übernommen.

Diese Überlegungen sprechen dafür, dass die Sprache durchaus in Analogie zum Gebrauch von Werkzeugen betrachtet werden kann. Wie bereits am Anfang dieses Hauptkapitels erwähnt wurde, haben alle Begriffe den Zweck, etwas zu bewirken. So sollen andere zu einer bestimmten Handlung angeregt, von einem Gedanken überzeugt oder auf etwas Bestimmtes aufmerksam gemacht werden. Der Unterschied zum Werkzeuggebrauch besteht bloß darin, dass man beim Gebrauch der Sprache nie sicher sein kann, ob die gewünschte Wirkung erzielt wird.

Die Sprache als Werkzeug verstehen, darf nicht zu der Annahme führen, dass ihre Funktion allein der Austausch von Informationen und Gedanken ist. »Das Sprechen hat viele Funktionen, aber größtenteils entspricht es sicherlich eher der sozialen Fellpflege der Schimpansen oder dem Hüteverhalten von Schäferhunden als einem durchdachten Diskurs unter Parlamentariern. Wie bellen, damit unsere Kinder den Schulbus nicht verpassen und damit sie sich sicher und geliebt fühlen, wir schnurren, damit unsere Kollegen wissen, dass wir bei der Sache und einsatzbereit sind.«72 Die Funktion der Sprache, Kontakt zu anderen Menschen herzustellen und zu vertiefen, unabhängig vom Inhalt, ist unübersehbar.

Es ist wohl richtig, dass man die Sprache nicht ohne weiteres wie bei einem Werkzeug durch etwas anderes ersetzen kann. Wenn einmal gelernt worden ist, mit Begriffen zu kommunizieren, kann man nicht mehr aus dem Medium der Sprache aussteigen. Es kommt aber darauf an, Sprache bewusst zu benutzen, d.h. sich ihrer Wirkung bewusst zu sein und sie gezielt als Instrument der Information, Kontaktaufnahme, Kontrolle, Beschwichtigung, Überredung u.Ä. einzusetzen. Vor allem muss mit Metaphern und Allgemeinbegriffen kritisch umgegangen werden. Deshalb ist die Analogie mit einem Werkzeug durchaus zutreffend.

3.5. Die Ordnung der Begriffe

»Das Leben ist wie die Grammatik: die Ausnahmen sind häufiger als die Regeln.« (Remy de Gourmont)

Solange sich die Sprache darin erschöpft hatte, andere mit Gesten zu bestimmten Handlungen zu bewegen, war Grammatik nicht erforderlich. Grammatik entwickelte sich erst, als die neue Kommunikationsform des verbalen Informierens und des Mitteilens von Gefühlen und Absichten entstanden ist.73 Jetzt musste dem Fluss der Worte eine Struktur gegeben werden, um deutlich zu machen, wer, wann, wie und wo gehandelt hat und welche Worte zusammengehören und als Satz eine Bedeutungseinheit bilden. So mussten die Verben konjugiert werden, um direkt kenntlich zu machen, ob die Handlung in der Gegenwart, Vergangenheit oder Zukunft stattfindet. Ebenso mussten Begriffe wie »vor«, »hinten«, »rechts« und »links« entwickelt werden, um den Standort eines Objekts in Relation zum handelnden Subjekt kennzeichnen zu können. Die Grammatik als die Gesamtheit der Regeln, wie Sätze konstruiert werden, ist natürlich vor allem dafür erforderlich geworden, um das Sprechen automatisieren zu können. Nur so ist flüssiges Sprechen möglich und können Missverständnisse durch den falschen Gebrauch von Begriffen vermieden werden.

Sprache zeichnet sich dadurch aus, dass sie Regeln besitzt, die die möglichen Verknüpfungen der einzelnen Begriffe bestimmen. Weiterhin kennt die Sprache Regeln, wie einzelne Begriffe je nach Kontext abgewandelt werden können (Einzahl/Mehrzahl, Art des Artikels, Konjugation der Verben u.a.). Diese Regeln stellen die Grammatik einer Sprache dar. Erst durch die Kombination dieser verschiedenen Regeltypen kommen die inhaltlichen Gehalte der Sprache, d.h. die Sätze zustande. Die Sprache hat also ihr kreatives Potential daher, dass sie Bewegungsregeln mit speziellen Regeln (Grammatik) verknüpfen kann. Wie oben bereits gezeigt wurde, gilt dies auch für die Gebärdensprache und die Musik.

Die ersten Begriffe zu Beginn der Sprachentwicklung waren vermutlich Namen für einzelne Menschen. Für das gemeinsame Handeln war es zweckmäßig, dass jeder einen eigenen Namen besitzt. Dadurch wurde es z.B. möglich, Botschaften gezielt weiterzugeben oder von bestimmten Personen etwas zu berichten. Außerdem konnten Versprechungen abgegeben und Verträge oder Vereinbarungen abgeschlossen werden. Seit die Menschen gelernt haben, Sätze zu bilden, haben aber die Verben einen absoluten Vorrang eingenommen. »Nicht das Subjekt, sondern das Verb ist demnach das ausschlaggebende Satzelement.«74 Demgegenüber geben die übrigen Begriffe letztlich nur die Rahmenbedingungen bzw. den raum-zeitlichen Kontext einer gemeinten Handlung an. Der Vorrang der Verben ergibt sich daraus, dass Sätze nur verstanden werden können, wenn man weiß, um welche Bewegungen es geht. »Das Kind spielt Ball.« Wenn man außer dem Begriff »spielen« die anderen Begriffe nicht kennt, so weiß man immerhin, dass es sich um eine bestimmte Bewegung mit einem Zweck handelt und kann alles andere mit Hilfe der Phantasie ergänzen. Das ist unmöglich, wenn man das Verb nicht kennt. Die Verben engen das Spektrum möglicher Bedeutungen am stärksten ein. Außerdem strukturieren sie die Sätze. Die meisten Verben verlangen neben dem Subjekt ein Objekt und zum Teil sogar mehrere Objekte. So wird z.B. ein Satz, in dem das transitive Verb »geben« vorkommt, erst als vollständig und in sich abgeschlossen betrachtet, wenn angegeben wird, wer wem was gibt. Die Verben geben somit vor, welche Elemente in einem Satz notwendig sind und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. Deshalb wird das Verstehen von Sätzen beim Leser bzw. Hörer maßgeblich über die Verben vermittelt75.

Der Primat der Verben in der Sprache drückt sich auch darin aus, dass sich der überwiegende Teil der grammatikalischen Regeln auf den Gebrauch von Verben (Zeitformen, aktive – passive Verben, transitive – intransitive Verben, Hilfsverben, Modalverben u.a.) bezieht. Übrigens leitet sich der Begriff »Verb« etymologisch vom griechischen Wort »rhema« ab, das allgemein Rede, Wort, Ausspruch bedeutet, aber auch als Aussage verstanden wird. Das weist darauf hin, dass die Verben bereits von den Griechen als unentbehrlich für Sätze betrachtet wurden.

Wie sehr die Verben im Zentrum des Verstehens stehen, zeigt sich daran, dass nach Auffassung der Sprachforscher die Dinge regelmäßig mit den Begriffen für die Bewegungen benannt wurden, die den Umgang mit ihnen charakterisieren. So leitet sich – wie oben bereits erwähnt – z.B. der Begriff »Holz« von »schlagen« ab. Viele Begriffe, die zur Kennzeichnung geistiger Prozesse benutzt werden, stammen unübersehbar von Bewegungen der Hände ab: »begreifen« von greifen, »erfassen« von fassen, »deuten« von hindeuten. Die Schlüsselrolle der Verben geht auch daraus hervor, dass alle abstrakten Substantive, die sich nicht direkt auf Wahrnehmungsgegenstände beziehen, auf Verben zurückgehen. So leitet sich Wissen von »sehen«, Erkenntnis von »erkennen«, Wahrheit von »wahrnehmen«, Vernunft von »vernehmen« oder Einfühlungsvermögen von »einfühlen« usw. ab. Das bedeutet, dass auch die abstrakten Begriffe auf körperliche Bewegungen zurückgehen.

Ein weiterer Beleg für die Verwandtschaft von Allgemeinbegriffen und Verben ist darin zu sehen, dass die Gebärden, die vor der Sprachentstehung neben den Zeigegesten die zwischenmenschliche Kommunikation ermöglicht haben, sowohl verwendet wurden, um eine Handlung anzuzeigen als auch um auf einen Gegenstand hinzuweisen, der mit der dargestellten Handlung verbunden ist.76 Das bedeutet, dass die Begriffe eine einzige Wurzel haben. In diesem Zusammenhang ist es interessant zu beobachten, dass kleine Kinder zwischen 12 und 14 Monaten oft Zeigegesten mit Verben verbinden. So zeigen sie z.B. auf einen Keks und sagen »essen«.

Verben haben den Vorzug, dass sie vertrauter als die anderen Begriffe sind, die sich auf Objekte und ihre Eigenschaften beziehen. Schließlich können die zugrunde liegenden Bewegungsregeln innerlich nachvollzogen werden. Außerdem basieren sie auf persönlichen Erfahrungen.

Im gewöhnlichen Sprachverständnis sind in Sätzen die Begriffe von zentraler Bedeutung, die sich auf die handelnden Subjekte beziehen. Schaut man sich diese Begriffe genauer an, so wird deutlich, dass sie ebenso wie die Verben letztlich auf bestimmte Verhaltensweisen verweisen. So bezeichnet der Begriff »Vater« alle Verhaltensweisen, wie sich eine männliche Bezugsperson zu ihren Kindern verhält bzw. verhalten soll. Wie oben bereits erwähnt wurde, ist bei Eigennamen für Handlungssubjekte oder Objekte in der Natur zu beobachten, dass sich an die Namen besondere persönliche oder allgemeine Verhaltensweisen anheften.77 So gewinnen in Romanen die Handlungssubjekte in dem Maße an Kontur und Charakter, wie ihre Verhaltensgewohnheiten dargestellt werden. Deshalb erhalten auch Eigennamen, die eigentlich nur eine Person oder einen Ort benennen, einen handlungsbezogenen Sinn. Dass das Verb in den meisten Sprachen an der zweiten Stelle im Satz steht, hängt damit zusammen, dass sinnvollerweise zunächst der Akteur genannt wird, bevor seine Handlungen gekennzeichnet werden.

Selbstverständlich verwendet jede Sprache auch viele Begriffe, deren Bedeutung sich nicht aus dem handelnden Umgang mit der Realität ableiten lässt. Dazu zählen z.B. alle logischen Begriffe wie »und«, »oder«, »ist« u.Ä. oder die indexikalischen Begriffe, die persönliche (»ich«, »du«, »er« u.Ä.), räumliche (»hier«, »dort«, »vor«, »unten« u.Ä.) oder zeitliche Bezüge (»jetzt«, »früher«, »heute«, »morgen« u.Ä.) herstellen. Mit diesen Begriffen sind Regeln verbunden, wie die Begriffe eines Satzes miteinander verbunden werden. Sie sind also nicht konstitutiv für die Sprache, sondern sind erforderlich, um den Kontext einer Handlung zu bestimmen.

Am Anfang der Sprachentwicklung waren sicherlich alle Begriffsarten eng miteinander verwandt. Damals herrschte vermutlich das animistische Denken vor, für das die ganze Natur als belebt erscheint. Das bedeutet, dass alles in der Natur als Ausdruck von handelnden Wesen begriffen wurde. Nichts wurde als Objekt betrachtet, überall wurden nach dem Modell des menschlichen Handelns handelnde Subjekte gesehen. Die Eigenschaften der anderen Subjekte ergaben sich aus der Weise, wie sie sich verhalten und bewegen. Deshalb bezogen sich die meisten Begriffe für Subjekte und Objekte auf das Handeln. Nur wenige Begriffe waren dafür reserviert, zeitliche, räumliche und logische Zusammenhänge darzustellen. Wie Jean Piaget beobachtet hat, denken kleine Kinder anfangs genauso animistisch, wie es am Anfang der menschlichen Entwicklung der Fall war. Die animistische Vergangenheit der Sprache kann als Bestätigung dafür genommen werden, dass alle Begriffsarten im Zusammenhang mit dem Handeln verstanden werden müssen.

Die Anordnung der Begriffe im Satz wird durch die Grammatik festgelegt (Subjekt – Prädikat - Objekt). Aber die Ordnung von aufeinander folgenden Sätzen ergibt sich nicht aus der Grammatik, sondern ausschließlich aus der Ordnung des Handelns, die sich aus der Ordnung der Dinge ergibt. Die Sätze müssen exakt die Reihenfolge der Handlungen wiedergeben, die zum Erreichen eines bestimmten Zieles erforderlich ist. Es ist wie bei einem Kochrezept, bei dem die Reihenfolge der Anweisungen nicht stimmt: Wenn das Eigelb vom Dotter erst getrennt und danach aufgeschlagen werden soll, wird dies als Unsinn erlebt.

Die Bedeutung eines Satzes ergibt sich nicht aus der Summe der Bedeutungen der verwendeten Begriffe, sondern aus dem beabsichtigten Ziel der angesprochenen Handlung, d.h. aus dem Sinn des Satzes. Sätze werden verstanden, wenn die angesprochenen Bewegungsabläufe erkannt und ihnen die anderen zusätzlichen Informationen, die die Eigenschaften von Objekten und den raum-zeitlichen Kontext der Handlung u.a. betreffen, als Spezifikationen und Randbedingungen zugeordnet werden können. Sätze transportieren demnach nicht Informationen, wie allgemein angenommen wird, sondern geben Hinweise, wie mehrere Regeln miteinander verbunden werden sollen, wie ein gewünschter Effekt erzielt werden kann. Sie haben deshalb den Charakter einer Anweisung. Sprache soll beim Hörer etwas bewirken: Sie soll trösten, beruhigen, warnen, beleidigen, ein Ritual eröffnen, eine Ehe schließen, ein Versprechen bekräftigen, eine Tat legitimieren u.Ä. Sprache regt das Handeln an; sie will beeinflussen, kontrollieren und verändern. Insofern führt die übliche Definition der Sprache als Transportmittel von Informationen zu einem Fehlverständnis der Sprache.

Viele Philosophen haben sich gefragt, woher die Sprache ihre erstaunlich vernünftige Struktur hat. Es wurde immer wieder vermutet, dass die Ordnung der Sprache damit zusammenhängt, dass das Sein selbst sprachlich strukturiert sei oder dass in der Sprache eine universale Vernunft zum Ausdruck komme. Dagegen ist einzuwenden, dass solche Vermutungen reine Spekulationen sind. Die Menschen können grundsätzlich nicht wissen, wie die Welt an sich beschaffen ist. Sie können nur die kleine Welt ihres Handelns verstehen.78 Ein anderer Erklärungsansatz für die Ordnung der Sprache setzt daran an, dass die Grammatik angeboren ist. Diese These ist besonders einflussreich von Noam Chomsky vertreten worden. Aus der hier entwickelten Perspektive, dass sich die Sprache aus der zwischenmenschlichen Kooperation heraus entwickelt hat, muss diese These infrage gestellt werden.

Wenn man handelt, müssen die Zwänge und Anforderungen der Objekte beachtet werden. Es liegt deshalb die Vermutung nahe, dass sich in der Grammatik die Ordnung des Handelns widerspiegelt.79 So wie sich die Regeln von Bewegungen spontan bilden, so entstehen auch die Regeln des sprachlichen Handelns auf unbewusste Weise. Ein Beleg dafür ist in der folgenden, oben bereits dargestellten Beobachtung zu sehen: Wenn mehrere gehörlose Kinder mit unterschiedlichen Gebärdensprachen zusammengebracht werden, formen sie nicht nur gemeinsame Gebärden, sondern es entwickelt sich auch spontan eine komplexe grammatikalische Struktur.80 Das ist nicht weiter überraschend, da das Handeln eine feste Struktur hat: Ein Subjekt vollzieht eine Bewegung in Richtung auf ein bestimmtes Objekt, wobei zusätzlich raum-zeitliche und logische Aspekte bedeutsam sind. Diese Struktur kann relativ leicht von der Grammatik nachgebildet werden. Die Behauptung, dass im Gehirn eine universelle Grammatik angelegt ist, muss deshalb aus dieser Sicht abgelehnt werden. Sie ist ein Indiz für die theoretische Blindheit, den subtilen Zusammenhängen zwischen den Regeln der Grammatik und den Regeln des Handelns nachzugehen.

Die Frage ist, ob die grammatikalische Struktur, die die Sprache im Laufe der Zeit annimmt, auf das Denken zurückwirkt. Denn während sich die Begriffe und die Denkgewohnheiten historisch relativ schnell ändern, bleibt die grammatikalische Struktur eine Sprache im Zeitverlauf weitgehend starr. Es könnte vermutet werden, dass sich die Struktur der Sprache zum Korsett des Denkens entwickelt. Dafür spricht allerdings wenig. Für den Inhalt eines Satzes ist es belanglos, in welcher Reihenfolge Subjekt, Prädikat und Objekt stehen. Ebenso belanglos ist, ob als relative Ortsangaben die Begriffe »rechts«, »links«, »vor«, »hinter« oder die Begriffe »östlich«, »westlich«, »nördlich«, »südlich« verwendet werden. Diese wenigen Beispiele lassen vermuten, dass die grammatikalische Struktur der Sprache nicht das Denken bestimmt. Plausibler ist die These, dass das Denken von der Struktur des Handelns geprägt wird.

Ludwig Wittgenstein hat den Begriff des Sprachspiels in die Diskussion eingebracht. Er war davon überzeugt, dass Sprache so verstanden werden könne, als ob sie Spielregeln befolgen würde.81 Wie oben bereits dargestellt wurde, unterscheiden sich aber die Regeln der Sprache grundlegend von den Spielregeln. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass Spiele keine grammatikalischen Verknüpfungsregeln kennen, während diese gerade für die Sprache konstitutiv sind. Der Begriff der Spielregel ist auch deshalb für das Verständnis der Sprache ungeeignet, weil die grammatikalischen Regeln nicht wie die Spielregeln willkürlich gesetzt und verändert werden können, sondern sich aus der Ordnung des Handelns ergeben. Aus der Gemeinsamkeit der Regelhaftigkeit kann also nicht auf eine strukturelle Ähnlichkeit der Sprache mit dem Spiel geschlossen werden.

3.6. Missbrauch der Sprache

»Jedes Wort ist ein Vorurteil.« (Friedrich Nietzsche)

Für die Kommunikation eignen sich die Begriffe am besten, die einen unmittelbaren Bezug zu sinnlich wahrnehmbaren Objekten bzw. Bewegungen haben. Begriffe können allerdings auch auf andere Objekte oder Eigenschaften übertragen werden, als für die sie ursprünglich gebildet wurden. Man spricht dann von einer metaphorischer Verwendung. So bezieht sich z.B. der Begriff des Gesetzes ursprünglich auf die Regelungen, die von staatlichen Instanzen verordnet werden. Wenn er aber auf beobachtbare Regelmäßigkeiten in der Natur angewandt wird, ist dies ein metaphorischer Gebrauch. Auch der Begriff der Regel, so wie er hier verwendet wird, ist bloß ein metaphorischer Begriff, da er ursprünglich für die Regelung von menschlichen Verhaltensweisen eingeführt wurde. Auch wenn der menschliche Körper in Analogie zur Maschine betrachtet wird, liegt eine metaphorische Verwendung vor.

Die metaphorische Benutzbarkeit von Begriffen erklärt sich direkt aus deren Bezug zu abstrakten Regeln. So kann z.B. das Verb »brechen« ohne weiteres in der Verbindung »das Herz brechen« verwendet werden, weil es naheliegt, hier ähnliche Bewegungsprozesse anzunehmen. Oder der Begriff »fliegen«, der für die Fortbewegungsart der Vögel verwendet wird, kann auch auf die Bewegung eines Pfeiles übertragen werden, obwohl der Pfeil im Gegensatz zum Vogel etwas Unlebendiges ist.

Metaphern haben eine große denkpraktische Bedeutung. Wenn in der italienischen Sprache der Begriff »scala« für Leiter auch für Haustreppen mit Stufen verwendet wird, ist dies eine metaphorische Benutzung. Da sich der bereits eingeführte Begriff auch für Stein- oder Holztreppen gut eignet, braucht man keinen neuen Begriff dafür zu bilden. Schließlich ist die Bewegungsregel für das Treppensteigen dem Leitersteigen sehr ähnlich und mit dem damit verbundenen Zweck identisch. Auch der Farbbegriff »violett« ist im Französischen eine Metapher, da er von der Farbe des Veilchens abgeleitet wird, ebenso wie der Farbbegriff »lila«, der von der Farbe des Flieders stammt. Solche Begriffe sind sehr praktisch, da sie unmittelbar verständlich sind.

Das Bewusstsein für die metaphorische Verwendung von Begriffen geht regelmäßig in der weiteren Sprachentwicklung verloren. Das liegt daran, dass die Begriffe gewohnheitsmäßig benutzt werden und es keinen Anlass gibt, ständig an ihre Herkunft zu denken. Bei den meisten Begriffen (wie z.B. beim Begriff »scala«) ist das Vergessen unproblematisch, wenn sich die Metaphern direkt auf sinnlich wahrnehmbare Gegenstände beziehen. Das gilt allerdings nicht für metaphorisch verwendete abstrakte Begriffe. Den meisten abstrakten Begriffen ist nicht mehr anzumerken, dass sie sich ursprünglich direkt oder indirekt auf Bewegungsregeln bezogen haben. So wurde z.B. das merkwürdige Phänomen des Innenlebens der Gedanken und Gefühle ursprünglich mit dem Begriff des Atems verbunden. In der weiteren Begriffsentwicklung wurde daraus der Begriff der Seele. Diesem Begriff sieht man seine metaphorische Herkunft überhaupt nicht mehr an.82

Das Vergessen der metaphorischen Wurzeln kann weitreichende Folgen für das Denken haben. Man verwechselt dann allzu leicht das Gedachte mit der Wirklichkeit. Wer immer wieder auf das Herz bezogene Begriffe benutzt (»es bricht mir das Herz«, oder »mein Herz öffnet sich«), um bestimmte Gefühle auszudrücken, weiß meistens nicht, dass er hier Metaphern verwendet und ist schließlich davon überzeugt, dass das Herz eine aktive Rolle bei der Entstehung der Emotionen spielt. Es wird übersehen, dass das Herz direkt nichts mit den Gefühlen zu tun hat, sondern dass sich hier nur physiologische Prozesse widerspiegeln, die sich im unter dem Herzen liegenden Zwerchfell abspielen, das von zentraler Bedeutung für die Artikulation von Emotionen und den damit verbundenen Gefühlen ist.83 Noch folgenreicher war die Verdinglichung der Seele, die für das Verständnis des Innenlebens der Gefühle und Gedanken lange Zeit eine zentrale Rolle gespielt hatte.

Insbesondere bei Theorien ist das Vergessen der metaphorischen Wurzeln der verwendeten Begriffe verhängnisvoll. So ist z.B. der Begriff der Kausalität nur bei von Menschen hergestellten Systemen sinnvoll anwendbar. Bei einer Maschine hat die gleiche Ursache immer die gleiche Wirkung. Bevor das Denkmodell der Kausalität auf natürliche Systeme, wie z.B. das Gehirn, übertragen wird, müsste zunächst geklärt werden, ob das theoretische Denkmodell überhaupt dem zu beobachtenden Objekt adäquat ist. Dies ist aber prinzipiell unmöglich.84 Wenn dennoch z.B. davon geredet wird, dass neuronale Strukturen des Gehirns die Gedanken verursachen, muss man eingedenk bleiben, dass dies nur eine möglicherweise fehlerbehaftete metaphorische Beschreibung ist. Metaphern können also ein nützliches Werkzeug der Sprache sein, um neue Phänomene mit bekannten Begriffen zu bezeichnen. Sie können allerdings auch missbräuchlich verwendet werden.

Eine weitere Quelle für den fehlerhaften Gebrauch von Begriffen ist die unkritische Verwendung von abstrakten Allgemeinbegriffen. Wie bereits dargestellt wurde, sind alle Begriffe – außer den Eigennamen – abstrakt, da sie nicht auf konkrete Tatbestände, sondern auf abstrakte Regeln verweisen. Aber sie erwecken allzu leicht den Anschein, dass sie sich auf eine eigene Realität beziehen. So wurde früher angenommen, dass die Allgemeinbegriffe einer eigenständigen geistigen Sphäre (z.B. die Ideen von Platon) angehören. Dieses Problem besteht insbesondere bei den angeblich geistigen Instanzen wie Vernunft, Verstand, Seele, Phantasie, Wille, Einbildungskraft, Selbst, Gewissen u.Ä., die wie selbständig handelnde Personen behandelt werden. So wurde z.B. – wie oben bereits erwähnt – der Begriff »Seele« gebildet, um das mentale Innenleben zu entschlüsseln. Aber nachdem vergessen wurde, dass sich dieser Begriff vom Begriff des Atems ableitet, und die Seele als eine selbständige innere Instanz angesehen wurde, hat er seine eindeutige Bestimmung verloren und konnte nun beliebig interpretiert werden. So konnte z.B. die Vorstellung von der Unsterblichkeit der Seele gebildet werden. Die Benutzung von abstrakten Begriffen führt zu einer Mystifikation des mentalen Innenlebens: Natürliche Prozesse werden zu mysteriösen eigenaktiven Prozessen überhöht. So wird z.B. das Denken zur Ausdrucksform des selbständigen Geistes mystifiziert.

Auch der Allgemeinbegriff der Regel suggeriert, dass ihm etwas real Existierendes entspricht. Es entstehen dann z.B. die folgenden Fragen: Wie bestimmt eine Regel ihre korrekte Anwendung? oder: Wie werden Regeln befolgt? Solche Fragen sind unsinnig, da Regeln nicht als platonische Ideen oder mentale Entitäten aufgefasst werden dürfen, sondern der Begriff der Regel nur dafür gebildet worden ist, um über die komplexen Prozesse bei der Organisation von regelmäßigen Bewegungen sprechen zu können.

Das menschliche Denken hat offensichtlich die Neigung, hinter allen Prozessen eine personale Absicht anzunehmen. Da die Menschen im Handeln die Erfahrung machen, dass sie sich von Absichten leiten lassen, wird unterstellt, dass die ganze Welt nach diesem Muster funktioniert. Dieses Denken hat historisch den Animismus und die Überzeugung von der Existenz des Geistes geprägt. Es wird meist als Anthropomorphismus bezeichnet. In dieser Arbeit wird es als personalisierendes Denken bezeichnet, da sein Grundzug darin besteht, hinter unbekannten Prozessen agierende Personen anzunehmen.

Für die traditionellen Sprachtheorien ist es ein ungelöstes Problem, wie die Entstehung von abstrakten Begriffen, die sich nicht auf etwas sinnlich Wahrnehmbares beziehen, zu erklären ist. Die üblichen Erklärungen, dass die abstrakten Allgemeinbegriffe entweder angeboren sind oder ein Produkt des Denkens seien, sind wenig befriedigend. Nach den bisherigen Überlegungen ist davon auszugehen, dass neue Begriffe das Bedürfnis voraussetzen, eine bestimmte Fähigkeit oder ein bestimmtes Objekt zu identifizieren. Wenn z.B. die Frage gestellt wird, wie begründet werden kann, welche Sätze wahr sind, liegt es nahe, diese Überlegungen unter dem Begriff »Wahrheit« zusammenzufassen. Der abstrakte Begriff der Wahrheit ist demnach nur ein Behälter für das methodische Vorgehen, um eine Aussage als wahr zu bestimmen. Wenn dies vergessen wird, entsteht der Anschein, dass dem Begriff eine eigene Wirklichkeit entspricht. Die endlose philosophische Diskussion um den Begriff der Wahrheit legt davon Zeugnis ab. Als ein weiteres Beispiel soll der Begriff »Geist« erläutert werden: Er ist ursprünglich gebildet worden, um die verschiedenen Aktivitäten umfassend zu bezeichnen, die beim Denken stattfinden. Wie in meinem Buch »Atem und Glück« ausführlich dargestellt wurde, leitet sich dieser Begriff ursprünglich vom Begriff des Atems ab. Als zum ersten Mal das Bedürfnis entstand, für die unterschiedlichen Aktivitäten des Denkens einen einheitlichen Begriff zu verwenden, wurde der Begriff des Atems verwendet, weil darin deren Gemeinsames gesehen wurde. Später wurde der Begriff des Atems mit dem Begriff der Seele und dann mit dem Begriff des Geistes übersetzt. Der Begriff des Geistes ist zunächst nicht mehr als ein Zeichen für die inneren Aktivitäten, die beim Denken ablaufen. Es wäre deshalb falsch, dem Geist eine eigene Wirklichkeit zuzuschreiben.

Für alle abstrakten Begriffe wie Erkenntnis, Seele, Ich, Wille, Verstand, Einbildungskraft, Freiheit, Ideen u.Ä. ließe sich analog zeigen, dass es zweckmäßig ist, für bestimmte innere Prozesse eigene Begriffe einzusetzen. Möglicherweise hatten solche Begriffe am Anfang ihrer Entstehung eine rein denkpraktische Bedeutung, da mit einem einfachen Kürzel auf komplexe Bewegungsprozesse hingewiesen werden kann. Wenn ihre denkpraktische Funktion vergessen wird, entsteht die Gefahr, den Begriffen eine eigene Wirklichkeit zuzuschreiben oder sie wie innere Instanzen zu behandeln. Die Weitergabe solcher Begriffe an die nächste Generation war deshalb immer mit der Aufgabe verbunden, ihren besonderen Status in Erinnerung zu behalten. Aber es gab offenbar in der Geschichte viele Gründe, die abstrakten Begriffe als eigene Wesenheiten zu betrachten.

Die Verwendung von abstrakten Begriffen kann auch leicht in die Irre führen, da sie stets ein bestimmtes Verständnis der Realität enthalten. So wird z.B. bei der Analyse des menschlichen Denkens und Verhaltens der Begriff der Freiheit regelmäßig im Gegensatz zur kausalen Notwendigkeit benutzt. Unter wird begründet, dass der Begriff der Freiheit für die Analyse des Denkens völlig ungeeignet ist.85 Wenn dennoch unkritisch an ihm festgehalten wird, führt er zu problematischen Denkergebnissen. Bevor solche abstrakten Begriffe gebildet wurden, gab es nicht die Gefahr, dass sich die Menschen mit Theorien, in denen abstrakte Begriffe eine führende Rolle spielen, überidentifizieren oder sich sogar im Recht fühlen, wenn sie im Namen dieser Theorien andere Menschen töten oder versklaven.

Die abstrakten Allgemeinbegriffe wie Wahrheit, Gerechtigkeit, Moral, Sinn oder Sein müssen von jedem Menschen mühsam angeeignet werden, da sich ihre Bedeutung nicht durch einen Hinweis auf etwas Beobachtbares erklären lässt. Da sich deren Gehalt historisch wandelt, steht man bei ihrem Gebrauch vor dem Problem, für welche Variante der vielfältig tradierten Bedeutungen man sich entscheidet. Auf der Basis einer historischen Begriffsanalyse gelangt man vielleicht sogar zur Einsicht, dass sich hier Fragen verselbständigt haben, weil vergessen wurde, dass diese Allgemeinbegriffe ursprünglich eine denkpraktische Bedeutung hatten. Es könnte sich dann zeigen, dass sie ihre Funktion verloren haben, wie dies unten z.B. für den Begriff der Wahrheit und des Ichs gezeigt wird.86

3.7. Kritik der Abbildtheorie der Begriffe

»Nichts trägt seine Bedeutung in sich. Der Sinn aller Dinge liegt in dem unsichtbaren Band, das sie miteinander verknüpft.« (Andreas Tenzer)

Nach dem klassischen Sprachverständnis bilden die sprachlichen Ausdrücke relevante Ausschnitte der Welt ab.87 Der Sprache wird das Vermögen zugesprochen, ein korrektes Abbild der Realität zu liefern. Häufig werden dafür auch die Metaphern verwendet, dass sich die Welt in der Sprache spiegelt88 oder dass die Welt mit der Sprache erschlossen wird. Diese Auffassung gilt sowohl für die Vertreter der subjektivistischen Bedeutungstheorie, nach der sich die Begriffe auf die inneren Vorstellungen der Menschen von der Welt beziehen, als auch für die Vertreter der realistischen Bedeutungstheorie, die die Bedeutung der Begriffe aus ihrem direkten Bezug zu den Gegenständen der Welt ableiten. Daraus ergibt sich die Frage, wie es möglich ist, dass mit der Sprache auf etwas Bezug genommen werden kann, das sich außerhalb der Sprache befindet. Denn wenn die Objekte immer schon durch den Filter der Sprache wahrgenommen werden, kann man nie sicher sein, ob man wirklich Kontakt zu den Objekten gefunden hat. Für dieses Problem konnte die Sprachphilosophie bisher keine befriedigende Antwort anbieten.

Die Abbildtheorie wirft auch das Problem auf, dass implizit unterstellt wird, dass das Abgebildete existiert. Wenn z.B. von den Eigenschaften eines Objektes geredet wird, geht man selbstverständlich davon aus, dass das Objekt auch existiert. Es wird dabei leicht vergessen, dass die Objekte die Eigenschaften gar nicht besitzen, sondern dass sie ihnen bloß von den Menschen zugeschrieben werden. Dies ist beim praktischen Handeln unproblematisch. Wenn aber einem anderen Menschen Eigenschaften angeheftet werden, kann das zu dysfunktionalen Verhalten führen, wenn man die Bezeichnung wörtlich nimmt. Wenn z.B. ein Kind als dumm bezeichnet wird, weil es bestimmte altersgemäße Fähigkeiten noch nicht beherrscht, wird allzu schnell eine gezielte und intensive Förderung aufgegeben. Noch kritischer wird es, wenn man sich selbst mit bestimmten Eigenschaften definiert und daraus seine Identität ableitet. Wenn dagegen klar ist, dass sich Begriffe stets auf Bewegungen bzw. Verhaltensweisen beziehen, kann die Illusion der Sprache, dass das Bezeichnete auch tatsächlich existiert und dass sie ein Abbild davon liefert, vermieden werden.

Im Allgemeinen wird die Bemühung, Erfahrungen in Begriffe zu fassen, mit einer Übersetzung von einer Fremd- in die Muttersprache verglichen. Allerdings ist die Metapher der Übersetzung irreführend. Bei einer Übersetzung wird ein Begriff durch einen anderen Begriff mit gleicher Bedeutung ausgetauscht. Bei der Verbegrifflichung von Erfahrungswissen geht es hingegen darum, etwas Nichtbegriffliches mit einem Begriff zu bezeichnen. Wie bereits ausgeführt wurde, können verbale Beschreibungen nie mehr als grobe Andeutungen sein, die ohnehin nur verstanden werden, wenn der andere die angesprochenen Regeln kennt und bereit ist, die deren Handlungsanweisungen innerlich nachzuvollziehen.

Zwischenmenschliche Handlungen kann die Sprache relativ genau wiedergeben, da Aktionen wie Geben, Nehmen, Versprechen, Lügen u.Ä. relativ einfache Regeln sind. Aber bei komplexen Bewegungen, wie sie für den Umgang mit Werkzeugen, Geräten u.Ä. oder sportlichen Bewegungen typisch sind, stößt man sofort an die Grenze der Sprache. Wenn z.B. versucht wird, einem anderen eine komplexe Bewegung wie das Kraulen zu erklären, stößt man auf die Schwierigkeit, Bewegungen angemessen in Begriffen auszudrücken. Das liegt daran, dass man einerseits mit den verfügbaren Begriffen nur auf grobe Merkmale von komplexen Bewegungen hinweisen kann und insbesondere das Zusammenwirken der Einzelbewegungen nur unzureichend deutlich gemacht werden kann, und dass man sich andererseits meistens gar nicht bewusst ist, aus welchen Einzelbewegungen sich die Gesamtbewegung zusammensetzt. Verbale Beschreibungen bleiben deshalb zwangsläufig hinter der Komplexität der Bewegungen zurück. Da die Sprache aber nicht den Zweck hat, Sachverhalte exakt abzubilden, wird dies nicht als Nachteil empfunden. In der Regel ist es unvermeidlich, dass man jemandem die Bewegung vormacht. Dann kann er intuitiv deren Regeln erfassen, evtl. unterstützt durch einige gezielte verbale Hinweise.

Bei der hier entwickelten These, dass Begriffe auf Regeln verweisen, bekommt die Frage nach dem Bezug der Sätze zur Realität eine andere Bedeutung. Entscheidend sind jetzt die Fragen, welche Regeln mit den Begriffen assoziiert werden und ob diese Assoziationen geeignet sind, gemeinsames kommunikatives Handeln erfolgreich anzuleiten. Weiterhin ist zu fragen, ob die Regeln dem kulturellen Entwicklungsstand entsprechen und ob die anderen Menschen, in deren Anwesenheit die Begriffe benutzt werden, gleichartige Assoziationen mit den Begriffen verbinden. Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, werden sich die Begriffe im Handeln und in der Kommunikation bewähren. Ihr Bezug zur Realität besteht also darin, dass sie effiziente Kooperation ermöglichen. Anders ausgedrückt: Es wird von Sätzen erwartet, dass sie für die Kommunikation geeignet sind und dem gemeinsamen Handeln eine Orientierung geben.

Wenn also mit Begriffen etwas beschrieben wird, geht es darum, welche Bewegungen ausgeführt werden sollen. Handlungsrelevante Beschreibungen beziehen sich immer auf Handlungen, die etwas bei Objekten oder anderen Personen bewirken sollen. Reine Aussagesätze (»Die Rose ist rot«) sind ein sprachlicher Grenzfall. Eigentlich sind solche Aussagesätze nur dann von Interesse, wenn sie indirekt eine Handlung andeuten, wie z.B. dass man andere Menschen mit roten Rosen erfreuen kann. Die Richtigkeit einer Beschreibung bemisst sich also nicht daran, ob sie exakt die Realität wiedergibt, sondern ob mit den angesprochenen Bewegungen die beabsichtigten Wirkungen erzielt werden können. Dabei wird immer schon unterstellt, dass man die angesprochenen Regeln kennt und beherrscht. Deshalb genügen meistens grobe Andeutungen. So bezieht sich der Begriff »Fahrradfahren« auf einen hochkomplexen Bewegungsablauf, der nie in all seinen Aspekten sprachlich abgebildet werden kann.

Auch der philosophische Anspruch, mit dem begrifflichen Denken das Besondere der Dinge zu erfassen (z.B. Theodor W. Adorno), ist grundsätzlich nicht einlösbar. Adornos Überzeugung, dass die Begriffe den Objekten Gewalt antun, hängt offensichtlich mit der problematischen Überzeugung zusammen, dass sie die Aufgabe haben, Objekte abzubilden und zu deren Erkenntnis beizutragen. Nach den bisherigen Überlegungen erübrigt sich die Frage, wie die Wirklichkeit in den Begriffen repräsentiert wird. Begriffe sind nichts mehr als denkpraktische Abkürzungen für Bewegungsprozesse, ohne Anspruch, diese exakt abzubilden.

3.8. Magie der Wörter

»Ein böses Wort läuft bis ans Ende der Welt.« (Wilhelm Busch)

Begriffe können ihre Kommunikationsfunktion nur erfüllen, wenn sie von anderen Menschen geteilt werden. Bis ins Mittelalter wurde das Problem, warum die Menschen sich mit Begriffen verständigen können, damit gelöst, dass die Begriffe als angeboren betrachtet wurden. Gegenwärtig herrscht die Auffassung vor, dass die Begriffe durch einen Akt der Vereinbarung oder Übereinkunft entstanden sind. Beide Auffassungen sind falsch. Die Behauptung, dass die Begriffe angeboren sind, kann prinzipiell nicht begründet werden. Auf diese spekulative These kann leicht verzichtet werden, wenn die Entstehung der Begriffe plausibel begründet werden kann. Auch die Vereinbarungsthese ist problematisch, da sie bereits eine entwickelte Sprachfähigkeit voraussetzt. So wie bei taubstummen Menschen neu entwickelte Gebärden von anderen imitiert werden, wenn sie intuitiv verstanden werden, so gehen neue Begriffe in die kommunikative Praxis ein. Es besteht kein Bedarf an einer Vereinbarung, weil Begriffe grundsätzlich willkürlich sind, d.h. auch beliebig anders gefasst werden könnten. Begriffe werden nachgeahmt, weil erfahren wird, dass der andere damit sein Handeln und seine Sicht der Dinge sinnvoll mitteilen kann. Natürlich lehnen sich neue Begriffe stets an bereits vorhandene Begriffe an. So wurde das Wort »Begriff« einfach von dem Verb »begreifen« abgeleitet, da so die Funktion der Begriffe am besten umschrieben werden kann. Da die meisten Substantive aus anderen Begriffen, meist Verben, abgeleitet wurden, sind sie nicht willkürlich. Wenn sich neue Begriffe gut in das vorhandene Netzwerk der Sprache einfügen, besteht kein Grund, sie nicht zu imitieren. Schließlich kommt es nicht auf die Gestalt, sondern auf die transportierte Bedeutung an.

Es werden natürlich nur Begriffe für Objekte und Aktivitäten gebildet, die für die Sprachgemeinschaft bedeutsam sind. So hängt es z.B. von der Praxis ab, für welche Farbnuancen Begriffe gebildet werden. Es ist deshalb verständlich, dass Eskimos nicht nur einen Begriff für die Farbe Weiß, sondern mehrere Begriffe für die verschiedenen Weißschattierungen haben, weil die verschiedenen Qualitäten des Schnees, die an ihrer Farbe zu erkennen sind, für sie von großer praktischer Bedeutung sind. Insofern sind die Begriffe einer Sprachgemeinschaft immer auch der Spiegel ihrer Kultur.

Neue Begriffe entstehen, wenn neue Objekte und neue Aktivitäten erfunden werden (z.B. die Uhr) oder wenn es nützlich ist, zwischen verschiedenen Objekten genau zu unterscheiden. Solange man nur das Holz von Eichen und Buchen verwendet hatte, bestand kein Bedürfnis, zwischen Erlen und Espen genau zu unterscheiden. Wenn aber auch deren Holz verwendet wird, muss die Wahrnehmung dieser Bäume geschärft und neue Begriffe dafür eingeführt werden. Es wäre deshalb falsch zu sagen, dass man erst die Worte lernen muss, um diese Bäume genau erkennen zu können und dass die Begriffe die Wahrnehmung prägen. Vielmehr setzt die Verwendung der Begriffe voraus, dass bereits genaue Unterscheidungen vorgenommen wurden.

Da alle Wörter mit spezifischen Bewegungsregeln verknüpft sind, rufen sie direkt oder indirekt zum Handeln auf. Das gilt nicht nur für die Verben, sondern auch für Objekte und Eigenschaften. Wenn z.B. ein Wanderer zum anderen »Baum« sagt, nachdem sie lange Zeit in glühender Sonne gelaufen sind, so will er damit sagen: »Lass uns zu dem Baum gehen, um dort im Schatten eine Pause zu machen!«. Wenn Wörter als überzeugende Antworten auf vorhandene Probleme erlebt werden, haben sie in sich die Kraft, konkretes Handeln anzustoßen. Dies gilt umso mehr, je mehr sie von Personen geäußert werden, die als glaubwürdig und überzeugend erlebt werden.

Die aktivierende Kraft der Wörter lässt sich besser verstehen, wenn man bedenkt, dass die Gehirnforschung gezeigt hat, dass bei der Wahrnehmung von Bewegungen die gleichen neuronalen Gehirnareale aktiviert werden, die zuständig sind, wenn die Bewegungen direkt ausgeführt werden.89 Bewegungen beobachten ist aus der Sicht des Gehirns nichts anderes, als sie denken und probeweisen ausführen. Das ist damit zu erklären, dass wahrgenommene Bewegungen spontan innerlich nachvollzogen werden müssen, damit sie verstanden werden können. Da Begriffe an Bewegungsprozesse denken lassen, lösen sie spontan innere Bewegungsprozesse aus und rufen damit direkt oder indirekt zum Handeln auf. Das erklärt die angebliche Magie der Wörter.

Aus der Erfahrung, dass mit Begriffen das Handeln anderer Menschen angestoßen werden kann, wurde die Überzeugung abgeleitet, dass mit Begriffen auch auf transzendente Wesen (Gott, Heilige, Engel u.Ä.) Einfluss genommen werden kann. Der Glaube an die Kraft des Wortes drückt sich in Gebeten und Flüchen aus. Das Gebet ist von der Überzeugung getragen, dass die bloße Nennung des Namens eines transzendenten Wesens ausreicht, um deren Hilfe zu erbitten. Der Fluch soll bei anderen Menschen Schaden oder Unglück bewirken. Er kann natürlich nur wirksam sein, wenn der Verfluchte von dem Fluch weiß und von seiner Wirkmächtigkeit überzeugt ist.

Auch die Beichte in der katholischen Kirche zeugt vom Vertrauen in die Kraft des Wortes. Bereits der Bericht über die eigenen moralischen Verfehlungen kann eine seelische Erleichterung bewirken. Entscheidend für die Wirkung der Beichte ist aber sicherlich die mündliche Vergebung durch den Priester, da man dadurch von persönlicher Schuld freigesprochen wird. Ebenso kann ein Segen, der im Lateinischen bezeichnenderweise »bene dictio« (das gut Besprochene) heißt, die persönlichen Kräfte stärken.

Vor der Entwicklung der Sprache haben die Menschen sicherlich die Aufmerksamkeit ihrer Mitmenschen auf etwas gelenkt, indem sie direkt mit Gesten darauf gezeigt haben. Die Begriffe haben diese Funktion übernommen. Sie sind aber weit mächtiger als die Gesten, da sie nicht an das in der Gegenwart Vorfindliche gebunden sind, sondern auch auf Vergangenes, Zukünftiges, Erdachtes u.a. verweisen können. Mit der Sprache kann deshalb die Aufmerksamkeit auf etwas Bestimmtes gelenkt und zugleich von etwas anderem abgelenkt werden. Das machen sich Zauberkünstler, Politiker u.a. zur Manipulation ihrer Zuhörer und Zuschauer zunutze.

Im naiven Verständnis der Sprache wird eine Beleidigung oder Demütigung wörtlich genommen. So neigt man z.B. dazu, sich selbst als dumm zu halten, wenn der Satz »Du bist dumm« an einen gerichtet wird. Ist man sich aber der Funktion der Begriffe bewusst, sieht man hinter den Worten die Absicht, die der andere erzielen will. So kann die Beleidigung als Ausdruck der Absicht des anderen verstanden werden, sich als klüger darzustellen. Die Worte verlieren deshalb in dem Moment ihre magische Wirkung, wie die Funktion der Begriffe durchschaut wird.

Psychotherapie scheint eine Heilmethode zu sein, die mit der Heilkraft der Sprache arbeitet. Sicherlich kann durch Sprache geheilt werden, was durch Sprache verletzt wurde. Emotionale Verletzungen, die durch verbale Demütigungen (»Du bist zu dumm«) u.Ä. entstanden sind, können in der Regel durch eine »Redekur« (Freud) geheilt werden. Das therapeutische Gespräch kann wirksam sein, weil es hilft, Situationen zu vergegenwärtigen, in denen man von verletzenden Reizen überwältigt wurde und ohnmächtig war, darauf emotional, d.h. handelnd zu reagieren. Im therapeutischen Gespräch wird das Handeln, das in der traumatischen Situation unterdrückt wurde, angeregt, so dass jetzt Gefühle der Wut, Trauer oder Scham ausgedrückt werden können. Die Worte allein helfen also nicht, sie werden nur dazu genutzt, den Patient anzuregen, früher vermiedenes Handeln nachzuholen bzw. den früher abgebrochenen Dialog fortzuführen, so dass die damit verbundene Verletzung ausheilen kann und problemgerechtes Handeln wieder möglich wird. Aussicht auf Heilung besteht also nur, wenn es den Wörtern gelingt, neues Handeln anzustoßen. So können dysfunktionale Verhaltensgewohnheiten abgelegt und ein neues Selbstverständnis gefunden werden. Entscheidend ist, dass das Gefühl der Hilflosigkeit, das durch das traumatische Ereignis ausgelöst worden ist, nicht chronisch wird. Das setzt aber voraus, dass das Gefühl der Hilflosigkeit mit erfolgreichem Handeln überwunden wird.

Bei allen emotionalen Verletzungen, die durch Verlassenwerden, Unfall, Katastrophen, sexuellen Missbrauch, also bei Ereignissen, die nicht durch Sprache vermittelt sind, verursacht wurden, stößt die Sprache an ihre Grenzen. Sprache ist unentbehrlich, um den Klienten anzuregen, sich die traumatische Situation in allen Aspekten noch einmal zu vergegenwärtigen. Ob aber die damaligen Gefühle der Hilflosigkeit, des Verlassenseins, der Trauer, der Demütigung u.Ä. ausgedrückt werden können, darauf hat die Sprache keinen Einfluss. Wichtiger als Einsicht sind die Erfahrung des Verstandenwerdens, des Vertrauens und der Geborgenheit und die Stimulierung der Hoffnung, die Verletzungen aus eigener Kraft verarbeiten zu können.

Diese Überlegungen sollten zeigen, dass die Magie der Wörter nichts Geheimnisvolles ist, sondern damit erklärt werden kann, dass das Verstehen von Begriffen verlangt, dass man die Bewegungsmuster, die den Begriffen zugrunde liegen, innerlich nachvollziehen muss. Kann damit auch die These erklärt werden, dass mit der Sprache Gewalt ausgeübt werden kann?

3.9. Gewalt in der Sprache

»Die Gewalt einer Sprache ist nicht, daß sie das Fremde abweist, sondern daß sie es verschlingt.« (Johann Wolfgang von Goethe)

Sprechen gilt im Allgemeinen als ein Mittel, anderen Menschen Gedanken mitzuteilen. Das Verständnis der Sprache als einem neutralen Kommunikationsmittel wird aber dem Sprechen nicht gerecht. Es war eine bahnbrechende Entdeckung von Ludwig Wittgenstein, dass sich die Sprache nicht in der Beschreibung von Sachverhalten erschöpft, sondern dass das Sprechen oft ein direktes Handeln sein kann.

Wenn kleine Kindern Sprechen lernen, wird die Sprache zunächst ausschließlich als ein Mittel erfahren, andere Menschen damit zu beeinflussen und sie dazu zu bewegen, die eigenen Wünsche zu erfüllen. Sprache wird also zunächst als ein Machtmittel wahrgenommen. Mit der Sprache kann man Einfluss auf andere Menschen zu nehmen. Man kann sie auffordern, etwas zu tun, man kann ihnen Befehle erteilen, etwas versprechen oder Trost zusprechen. Diese frühen Erfahrungen gehen in das Sprachverständnis der Erwachsenen ein. Auch das Verhältnis zu sich selbst wird dadurch verändert. So kann z.B. mit Jammern der innere seelische Druck gelindert werden. Jammern zeigt, dass man unfähig ist, selbständig zu handeln und sich stattdessen beklagt. Die Wirkung ist, dass man sich zum Opfer macht und das Handeln von anderen erwartet. Solche sprachlich fundierten Handlungen bedeuten, dass das Sprechen nicht nur ein Handeln ist, sondern auch das Handeln erweitert. Sicherlich hätten sich die komplexen Formen der menschlichen Kooperation, wie z.B. Verträge abschließen oder soziale Herrschaft ausüben, ohne diese neuen sprachlich bedingten Formen des Handelns nicht entwickeln können.

Die Sprache eignet sich aber auch dafür, andere Menschen zu beleidigen oder zu demütigen, sie als dumm oder unmoralisch abzuwerten, ihren Wert für die Gemeinschaft infrage zu stellen, ihnen Strafen anzudrohen u.Ä. Die Sprache ist so eine Quelle von alltäglichen emotionalen Verletzungen geworden, die insbesondere junge Menschen auf Dauer schädigen können, weil sie noch nicht gelernt haben, sich davon abzugrenzen.

Zum Verhältnis zwischen Sprache und Gewalt gibt es widersprüchliche Theorien. Einerseits wird behauptet, dass Sprache und Gewalt unvereinbar seien, da die Sprache die Chance eröffne, Konflikte gewaltfrei zu lösen. Andererseits wird behauptet, dass die Sprache mit Gewalt kontaminiert sei. So verfolgt die Diskurstheorie von Michel Foucault die Leitidee, »dass in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird.« 90 Im Gespräch werden die Zeichen nicht nur zur Bezeichnung, sondern auch zur Kontrolle von anderen Menschen benutzt. Die Aufgabe der Diskursanalyse sei es, die Machteffekte des Sprechens zu untersuchen.

Zur Beurteilung des Verhältnisses von Sprache und Gewalt ist davon auszugehen, dass die Sprache von Anfang an in soziale Beziehungen eingebettet ist. Die Sprache wird deshalb zwangsläufig von den emotionalen Bewertungen geprägt, die die sozialen Beziehungen charakterisieren. Wenn der Umgangsstil durch feindselige Abwehr der anderen geprägt wird, kann davon ausgegangen werden, dass die Sprache verstärkt für Demütigungen und Abwertungen benutzt wird. In einem Klima des respektvollen Miteinanders hingegen wird die Sprache ohne Beleidigungen und Demütigungen auskommen. Die Sprache ist immer nur so gewaltförmig, wie es die sozialen Beziehungen sind. Insofern wäre es falsch, von einer inhärenten Tendenz der Sprache zur Gewalt oder zur Gewaltlosigkeit auszugehen. Die Idee, eine gewaltfreie Sprache zu fordern, ist deshalb irrig.91

Ohne Zweifel hat die Sprache die Herrschaft von Menschen über Menschen erleichtert. Denn erst die Sprache, insbesondere die Schriftsprache hat die Verwaltung von großen Herrschaftsgebieten möglich gemacht. Nur mit Hilfe der Schriftsprache konnten die Befehle des Königs über große räumliche Distanzen verteilt und ihre Ausführung kontrolliert werden. Außerdem konnten seitdem politische Machthaber die Sprache zur Legitimation ihrer Herrschaft nutzen, indem sie Weltanschauungen, die ihre Macht stützen, mit Hilfe aller Informationskanäle in die Köpfe der Menschen einpflanzen. Politische Handlungen, die bestimmte Bevölkerungsgruppen benachteiligen, können so mit scheinbar allgemeingültigen Argumenten begründet werden. Außerdem können Handlungen, die sich gegen die politische Ordnung richten, leichter diskriminiert werden. Die politische Kontrolle durch die Sprache ist wirksam, weil die Menschen aus Angst vor Strafen dazu neigen, sich mit den Argumenten der Herrschenden zu identifizieren. Die Politiker brauchen deshalb seit Erfindung der Sprache weniger physische Machtmittel einzusetzen, um Gehorsam zu erzwingen.

Die Frage, warum die Menschen überhaupt mit symbolischen Mitteln verletzt werden können, ist damit zu erklären, dass die Menschen dazu neigen, den anderen von dessen beabsichtigtem Handeln abzubringen, wenn es im Konflikt mit den eigenen Absichten steht. Wenn rationale Argumente nichts bewirken, können Beleidigungen oder Demütigungen als wirksames Druckmittel eingesetzt werden. Sie werden als Verletzung erfahren, weil damit die Zugehörigkeit zur Gruppe infrage gestellt wird. Auch körperliche Verletzungen, im Extremfall die Tötung, wirken nicht primär wegen der zugefügten körperlichen Schmerzen, sondern wegen der Negierung der Gruppenzugehörigkeit. Da die Menschen ohne die fraglos anerkannte Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe nicht überleben können, sind symbolische Verletzungen ein wirksames Druckmittel, um das Handeln anderer zu beeinflussen.

Es ist zunächst nur eine Hypothese, dass die Sprache ein zentraler Katalysator in der sozialen Entwicklung der Menschen ist, bei der die kleinen überschaubaren Stammesgruppen, in denen die Menschen vor Bildung von Herrschaftssystemen lebten, zerstört wurden und die Menschen gezwungen wurden, in komplexen Herrschaftsverbänden mit sozialer und materieller Ungleichheit zu leben. In materieller Hinsicht haben die Menschen ohne Zweifel davon profitiert. Ob sie auch glücklicher geworden sind, ist eine offene Frage.

3.10. Zusammenfassung

»Die Sprache ist natürlich im ersten Moment immer ein Hindernis für die Verständigung.« (Marcel Marceau)

Die in diesem Kapitel vorgebrachten Argumente sprechen dafür, dass die Begriffe besser verstanden werden können, wenn ihre Bedeutung daraus abgeleitet wird, dass sie auf Bewegungsregeln verweisen. Es wurde gezeigt, dass dies für fast alle Begriffe gilt. Die Bausteine des Denkens sind demnach nicht innere Bilder, auch nicht mentale Konzepte oder Ideen, sondern Regeln. Das erklärt, warum die Menschen bereits denken konnten, bevor die verbale Sprache entwickelt wurde. Die weit verbreitete Überzeugung, dass das Denken erst durch die Sprache entstanden ist, muss deshalb infrage gestellt werden.

Die verbreitete Überzeugung, dass die Sprache die Welt ordnet, dass sie also festlegt, wie sie erfahren wird, wurde mit dem Argument widerlegt, dass sich in der Sprache nur die Bedeutungen spiegeln, die sich in der kulturelle Praxis herausgebildet haben. Im gemeinsamen Handeln werden den Objekten bestimmte Bedeutungen zugewiesen, abhängig davon, welcher Gebrauch von den Objekten gemacht wird. Auf diese Bedeutungen wird in den Begriffen Bezug genommen.

Der unmittelbare Bezug aller Begriffe zum Handeln ist im Laufe der Geschichte weitgehend verdrängt worden. Immer mehr Begriffe wurden geschaffen, die sich nicht mehr direkt auf sinnlich Wahrgenommenes beziehen. Eine pragmatische Sprachtheorie muss deshalb die Sprache als menschliche Erfindung rekonstruieren. Nur wenn immer wieder der Frage nachgegangen wird, wie die Begriffe entstanden sind und wie sie von den sozialen Verhältnissen geprägt wurden, kann vermieden werden, dass die Begriffe mit den Objekten gleichgesetzt werden. Außerdem wird nicht so schnell vergessen, dass sich in den Begriffen eine bestimmte kulturelle Praxis spiegelt.

In den bisherigen Sprachtheorien wurde zu wenig beachtet, dass Sprache auch missbräuchlich benutzt werden kann. Das ist der Fall, wenn bei abstrakten Begriffen und bei Metaphern vergessen wird, welche denkpraktische Funktion sie für das Denken haben und wenn sie mit der Wirklichkeit gleichgesetzt werden.92 Die unscharfen abstrakten Begriffe wie Vernunft, Geist, Seele u.Ä. haben sich als sehr nützlich erwiesen, um soziale Unterdrückung damit zu rechtfertigen. Der Missbrauch der Sprache zur Legitimation von egoistischen Interessen hat die eigentlich erforderliche Tradierung eines kritischen Verständnisses der Sprache behindert.

Die vorgeschlagene Begriffstheorie entzieht sich dem Dualismus von Begriffsrealismus und Begriffsnominalismus, der die Philosophen über Jahrhunderte beschäftigt hat. Die Position des Realismus, für den die Begriffe die Wirklichkeit repräsentieren, deckte sich mit den Interessen der weltlichen und religiösen Machthaber, da damit soziale Herrschaft legitimiert werden kann. Die nominalistische Kritik, die behauptet, dass Begriffe bloße Zeichen sind, blieb deshalb lange Zeit wirkungslos. Erst in der Neuzeit hat sich der Nominalismus durchgesetzt. Die vorliegende Analyse zeigt, dass Begriffe zwar Zeichen sind, dass sie sich aber nicht auf die Wirklichkeit als solche beziehen, sondern auf Regeln von Bewegungen. Dabei ist der Bezug des Zeichens zu seinem Inhalt willkürlich. Deshalb ist es für jemanden, der eine Sprache nicht kennt, unmöglich, aus einem unbekannten Zeichen seine Bedeutung abzuleiten.

Die Sprache lässt sich weder rein biologisch noch rein intellektuell verstehen. Beide Begriffe wurden vermieden, da sie dem traditionellen Dualismus von Körper und Geist verhaftet sind. In der hier entwickelten pragmatischen Sprachtheorie ist die Sprache nicht aktiver oder naturalisierter Geist, sondern lediglich ein Werkzeug der wechselseitigen Verständigung. Die Menschen zeichnen sich dadurch aus, dass sie mit gemeinsamen Aktivitäten gemeinsame Ziele anstreben. Ihre Kommunikationsmittel wurden primär dazu entwickelt, sich wechselseitig zu unterstützen und zu helfen. Die verbale Sprache ist möglich geworden, weil sie das dialogische Muster des Handelns zum Vorbild nehmen konnte. Es wird sich zeigen, dass mit diesem theoretischen Ansatz die immer noch offene Diskussion um das Verhältnis von Körper und Geist, Natur und Kultur endlich zu Ende geführt werden kann.93

Die Überlegungen in diesem Kapitel zeigen, dass der Regelbegriff sowohl für die Erklärung der Bedeutung von Begriffen als auch für die Entstehung der Sprache äußerst fruchtbar ist. Da Begriffe als körperlich produzierte Laute selbst auf Bewegungsregeln basieren, sind sie im Grunde eine Verkettung von zwei verschiedenen Regeln. Die Sprache kann damit als eine komplexe motorische Fähigkeit verstanden werden. Alle früheren Konzepte, die die Sprache als Produkt des Geistes verstehen, werden damit infrage gestellt. Es wurde gezeigt, dass der Begriff des Geistes sehr kritisch benutzt werden muss, da er als abstrakter Allgemeinbegriff nur eine denkpraktische Funktion hat.

Im folgenden Kapitel soll geprüft werden, welche Konsequenzen sich aus der entwickelten pragmatischen Sprachtheorie für die Theorie des Denkens ergeben. Die Grundidee ist, dass auch das Denken aus der Perspektive des Handelns betrachtet werden muss. Dies scheint möglich zu sein, da die Bausteine des Denkens selbst Bewegungsregeln sind.

4. Die Regeln des Denkens

»Wenn wir alle Handlungen unterließen, für den wird den Grund nicht kennen oder die wir nicht rechtfertigen können, wären wir wahrscheinlich bald tot.« (Friedrich A. von Hayek)

Aus den bisherigen Überlegungen geht hervor, dass die Elemente des Denkens aus Bewegungsregeln bestehen. Daraus kann die Hypothese abgeleitet werden, dass das Denken auf die Weise arbeitet, dass erlernte Regeln innerlich miteinander verknüpft werden. Probleme werden demnach auf die Weise gelöst, dass dafür geeignete Regeln ausgewählt und miteinander verknüpft werden. Aus dieser Sicht kann das Denken als eine Variante des normalen körperlichen Vermögens begriffen werden, zur Lösung von Aufgaben geschickt verschiedene Bewegungen zu koordinieren. Der Unterschied zwischen dem Versuch, über einen breiten Bach zu springen, eine Denksportaufgabe zu lösen oder ein philosophisches Problem durchzudenken, wäre dann nur noch graduell.

Wenn die Elemente der Sprache Bewegungsregeln sind, kann vermutet werden, dass auch das Denken ein inneres Handeln, also eine motorische Aktivität ist. Damit werden die herkömmlichen Theorien des Denkens radikal infrage gestellt. Es wird sich zeigen, dass mit diesem Ansatz für viele bisher ungelöste Probleme des Denkens plausible Antworten gefunden werden können. Vor allem kann geklärt werden, wie das Denken abläuft, worauf seine Kreativität basiert und wie das Verhältnis zu den Gefühlen beschaffen ist. Vorweg ist bereits darauf hinzuweisen, dass es keineswegs darum geht, das Denken materialistisch zu erklären. Vielmehr wird ein Erklärungskonzept entwickelt, das sich dem traditionellen Gegensatzpaar von materialistisch – idealistisch entzieht.

4.1. Denken als inneres Handeln

»Jedes Tun ist Erkennen, und jedes Erkennen ist Tun.« (Humberto Maturana)

Die Frage, was Denken ist, wird üblicherweise so beantwortet, dass verschiedene geistige Elemente im Bewusstsein miteinander zu Gedanken verknüpft werden. Wie oben bereits erwähnt wurde, wurden die Elemente des Denkens als Vorstellungen, Ideen, Erfahrungen, Begriffe u.Ä. bezeichnet. Die traditionellen Antworten, auf welche Weise die einzelnen Elemente miteinander verknüpft werden, bewegen sich in dem Spektrum, dass die Verknüpfung entweder mit gelernten Gewohnheiten vorgenommen wird (z.B. David Hume) oder dass sie nach Regeln vorgenommen wird, die der Verstand am Leitfaden der möglichen logischen Verknüpfungen von Vorstellungen gefunden hat (Kategorien bei Immanuel Kant). Die Verknüpfung wird also entweder anhand von Gewohnheiten oder von allgemeinen geistigen Regeln vorgenommen. Beide Erklärungsversuche haben den Nachteil, dass sie relativ unbestimmt sind. Im konkreten Fall eines bestimmten Gedankens kann damit nicht geklärt werden, warum ausgerechnet die ausgewählten Elemente miteinander verknüpft worden sind.

Die Schwierigkeit der üblichen Erklärungsversuche kann am Begriff der Assoziation erläutert werden. Es wird angenommen, dass die mit einem Begriff verbundene Vorstellungen andere Vorstellungen aktiviert. Welche Vorstellungen aus dem Gedächtnis geholt werden, ist aber nicht steuerbar. Damit stellen die Assoziationen das bewusste Denken infrage. Außerdem ist nicht nachvollziehbar, wie aus der Kaskade von Vorstellungen eine Problemlösung hervorgehen soll.

Von der hier entwickelten Sprachtheorie wird das Problem, wie die einzelnen Elemente des Denkens miteinander verknüpft werden, auf die Weise gelöst, dass davon ausgegangen wird, dass die Elemente des Denkens aus Bewegungsregeln bestehen und dass deren Verknüpfung nach den gleichen Methoden erfolgt, wie einzelne körperliche Bewegungen miteinander verbunden werden. So wie beim Schreibenlernen für jeden Buchstaben eine Regel gelernt wird, wie er mit anderen Buchstaben verkettet werden kann, so werden bei allen Bewegungsregeln die wichtigsten Verknüpfungen mit anderen Bewegungsregeln gelernt. Da man keine zusätzlichen Regeln braucht, um Bewegungsregeln miteinander zu verknüpfen, können Bewegungsregeln problemlos mit anderen Bewegungsregeln oder mit Regeln für Objekte miteinander verbunden werden. Das Ergebnis solcher Verknüpfungen sind Gedanken.

Dieser Grundgedanke sollen an dem folgenden Satz veranschaulicht werden: »Das Kind spielt mit dem Ball.« Dabei wird die Regel »spielen« mit der Regel »Ball« verbunden. Dies ist möglich, weil der Ball bereits durch sein Bewegungsverhalten definiert ist, dass man nämlich mit ihm spielen kann, indem man ihn wirft oder rollt. Beim Verb »spielen« ist evident, dass es eine Bewegungsregel bezeichnet. Die Art der Verknüpfung ist also dadurch vorgezeichnet, wie die Objekte beschaffen sind und welchen Gebrauch die Menschen von ihnen machen. Wenn der Satz gedacht wird, vollzieht man in sich gedanklich eine Bewegung, die man persönlich für das typische Ballspielen hält.

Ein anderes Beispiel dafür, das beim Denken Bewegungsregeln verknüpft werden, ist die rechnerische Addition, die prima vista nichts mit Bewegungsregeln zu tun zu haben scheint: Wenn zwei Zahlen miteinander addiert werden, kann man das bei kleinen Zahlen meistens auf Anhieb, weil man sich dabei auf gelernte Gewohnheiten stützt. Das Addieren wurde mit Hilfe der Zahlenreihe gelernt, die zunächst Zahl für Zahl abgeschritten wird, bevor später komplexere Schritte vorgenommen werden können. Für das Addieren, Subtrahieren, Multiplizieren u.a. von Zahlen werden Regeln gebildet, die mit wiederholten Schritten auf der Zahlenreihe eingeübt werden müssen. Bei komplexeren Aufgaben, wie z.B. der Addition von 233 und 89, folgt man der Regel, dass die Zahlen zunächst in Zehnerstelle und der Einerstelle zerlegt werden, beide Teile für sich addiert und schließlich die Teilergebnisse zusammengezählt werden.

So wie im Handeln einzelne körperliche Bewegungen wie von selbst miteinander verknüpft werden, ohne dass man sich jeden einzelnen Schritt überlegen muss, so werden auch beim Denken spontan Bewegungsregeln miteinander verknüpft. Das Denken darf man sich aber nicht so vorstellen, als würden die Bewegungsegeln als geistige Faktoren miteinander in Beziehung gesetzt. Vielmehr wird im inneren Raum des Denkens so gehandelt, als ob man im realen Raum handeln würde. Jeder Gedanke besteht aus innerlich gedachten, d.h. virtuell vollzogenen Bewegungen. Eine Bewegung denken heißt, sie andeutungsweise ausführen. Man könnte vermuten, dass im Denken das Handeln innerlich imitiert wird. Das ist aber nicht der Fall. In Wirklichkeit wird im Denken probeweise gehandelt. Zu Recht hat Sigmund Freud das Denken als Probehandeln bezeichnet.94 Allerdings hat er nicht erkannt, dass der Begriff des Probehandelns sehr wörtlich genommen werden muss.

Zu welchen Ergebnissen das Denken gelangt, ist nicht vorauszusehen. Es hängt von den persönlichen Kenntnissen, von den früheren Erfahrungen und von der unbewussten Bewertung der aktuellen Situation ab. Das Denken kann nur die Alternativen wählen, deren Bausteine es kennt. Deshalb kann man nie sicher sein, ob wirklich alle denkbaren Alternativen berücksichtigt worden sind. Das Denken hängt natürlich auch von der historischen Situation ab, die immer nur eine beschränkte Auswahl an Fähigkeiten und materiellen Möglichkeiten zur Verfügung stellt. Insofern ist die Art und Qualität des Denkens in hohem Maße auch von den historischen Bedingungen abhängig. Denken ist insofern sowohl ein höchst persönlicher als auch ein allgemeiner Akt.

Das Denken hat nur dann die völlige Gewissheit über die Richtigkeit seiner Ergebnisse, wenn es sich um Problemsituationen handelt, die bereits früher erfolgreich gelöst wurden. Bei neuen Problemen wird das Denken solange fortgeführt, bis sich das Gefühl einstellt, dass die gedachte Handlung reif ist, in der Wirklichkeit ausprobiert zu werden. Wenn eine Lösung gefunden wurde, meldet sich das Gefühl der Gewissheit, dass es eine brauchbare Lösung sein könnte, aber es bleibt immer ein Rest an Zweifeln übrig, die erst mit erfolgreichem Handeln beseitigt werden.

Die vielfältige Abhängigkeit des Denkens von den äußeren Umständen bedeutet, dass das Denken häufig allein nicht in der Lage ist, schwierige oder neue Probleme zu lösen. Bei neuen Problemen ist es meist unmöglich, alle Lösungsalternativen zu durchdenken. Erst im praktischen Handeln wird deutlich, ob die gewählten Mittel geeignet sind, das beabsichtigte Ziel zu erreichen und falls sie sich als ungeeignet erweisen, welches Wissen fehlt. Daraus ergibt sich eine eindeutige Priorität des Handelns vor dem Denken.

Die Erfahrung lehrt, dass man erst denkt, wenn man dazu gezwungen wird. Dies ist in der Regel dann der Fall, wenn die bisherigen Verhaltensmuster versagen, mit anderen Menschen oder Objekten umzugehen. Es wird dann spontan geprüft, welche anderen Verhaltensmuster zur Verfügung stehen, um das angestrebte Ziel dennoch zu erreichen. Eventuell werden auch neue Regeln gebildet. Der Anstoß zum Denken geht also regelmäßig von Problemen aus, die auftreten, wenn die persönlichen Ziele nicht mehr auf gewohntem Wege erreicht werden können. Insofern werden Probleme als schwierig zu lösende Aufgaben empfunden. Probleme stellen sich von selbst ein, man wird mit ihnen konfrontiert, so dass man sich ihnen nicht ohne weiteres entziehen kann. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht mit den verfügbaren Verhaltensmustern gelöst werden können und deshalb das Denken anregen.

Auch wenn das Denken scheinbar nicht unmittelbar auf praktische Ziele ausgerichtet ist, so wie das z.B. bei philosophischen Erörterungen der Fall ist, wird es doch stets von ungelösten praktischen Problemen im Kontakt mit der Realität ausgelöst. Das gilt auch für abstrakte philosophische Fragestellungen. So steht hinter dem Begriff der Wahrheit die praktische Frage, ob sich die Wirklichkeit exakt mit Begriffen abbilden lässt und inwieweit man sich im Handeln auf das in den Begriffen gefasste Wissen verlassen kann. Oder die Beschäftigung mit der Frage, ob es objektive Werte gibt, wird von der Frage angetrieben, wer oder welche Instanz (Gott, Kosmos, Vernunft, Natur, Gesellschaft u.Ä.) die Werte geschaffen hat. Davon ist abhängig, welche Gültigkeit sie beanspruchen können und ob es legitim ist, sich über sie hinwegzusetzen. Wenn solche philosophischen Fragen in die Welt gesetzt werden, können sie sich leicht verselbständigen. Insbesondere wird bei der Verwendung von abstrakten Begriffen allzu leicht vergessen, welchen Bezug sie zum Handeln haben. Das bedeutet, dass die scheinbar allgemeinen philosophischen Probleme nur gelöst werden können, wenn sie auf die Probleme des praktischen Handelns zurückgeführt werden.

Gegen diese Auffassung, dass alles Denken von handlungsbezogenen Problemen angestoßen wird, könnte das Argument vorgebracht werden, dass es ein Denken aus reiner Neugier gibt. Die Neugier ist ohne Zweifel bei der intellektuellen Entwicklung eine wichtige Antriebskraft. Sie ist bei den Kindern wirksam, wenn sie begierig alle Fähigkeiten lernen wollen, die sie bei den Erwachsenen beobachten und sich alles Wissen aneignen wollen, um sich an der Diskussion der Erwachsenen beteiligen zu können. Allerdings machen sich die Kinder keine Gedanken darüber, welche Zwecke sie bei ihrem neugierigen Lernen verfolgen. Das schließt aber nicht aus, dass das Ziel, selbständig denken und handeln zu können, unbewusst ihr Verhalten steuert. Wenn erwachsene Menschen glauben, dass sie aus reiner Neugier über irgendetwas nachdenken, ist dies ein Missverständnis der Neugier. Da Menschen natürliche Wesen sind, muss angenommen werden, dass ihre neugierigen Fragen letztlich den persönlichen Nutzen haben, ein bestimmtes persönliches Problem zu lösen, auch wenn sie sich dessen nicht immer bewusst sind oder nicht bereit sind, über ihre Ziele nachzudenken. Zu diesem Missverständnis hat erheblich die Philosophie mit ihrer Überzeugung beigetragen, dass das Denken eine zweckfreie, nicht am praktischen Handeln orientierte Kraft sei.95

Kann das Lesen einer Geschichte als Denken bezeichnet werden? Sicherlich findet kein Denken statt, wenn man nur die Bewegungen in sich reproduziert, die durch die gelesenen Wörter angestoßen werden. Dabei werden die angesprochenen Regeln nur nach den Vorgaben der Geschichte miteinander verknüpft. Das Denken kommt erst ins Spiel, wenn man sich die Probleme der Geschichte zu eigen macht und sich fragt, wie man persönlich ein bestimmtes Problem lösen würde. Streng genommen kann man sogar ein philosophisches Buch lesen, ohne dabei wirklich zu denken. Wenn man nur die Hauptgedanken auswendig lernt, findet noch kein Denken statt. Denken fängt erst an, wenn die Gedanken anderer mit offenen Fragen des eigenen Handelns in Verbindung gesetzt und auf ihre Plausibilität überprüft werden. Deshalb ist eine mentale Aktivität, die nicht im Zusammenhang mit persönlichen Problemen steht, unfruchtbar, ein bloßes Wiederkäuen von angelesenen Wörtern.

Da man nur mit den Regeln denken kann, die man vorher beim Handeln erworben hat und die sich im Handeln bewährt haben, folgt daraus, dass es kein Denken ohne Handeln gibt. Wer nicht handelt, besitzt keine Erfahrungen, die denkend verarbeitet werden können. Es können natürlich viele Erfahrungen aus der Literatur oder aus Berichten anderer übernommen werden. Das setzt aber voraus, dass sie innerlich nachvollziehend zu Regeln verarbeitet wurden.

Jedes Denken ist Planen, da es dem Handeln vorausgeht. Das Denken kann eine Vielzahl von Handlungsschritten vorausschauend bedenken, indem es mehrere Regeln miteinander verknüpft. Diese Aufgabe ist nicht auf Begriffe angewiesen, sie kann ohne Zweifel aber dadurch erleichtert werden, dass die einzelnen Schritte mit der Schriftsprache oder auch mit einer Zeichnung u.Ä. fixiert werden. Insofern kann die verbale Sprache das Planen fördern. Aber die Behauptung, dass erst die Sprache den Menschen fähig gemacht hat, vernünftig zu planen, ist aus der Sicht der entwickelten Theorie des Denkens nicht zu begründen.

Aus diesem Grunde ist auch die verbreitete Auffassung problematisch, dass es der Sprache zu verdanken ist, dass vergangene Ereignisse ins Bewusstsein geholt oder zukünftige Ereignisse vorausgesagt werden können. Wenn man sich beobachtet, fällt auf, dass eine Situation eine bildhafte Erinnerung an eine ähnliche Situation auslösen kann, ohne dass dabei Begriffe im Spiel sind. Ebenso kann man zukünftige Entwicklungen voraussehen, ohne dabei Begriffe zu benutzen. Ohne Zweifel kann die Sprache auch dazu benutzt werden, Vergangenes aus dem Gedächtnis zu holen, weil sich Begriffe sehr gut als Anker für komplexe Sachverhalte eigenen. Offensichtlich werden Erinnerungen sowohl mit Gefühlen also auch mit Begriffen abgespeichert, so dass sie auf zweifache Weise aus dem Gedächtnis hervorgeholt werden können.

Das alte philosophische Problem, wie es das Denken fertig bringt, das Handeln zu beeinflussen, war solange unlösbar, wie eine tiefe Kluft zwischen Geist und Körper angenommen und damit von einer absoluten Unterschiedlichkeit von Denken und Handeln ausgegangen wurde. Da das Denken als eine eigenständige kontemplative Kraft verstanden wurde, die aus eigener Kraft die Welt verstehen kann, blieb die Wirkung des Denkens auf das Handeln letztlich ein Rätsel. Wenn aber das Denken lediglich eine Phase in der Vorbereitung des Handelns ist, die umso länger ist, je komplexer und neuartiger das Handeln ist, beantwortet sich die Frage nach dem Einfluss des Denkens auf das Handeln von selbst. Denken ist keine eigenständige Aktivität, die außerhalb des Handelns stattfindet, sondern lediglich eine Bezeichnung der inneren Handlungen, mit denen das Handeln durch die Auswahl möglicher Lösungswege vorbereitet wird. Da das Denken nichts anderes als ein probeweises Handeln ist, stellt es nichts dem Handeln Äußerliches dar, sondern ist sein unentbehrlicher Bestandteil. Deshalb ist die Frage, wie das Denken das Handeln beeinflusst, falsch gestellt.

Die verbreitete Auffassung, dass das Denken eine Art Informationsverarbeitung ist, erweist sich als ungeeignet, das Denken zu verstehen. Das Denken kann nicht in Analogie zum Computer verstanden werden, da gerade keine Informationen verknüpft, sondern reale Wege gesucht werden, wie Probleme durch praktische Bewegungen gelöst werden können. Natürlich benötigt das Denken Wissen darüber, wie die Objekte auf eine bestimmte Einflussnahme reagieren bzw. wie sie für menschliche Zwecke benutzt werden können. Aber diese Informationen sind letztlich auch nur Handlungsanweisungen. Der Begriff der Information sollte deshalb bei der Analyse des Denkens vermieden werden, weil er ein falsches Verständnis des Denkens vermittelt.

Die Gehirnforschung hat bisher keine Theorie des Denkens angeboten, die mit ihrer naturwissenschaftlichen Sichtweise kompatibel ist. Die Theorie, dass das Denken aus der Verschaltung von Neuronen besteht, ist völlig nichtssagend. Sie ist für das Verständnis des problemlösenden Denkens irrelevant. Werden jedoch Bewegungsregeln als die Bausteine des Denkens betrachtet, kann nachvollzogen werden, auf welche Weise Gedanken entstehen. Mit dieser Theorie wird die These einiger Gehirnforscher plausibel, dass die Hauptarbeit des Gehirns darin besteht, an die Umwelt angepasste Bewegungen zu organisieren. Das menschliche Denken ist demnach möglich geworden, weil der Organismus fähig ist, Regeln von wahrgenommenen Bewegungen zu erkennen und mit ihrer Kombination das Handeln vorzubereiten. Da sich somit das Denken der biologischen Fähigkeit verdankt, Regeln zu erfassen und Bewegungen innerlich nachzuvollziehen, kann es als eine Funktion verstanden werden, die analog zum normalen Handeln erklärt werden kann.

Für die Ähnlichkeit von Denken und Handeln hat die Gehirnforschung einen wichtigen Beleg gefunden. Wie oben bereits dargestellt wurde, werden wahrgenommene Bewegungen vom Gehirn in den gleichen Arealen verarbeitet, in denen diese Bewegungen ausgeführt werden.96 Bloß gedachte Bewegungen aktivierten ebenfalls diese Areale. Das spricht dafür, dass das Denken im Grunde nichts anderes als eine innere probeweise Ausführung von Bewegungen anhand ihrer Regeln ist.

Aus dieser Perspektive kann auch das eigenartige Phänomen geklärt werden, warum die Menschen Bewusstsein besitzen. Bisher haben die Gehirnforscher keine Erklärung dafür finden können, wie das Gehirn das Bewusstsein hervorbringt. Nach den bisherigen Überlegungen wäre eine solche Erklärung auch überflüssig. Es genügt zu wissen, dass das Lernen von regelgeleiteten Bewegungen ohne Bewusstsein nicht möglich wäre.97 Ohne Bewusstsein könnten neuartige Probleme, für die noch keine Regeln verfügbar sind, nicht kreativ gelöst werden und auch keine Geschichten erzählt und verstanden werden. Es spricht vieles dafür, dass bereits bei Tieren Vorformen des Bewusstseins vorhanden sind, damit sie sich an ihre Umwelt lernend anpassen können.98 Alva Noé hat überzeugend begründet, dass das Bewusstsein nur verstanden werden kann, wenn es aus der Interaktion von Lebewesen mit ihrer Umwelt begriffen wird. Die Evolution hat offensichtlich das Bewusstsein entstehen lassen, weil nur so ein lernendes Verhältnis zur Umwelt möglich ist.99

Da das Denken immer auf die Realität bezogen ist und von ihr mitgeprägt wird, kann es nicht gelingen, die Beschaffenheit des Denkens allein mit neuronalen Prozessen im Gehirn zu erklären. Das Denken bleibt ein unlösbares Rätsel, wenn es aus dem Handlungszusammenhang herausgerissen und verabsolutiert wird. Zu Recht hat Ludwig Wittgenstein darauf hingewiesen, dass die Sprache nur richtig verstanden werden kann, wenn sie im Zusammenhang mit dem Handeln betrachtet wird.

Der häufig vorgenommene Versuch, das Denken mit dem Prinzip der Emergenz zu erklären, ist zum Scheitern verurteilt. Unter Emergenz wird verstanden, dass aus der Verbindung von zwei Qualitäten eine neue Qualität entsteht. Dieses Denkmuster, das sich bei der Entstehung von neuen Materialien bewährt hat, kann grundsätzlich nicht auf die Entstehung des Geistigen angewendet werden, weil aus der Verbindung von zwei Materien nicht eine Nicht-Materie entstehen kann.

Wenn Denken darin besteht, dass im mentalen Innenleben probeweise gehandelt wird, folgt daraus, dass es im Grunde eine motorische Aktivität ist. Denken ist tatsächlich Handeln, wie bereits Fritz Mauthner behauptet hat.100 Es unterscheidet sich nur insofern vom Handeln, als beim Denken keine sichtbare Einwirkung auf reale Objekte erfolgt und nur die Zwänge der Objekte beachtet werden können, die man gut genug kennt. Da das Denken nichts anderes als ein virtuelles Handeln ist, ist es ebenso wie das Handeln auf Regeln angewiesen, die sich zu Gewohnheiten verfestigt haben. Ohne das Lernen von Gewohnheiten im Umgang mit den Objekten und anderen Menschen kann es kein Denken geben. Aufgrund dieser Überlegungen wird die hier entwickelte Theorie als Bewegungstheorie des Denkens bezeichnet.

Nur weil die Menschen die Fähigkeit besitzen, Bewegungen innerlich nachzuvollziehen und damit mitzudenken, können sie Geschichten erzählen und verstehen. Mitdenken heißt, dass nicht nur die Begriffe gehört, sondern die Bewegungsregeln, die von den Begriffen aufgerufen werden, innerlich ausgeführt werden. Ohne das innere Als-ob-Handeln blieben Geschichten unverständlich. Übrigens macht sich die Feldenkrais-Methode diese Fähigkeit zunutze, Bewegungen probeweise zu denken. Eine ungewohnte Bewegung, die man bei einem anderen Menschen gesehen hat, kann flüssiger ausgeführt werden, wenn sie zunächst nur in Gedanken vollzogen wird.

Aus dem Verständnis des Denkens als inneres Handeln wird nachvollziehbar, warum das Denken durch Handeln gefördert werden kann. Wenn z.B. Bewegungsbehinderungen von Kleinkindern mit Hilfe von Bewegungstherapie beseitigt werden, verbessert sich schlagartig das Denken. Auch das Denken von normalen Menschen profitiert von Bewegungstraining. Zu Recht wird oft behauptet, dass man besser denken kann, wenn man komplexe handwerkliche oder musikalische Fertigkeiten beherrscht. Denn die Qualität des Denkens wird umso besser, je komplexer das Handeln ist. Denn bei anspruchsvollem Handeln werden neue Regeln gelernt, die auch für die Lösung anderer Probleme nützlich sein können. Es wird gelernt, bestehende Regeln in einem neuen Kontext einzusetzen und mehrere Bewegungsabläufe miteinander zu verknüpfen. Außerdem verbessern sich die Aufmerksamkeit und die Fähigkeit, komplexe Situationen mit einem Blick zu erfassen.

Warum ist man sich dessen kaum bewusst, dass im Denken virtuell gehandelt wird? Da liegt vermutlich daran, dass das innere Handeln von einem ständigen Wortstrom überdeckt wird, der das Denken begleitet. Wenn man die Absicht hat, jemandem etwas zu erklären, ist man von vornherein darauf bedacht, die Gedanken in Begriffe zu fassen. Das passiert auch, wenn man vorhat, seine Gedanken niederzuschreiben. Da der größte Teil des Denkens in der Kommunikation mit anderen Menschen geschieht, entsteht die Gewohnheit, alle Gedanken immer sofort in verbale Sätze zu übersetzen. Deshalb kann allzu leicht der falsche Eindruck entstehen, dass das Denken mit Hilfe von Begriffen erfolgt. Wie sich im folgenden Kapitel zeigen wird, hängt die Tatsache, dass die Gedanken nicht als inneres Handeln wahrgenommen werden, auch damit zusammen, dass das Denken normalerweise völlig unbewusst abläuft.

4.2. Das unbewusste Denken

»Alle Menschen haben die Anlage, schöpferisch zu arbeiten. Nur die meisten merken es nie.« (Truman Capote).

Die weit verbreitete Überzeugung, dass das Denken in allen seinen Phasen vom Bewusstsein gesteuert wird, muss aus der Sicht der Bewegungstheorie des Denkens infrage gestellt werden. So wie man sich nicht alle Schritte im Einzelnen überlegt, die erforderlich sind, um über einen Bach zu springen, so stellen sich regelmäßig Gedanken ein, wie ein Problem zu lösen ist, ohne dass man angeben kann, mit welchen einzelnen Schritten das Ergebnis zustande gekommen ist. So wie die Träume geschehen, so laufen offensichtlich die meisten Gedanken unbewusst ab und präsentieren sich nur mit ihren Ergebnissen im Bewusstsein. Jeder kennt die Erfahrung, dass sich plötzlich ein Einfall einstellt, nachdem man sich auf ein Problem eingelassen, genau hingeschaut und eine längere Zeit darüber nachgedacht hat. Dass das Denken unbewusst abläuft, zeigt sich z.B. auch daran, wie man sich an Diskussionen beteiligt. Ich bin immer wieder erstaunt darüber, dass mein tatsächlicher Beitrag fast kaum dem entspricht, was ich mir vorweg in Gedanken zurechtgelegt habe. Beim Sprechen selbst bin ich mir nicht bewusst, dass ich denke. Offensichtlich werden im Hintergrund des Bewusstseins blitzschnell Gedanken produziert, die dann in verbale Sätze ausformuliert werden. Wenn man den Berichten von Erfindern Glauben schenken darf, sind viele große Erfindungen zwar mit harter Arbeit vorbereitet worden, aber die eigentliche Erfindung hat sich wie im Traum eingestellt.

Vermutlich kann das Denken nur deshalb gelingen, weil es unbewusst abläuft. Bekanntlich hat das Bewusstsein nur eine beschränkte Kapazität. Wie Experimente immer wieder bestätigt haben, kann das Bewusstsein in der Regel nicht mehr als 7 Elemente (Zahlen, Begriffe u.Ä.) gleichzeitig festhalten und bearbeiten. Beim Denken müssen aber meist wesentlich mehr Gesichtspunkte, Fakten, Abhängigkeiten, Folgewirkungen u.a. berücksichtigt werden. Ein rein bewusstes Denken wäre deshalb wegen der Fülle der zu berücksichtigenden Variablen ganz schnell überfordert. Da das Bewusstsein eine knappe Ressource ist, wurde das Denken offensichtlich von der Evolution so eingerichtet, dass es auch bei komplexen Problemen außerhalb des Bewusstseins erledigt werden kann. Das Bewusstsein kann so für das Lernen und die Lösung von neuen Problemen freigehalten werden.101 Ein vollkommen bewusstes Denken wäre sicherlich viel stärker mit Fehlern und Irrtümern durchsetzt, da man wegen der Begrenztheit des bewussten Arbeitsspeichers eher dazu neigen würde, einzelne Gesichtspunkte und Abhängigkeiten zu vernachlässigen.

Die Gehirnforschung hat empirisch bestätigt, dass das Denken unbewusst abläuft und dass sich lediglich die Ergebnisse im Bewusstsein präsentieren.102 Sie kann allerdings keine Erklärung dafür geben, warum unbewusstes Denken dennoch äußerst effizient sein kann. Wenn man aber davon ausgeht, dass erlernte Regeln die Bausteine des Denkens sind, ergibt sich dafür eine einfache Erklärung. Da die Regeln meistens unbewusst gebildet werden oder so lange eingeübt werden, bis sie unbewusst vollzogen werden können, sind sie von Haus aus auch für eine unbewusste Verarbeitung geeignet. Ihre Verarbeitung kann unbewusst erfolgen, da in ihnen alle Erfahrungen der Realität enthalten sind.

Auch von der Psychologie wird immer mehr erkannt, dass die Hauptarbeit des Denkens unbewusst erfolgt. »Unsere Gedanken und Handlungen werden routinemäßig vom System 1 (unbewusstes Denken, K.N.) gesteuert, und sie liegen im Allgemeinen richtig. … Es unterscheidet im Bruchteil einer Sekunde überraschende von normalen Ereignissen, erzeugt sofort eine Vorstellung von dem, was anstatt einer Überraschung erwartet wurde, und sucht automatisch nach einer kausalen Interpretation von Überraschungen und Ereignissen, sowie sie stattfinden.«103 Für Daniel Kahneman hat das unbewusste Denken die Fähigkeit, große Mengen an Informationen effizient zu verarbeiten; dabei arbeitet es schnell und mühelos. Es kann natürlich auch Fehler machen. Das bewusste Denken hat die Aufgabe, eventuelle Fehler zu korrigieren. Auch für den Psychologen Dietrich Dörner ist es erwiesen, dass die Suchprozesse des Denkens unserer Beobachtung nicht zugänglich sind. 104

Die meisten alltäglichen Aufgaben und Probleme werden gewohnheitsmäßig bewältigt, ohne dass das bewusste Denken ins Spiel kommt. Wenn aber dem unbewussten Denken nicht sofort eine passende Lösung einfällt, kommt es ins Stocken. Es entsteht eine innere Unruhe, Die bewusste Aufmerksamkeit wird eingeschaltet, um nach den fehlenden Regeln zu suchen. Man sucht im Gedächtnis nach geeigneten Hinweisen bei ähnlichen Situationen. Man fragt sich, welche Alternativen denkbar sind, oder man fragt andere um Rat. Eventuell sucht man in der Literatur oder in seinen Notizen nach einer Lösungsidee. Da diese Suche meistens nicht routinemäßig erfolgt, ist sie anstrengend, mühsam und dementsprechend langsam. Es fällt schwer, bei der Suche zu bleiben, man lässt sich leicht ablenken und neigt dazu, die Suche abzubrechen, um das Gefühl der Unzulänglichkeit zu vermeiden. Deshalb werden meistens nur die aktuell verfügbaren Informationen genutzt und die Lücken mit dem Gefühl des Überzeugtseins zugedeckt.

Da das unbewusste Denken nicht wahrgenommen wird, scheint die suchende Aktivität im bewussten Erleben das eigentliche Denken zu sein. Auch wenn die Existenz des unbewussten Denkens theoretisch akzeptiert wird, wie z.B. in der Theorie des Denkens von Daniel Kahneman, wird die suchende Aktivität als eine besondere Art des Denkens verstanden, die als bewusstes Denken die Funktion haben soll, das unbewusste Denken zu überwachen. Da sich diese beiden Denkarten deutlich voneinander unterscheiden stellt sich die Frage, ob es zweckmäßig ist, beide Denkarten als selbständige Denkweisen zu betrachten, die sich wechselseitig ergänzen oder kontrollieren.

Wenn man den Eindruck hat, bewusst zu denken, ist das im Grunde nur ein Zeichen dafür, dass für das aktuell zu lösende Problem noch geeignete Regeln fehlen. Es wird die Bemühung angestoßen, nach geeigneten Kenntnissen zu suchen bzw. sich passende Regeln anzueignen. Was normalerweise als bewusstes Denken bezeichnet wird, besteht eigentlich darin, dass die Aufmerksamkeit auf ein Problem gelenkt wird, so dass möglichst viele Details wahrgenommen und daraus Regeln abgeleitet werden können. Offensichtlich kann das unbewusste Denken nur dann nach sinnvollen Lösungen suchen, wenn es genügend Details eines Problems kennt. Die Erfahrung zeigt, dass am ehesten eine gute Lösung gefunden wird, wenn man sich eine Problemsituation so exakt und bildhaft wie möglich vorstellt. Je mehr Erfahrungen aufgenommen und daraus Regeln abgeleitet werden, umso präziser kann das unbewusste Denken arbeiten.

Sobald die fehlenden Regeln vorliegen, schaltet sich das unbewusste Denken von selbst wieder ein und versucht, die Problemlösung zu Ende zu bringen. Das Denken ist also dadurch charakterisiert, dass es bei ungewohnten Problemen immer wieder durch Phasen der bewussten Achtsamkeit und des bewussten Lernens unterbrochen wird. Im Grunde ist das, was im Allgemeinen als bewusstes Denken bezeichnet wird, gar kein richtiges Denken, sondern nur seine Vorbereitung, so wie ein Handwerker erst alle Werkzeuge zusammenstellt, die für die Aufgabe benötigt werden, bevor er mit der Arbeit beginnt. Es ist nicht in der Lage, eigenständig eine Problemlösung zu finden. Um nicht die helfende Funktion dieser suchenden Aktivität zu vergessen, sollte es nicht als Denken bezeichnet werden. Bewusstes Denken ist eine Fiktion. Beide mentale Aktivitäten als Denken zu kennzeichnen, verwischt die große Differenz zwischen ihnen und lässt die Illusion entstehen, dass die bewusste mentale Aktivität beim Suchen zur Problemlösung fähig ist.

Der Unterschied zwischen dem unbewussten Denken und der vorbereitenden mentalen Aktivität wird noch deutlicher, wenn man davon ausgeht, dass das Denken ein Probehandeln ist. Im unbewusstem Denken kann das Probehandeln in einem Zug bis zum Finden einer Lösung durchgeführt werden, weil alle einzelne Schritte beherrscht werden. Wenn plötzlich auffällt, dass Regeln fehlen, muss das innere Probehandeln gestoppt werden. Es wird verlangt, dass zunächst die fehlenden Bewegungsschritte gelernt werden. Das braucht Aufmerksamkeit, Anstrengung und Zeit. Vor allem muss gehandelt werden. Lesen, im Gedächtnis nach vergleichbaren Situationen suchen, den Rat von anderen Menschen holen u.Ä. sind alles bewusste konkrete Handlungsschritte. Wenn die fehlenden Bewegungen schließlich beherrscht werden, kann das unbewusste Denken auf die damit verbundenen Regeln zugreifen und versuchen, das unterbrochene innere Probehandeln fortzusetzen. Die vorbereitende Sucharbeit ist insofern ein Handeln, das entweder in der Realität oder im Bewusstsein vollzogen wird. Demgegenüber läuft das unbewusste Denken völlig unterhalb der Bewusstseinsschwelle ab.

Deshalb erreicht das unbewusste Denken nur dann gute Ergebnisse, wenn es um Probleme geht, die bereits früher in ähnlicher Gestalt erfolgreich gelöst wurden und dafür geeignete Regeln gelernt werden konnten. In neuen, einmaligen Situationen, wie z.B. dem Kauf eines Hauses, versagt das unbewusste Denken. Der mentalen Sucharbeit fällt es schwer, dafür geeignete Regeln zu finden. Schließlich kann man nicht durch Handeln neue Erfahrungen sammeln. Deshalb neigt man dazu, sich an den Rat von Experten zu halten, dass z.B. eine gute Lage das wichtigste Kriterium sein sollte. In solchen Fällen ist es sinnvoll, nicht sofort zu handeln, sondern ein Problem immer wieder aus neuer Perspektive zu betrachten und bei komplexen Problemen jeden einzelnen Schritt der Problemlösung genau anzuschauen. So wird dem Denken Zeit gelassen, möglichst viele Regeln aufzunehmen und nach der angemessensten Lösung zu suchen.

Aus der Tatsache, dass bildhafte Vorstellungen das Denken fördern können, darf nicht geschlossen werden, dass es ein bildhaftes Denken gibt. »Wir können nicht nur in abstrakten Begriffen denken, sondern auch in Bildern.«105 Die Behauptung von Philipp Soldt, dass das Denken auf zwei verschiedenen Ebenen ablaufen kann, einerseits bildhaft/konkret/anschaulich und andererseits abstrakt/theoretisch/sequentiell, ist infrage zu stellen. Es trifft nicht zu, dass das Denken sowohl mit Begriffen als auch mit bildhaften Vorstellungen arbeiten kann. Das eigentliche problemorientierte Denken findet allein auf der unbewussten Ebene der Bewegungsregeln statt. Entscheidend ist also nicht, welches Denken eingeschaltet wird, sondern wie konkret und detailgenau eine Problemsituation aufgenommen wird. Die Empfehlungen, sich auf ein Problem voll und ganz einzulassen, mit dem ganzen Herzen bei der Bearbeitung eines Problems zu sein oder sich selbstvergessen einem Problem zuzuwenden, sind offensichtlich aus der Erfahrung entstanden, dass das unbewusste Denken am besten bei maximaler Achtsamkeit gegenüber dem zu lösenden Problem arbeitet.

Es stellt sich die Frage, warum die Vorstellung, dass das Denken ein bewusster Prozess ist, entstehen konnte und warum sie so hartnäckig verteidigt wird. Das liegt sicherlich daran, dass die Gedanken, wenn sie sich im Bewusstsein präsentieren, immer schon in sprachlicher Gestalt erscheinen. Daraus wird geschlossen, dass auch das Denken in sprachlicher Form abläuft. Nach den bisherigen Überlegungen spricht aber vieles dafür, dass das Denken ohne sprachliche Zeichen auskommt und dass sich die Ergebnisse des Denkens nur deshalb in sprachlicher Gestalt präsentieren, weil die Menschen als kommunizierende Wesen gelernt haben, ihre Gedanken sofort in Worte zu fassen, damit sie anderen mitgeteilt werden können. Diese Gewohnheit wird auch beibehalten, wenn man sich nicht direkt in einem Gespräch befindet. Da sich die Gedanken in Bruchteilen einer Sekunde bilden, kann der Eindruck entstehen, dass zwischen der Bildung der Gedanken und ihrer begrifflichen Formulierung kein Unterschied besteht.

Wenn die unbewusst produzierten Gedanken immer gleich in sprachliche Form gebracht werden, bevor sie bewusst werden, stellt sich die Frage, ob die Übersetzung korrekt ist und ob man merken kann, dass die ursprünglichen Gedanken bei der Übersetzung verfälscht werden. Im persönlichen Erleben ist das überhaupt kein Problem. Man geht intuitiv davon aus, dass die verbalisierten Gedanken der ursprünglichen Fassung entsprechen. Schließlich weiß man nicht, dass eine Transformation der vorsprachlichen Gedanken in Begriffe stattfindet.

Im Grunde ist es gar nicht beunruhigend, dass das Denken unbewusst nach seinen eigenen Gesetzen abläuft. Da sich das Denken stets auf eigene Erfahrungen stützt, ist es durch und durch persönlich. Außerdem hat man sich die meisten Regeln durch langjähriges Training angeeignet, um sich durch deren Automatisierung davon zu entlasten, dass man sich nicht immer wieder neu für ihre Anwendung entscheiden muss. So wäre z.B. das Sprechen ohne die Nutzbarmachung von unbewussten Prozessen undenkbar. Aus Erfahrung vertraut man den Ergebnissen des eigenen Denkens. Man verlässt sich darauf, dass das unbewusste Denken eine brauchbare Lösung für aktuelle Probleme findet. Deshalb kann man sich problemlos mit den Ergebnissen des eigenen unbewussten Denkens identifizieren. Es wird letztlich nicht als Kränkung empfunden, dass man nicht Herr im Hause des eigenen Denkens ist, wie Sigmund Freud behauptet hat.

Aus diesen Gründen ist die übliche Redeweise »Ich denke, dass ...« problematisch, die normalerweise so verstanden wird, dass die eigenen Gedanken das Ergebnis des eigenen Denkens und somit ein persönliches Verdienst sind. Im Grunde besteht kein wesentlicher Unterschied zwischen »Ich denke« und »Ich niese«. Beides sind unwillkürliche Prozesse. Beim Denken kommt lediglich hinzu, dass dabei die bisherigen Erfahrungen unbewusst mitverarbeitet werden. Das »Ich denke« bedeutet deshalb nicht mehr, als dass die Gedanken zu mir gehören und nicht von den Göttern oder sonstigen Wesenheiten kommen und keine Halluzinationen sind. Wenn die Gedanken dem eigenen Ich, Bewusstsein, Verstand oder Geist zugeschrieben werden, macht man den Fehler, mysteriöse innere Instanzen als Akteure des Denkens anzunehmen.

Das Missverständnis, dass das Denken ein bewusster Prozess ist, konnte auch dadurch entstehen, dass für die Beschreibung des Denkens das aktive Verb »denken« benutzt wird. Nach Ansicht der Sprachforscher kannten die ersten Verben noch nicht die aktive und passive Zustandsform. Sie reflektierten ein Verhältnis der Menschen zur Welt, in dem das Handeln noch nicht nach aktiv oder passiv sortiert wurde. Im Grunde ist diese Unterscheidung auch sinnlos, da man immer das macht, was in einer Situation geboten und notwendig ist. Ebenso wird das gedacht, was in der jeweiligen Situation als das Richtige erscheint. Wenn das Handeln als eine Reaktion auf eine Situation begriffen wird und im Denken und Handeln aktive und passive Elemente untrennbar zusammenfließen, verbietet es sich, diese Vorgänge zu unterscheiden. Deshalb entspricht das Denkmodell von Daniel Kahneman, dass es ein bewusstes und ein unbewusstes Denken gibt, die miteinander im Wettstreit liegen, nicht den tatsächlich ablaufenden Prozessen beim Denken.

Jeder Gedanke hat etwas Intuitives. Obwohl die erlernten Regeln nahelegen, welche Bewegungen sinnvoll miteinander verknüpft werden können, legen sie das Denken nicht zwingend fest. Es bleibt immer ein Spielraum für kreatives, problemorientiertes Denken offen. »Das Denken ist in den Zwischenräumen der Gewohnheit versteckt.«106 Kreativität ist besonders gefragt, wenn die erlernten Regeln nicht anwendbar sind oder ganz fehlen. Sie ist umso größer, je mehr offene Regeln gelernt wurden.107 Offene Regeln lassen Ausnahmen, flexible Anwendungen und Weiterentwicklungen zu. Alle Regeln enthalten einen kreativen Überschuss, einfach deswegen, weil sie wegen ihrer Abstraktheit vielfältige Anwendungen zulassen.

In der Kreativitätsforschung besteht Übereinstimmung, dass die meisten Erfindungen dadurch zustande gekommen sind, dass ein Erklärungsmuster von einem Bereich auf einen anderen übertragen wurde. Aus der Sicht der hier entwickelten Theorie des Denkens kann diese These so formuliert werden, dass kreative Gedanken entstehen, wenn versuchsweise vertraute Regeln auf einen neuen Bereich angewandt werden. Grundsätzlich erfolgt diese Übertragung spontan. Man kann sich nicht vornehmen, kreativ zu sein! Die Chance für kreative Gedanken ist am größten, wenn man sich in Situationen mit neuartigen Problemen auf die Dinge einlässt, sie sozusagen sprechen lässt und sich bei der genauen Beobachtung der ablaufenden Prozesse auf sein Gespür verlässt.108 In der selbstvergessenen Haltung werden spontan Regeln aus anderen Bereichen übertragen oder es bilden sich neue Regeln, die für die Problemlösung förderlich sind. Ebenso sind Neugierde und Vorurteilslosigkeit für die Kreativität förderliche Fähigkeiten. Dann ist die Wahrscheinlichkeit am größten, dass man sich von seinen bisherigen Denkgewohnheiten befreit.

Die Fähigkeit des Denkens, sich etwas auszudenken, das es in dieser Form noch nicht in der Realität gibt, erklärt sich also daraus, dass die Bausteine des Denkens beliebig miteinander kombiniert werden können. Da die Regeln einen abstrakten Charakter haben, können sie auch ohne weiteres für irreale Ziele eingesetzt werden. Deshalb sind der Phantasie des Denkens bei der Erfindung neuer Geschichten, neuer Geräte oder neuer Begriffe keine Grenzen gesetzt, wobei natürlich die Bedingungen der Objekte beachtet werden müssen. Solange der Organismus nicht unter dem Druck des Handelns steht, kann das Denken uneingeschränkt nach neuen Lösungswegen für alte Probleme suchen. Je besser die Regeln als solche gelernt wurden, umso freier können sie kombiniert werden. Letztlich wirkt in der Phantasie die Kraft der Natur, mit einer Neukombination von vorhandenen Elementen reale Probleme zu lösen.

Es stellt sich die Frage, warum die meisten Menschen das Gefühl haben, dass sie fast nie kreative Gedanken haben. Das liegt in erster Linie daran, dass sie sich entweder nicht voll und ganz auf die Probleme einlassen oder dass sie zwar neuartige Gedanken haben, aber sie erst gar nicht richtig zur Kenntnis nehmen, weil sie Angst vor der negativen Reaktion anderer Menschen haben. Oft sind die Gedanken sehr flüchtig, weil sie einen Konflikt mit anderen Menschen auslösen könnten und man nicht den Mut hat, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Wenn neue Gedanken nicht bewusst festgehalten werden, ist die Gefahr groß, dass sie sofort wieder verschwinden. Denn kreative Gedanken brauchen einem angstfreien Raum, um zu reifen und sich zu klaren Gedanken zu entwickeln. Denn sie müssen besonders gut begründet werden, damit sie von anderen Menschen akzeptiert werden können. Das bedeutet, dass kreative Gedanken am besten dadurch gefördert werden, dass die Menschen von ihren Ängsten befreit werden und abweichendes Verhalten belohnt und nicht bestraft wird. Intelligenz könnte auch so definiert werden, dass man fähig ist, seine eigenen Gedanken vollständig zu nutzen.

Die Ergebnisse des unbewussten Denkens braucht man jetzt nicht mehr der mysteriösen »Intelligenz des Unbewussten«109 oder dem »Es«110 zuzuschreiben. Es macht wenig Sinn, vom Unbewussten zu sprechen, da damit eine innere Instanz postuliert wird, die nicht begründet werden kann. Das Unbewusste ist nicht mehr als eine Metapher dafür, dass im Inneren Verarbeitungsprozesse von Erfahrungen ablaufen, die sich der bewussten Wahrnehmung entziehen. Der Begriff des Unbewussten sollte auch deshalb vermieden werden, da er zu der problematischen Vorstellung verleitet, dass die innere Erfahrungsverarbeitung von fremden Kräften beeinflusst wird. Überhaupt muss man der Neigung widerstehen, die unbewussten Prozesse als Werk einer inneren Instanz (z.B. Selbst, Energie, innere Kraft) anzusehen.

Das Denken kann nach den bisherigen Überlegungen am besten als ein Werk der Selbstorganisation verstanden werden. Man identifiziert sich spontan mit den unbewusst erarbeiteten Denkergebnissen, weil in sie alle persönlichen Erfahrungen eingehen. Der Begriff der Selbstorganisation darf aber nicht als ein innerer Mechanismus verstanden werden. Er ist lediglich ein Begriff, der die Existenz von inneren zentralen Steuerungsinstanzen negiert und den Blick darauf lenkt, dass alle inneren Prozesse aus dem nicht weiter erklärbaren Zusammenwirken aller Zellen im Körper entstehen.

Es spricht vieles dafür, dass die Tatsache, dass das Denken unbewusst abläuft, ein Garant für kreatives und intuitives Denken ist. Ausschließlich bewusstes Denken würde sich sicherlich in der Wiederholung von bereits Bekanntem erschöpfen, da es zu sehr von der Angst vor dem Neuen und Unbekannten behindert wird.

4.3. Denken ohne Begriffe

»Worte sind das schlechteste Mittel, Schönheiten, die das Auge genossen hat, lebhaft wieder erstehen zu lassen.« (Otto Julius Bierbaum)

Kaum eine andere Überzeugung der Philosophie ist so sehr zum Gemeingut geworden, wie die, dass das Denken erst durch die Sprache möglich geworden ist. Man könne keinen einzigen Gedanken denken, wenn man keine Sprache besitzt. Deshalb erhält derjenige, der behauptet, dass das Denken ohne Begriffe arbeitet, den Vorwurf, dass er damit hinter die gesicherten Erkenntnisse der Philosophie zurückfällt. Gelegentlich wird allenfalls zugestanden, dass es möglich sei, dass bestimmte Denkoperationen nicht an das Medium der Sprache gebunden sind. Das gilt z.B. für Aufgaben, bei denen die Elemente des Denkens überwiegend visuell und bildhaft kodiert sind (z.B. bei der Konstruktion von Maschinen, beim musikalischen Komponieren, beim Malen, bei der Mathematik).111 Wenn man aber von der These ausgeht, dass Begriffe sich auf Regeln beziehen, drängt sich der Verdacht auf, dass die Thesen von der Untrennbarkeit von Denken und Sprache und vom Denken als einem semiotischen (d.h. an Zeichen gebundenen) Prozess falsch sind. Warum kann das Denken nicht direkt mit den Regeln operieren, wenn die Begriffe Zeichen für Regeln sind?

Wenn man das Denken von Handwerkern, Ingenieuren oder Musikern untersucht, fällt auf, dass der gemeinsame Grundstock ihrer Denkaktivitäten ein System von Regeln ist, wobei jede handwerkliche Kunst ihre eigenen Regeln kennt. In den Regeln ist das gesamte Erfahrungswissen gespeichert. Ohne den Besitz von differenzierten Regeln wäre z.B. ein Handwerker nicht in der Lage, einen Polsterstuhl herzustellen oder ein Komponist unfähig, eine Sinfonie zu komponieren. Entscheidend ist, dass mit Regeln etwas hergestellt werden kann, ohne dass dabei die verbale Sprache benutzt zu werden braucht. So sind die ersten Werkzeuge, wie z.B. die Faustkeile, lange vor der Entwicklung der Sprache entstanden. Das spricht dafür, dass Regeln die eigentlichen Bausteine des Denkens sind.

Die These, dass das Denken nicht mit Begriffen, sondern mit Regeln arbeitet, wird auch durch die Gehirnforschung unterstützt. Es wurde festgestellt, dass bei der Gebärdensprache die gleichen Gehirnareale benutzt werden wie bei der verbalen Sprache. Eigentlich wäre zu erwarten, dass die Gebärdensprache beeinträchtigt wird, wenn die Zentren der visuellen und räumlichen Fähigkeiten beschädigt sind, da sie offensichtlich auf der visuellen Wahrnehmung von Zeichen aufbaut. Dies ist jedoch nicht der Fall.112 Dieses Ergebnis spricht dafür, dass in den Sprachzentren nicht die Zeichen selbst, sondern das verarbeitet wird, wofür die Zeichen stehen, nämlich die Regeln für menschliches Handeln.

Vor allem die Tatsache, dass mehrere zusammenlebende taubstumme Menschen ganz spontan eine leistungsfähige Gebärdensprache entwickeln und dass deren Denken die gleiche Komplexität wie das verbale Denken besitzen kann,113 spricht dafür, dass das Denken nicht auf Begriffe angewiesen ist. Übrigens gewinnt die Gebärdensprache im Verlauf von mehreren Generationen die gleiche grammatikalische Komplexität, wie sie verbale Sprachen auszeichnet.

Aus dieser Sicht spricht vieles dafür, dass die Menschen bereits vor Erfindung der Sprache vor etwa 250.000 bis 100.000 Jahren denken konnten. In ihrer langen sprachlosen Vorgeschichte haben die Menschen ohne Zweifel ihr Überleben mit Hilfe der auf Regeln gestützten Denkfähigkeit gesichert. Da die Menschen vor Entstehung der Sprache in kleinen Gruppen lebten, konnten sie ihr Zusammenleben mit Hilfe der Gebärdensprache relativ gut organisieren. Es gab keinen zwingenden Grund, die verbale Sprache zu entwickeln, da sie die praktischen Probleme des Überlebens ohne weiteres lösen konnten. Deshalb ließ die vorsprachliche Kommunikation erst relativ spät das Bedürfnis entstehen, anstelle der Gebärden Begriffe zu verwenden.

Die hohe Leistungsfähigkeit der Gebärdensprache belegt, dass das eigentliche Substrat des Denkens Regeln von Bewegungen sind. Die Regeln selbst sind keine Zeichen, weil sie ihren Gehalt aus Bewegungsmustern beziehen. Sie können aber aufgrund ihres abstrakten Charakters sehr leicht mit beliebigen künstlichen Zeichen verbunden werden. Die Notwendigkeit, den Regeln Zeichen zuzuordnen, ergibt sich also nicht aus dem Denken, sondern allein aus dem Wunsch, die Ergebnisse des Denkens anderen Menschen mitzuteilen.

Der amerikanische Philosoph Jerry Fodor, ein Schüler von Noam Chomsky, hat die These aufgestellt, dass die Menschen deshalb ohne Begriffe denken können, weil dem Denken eine allen Menschen gemeinsame angeborene Sprache des Geistes zugrunde liegt.114 Er geht davon aus, dass die menschlichen Sprachen genauso wie die Computersprachen strukturiert sind. So wie alle Computersprachen (C++, Python, Visual Basic u.a.) einen einheitlichen Code benutzen und alle sprachlichen Element aus Einsen und Nullen gebildet werden, so liege auch den verschiedenen menschlichen Sprachen eine allen Menschen angeborene gemeinsame Sprache des Geistes zugrunde, die er Mentalesisch benannt hat. Neue Begriffe basieren auf der Kombination von Grundelementen der Sprache des Denkens. Fodor hat angenommen, dass die Sprache des Geistes die gleichen Merkmale wie natürliche Sprachen aufweist (intentionaler Bezug von Zeichen auf die Welt, systematische Kombinierbarkeit von einfachen Ausdrücken, Produktivität in der Erzeugung neuer Ausdrücke). Wegen der Mehrdeutigkeit vieler Begriffe könne die verbale Sprache kein taugliches Medium für die Denkprozesse sein.115

Aus den bisherigen Überlegungen ergibt sich, dass die Sprache des Denkens keine geheimnisvolle, allen Menschen gemeinsame Sprache des Geistes ist, sondern dass das Denken ohne Sprache auskommt, weil es Regeln für Bewegungen nutzt. Begriffliche Sprachen konnten sich entwickeln, weil es bei allen Menschen das universelle Denken mit Regeln gibt. Die unterschiedlichen Sprachen haben eine ähnliche Struktur, weil sie sich alle aus der Ordnung des menschlichen Handelns heraus entwickelt haben.

Gegen die These, dass das Denken nicht auf die Sprache angewiesen ist, wird in der psychologischen Literatur das Argument vorgebracht, dass am Anfang einer Problemlösung stets eine Frage steht. »So können wir unser Denken durch Fragen und Urteile kanalisieren, organisieren. Dadurch ist die Sprache "die ordnende Macht der Gedanken".«116 Wenn der Suchprozess ins Stocken kommt, wird er durch weitere Fragen wieder in Gang gebracht. Da die denkanstoßenden Fragen an die Sprache gebunden sind, könne man nicht denken, wenn man keine Fragen stellt. Diese Theorie übersieht, dass der eigentliche Anstoß zum Denken von Problemen ausgeht, mit denen man konfrontiert wird. Daran ändert sich nichts, wenn das Problem als Frage sprachlich ausformuliert wird. In der Frage an sich selbst kommt nur die persönliche Hilflosigkeit zum Ausdruck. Wie die Erfahrung zeigt, kann auch ein Problem, das nicht sprachlich zu Bewusstsein gebracht wurde. das Denken in Gang setzen. Es ist fraglich, ob es richtig ist, die Frage als Teil des Denkens zu begreifen. Wenn eine Frage von einem anderen Menschen kommt, stößt sie ebenso das Denken unmittelbar an, ohne dass man die Frage noch einmal an sich selbst richtet. Insofern stoßen Fragen, die man sich selbst stellt, nur das Denken an, sind aber noch nicht das Denken selbst. Der Versuch, mit der Bedeutung der Fragen für das Denken die Sprache als unverzichtbar für das Denken zu begründen, kann damit als gescheitert angesehen werden.

Verbale Fragen können ohne Zweifel sehr nützlich sein, um bei neuen Problemen, für die man noch nicht über geeignete Regeln verfügt, immer wieder die Aufmerksamkeit auf das zu lösende Problem zu richten. So ist auch zu erklären, dass die Psychologen immer wieder die Erfahrung machen, dass experimentelle Aufgaben besser gelöst werden können, wenn die Probanden beim Denken laut oder leise mich sich selbst sprechen. Denn für psychologische Experimente bringt man meistens keine geeigneten Problemlösungsmuster mit.

Das Rechnen scheint der einzige Bereich zu sein, für den die These nicht gilt, dass die Sprache nicht für das Denken konstitutiv ist. Sicherlich ist die Fähigkeit des Zählens und Rechnens, ohne die die Entwicklung des Handels, der Architektur, der Wissenschaft u.Ä. undenkbar gewesen wäre, erst durch die Sprache möglich geworden. Erst nachdem für unterschiedliche Mengen spezielle Zahlwörter zur Verfügung standen, konnte sich das Rechnen entwickeln. Insofern hat die Sprache die Entwicklung eines bestimmten Bereichs des Denkens, die Mathematik, angestoßen, der sich durch eine hochgradige Regelhaftigkeit auszeichnet. Das ändert aber nichts daran, dass die weit verbreitete Überzeugung infrage gestellt werden muss, dass die Menschen ihr überragendes Denkvermögen den Begriffen verdanken.

Auch wenn die Sprache nicht für das Denken konstitutiv ist, kann sie für das Denken sehr nützlich sein. Ein großer Vorteil der Begriffe besteht darin, dass komplexe Sachverhalte mit einer Fülle von miteinander verbundenen Regeln mit einem einzigen Begriff assoziiert und so im Gedächtnis aufbewahrt werden können. Ein Begriff reicht dann aus, um einen bestimmten komplexen Sachverhalt ins Arbeitsgedächtnis aufzurufen. So kann z.B. mit dem Begriff »Verbrennungsmotor« das gesamte Wissen über die Funktionsweise eines Benzinmotors in Arbeitsgedächtnis geladen werden. Außerdem kann das Bewusstsein mit Hilfe von Begriffen auf Probleme fokussiert werden, die mit ihnen verbunden wurden. So erinnert mich der Begriffe »Schere« in meinem Kalender, dass noch die Aufgabe ansteht, meine Schere schleifen zu lassen. Schließlich hat die Sprache den Aufbau eines kulturellen Gedächtnisses ermöglicht, da mit Hilfe der Schriftsprache alle Erfahrungen und Erkenntnisse für die Nachwelt festgehalten werden können. Dadurch ist eine gewaltige Akkumulation von Wissen möglich geworden, auf das das Denken jederzeit zugreifen kann.

Für die Theorie der Sprache ergibt sich aus diesen Überlegungen, dass das philosophische Dogma von der Untrennbarkeit von Denken und Sprechen dadurch entstehen konnte, weil nicht erkannt wurde, dass das Denken nicht mit Zeichen, sondern mit Regeln arbeitet. Da in den Regeln alle Erfahrungen im Umgang mit den Objekten der Realität enthalten sind, brauchen die Regeln nur denkend aufeinander bezogen zu werden, um ein bestimmtes Problem zu lösen. Damit kann das Denken als ein zeichenloser Prozess verstanden werden. Zeichen werden nicht für das Denken, sondern primär für die Kommunikation benötigt. Die verbreitete Überzeugung, dass die Vernunft erst durch die Sprache möglich geworden ist, erweist sich als ein unbegründetes philosophisches Dogma.

4.4. Rational ist Regeln kombinieren

»In der Tat bestehen die meisten Irrtümer nur darin, dass wir die Worte nicht richtig auf die Dinge anwenden«. (Baruch de Spinoza)
»Alles, was wir denken, ist entweder Zuneigung oder Abneigung.« (Robert Musil)

Wenn von der Rationalität des Denkens die Rede ist, wird üblicherweise angenommen, dass das Denken allgemeinen Gesetzen folgt. Das Denken sei demnach korrekt, wenn es die logischen Denkgesetze befolgt. Es wird suggeriert, dass es sich beim Denken um einen vom Geist bzw. von der Vernunft gelenkten Prozess handelt, bei dem der nächste Satz aus dem vorhergehenden als Schlussfolgerung hervorgeht. Das normale Denken entspricht aber in keiner Weise diesem Konzept: Es geht entweder induktiv vor, in dem es aus Erfahrungen allgemeine Regeln ableitet oder es verknüpft additiv einzelne Regeln miteinander. Das deduktive, schlussfolgernde Denken ist eher der Ausnahmefall. Es ist auffallend, dass alle logischen Gesetze (z.B. Satz vom Widerspruch, Satz vom ausgeschlossenen Dritten, Satz vom zureichenden Grund, Satz der Identität) aus dem Ausnahmefall des schlussfolgernden Denkens abgeleitet wurden. Deshalb können die logischen Gesetze nicht beanspruchen, für das Denken schlechthin zu gelten.

Aus den bisherigen Überlegungen folgt, dass sich das Denken nicht nach den Regeln der formalen Logik richtet, sondern nach den Regeln, die sich aus der Logik der Objekte, d.h. aus den Anforderungen der Objekte ergeben. Jemand denkt demnach rational, wenn er aus Erfahrungen Regeln ableitet, sein Denken an den Regeln ausrichtet und seine erlernten Regeln jederzeit überprüft. Rationales Denken ist demnach nichts anderes als ein Denken, das erlernte Regeln sachgemäß kombiniert. Da das Denken ausschließlich darin besteht, Regeln zu kombinieren, ist es ein rein formaler, wertneutraler Prozess. Deshalb kann das Denken, dass die Regeln eines Konzentrationslagers befolgt, als rational erscheinen. Zu Recht hat Immanuel Kant den Verstand als Vermögen betrachtet, Regeln zu denken und die Vorstellungen der Sinne unter Regeln zu bringen.117 Daraus folgt, dass das für folgerichtiges Denken verwendete Adjektiv »logisch«, das übrigens in seinem griechischen Wortstamm nur Sprache bedeutet, irreführend ist. Bereits Ludwig Wittgenstein bestritt, dass die Logik das Paradigma des Denkens sei.118

So wie aus Bewegungen spontan deren Regeln abgeleitet werden, können auch aus komplexen Handlungen deren Regeln erfasst werden. Am Bekanntesten ist das Denkmuster des »wenn-dann«. Ein anderes Denkmuster besteht darin, dass das Handeln erst ein gewünschtes Ergebnis zeigt, wenn die Einwirkung auf ein Objekt ein bestimmtes Kraftniveau überschreitet. Bekannt ist auch das Denkmuster, dass die Wirkung nur eintritt, wenn ein dritter Wirkfaktor (Katalysator) zusätzlich Einfluss nimmt. Das Denkmuster der Rückkoppelung geht von der Erfahrung aus, dass eine Gegenreaktion erfolgt, wenn bestimmte Schwellenwerte überschritten werden. Denkmuster erscheinen als rational, weil sie sich im Denken und Handeln bewährt haben.

Wenn von Denkmustern die Rede ist, darf also nicht unterstellt werden, dass es sich um Gesetzmäßigkeiten handelt, die dem Denken inhärent sind. Wenn z.B. das Denkmuster »wenn-dann« verwendet wird, nutzt man damit nur die Erfahrung, dass auf eine bestimmte Bewegung regelmäßig eine bestimmte Wirkung folgt. Im alltäglichen Denken genügt das Wissen, dass eine bestimmte Bewegung ein geeignetes Mittel ist, um ein gewünschtes Ziel zu erreichen. Wenn jedoch die Beziehung zwischen Mittel und Ziel als ein Ursache-Wirkungs-Verhältnis klassifiziert wird, gibt man ihr eine Bewertung, die sich nicht begründen lässt. Denn die Menschen können nur Regelmäßigkeiten beobachten, aber nicht wissen, ob es sich dabei um gesetzmäßige, also allgemeingültige Verknüpfungen handelt.

Übrigens stützt sich die Idee, dass sich die Denkmuster aus dem verinnerlichten Handeln heraus entwickeln, auf Überlegungen von Jean Piaget.119 Wenn es zutrifft, dass die Regeln des Denkens aus der Struktur des Handelns hervorgehen, ist der Versuch von Immanuel Kant, die allgemeingültigen geistigen Regeln des Denkens aus der Analyse des Denkvermögens abzuleiten, ein zum Scheitern verurteiltes rationalistisches Vorgehen.

Da alle Denkmuster aus dem Umgang mit sinnlich vorfindlichen Objekten abgeleitet werden, können sie sinnvollerweise nur für konkrete Probleme des Handelns eingesetzt werden. Wenn sie auf abstrakte Allgemeinbegriffe (Geist, Seele, Ich, Wahrheit, Freiheit u.a.) angewendet werden, fehlt die Gewissheit, dass sie dafür geeignet sind. Da es für die Verknüpfung von abstrakten Allgemeinbegriffen keine empirisch ermittelbaren Regeln gibt, führt kein Weg daran vorbei, Metaphern zu benutzen. Deshalb ist festzustellen, dass alle Aussagen, die in der Literatur über die oben erwähnten abstrakten Allgemeinbegriffe zu finden sind, darauf basieren, dass die Begriffe so behandelt werden, als würden personale Instanzen handeln. Wenn solche Aussagen von geistigen Autoritäten (z.B. Philosophen) ungeprüft übernommen werden, führt das zwangsläufig zu fremdbestimmtem Denken.

Statt von logischem Denken sollte besser von geordnetem Denken gesprochen werden. In diesem Sinn hat Hans Aebli, ein Schüler von Jean Piaget, Denken als Ordnen des Tuns bezeichnet.120 Die Denkmuster legen fest, wie Bewegungen nach der Ordnung der Objekte miteinander verknüpft werden können, so wie die Spielregeln beim Schachspiel bestimmen, welche Bewegungen die einzelnen Figuren machen dürfen. Es ist irreführend, realitätsgerechtes Handeln als logisch zu bezeichnen, weil damit automatisch der Anspruch auf innere geistige Stringenz erhoben wird. Die Aufforderung, rational, logisch oder folgerichtig zu denken, kann demnach nur so viel bedeuten, dass die kulturell entwickelten Regeln, wie mit den Objekten umzugehen ist, eingehalten, d.h. die Zwänge der Objekte beachtet werden sollen. Der Begriff »rational« ist offensichtlich nichts weiter als eine Bewertung, dass jemand in einer Problemsituation die kulturell akzeptierten Regeln richtig anwendet. Dasselbe gilt für das Adjektiv »intelligent«, mit dem oft regelgerechtes Denken und Handeln bewertet wird.

Der Begriff »rational« wird häufig missverstanden. Es wird unterstellt, dass das, was als rational bezeichnet wird, auch richtig in dem Sinne ist, dass es mit höheren Werten identisch ist. Dementsprechend scheint das gut zu sein, was als vernünftig angesehen wird. In diesem Sinne wird der Begriff »rational« häufig von gesellschaftlichen Autoritäten missbraucht. Wenn rationales Verhalten gefordert wird, muss immer damit gerechnet werden, dass letztlich nur die Anpassung an die Ziele und Regeln mächtiger Gruppen verlangt wird. Deshalb ist der auch beliebte Appell an andere Menschen »Sei vernünftig!« völlig unvernünftig. Er fordert den anderen gerade nicht dazu auf zu denken, sondern sich an die Regeln des anderen zu halten, der unterstellt, dass seine eigenen Regeln allgemeingültig sind und verkennt, dass die Ziele des anderen möglicherweise nur mit völlig anderen Regeln zu erreichen sind.

Der Begriff »rational« darf allerdings nicht zu eng gefasst werden. Da alles Handeln letztlich dazu dient, die Selbsterhaltung zu sichern, bezieht sich Rationalität auf alles, was der Selbsterhaltung förderlich ist. Dabei darf der Begriff Selbsterhaltung nicht auf die Bedürfnisse eines einzelnen Individuums eingeengt werden. Rationalität muss daran gemessen werden, inwieweit das Handeln mit seinen Zielen den sozialen und natürlichen Lebensbedingungen der sozialen Gemeinschaft gerecht wird.121 Bei seiner weiten Fassung lassen sich alle Ziele begründen bzw. als begründet ablehnen. Aber die Begründung kann nicht mit Hilfe der Mittel des Denkens allein erfolgen, sondern ergibt sich aus den Bedürfnissen der Gemeinschaft.

Wenn von Intelligenz die Rede ist, wird nichts anderes gemeint, als was mit rational bezeichnet wird. Da in den Regeln alle Erfahrungen beim erfolgreichen Handeln so aufbereitet werden, dass sie für effizientes Handeln benutzt werden können, sind die Regeln die Basis der Intelligenz. Das Denken kann umso intelligenter sein, je mehr Regeln beherrscht werden. Intelligentes Handeln ist effizientes Handeln. Zu Recht wird das Denken als intelligent bezeichnet, das sich an die Regeln erfolgreichen Handelns hält.

4.5. Die Bewertungen der Gefühle

»Das Wort verwundet leichter als es heilt.« (Johann Wolfgang von Goethe)

Im Allgemeinen werden die Gefühle als störend für das Denken abgewertet. Vom Denken wird verlangt, dass es völlig objektiv vorgeht. Die Theorie der Gefühle wurde dementsprechend bisher überwiegend davon geprägt, dass die Gefühle aus dem Gegensatz zum Denken begriffen wurden. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass man damit dem Verhältnis von Denken und Gefühlen nicht gerecht wird.

Aus biologischer Sicht sind Gefühle Bewertungen, die vom Organismus spontan vorgenommen werden, wenn ihm etwas widerfährt, das ihn aus dem Gleichgewicht bringt.122 Bei dem Tod eines nahestehenden Menschen oder bei dem Verlust eines lebensnotwendigen Gegenstandes meldet sich das Gefühl der Trauer. Es regt an, den Verlust zu verarbeiten und die Lücke, die dadurch entstanden ist, aktiv zu schließen. Wenn man anderen Menschen einen Schaden zugefügt hat, meldet sich das Gefühl der Schuld. Es stößt Aktivitäten der Wiedergutmachung und des Ausgleichs an. Bei einer Beleidigung meldet sich das Gefühl der Wut, das mit dem Impuls verbunden ist, sich gegen die Abwertung zu wehren. Allen Gefühlen ist gemeinsam, dass bestimmte Menschen oder Objekte angestrebt oder vermieden werden. Alle Gefühle stoßen ein bestimmtes Handeln und geben ihm eine Orientierung. Die Gefühle können deshalb nur richtig verstanden werden, wenn sie in ihrer bewertenden Funktion für das Handeln begriffen werden.

Die Sichtweise, dass jede Emotion mit einem Handlungsimpuls verbunden ist, liegt den meisten psychologischen Emotionstheorien zugrunde. In diesen Theorien wird geklärt, von welchen Faktoren die Bewertungen abhängig sind. Welche Wünsche gehen in die Bewertungen ein? Ist der bewertete Gegenstand anwesend oder abwesend? Erscheint die bewertete Situation als leicht oder schwer bewältigbar? Wie wird sich die Situation entwickeln? Die Bewertungen stehen keineswegs nur am Anfang einer Handlung, sondern begleiten jeden einzelnen Schritt. Nur so bleibt die Chance bestehen, auf evtl. fehlerhafte Teilhandlungen korrigierend reagieren zu können. In die Bewertungen gehen alle bisher gesammelten Erfahrungen ein. Gefühle können deshalb auch als Regeln betrachtet werden, mit denen Objekte oder Ereignisse anhand der persönlichen Wünsche bewertet werden. Es ist deshalb nicht richtig, die Gefühle als etwas Irrationales zu betrachten.

Es ist unbestritten, dass die Bewertungen spontan erfolgen. So wenig wie man sich für seine Gefühle entscheiden und sie bewusst gestalten kann, sondern ihnen ausgeliefert ist, so wenig hat man die Kontrolle über die eigenen Bewertungen. Gefühle und Bewertungen sind die zwei Seiten einer Medaille.

Es ist nicht zu übersehen, dass Gefühle immer mit bestimmten Körperzuständen einhergehen. Das hängt damit zusammen, dass jedes Gefühl mit einer bestimmten Handlungsdisposition verbunden ist. Deshalb muss der Körper in einen entsprechenden handlungsfähigen Zustand versetzt werden. Je nach Gefühl wird das Atem-, Nerven-, Hormon- und Energiesystem so aktiviert, dass die entsprechende Handlung ausgeführt werden kann. Deshalb sind auch alle Bewertungen stets mit typischen physiologischen Begleitsymptomen (Atmung, Herztätigkeit, Hormone) verbunden. So ist der gesamte Körperzustand beim Gefühl der Freude völlig anderes als bei den Gefühlen der Wut oder Angst.

Die menschlichen Gefühle zeichnen sich dadurch aus, dass die ihnen zugrunde liegenden Bewertungen lernfähig sind und dass sie sich den jeweiligen sozialen Lebensbedingungen anpassen. Der entscheidende Angelpunkt zum Verständnis der Gefühle besteht also darin, dass sie keine eigenständigen Kräfte, sondern nur Manifestationen von in kulturellen Lernprozessen gelernten Bewertungen sind und dass den Gefühlen spezifische Handlungsprogramme zugrunde liegen.123

Aus dieser Sicht ist die Theorie der somatischen Marker, die Antonio Damasio in seinem einflussreichen Buch "Descartes' Irrtum: Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn" entwickelt hat, problematisch.124 Damasio vertritt die These, dass die körperlichen Symptome markieren, d.h. anzeigen, ob ein Objekt oder ein Ereignis positiv oder negativ für den Organismus ist. Sie sollen die Funktion haben, dem Denken zu helfen, ungeeignete Alternativen auszuscheiden. Damasio unterstützt damit die Bewertungsfunktion der Gefühle. Aber es ist eine Fehleinschätzung der körperlichen Begleitsymptome der Emotionen, wenn sie als die eigentlichen Ursachen der Bewertung dargestellt werden. Die eigentliche Bewertung geht direkt von den Emotionen aus, die aufgrund ihrer physiologischen Struktur stets mit typischen Begleitsymptomen verbunden sind. Es ist auch problematisch, wenn unterstellt wird, dass die körperlichen Zustandsveränderungen bewusst wahrgenommen werden müssen, damit sie wirksam werden können. Die Beobachtung zeigt, dass die Bewertungen zum größten Teil unbewusst in das Denken einfließen und dass die körperlichen Begleitsymptome nur am Rande oder gar nicht beachtet werden.

Wenn vom Einfluss der Gefühle auf das Denken gesprochen wird, ist dies im Grunde eine vereinfachende Redeweise. Genau genommen geht der Einfluss von den unbewusst erfolgenden Bewertungen aus. Da alle Bewertungen einen bestimmten Handlungsimpuls enthalten und so die Auswahl der Handlungsziele bestimmen, nehmen sie einen mächtigen Einfluss auf das Handeln. Gefühle der Begeisterung, Freude und Neugierde geben dem Denken die Kraft, solange sich mit einem Problem zu beschäftigen, bis eine befriedigende Lösung gefunden wird. Wenn die Bewertungen mit Angst verbunden sind, können sie das Denken nachhaltig behindern, da sie den Kontakt zu Menschen und Objekten beeinträchtigen. So ist z.B. Wut ein starker Antrieb des Denkens, aber im Ärger kann nicht produktiv gedacht werden. Auch beim wissenschaftlichen Denken braucht man die ständige Stimulierung durch das Gefühl der Neugierde. Wer gelernt hat, seine Gefühle frei zu artikulieren, hat keine Angst, dass sie sein Denken verzerren könnten. Aus diesen Überlegungen folgt, dass die traditionelle Forderung, sich im Denken von Gefühlen freizumachen, auf einem falschen Verständnis der Gefühle basiert.

Das Fühlen beeinträchtigt also keineswegs das Denken, wie es von vielen Philosophen behauptet wird. Ohne Gefühle mit ihren Bewertungen wäre das Denken orientierungslos. Die Gehirnforschung hat gezeigt, dass Menschen, deren emotionales Zentrum beschädigt wurde, unfähig sind, sich Ziele zu setzen und danach zu handeln. Das unterstützt die These, dass Gefühle Vorrang beim Denken haben, dass also das Denken nicht aus sich heraus seine Ziele bestimmen kann, sondern dass sie von den emotionalen Bewertungen vorgegeben werden. So wenig wie das Denken seine Ziele bestimmen kann, so wenig kann es bewerten, was für den Organismus nützlich und was schädlich ist. Wie bereits dargestellt wurde, besteht das Denken ausschließlich darin, Regeln anzuwenden und zu verknüpfen. Auch bei zwischenmenschlichen Problemen ist das Denken auf die Zielbestimmung durch die Gefühle angewiesen. Wenn jemand im Einklang mit seinen Gefühlen handelt, wird zu Recht von wahren Gefühlen gesprochen. Die Gefühle machen das Handeln wahr.

Die Bewertungen hängen davon ab, welche Priorität den einzelnen Bedürfnissen gegeben wird. Als natürliche Wesen bringen die Menschen neben den animalischen Bedürfnissen nach Nahrung, Sexualität und Schutz vor dem Wetter das Bedürfnis nach Liebe, Sicherheit, Grenzen und Beziehung mit auf die Welt. Aus dem menschlichen Zusammenleben können sekundäre Bedürfnisse nach Macht, Gewinnsteigerung, ökonomisches Wachstum u.Ä. hinzukommen. Die meisten Bedürfnisse drücken sich in bestimmten Zielen aus. Denn von Anfang an wird gelernt, auf welche Weise, d.h. mit welchen Regeln die Bedürfnisse am besten befriedigt werden können. Die sekundären Ziele können so übermächtig werden, dass dadurch die primären Bedürfnisse zu kurz kommen. So ist z.B. in kapitalistischen Gesellschaften das Ziel der Profitmaximierung so dominant, dass darunter die primären Bedürfnisse nach Sicherheit und Beziehung massiv leiden.

Wenn von verschiedenen Formen des Denkens (instrumentelles, mathematisches, zweckrationales oder humanes Denken) gesprochen wird, ist zu berücksichtigen, dass beim Denken völlig unterschiedliche Regeln benutzt werden können. Sie hängen davon ab, welche Ziele verfolgt werden. So nehmen z.B. die Regeln des instrumentellen Denkens, die ausschließlich an technischer und wirtschaftlicher Effizienz ausgerichtet sind, keine Rücksicht darauf, ob dadurch Regeln, die für die Gestaltung eines glücklichen und harmonischen Lebens erforderlich sind, missachtet werden. Humanes Denken ist dadurch gekennzeichnet, dass es dem Glück der Menschen einen Vorrang gibt und evtl. Einbußen bei der Effizienz in Kauf nimmt, um dadurch das Glück der Menschen zu bewahren. Oder das mathematische Denken setzt das Prinzip absolut, dass alle Erkenntnisse in mathematische Formeln gefasst werden können. Damit wird das Denken, das sich an humanen Zielen orientiert, abgewertet. Es gibt also keine unterschiedlichen Formen des Denkens. Die Unterschiede im Denken rühren lediglich daher, dass von unterschiedlichen Regeln ausgegangen wird.

Auch die verbreitete Überzeugung, dass man sich mit dem eigenen Denken in gute Laune versetzen kann, beruht auf einem falschen Verständnis des Denkens. Es ist ausgeschlossen, sich mit dem Denken allein zu beruhigen. Dazu sind gut eingeübte Gewohnheiten erforderlich, wie der eigene Atem mit Spielen, Musizieren, Joga, Sport u.a. beruhigt werden kann. Der eigene gefühlsmäßige Zustand hängt allein von den spontanen Bewertungen ab, die vom Organismus vorgenommen werden, abhängig davon, in welchem Zustand er sich gerade befindet.

Normalerweise werden Gefühl kurzzeitig ausgedrückt, um danach wieder restlos zu verschwinden. Wenn sie ihre Bewertungsfunktion erfüllt und das Handeln angeleitet haben, lösen sie sich wieder vollständig auf. Dieser normale Zyklus der Gefühle wird unterbrochen, wenn das emotional angeregte Handeln nicht ausgeführt werden kann, weil die Kraft fehlt, es trotz der Androhung einer Bestrafung durchzuführen oder weil die Angst vor Liebesverlust, Verlassenwerden oder Beschämung so stark ist, dass sie nicht integriert werden kann. Wenn z.B. ein kleines Mädchen seine Wut nicht ausdrücken darf, dass es von seinem Vater zu wenig Zuwendung erfährt, kann es sie nicht im Handeln ausagieren, sondern muss sie verdrängen. Es bildet sich die Neigung, die vermisste Zuwendung von anderen Männern zu erwarten. Als erwachsene Frau wird sie äußerst misstrauisch auf die geringsten Symptome von Unachtsamkeit reagieren.

Verletzte Gefühle sind immer mit der Angst verbunden, dass sich Situationen einstellen könnten, in der die Gefühle erneut verletzt werden. Deshalb wird bei jeder emotionalen Verletzung ein Abwehrmechanismus aufgebaut, mit dem solche Wiederholungen vermieden werden können. So vielgestaltig die Abwehrmechanismen auch sind, sie handeln alle von Kontaktvermeidung. Jeder Abwehrmechanismus ist mit einem Glaubenssatz verbunden. Wenn man z.B. Angst hat, in einer Gruppe nicht beachtet zu werden, bildet sich evtl. folgender Glaubenssatz: »Es könnte sein, dass ich in der Gruppe an den Rand gestellt werde!« Sobald eine tiefsitzende Angst erneut angesprochen wird, drängt sich der Glaubenssatz ins Bewusstsein und zieht alle Aufmerksamkeit auf sich. Die Wahrnehmung der Außenwelt leidet darunter, da man damit beschäftigt ist, den Glaubenssatz wegzuschieben. In Wirklichkeit lässt die Situation an die Angst denken, die bei früheren emotionalen Verletzungen entstanden ist und die auf die Weise verdrängt wurde, dass die Erinnerung an die auslösende Situation von ihr abgespalten wurde. Deshalb bleibt das durch den Glaubenssatz ausgelöste innere Selbstgespräch unproduktiv. Die Bewältigung von Ängsten setzt voraus, dass sie wieder mit der Erinnerung an die ursprüngliche Situation verbunden werden, so dass jedes Mal, wenn eine Angst angesprochen wird, deutlich wird, dass sie bloß eine Erinnerung an eine vergangene Situation ist.

Die menschlichen Ängste haben die Besonderheit, dass sie durch das Denken reaktiviert werden können. Wenn ein Hund von seinem Herrn getreten wurde, zeigt er nur Angst, wenn sein Herr in der Nähe ist. Dagegen kann bei den Menschen die Angst bereits hochkommen, wenn an eine angstauslösende Situation gedacht wird. Das hängt offensichtlich mit der Sprachfähigkeit der Menschen zusammen. Die Angsterinnerungen können nun auch durch den inneren Dialog aktiviert werden, weil die Ängste auch mit Begriffen verknüpft und darüber abgerufen werden können. Deshalb ist die Angst seit der Entwicklung der Sprache zu einem allgegenwärtigen Phänomen geworden.

Grundsätzlich kann festgestellt werden, dass alle Handlungen, die nicht abgeschlossen werden konnten, weil Gefühle verletzt und nicht ausagiert wurden, neurotische Gewohnheiten hinterlassen, die ein situationsgerechtes Reagieren behindern. Wie die Gestaltpsychologie herausgefunden hat, haben unabgeschlossene Handlungen die Tendenz, sich immer wieder im Bewusstsein zu melden. Damit ist der Nachteil verbunden, dass die Fähigkeit eingeschränkt wird, sich auf den aktuellen Moment zu konzentrieren. Aus diesen Überlegungen folgt, dass es nicht die Gedanken als solche sind, die ein Leben im Hier und Jetzt unmöglich machen, wie es der Buddhismus annimmt, sondern nur diejenigen Gedanken, die mit verletzten Gefühlen zusammenhängen.

Trotz der starken Abhängigkeit des Denkens von den Gefühlen fühlt man sich beim Denken nicht von ihnen reglementiert und lehnt deshalb die Behauptung der Deterministen ab, dass alle Gedanken kausal vorbestimmt seien. Schließlich gehen in die Gedanken alle persönlichen Erfahrungen und Bewertungen ein. Die Regeln, die beim Denken befolgt werden, wurden aus den individuellen Erfahrungen abgeleitet und können jederzeit abgewandelt werden, wenn dies die Situation erfordert. Angenommen, man würde absolut frei und bewusst denken können, man würde zu keinem anderen Ergebnis kommen!

Es ist ohnehin sinnlos, von der Freiheit oder Unfreiheit des Denkens zu reden. Es wurde bereits dargestellt, dass der naturwissenschaftliche Begriff der Kausalität nicht auf das menschliche Handeln übertragen werden darf. Da die Menschen ihr Handeln an Zielen ausrichten, ihre Ziele anhand von Umwelterfahrungen korrigieren und flexibel an veränderte Situationen anpassen können, ist das kausale Denkmodell zum Verständnis des menschlichen Handelns ungeeignet. Insofern kann die Theorie des Determinismus das subjektive Gefühl nicht erschüttern, dass das Denken nicht von äußeren Kräften reglementiert wird.

Entscheidend ist die problemlösende Qualität des Denkens. Sie wird umso größer sein, je mehr Fähigkeiten angeeignet werden konnten und je angstfreier man handeln kann.125 Sie wird reduziert, wenn man sich aus Angst vor Strafe oder persönlichen Nachteilen von Gedanken oder Erwartungen anderer Menschen fremdbestimmen lässt. Der Spielraum des Denkens wird ebenso eingeschränkt, wenn die introjizierten kulturellen Ge- und Verbote, Manipulationen durch Ideologien und Werbung u.Ä. unreflektiert bleiben. Die gelernten Konditionierungen determinieren aber nicht das Denken, sondern engen nur den Spielraum des Denkens ein. Wenn jemand z.B. über astronomische Probleme nachdenkt, ohne die Erkenntnisse der modernen Astronomie zu beherrschen, wird man sein Denken nicht als unfrei, sondern allenfalls als naiv bezeichnen.

Für das Verhältnis von Fühlen und Denken folgt aus diesen Überlegungen, dass beide Faktoren gleich notwendig für das Handeln sind. Die traditionelle Überzeugung, dass zwischen Gefühlen und Denken eine unüberbrückbare Kluft besteht, erweist sich als nicht haltbar. Deshalb ist die übliche Vorstellung vom Verhältnis von Denken und Fühlen, dass das eine auf das andere wirkt, zu verwerfen. Es muss bedacht werden, dass es sich bei den beiden Begriffen »Fühlen« und »Denken« um abstrakte Allgemeinbegriffe handelt, die nichts weiter als Zeichen sind, um damit auf komplexe innere Prozesse zu verweisen. Es zeigt sich weiterhin, dass sich diese Prozesse nur schwer voneinander abgrenzen lassen. Im konkreten Handeln sind immer beide Prozesse wirksam. Von den Gefühlen geht der Impuls zum Handeln aus. Gefühle legen einen bestimmten Weg fest, wie ein Problem gelöst werden kann. Denn sie enthalten dafür geeignete Regeln. Eventuell müssen vom Denken weitere Regeln ausgewählt werden, um das Handeln situationsgerecht durchführen zu können. Auch die scheinbar neutralen Regeln des instrumentellen Handelns werden letztlich positiv bewertet, da sie sich als tauglich erwiesen haben, damit effizient handeln zu können. Beim Denken greifen so verschiedene Regeln ineinander, ohne dass sie klar voneinander unterschieden werden können. Gefühle und Denken müssen als verschiedene Aspekte einer einheitlichen Ausdrucksbewegung betrachtet werden, mit der der Organismus zum Handeln drängt.

4.6. Ziele des Handelns

»Woher soll ich wissen, was ich meine, bevor ich höre, was ich sage?« (E. M. Forster)

Aus der Analyse der Gefühle geht hervor, dass man nicht den Fehler machen darf anzunehmen, dass die Ziele des Handelns vom Denken festgelegt werden. Denn realistische Ziele ergeben sich spontan aus den persönlichen Erfahrungen, die beim besonnenen, die langfristigen Folgen berücksichtigenden Handeln gemacht werden. Nach jedem Handeln wird spontan geprüft, ob und wie erfolgreich es verlaufen ist. In die Bewertung werden immer auch die langfristigen Folgen des Handelns einbezogen, insofern man von ihnen Kenntnis besitzt. Wenn z.B. bekannt ist, dass die fossilen Energieressourcen nur noch wenige Generationen reichen, ergeben sich daraus zwingend die Ziele, verstärkt regenerative Energieträger zu nutzen und alle Energien effizienter zu nutzen. Wenn die Bewertung zum Ergebnis kommt, dass das Handeln nicht optimal verlaufen ist, wird sie in einem veränderten Ziel oder in der Wahl anderer Mittel für das gewählte Ziel festgehalten. Ziele legen also fest, wie beim nächsten Auftreten eines bestimmten Problems gehandelt werden soll. Solche Ziele werden als sinnvoll erlebt. Schließlich sind sie aus der Kontinuität persönlichen Handelns hervorgegangen.

Wie sehr das praktische Handeln die Ziele bestimmt, zeigt sich bei der wissenschaftlichen Erforschung der Welt. Die Naturwissenschaft hat vor allem in den Bereichen die größten Fortschritte gemacht, in denen das Handwerk am weitesten entwickelt war. So gingen zum Beispiel von der handwerklichen Produktion von Dampfmaschinen starke Impulse auf die Entwicklung der Wissenschaft der Thermodynamik aus.126 Wenn gehandelt wird, stellen sich Probleme ein, für die neue Lösungen gesucht werden müssen. Auch die Grundlagenforschung ist erst auf dem Boden von praktischen Problemen entstanden. So ist z.B. die Materialforschung eine Antwort auf das Problem, dass viele technische Prozesse nicht ausreichend stabil ablaufen, weil man noch nicht die dafür geeigneten Materialien gefunden hat.

Die Priorität des Handelns für die Entwicklung von Zielen wird unabweisbar, wenn die Ziele aus der Perspektive der kindlichen Entwicklung betrachtet werden: Das nachahmende Handeln der Kinder erschließt die kulturell geschaffene Umwelt und ihre Möglichkeiten. In der handelnden Auseinandersetzung mit der kulturellen Umwelt wird deren Bedeutung erkannt. Es dauert viele Jahre, bis das kulturelle Zielsystem selbständig übernommen und denkend erfasst werden kann. Erst dann können die Ziele kritisch überprüft werden. Deshalb sind die meisten Ziele nichts anderes als eine Anpassung an die vorherrschenden Lebensbedingungen.

Häufig werden Ziele von außen übernommen. Entweder sie werden direkt von Autoritäten aufgezwungen oder sie werden von der Literatur, von Vorbildern u.Ä. empfohlen. Bei solchen Zielen ergibt sich das Problem, dass sie zunächst ein Fremdkörper für das persönliche Denken sind. Damit sie als persönliche Ziele anerkannt werden können, müssen sie in das persönliche Zielsystem integriert werden. Dazu gehört zwingend, dass sie im eigenen Handeln ausprobiert werden, so dass sich das unbewusste Denken davon überzeugen kann, dass sie mit den persönlichen Zielen kompatibel sind. Das gleiche gilt für Regeln aus Ratgeberbüchern, wie z.B.: »Sie können Menschen nicht ändern!« »Nörgeln Sie nicht an ihrem Partner herum!« Solche Regeln können erst wirksam werden, wenn sie in neue Verhaltensgewohnheiten transformiert worden sind. Ziele lassen sich natürlich auch durch reines Nachdenken aufstellen. Dabei ist allerdings die Gefahr sehr große, dass sich die Ziele zu weit von den Zwängen entfernen, die im Umgang mit den Objekten eingehalten werden müssen.

Da jede Bewegung einem Ziel dient, kann seit Erfindung der Sprache anderen Menschen erklärt werden, warum man sich für ein bestimmtes Handeln entschieden hat. Seitdem ist es zum Bestandteil der sozialen Praxis geworden, vom anderen eine Begründung für sein Handeln zu verlangen, wenn bestimmte soziale Regeln nicht einhalten werden. Beim Begründen geht es darum, anderen das eigene Handeln verständlich zu machen, indem man auf das angestrebte Ziel verweist und betont, dass alternative Wege zur Zielerreichung nicht in Betracht kamen. Evtl. kann man die eigene Handlung auch aus der Perspektive des anderen anschauen, der eine Begründung verlangt. Die Begründung kann dann evtl. damit angereichert werden, dass man von einem bestimmten persönlichen Grundverständnis der Handlungssituation ausgegangen ist. Aus der menschlichen Fähigkeit, das eigene Handeln begründen zu können, wird immer wieder abgeleitet, dass es eine geistige Sphäre gibt. Da das Begründen aber darin besteht, dass erklärt wird, warum man sich für andere Regeln entschieden hat, als es die Umwelt erwartet hat, ist diese Schlussfolgerung nicht zulässig. Das Begründen ist lediglich ein nachträglicher Versuch, sein Verhalten zu rechtfertigen. Die vorgebrachten Gründe sind keineswegs die Gründe, die dem Verhalten zugrundeliegen.

Als Fazit dieser Überlegungen ergibt sich, dass Ziele kein Produkt des rationalen Nachdenkens sind, sondern sich spontan aus dem Handeln ergeben. Da alles Handeln zielorientiert ist, kann ständig eine Revision der persönlichen Ziele stattfinden.

4.7. Selbstreflexivität

»Um sich selbst zu erkennen, muss man handeln.« (Albert Camus)

Die Selbstreflexivität des Denkens wird in der Regel als eine herausragende menschliche Fähigkeit betrachtet, die einzigartig in der Welt der Lebewesen ist. Wenn aber das Denken als ein probeweises inneres Handeln verstanden wird, verliert die Selbstreflexivität des Denkens ihre Ausnahmestellung. Die Selbstreflexivität des Denkens hängt offensichtlich damit zusammen, dass alle Menschen effiziente Handlungen anstreben. Dazu muss ständig geprüft werden, ob die verwendeten Mittel für die gewählten Ziele tauglich sind. Ihre voraussichtliche Tauglichkeit zeigt sich am Gefühl der Stimmigkeit. Oft zeigt sich aber erst im Handeln, ob die gedankliche Vorbereitung korrekt war. Insofern kann man sich nicht auf das Denken verlassen und muss damit rechnen, dass evtl. das Handeln während des Vollzugs oder danach korrigiert werden muss. Oder man merkt erst nachträglich in der Rückbesinnung der abgelaufenen Handlung, dass sie nicht zufriedenstellend abgelaufen ist. Menschliches Handeln ist deshalb zwangsläufig selbstreflexiv. Da das Denken ein inneres probeweises Handeln ist, besitzt es ebenso die Qualität der Selbstreflexivität. Die Selbstreflexivität des Denkens ergibt sich somit aus der selbstreflexiven Qualität des Handelns.

Normalerweise wird der Impuls zur Selbstreflexion von gescheiterten Handlungen ausgelöst. Er kann auch von chronischer Unzufriedenheit, wiederholtem Unbehagen, psychischen Störungen u.Ä. kommen, vorausgesetzt, dass diese Gefühle als Symptome für eine generelle Blockierung des Handelns wahrgenommen werden. Es stellt sich dann die Frage, welche Gewohnheiten dazu beigetragen haben, dass das Handeln gescheitert ist. Wer aber nach rigiden Verhaltensgewohnheiten handelt, wird die Impulse zur Selbstreflexion nicht wahrnehmen.

Sobald die Selbstreflexivität beim Handeln beherrscht wird, kann sie auch im Denken angewandt werden. Sie äußert sich darin, dass man sofort spürt, wenn ein Gedanke nicht ganz geeignet ist, im Handeln umgesetzt werden ist. Das Gefühl für die Stimmigkeit eines Gedankens wächst in dem Maße, wie man gelernt hat, ihn im bewussten Probehandeln zu überprüfen, so wie man beim Rechnen lernt, das Ergebnis mit einer groben Überschlagsrechnung auf seine Richtigkeit zu testen. Natürlich geht die Überprüfung nur bei Problemen, die aufgrund von bisherigen Erfahrungen überschaubar sind. Bei ungewohnten, unüberschaubaren Situationen melden sich sofort Zweifel und man spürt, dass das Handeln nach diesen Gedanken mit Unsicherheit verbunden ist. Wer dagegen nicht gelernt hat, seine Gedanken selbstkritisch im virtuellen Probehandeln zu prüfen, identifiziert sich uneingeschränkt mit seinen Gedanken. Er wird arrogant und neigt zu Selbstüberschätzung. Er wird sich auf den ersten Handlungsimpuls einlassen, der sich aus den erlernten Regeln ergibt und die körperlichen Signale übersehen, die darauf hinweisen, dass damit keine optimale Lösung erreicht werden kann. Insofern ist die These von Daniel Kahneman, dass das unbewusste Denken unfähig zum Zweifeln ist, nicht haltbar.127

Besonnenes Handeln bedeutet also, dass das Gespür für Unstimmigkeiten bei den vorbereitenden Gedanken wahrgenommen wird.128 Dieses Gespür wird gefördert, wenn gelernt werden konnte, sich angstfrei für neue Erfahrungen zu öffnen. Dabei wird erfahren, wie abhängig das eigene Denken und Handeln von der Qualität der eigenen Erfahrungen ist und dass es nie gelingen kann, das Handeln optimal gründlich und sachgerecht vorzubereiten. Das stärkt das Gefühl, dass man immer unter unsicheren Bedingungen handelt.

Die Selbstreflexivität würde man missverstehen, wenn davon ausgegangen wird, dass man dem eigenen Denken zuschauen kann. Da der Prozess des Denkens unbewusst abläuft, findet man im Bewusstsein immer nur fertige Gedanken vor. Da Gedanken immer Handlungsanweisungen sind, ist im Bewusstsein immer nur ein Handlungsimpuls oder eine verbale Interpretation davon zu finden. Dem Denken kann man deshalb nicht in dem Sinne zuschauen, dass man gegenüber dem eigenen Denken die Rolle eines Beobachters einnimmt.

Ebenso wenig kann man eine innere Distanz zu seinen Gedanken einnehmen. Diese Überzeugung ist deshalb problematisch, weil verbale Gedanken nichts Eigenständiges, sondern nur Interpretationen von inneren probeweisen Handlungsprozessen sind. Eine innere Distanz gegenüber den eigenen Gedanken kann nur so viel bedeuten, dass man während des Handelns innehält und prüft, ob das gewählte Reaktionsmuster angemessen ist. Man kann sich aber nicht bewusst vornehmen, gegenüber seinen eigenen Handlungsmustern eine kritische Distanz einzunehmen. Entweder ist man in der Handlungssituation noch unsicher, wie man handeln soll, dann wird man so lange mit dem Handeln zögern, bis man sich sicher ist, oder man überlässt sich sofort dem Handeln. Sobald man handelt, identifiziert man sich blind mit seinen Gedanken und kann sie erst wieder loslassen, wenn sie vom Handeln bestätigt oder widerlegt werden.

Der Gedanke der inneren Distanz gegenüber den eigenen Gedanken benutzt offensichtlich die Metapher des räumlichen Abstandes, die gegenüber realen Bildern sinnvoll ist, aber bei der gedanklichen Vorbereitung des Handelns in die Irre führt. Solange man den eigenen Gedanken vertraut, besteht nicht die Absicht, sich von den automatisch ablaufenden Denk- und Verhaltensgewohnheiten zu befreien. Man geht stillschweigend davon aus, dass sich in der achtsamen Wahrnehmung der Situation neue, angepasstere Regeln bilden werden. Aus Erfahrung weiß man, dass dysfunktionale Gedanken automatisch von der mentalen Selbstorganisation korrigiert werden. Selbstreflexion im Sinne einer achtsamen Handlungsvorbereitung ist also Ausdruck einer funktionierenden mentalen Selbstorganisation.

Das Fazit der Überlegungen in diesem Kapitel ist, dass die menschliche Selbstreflexivität nicht Zeichen der herausragenden geistigen Fähigkeiten der Menschen ist, sondern die Folge ihrer überragenden Handlungsfähigkeit, die möglich wurde, weil das Handeln durch das innere Probehandeln, das als Denken bezeichnet wird, vorbereitet werden kann.

4.8. Wissen ist Können

»Wir wissen mehr, als wir zu sagen wissen.« (Michael Polanyi)

Wer die Regeln kennt, wie etwas hergestellt oder bearbeitet werden kann, besitzt Wissen. Sind Regeln identisch mit dem, was üblicherweise unter Wissen verstanden wird? Vieles spricht dafür. Wissen besteht nach der hier entwickelten Theorie des Denkens darin, dass aufzeigt wird, wie etwas erreicht werden kann bzw. wie praktische Probleme gelöst werden können. So hat z.B. optisches Wissen den praktischen Zweck, gute Brillen und Ferngläser produzieren zu können. Daraus ergibt sich die These, dass Wissen kein Abbild der Wirklichkeit ist, wie gemeinhin angenommen wird, sondern aus Regeln, d.h. aus Handlungsanweisungen, besteht.

Neues Wissen entstammt dem Handeln, sowohl was die Eigenschaften von Objekten als was den Nutzen von Objekten für das menschliche Handeln betrifft. Wissen enthält die Regelmäßigkeiten, die im handelnden Kontakt mit der Realität und anderen Menschen erfahren wurden. Wie bereits erwähnt worden ist, sind Erfahrungen nichts anderes als neu entwickelte oder modifizierte Regeln. Beim praktischen Alltagswissen geht es darum, wie praktische Probleme am besten bewältigt werden können. Auch beim technischen Wissen besteht überhaupt kein Zweifel daran, dass es auf das Handeln bezogen ist. Wenn wissenschaftliche Forschung oft als praxisunabhängiges Erkenntnisstreben verstanden wird, liegt das daran, dass sich der Wissenschaftsbetrieb gegenüber den ursprünglichen praktischen Fragestellungen scheinbar verselbständigt hat. In Wirklichkeit ist bloß der zeitliche Abstand zwischen den praktischen Problemen und dem Finden von neuen Lösungswegen teilweise extrem lang geworden.

Zu Recht hat der amerikanische Psychologe Robert Gagné den Regelbegriff auf die Aneignung von Wissen angewendet.129 Sätze könne man nur verstehen, wenn die Beziehungen zwischen den Begriffen verstanden werden. Diese Beziehungen bezeichnet er als Regeln. Wissenserwerb sei ein Erwerb von Regeln. Wissen lernen ist nichts anderes als Regeln lernen. Bei dem Beispiel »Runde Dinge rollen« muss man zunächst die beiden Regel des Rollens und des Rundseins kennen. Daraus kann dann die komplexe Regel gebildet werden, dass runde Dinge rollen. Diese Theorie deckt sich mit der hier entwickelten Auffassung, dass Wissen aus Handlungsanleitungen bzw. Regeln besteht.

Wie beim Wissen ist auch bei Theorien, die nichts anderes als komplexe Handlungsanleitungen sind, die Neigung sehr groß, ihnen eine absolute Gültigkeit und Objektivität zuzusprechen, die unabhängig von der sozialen und historischen Situation und von persönlichen Interessen besteht. Die ganze philosophische Tradition wird von solchem Glauben an die Objektivität von Theorien beherrscht. Theorien enthalten aber nichts anderes als die Gedanken, die von einer zum Handeln drängenden Situation ausgelöst und verallgemeinert wurden und die aus beobachteten Regelmäßigkeiten bestehen. In der Regel wird die Ausgangssituation vergessen und geglaubt, die Theorien würden ein objektives Eigenleben führen. Das ist ein großer Fehler. Wenn Theorien von den sie auslösenden historischen Problemsituationen abgelöst werden, wird aus einer versuchsweisen, immer fehlerbehafteten Antwort eine falsche Absolutsetzung. Auch Theorien können nur richtig verstanden werden, wenn davon ausgegangen wird, dass sie mit ihren Handlungsanleitungen dazu tauglich sind, das Handeln vorzubereiten.

Das sogenannte objektive Faktenwissen erweist sich aus dieser Sicht als ein Missverständnis. Das Wissen über Tatsachen, wie z.B. wie viel Einwohner München hat, ist wertlos, wenn es nicht auf mögliches Handeln bezogen wird, z.B. um damit die Wirtschaftskraft der Stadt zu kennzeichnen. Es erscheint nur deshalb als objektives Wissen, weil es aus dem Handlungszusammenhang, in dem es bedeutsam ist, herausgerissen wird und weil man sich nicht ausreichend klar macht, wozu es eigentlich nützlich ist. Alles Wissen, das nicht im Handeln umgesetzt werden kann oder das nicht zumindest eine Handlungsorientierung gibt, ist wertloser Wissensmüll. Das gilt insbesondere für das Wissen, dass aus dem Reich der Spekulation stammt. Metaphysische, religiöse oder mythologische Überzeugungen können deshalb keinen Anspruch auf Wissen erheben. Alles Wissen muss unter dem Gesichtspunkt der praktischen Verwertbarkeit betrachtet werden.

Naturwissenschaftler haben längst die Gebundenheit ihrer Theorie an das Handeln anerkannt. Denn alles naturwissenschaftliche Wissen geht aus experimentellen Eingriffen in die Wirklichkeit hervor. Experimente sind nichts anderes als ein nach strengen Kriterien geführtes Handeln. Da dieses experimentelle Handeln stets mit historisch entstandenen Mitteln und Instrumenten auf die Realität einwirkt, können ihre Ergebnisse keine Allgemeingültigkeit beanspruchen.130

Auch philosophisches Wissen besteht letztlich aus Handlungsanweisungen. So sollen z.B. Überlegungen über die Freiheit des Denkens dem Einzelnen Mut machen, sich von äußeren Zwängen zu befreien und sein Leben selbst zu gestalten. Allgemein ausdrückt, soll das philosophische Wissen helfen, ein glückliches Leben zu führen und emotionale Verletzungen durch andere Menschen oder durch die Naturgewalten zu verarbeiten. Auch Erklärungen über den Zustand der Welt und der Menschen, die scheinbar keine direkten Handlungsanweisungen enthalten, werden letztlich doch als eine Anweisung verstanden. Z.B. kann es die Empfehlung sein, dass man sich dem Unveränderbaren unterwerfen soll. Auch methodologische Überlegungen, wie z.B. Logik, Wissenschaftstheorie oder Hermeneutik, sind Handlungsanweisungen, da sie dem Denken ein bestimmtes Vorgehen empfehlen.

Da Wissen aus Handlungsanleitungen besteht, kann es nicht einfach übertragen werden. Aus Sätzen, in denen Wissen übertragen wird, muss die gemeinte Handlungsanweisung erschlossen und eine entsprechende Regel abgeleitet werden. Während die Regelbildung bei persönlich gemachten Erfahrungen mehr oder minder automatisch abläuft, ist sie beim Lesen nicht gesichert. Denn die Regeln gehen nicht direkt aus dem Text selbst hervor, sondern müssen erarbeitet werden. Wer Sätze nur auswendig lernt, kann ihren Inhalt nicht sinnvoll anwenden. Denn beim bloßen Auswendiglernen werden die Regeln nicht erfasst. So kann niemand das Fahrradfahren anhand eines Handbuches lernen. Damit die Erfahrungen anderer Menschen zum Bestandteil des eigenen Denkens werden können, müssen sie innerlich nachvollzogen und als überzeugend bewertet werden. Erst dann können daraus neue Regeln abgeleitet werden. Wenn man angelesene Gedanken in eigenen Worten ausdrücken kann, ist dies ein Zeichen dafür, dass sie verarbeitet wurden. Aber es ist noch keine Gewähr dafür, dass man sie richtig verstanden hat. Erst das Handeln zeigt, ob die Gedanken wirklich verstanden worden sind.

Deshalb ist die Lektüre von Texten über fremde Erfahrungswelten so schwierig. Es besteht die Neigung, die Aufgabe der Verarbeitung zu überspringen und sich nur die zentralen Begriffe zu merken. Besonders schwierig wird es, wenn angelesene Erfahrungen von den eigenen Erfahrungen radikal abweichen. Dann ist die Neigung groß, sie entweder nach dem Muster der eigenen Erfahrungen zu verarbeiten und damit das Neue auszumerzen oder sie als untauglich abzulehnen. Deshalb haben es neue Gedanken so schwer, sich durchzusetzen. Auch wird das, was unzureichend verarbeitet wurde, schnell wieder vergessen.

Aus diesen Überlegungen folgt, dass die philosophische Auffassung, dass Wissen der Inbegriff wahrer, gerechtfertigter Überzeugungen ist, infrage gestellt werden muss.131 Da Wissen immer eine Anleitung zum Handeln ist, darf es nicht als ein Abbild der Wirklichkeit verstanden werden. Und da Wissen nur wirksam ist, wenn Regeln sicher beherrscht werden, ist Wissen letztlich Können.

Wenn Wissen aus Handlungsanweisungen besteht, muss konsequenterweise alles Lernen darin bestehen, dass motorische Abläufe gelernt werden. Es ist nicht zufällig, dass sich Geschichten am leichtesten lernen lassen. Das machen sich Gedächtniskünstler zunutze, indem sie z.B. lange Zahlen in einzelne Zahlen zerlegen, mit denen eine Geschichte aufgebaut werden kann. Besonders schwierig ist das Lernen von sogenanntem Faktenwissen, weil das Wissen erst in einen motorischen Ablauf transformiert werden muss, damit es dauerhaft im Gedächtnis gespeichert werden kann. Wenn man sich z.B. eine Telefonnummer merken will, ist es nützlich, wenn man sie z.B. in eine Zahlenmelodie oder eine Bewegungskurve der Finger auf dem Tastenfeld des Telefons umformt, die das Auf und Ab der Zahlen nachbildet. Oder wenn man sich geographisches Wissen einprägen will, kann das Lernen dadurch erleichtert werden, dass man sich in die Rolle eines Reisenden hineinversetzt, der dieses Wissen für die Organisation einer Reise benötigt. Ohne Transformation kann Faktenwissen nur kurzfristig im Arbeitsgedächtnis aufbewahrt werden.

Untersuchungen bestätigen, dass am besten behalten wird, was die Menschen tun.132 Bereits die römischen Redner haben diese Erfahrung bei der Vorbereitung ihrer Reden auf die Weise genutzt, dass sie die einzelnen Bestandteile der Rede mit Stationen eines bekannten Weges verbunden haben. Beim mündlichen Vortrag sind sie in Gedanken den Weg abgegangen und damit einen Teil der Rede nach dem anderen aus dem Gedächtnis geholt.

Aus diesen Überlegungen folgt, dass Lernen von verbal vermitteltem Wissen nur erfolgreich ist, wenn es als komplexes motorisches Lernen organisiert wird. Der beste Weg besteht darin, dass die Schritte nachvollzogen werden, wie das Wissen gefunden wurde. Dazu muss das Wissen in den historischen Handlungszusammenhang gestellt werden, in dem es seine ursprüngliche Bedeutung hatte. So kann man die Wirkungsweise einer Dampfmaschine am besten verstehen, wenn man nachvollzieht, welche praktischen Probleme bei der Entwicklung der Dampfmaschine gelöst werden mussten. Denn Wissen wird am besten im Gedächtnis abgespeichert, wenn man weiß, wie es entstanden ist und was man damit praktisch machen kann.

Da bei jedem Lernen von Geschichten immer auch geistige Inhalte wie Ziele, Vorstellungen von Personen, räumlichen Situationen u.a. mit gelernt werden, kann der Eindruck entstehen, dass es beim Lernen darum geht, Vorstellungen abzuspeichern. Es ist auffallend, dass alle Gedächtnistechniken auf der bildhaften Erfassung der Realität aufbauen. Man könnte meinen, dass das für die Existenz eines bildhaften Denkens spricht. Beim genaueren Hinsehen wird aber deutlich, dass die Gedächtnistechniken nicht mit Bildern arbeiten, sondern dass die Inhalte so bearbeitet werden, dass sie in Geschichten transformiert werden können. Offensichtlich können Inhalte am besten im Gedächtnis abgespeichert werden, wenn sie in konkreten Handlungsbezügen verankert, also als Geschichten aufgenommen und mit Gefühlen verbunden werden. Das spricht nicht für die Bildhaftigkeit des Denkens, sondern dafür, dass das Denken am Handeln interessiert ist. Da das Gedächtnis am besten arbeitet, wenn neues Wissen in Form von Bewegungsabläufen (Geschichten u.Ä.) präsentiert wird, ist zu vermuten, dass das Gedächtnis primär aus Bewegungserinnerungen besteht.

Die übliche Vorstellung, dass beim Lernen Informationen im Gedächtnis abgespeichert werden, ist aus der Sicht dieser Lerntheorie falsch. Das eigentliche »Futter« des Gedächtnisses sind Bewegungsprozesse. Natürlich können auch Bilder im Gedächtnis aufbewahrt werden. Aber es ist festzustellen, dass sie ziemlich schnell verblassen, wenn sie nicht mit emotional bedeutsamen Aktivitäten verknüpft werden. Diese Lerntheorie hat weitreichende Konsequenzen für die Gestaltung des Lernens. Alles Lernen muss anhand von konkreten Projekten erfolgen, die möglichst an einem persönlichen Problem ansetzen, so wie es die Reformpädagogen seit langem fordern. Wenn der Schüler kein persönliches Problem aus seinem Alltag mitbringt, muss er in eine Situation gestellt werden, in der sich ein Problem einstellt, das das Interesse am Lernen weckt.

So wie das Wissen über die Welt aus Bewegungsregeln besteht, wie etwas erreicht werden kann, so umfasst auch das Wissen von sich selbst nichts anderes als die Summe aller motorischen Fähigkeiten, die man gelernt hat, handelnd mit der Welt umzugehen. Selbsterkenntnis setzt deshalb voraus, dass man handelt. Erst beim Handeln wird erkannt, welche Fähigkeiten man besitzt und welche noch fehlen bzw. unterentwickelt sind. Selbsterkenntnis ohne Handeln ist eine Quelle von Illusionen und Selbstbetrug. Aus der realistischen Wahrnehmung der eigenen Fähigkeiten entsteht persönliche Selbstsicherheit.

Als Ergebnis dieser Überlegungen kann festgehalten werden, dass das Denken nicht mit Wissen arbeitet, sondern mit den Regeln, die dem Wissen zugrunde liegen. Alles Wissen muss im Handeln, zumindest im inneren Probehandeln erfahren werden, damit das Wissen als Regel abgespeichert und für das Denken verfügbar gemacht werden kann.

4.9. Wahrheit als Scheinproblem

»Wahre Worte sind nicht angenehm, angenehme Worte sind nicht wahr.« (Laotse)

Wenn Wissen kein Abbild der Wirklichkeit darstellt, gerät die traditionelle Theorie der Wahrheit ins Wanken. Demnach sollte Wahrheit dann gegeben sein, wenn die Aussage eines Satzes mit der Realität übereinstimmt. Aus dem hier entwickelten Konzept der Sprache folgt, dass Sätze keine Aussage über die Realität enthalten, sondern Handlungsanweisungen sind. Ihre Aufgabe ist, das Handeln zu steuern oder beim anderen entsprechende Handlungen anzuregen. Sie enthalten also Wissen, das für die menschliche Praxis tauglich ist. Damit stellt sich die Frage nach der Entsprechung von Satzaussage und Wirklichkeit nicht mehr.

Vermutlich ist das Wahrheitsproblem dadurch entstanden, dass die Sprache die Illusion entstehen lässt, dass sie primär damit zu tun hat, dass Objekten Eigenschaften zugewiesen werden. Dementsprechend ging man beim Nachdenken über die Sprache stets von Sätzen aus, in denen Aussagen über Objekte getroffen werden. In solchen Aussagesätzen stellt sich das Problem, ob die Aussage der Wirklichkeit entspricht und wie dies überprüft werden kann. Implizit wurde angenommen, dass Aussagesätze das Wesen der Sprache ausmachen. In der menschlichen Kommunikation werden aber primär Sätze benutzt, die das Handeln anleiten sollen. Solche auf das Handeln bezogene Sätze werden in der Literatur als performativ bezeichnet. Ich ziehe den Begriff »Anweisungssatz« vor, weil damit ihre Funktion deutlicher zum Ausdruck kommt. Anweisungssätze umfassen Darstellungen, wie etwas mit bestimmten Handlungen bewirkt werden kann bzw. was passiert, wenn man etwas macht. Auch wenn sie bloß Vorgänge beschreiben, handelt es sich um Anweisungen, weil sie nur verstanden werden können, wenn sie mit Hilfe der eigenen Regeln innerlich nachvollzogen werden.

Es ist auffallend, dass in der Alltagssprache Aussagesätze stets im Kontext von Anweisungssätzen vorkommen. So geht es z.B. in einem Bericht über einen Autounfall primär um das, was alles geschehen ist. Das wird in Anweisungssätzen dargestellt. An welchem Ort der Unfall war, um was für ein Auto es sich gehandelt hat u.Ä., wird in Aussagesätzen ergänzt. Aussagesätze haben also die Funktion, Handlungen zeitlich, räumlich, der Intensität nach u.Ä. zu spezifizieren. Ihr Sinn erschließt sich nur, wenn sie im Kontext von Handlungszusammenhängen stehen. Nur auf Handlungen bezogen können sie Interesse wecken. Das ist bei Berichten über Ereignisse evident. Es gilt aber auch für theoretische Sätze, wie z.B.: »Subjektivistische Bedeutungstheorien sehen die Bedeutung von Zeichen in mentalen Zuständen eines Subjekts.« 133 Es handelt sich hier um einen Anweisungssatz: Die subjektiven Bedeutungstheorien sollen sich dadurch auszeichnen, dass sie die Bedeutung in mentalen Zuständen eines Subjekts suchen.

Nur wenige Philosophen haben in ihrer Analyse berücksichtigt, dass die Sprache vielfältige Verwendungsweisen von Sätzen besitzt.134 Neben den Aussage- und Anweisungssätzen gibt es auch Sätze, die direkt identisch mit dem Handeln sind: So ist der Satz »Ich taufe dieses Schiff auf den Namen 'Queen Elisabeth'« bereits eine Handlung! Ebenso: »Ich verspreche Dir, morgen zu Dir zu kommen!« Andere Sätze sind Befehle, Bitten oder Warnungen. Das zeigt, dass es nicht gerechtfertigt ist, den Aussagesätzen einen Vorrang vor den anderen Satztypen zu geben.

Die Konzentration der Sprachphilosophie auf Aussagesätze hat dazu geführt, dass die Funktion der Sprache einseitig als Erkenntnismedium begriffen wurde. Damit ist die Behauptung verbunden, dass objektives, allgemeingültiges, wahres Wissen möglich ist. Da aber Wissen aus Handlungsanweisungen besteht, hat es eigentlich nichts mit Erkenntnis zu tun. Seine Richtigkeit kann nicht anhand der Übereinstimmung mit der Wirklichkeit geprüft werden. Es kann nur gefragt werden, ob sich die in den Begriffen formulierten Handlungsanweisungen im praktischen Handeln bewähren. Da alles Wissen im Grunde Bewegungswissen ist, kann es nur im Handeln überprüft werden. Wahrheit kann nur noch darin bestehen, dass ein bestimmtes Wissen tauglich ist, ein damit angestrebtes Ziel zu erreichen oder dass ein Bericht über Ereignisse oder Prozesse der Wirklichkeit entspricht. Damit verliert die traditionelle Überzeugung, dass es objektive und ewige Wahrheiten gibt, ihre Grundlage. Das philosophische Problem, mit Hilfe welcher Kriterien ermittelt werden kann, ob eine Aussage der Realität entspricht, löst sich als Scheinproblem auf.

Aufgrund solcher Überlegungen wurde im amerikanischen Pragmatismus der Wahrheitsbegriff zugunsten der Frage nach der Nützlichkeit aufgegeben. Da diese Neuformulierung des Wahrheitsbegriffe zu Missverständnissen geführt hatte, die den Pragmatismus in Misskredit gebracht haben und ihn sogar als Ideologie des amerikanischen Kapitalismus mit seiner Absolutsetzung des Profitmaximierungsprinzips verdächtigt haben, ist es wichtig, daran zu erinnern, dass die Pragmatisten von Anfang davor gewarnt haben, das Nützlichkeitskriterium auf den individuellen Vorteil zu reduzieren. Von einem nützlichen Verhalten wird immer auch verlangt, dass es zugleich die allgemeinen sozialen Regeln der Gerechtigkeit, der Chancengleichheit, der Freiheit u.Ä. zur Geltung bringt. Wer nur seinen ökonomischen Profit erhöhen will, handelt zwar nutzenorientiert, verletzt aber den Anspruch, mit dem Handeln zugleich die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verbessern. Man macht es sich deshalb zu leicht, wenn man die pragmatistische Ablehnung des Wahrheitsbegriffs damit kritisiert, dass die bloße Orientierung am Nutzen höhere Ziele vernachlässigen würde. Damit würde man die Intentionen des Pragmatismus missverstehen. Aus der Sicht der hier entwickelten Theorie bedeutet das Adjektiv nützlich, dass das Wissen tauglich sein muss, dem Handeln eine Orientierung zu geben.

Wenn im Alltag der Begriff der Wahrheit benutzt wird, bezieht er sich meistens auf die eigenen Überzeugungen. Überzeugungen sind das, was mit guten Gründen für wahr gehalten wird und dieses Für-wahr-halten ist nicht nur eine Meinung über seine Überzeugungen. Es ist vielmehr das Überzeugtsein selbst, das eine Stellungnahme in einem sozialen Raum von Gründen ist. Eine Überzeugung vertreten, heißt, sie als gerechtfertigt und als wahr vertreten.135 Obwohl jedermann weiß, dass sich Überzeugungen als Irrtum herausstellen können, werden sie subjektiv für wahr gehalten. Es ist es unmöglich, sie infrage zu stellen, bevor sie nicht vom Handeln selbst infrage gestellt werden.

Der Pragmatist Charles Sanders Peirce hat bereits vor mehr als 100 Jahren erkannt, dass es sich bei den Überzeugungen nicht um Wissen im traditionellen Sinne handelt, sondern um Handlungsregeln bzw. Handlungsgewohnheiten. Alle Überzeugungen sind gleich gültig. Ihre Gültigkeit ist davon abhängig, dass sie im jeweiligen kulturellen Kontext das Handeln so anleiten, dass es erfolgreich ist und dass damit zugleich allgemeine gesellschaftliche Ziele erreicht werden. Daraus ergibt sich keineswegs ein uneingeschränkter Relativismus in dem Sinne, dass es keine Kriterien für die Richtigkeit oder Falschheit von Gedanken gibt. Denn alle Gedanken müssen sich daran messen lassen, dass sie eine praxisrelevante Antwort auf konkrete Probleme darstellen.

Es wäre falsch, Überzeugungen als mentale und sprachgebundene Objekte zu betrachten. Überzeugungen lassen sich zwar mit verbalen Sätzen artikulieren. Da sie aber den Charakter von Handlungsanleitungen bzw. Handlungsregeln haben, sind sie nicht an die Sprache gebunden.136 Den Überzeugungen liegen gelernte Gewohnheiten zugrunde. Gewohnheiten sind also zuerst da, bevor man sich vergewissert, welche Überzeugungen mit ihnen verbunden sind. Es wäre deshalb falsch, Gewohnheiten als verkörperte Überzeugungen zu betrachten.

Diese Überlegungen bedeuten, dass der Wahrheitsbegriff weiterhin verwendet werden kann, wenn er als Ausdruck für die Gewissheit verstanden wird, dass eine persönliche Überzeugung richtig ist. Aber in der Erkenntnistheorie, in deren Mittelpunkt bisher die Frage nach der Wahrheit bzw. nach der Rechtfertigung des Wissens stand, hat er seine Berechtigung verloren.

4.10. Die Kraft des inneren Dialoges

»Das Denken ist das Selbstgespräch der Seele.« (Platon)
»Man führt nicht mehr genug Selbstgespräche heutzutage. Man hat wohl Angst, sich selbst die Meinung zu sagen.« (Jean Giraudoux)

Seit Platon wird das Denken meistens als ein inneres Gespräch verstanden. Tatsächlich kann man in der Selbstbeobachtung den Eindruck gewinnen, als würde man beim Denken mit einem imaginären Dritten sprechen. Aber dieser Eindruck trügt. Wie im Zusammenhang mit dem unbewussten Denken gezeigt wurde, läuft das Denken in der Regel nicht in der Form des bewussten Selbstgesprächs, sondern unbewusst ab. Wie bereits erwähnt wurde, konnte der Eindruck, dass das Denken ein inneres Gespräch ist, entstehen, weil die Menschen von Anfang an lernen, ihre Gedanken gleich in Worte zu fassen.

Dennoch kann das bewusste innere Selbstgespräch eine wichtige Funktion beim Denken übernehmen. Die Sprache wird in der Kommunikation mit anderen Menschen gelernt und auch dafür verwendet. Die Menschen haben gelernt, Gespräche mit anderen Menschen im mentalen Innenraum zu simulieren und mit sich selbst zu sprechen. Sie wissen aus Erfahrung, dass der Wunsch, einem Dritten etwas zu erklären, nur gelingt, wenn man das Problem so exakt und realitätsnah wie möglich darstellt und dass kritische Fragen eines Freundes sehr stimulierend für das eigene Denken sein können. Diese Erfahrungen wird im Selbstgespräch benutzt. So wie man im realen Gespräch das Bewusstsein des Gesprächspartners gezielt auf etwas Bestimmtes lenken kann, so kann man auch das Selbstgespräch dazu benutzen, das eigene Bewusstsein auf bestimmte Aspekte zu fokussieren. So bewirkt eine verbale Frage an sich selbst, dass schlagartig alle Gedächtnisinhalte, die mit der Frage assoziiert sind, aktiviert werden. Wenn man z.B. wissen will, welche Überzeugungen man zu einem bestimmten Thema hat, muss man nur eine entsprechende Frage an sich selbst richten. In Wirklichkeit handelt es sich also bei dem inneren Gespräch um den Versuch, sich auf eine bestimmte Situation bzw. ein bestimmtes Problem so intensiv wie möglich einzulassen, um damit das unbewusste Denken wirkungsvoll anzustoßen. Es ist also nicht primär die Sprache, die das Bewusstsein schafft, sondern die Möglichkeit, mit Hilfe des inneren Gesprächs ein inneres Handeln zu stimulieren. Da jedes Handeln Bewusstsein herstellt, gilt dies auch für das innere Handeln im Selbstgespräch.

Das innere Selbstgespräch erweist sich somit als ein geeignetes Mittel, um das eigene Denken zu stimulieren. Psychologische Experimente belegen, dass Kinder, die mit sich reden, Probleme deutlich schneller und besser lösen als Kinder, denen das Selbstgespräch verweigert wurde. Eine andere Strategie zur Förderung des Denkens besteht darin, dass man sich eine Situation in allen Einzelheiten vergegenwärtigt. Wenn diese Situation mit einem Gespräch verbunden war, liegt es natürlich nahe, dass ein evtl. abgebrochenes Gespräch wieder aufgegriffen und fortgeführt wird.

Die mit der Sprache gewonnene Fähigkeit des Selbstgesprächs hat das mentale Innenleben nachhaltig verändert, weil es sowohl eine therapeutische als auch eine repressive Funktion übernehmen kann. Die therapeutische Funktion zeigt sich daran, dass ein zwischenmenschlicher Dialog, der aufgrund einer emotionale Verletzung abgebrochen wurde, im inneren Dialog wieder aufgenommen, fortgeführt und zu Ende geführt werden kann. Dadurch kann das durch die Verletzung gestörte Gleichgewicht wiederhergestellt werden. Das innere Selbstgespräch kann auch dazu benutzt werden, sich selbst zu vergeben. Die Selbstvergebung besteht darin, dass man sich klar macht, dass es für sich selbst und den anderen, den man verletzt hat, besser ist, wenn man sich nicht bestraft und die Verletzung als Angelegenheit der abgeschlossenen Vergangenheit betrachtet. Dadurch kann das gestörte Verhältnis zum Verletzer wiederhergestellt werden. So wie die Worte eines Dritten bewirken, dass man sich anerkannt oder abgelehnt fühlt, so bewirken die selbst gesprochenen Worte, dass die bisherigen Bewertungen verändert werden. Auch die beruhigende Wirkung von Gebeten oder affirmativen Sätzen zeigt immer wieder die Kraft der Sprache. Diesen Mechanismus benutzen die Katholiken in der Beichte, um sich von moralischer Schuld zu entlasten. Durch die Beichte können die Selbstvorwürfe, die das innere Selbstgespräch belasten, aufgehoben werden. Aus diesen Überlegungen ergibt sich, dass das innere Gespräch wirksam sein kann, weil es Ängste auflöst und evtl. sogar anregt, anders zu handeln.

Bei den meisten Menschen steht allerdings die repressive Funktion des inneren Dialoges im Vordergrund. Wenn die Gedanken ständig um ein persönliches Problem kreisen, ohne dass sie einen Abschluss finden, während man eigentlich eine andere Aufgabe erledigen muss, kann das sehr störend sein. Beim Autofahren wird die gedankliche Beschäftigung mit unerledigten Konflikten meist noch als positiv empfunden, wenn sich aber unerledigte Konflikte während eines Gespräches oder bei der Arbeit zu Wort melden und einen Teil des Bewusstseins in Anspruch nehmen, wird dies von den meisten Menschen als quälend empfunden. Man spürt, dass die Gedanken automatisch Aufmerksamkeit erzwingen und dass man keine Kontrolle über sie hat. Grübeln ist ein Zeichen dafür, dass unbewältigte Ängste das Handeln blockieren. Es muss als Signal wahrgenommen werden, dass für die Lösung von unerledigten Konflikten keine geeigneten Wege bekannt sind. Das grübelnde innere Selbstgespräch zieht viel Energie von der eigentlich anstehenden Aufgabe ab. Je mehr die Aufmerksamkeit sinkt, umso mehr können Fehler passieren. Da die unerledigten Konflikte ständig einen Teil der Aufmerksamkeit auf sich ziehen, entsteht daraus ein gewohnheitsmäßiger Zustand von Nichtbewusstsein.137 Zu Recht wird deshalb gesagt, dass dadurch die intensive Erfahrung der Gegenwart verhindert wird. Besonders selbstzerstörerisch wird es, wenn innere Impulse, die als negativ erlebt werden und für die man sich schuldig fühlt, abgewertet werden. Dadurch geht der innere Einklang mit sich selbst verloren. Die innere Spaltung wird dann als Unglück, Unzufriedenheit oder Hass auf sich selbst erlebt.

Auch verbale Beleidigungen und Demütigungen können zum Gegenstand des inneren Selbstgesprächs werden. Allzu oft macht man sich die verbalen Abwertungen durch andere zu eigen und wertet sich selbst ab. Die verinnerlichten sprachlichen Befehle und Glaubenssätze blockieren das Handeln und schwächen die Fähigkeit, sich von den eigenen Impulsen führen zu lassen. Die extremste Form der Selbstbeeinflussung durch Sprache ist der Fluch, der, wie das Voodooritual zeigt, die Kraft haben kann, sich sogar selbst zu töten. Man muss allerdings berücksichtigen, dass Demütigungen und Flüche ihre verletzende Wirkung nur entfalten können, wenn sie vom inneren Selbstgespräch aufgenommen und innerlich häufig wiederholt werden, so dass man sie sich zu eigen macht.

Die Möglichkeit des inneren Selbstgesprächs verleitet dazu anzunehmen, dass man die Fähigkeit hat, sich selbst zu kontrollieren. Das ist ein Irrtum. So wie das innere Selbstgespräch spontan abläuft, so stellt sich auch die Absicht, ein bestimmtes Verhalten zu unterdrücken, von selbst ein, wie es bei der unwillkürlichen Verarbeitung von emotionalen Verletzungen dargestellt wurde. Die Kontrolle kann nicht vorsätzlich vom Ich oder vom Geist vorgenommen werden, es besteht bloß die Chance wahrzunehmen, dass sich im Inneren spontan der Wunsch bildet, ein bestimmtes Verhalten zu unterdrücken.

Das Ergebnis dieser Überlegungen ist, dass die Sprache zwar nicht konstitutiv für das Denken ist, dass sie aber in Form des inneren Selbstgesprächs weitreichende Auswirkungen auf das Verhalten haben kann. Das größte Übel, dass mit der Sprache in die Welt gekommen ist, besteht sicherlich in der Möglichkeit der Selbstabwertung. Der dadurch entstehende innere Riss verhindert, dass man sich glücklich fühlt. Wenn viele Menschen unglücklich sind, hängt das sicherlich auch mit ihrer Sprachfähigkeit zusammen.

4.11. Ethisches Denken ist Regeldenken

»Willst Du geliebt werden, so liebe!« (Seneca)

Die spannende Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Moral wird in der Sprachphilosophie nur auf der sprachlichen Ebene betrachtet. Statt der Frage nachzugehen, ob und wie Sprache das moralische Verhalten verändert hat, beschränkt sich die Sprachphilosophie auf die beiden Fragen, woran zu erkennen ist, ob eine Satz eine ethische Aussage ist und ob die Bedeutung ethischer Aussagen von den Wahrheitsbedingungen dieser Aussage abhängt oder nicht. Ein wesentliches Merkmal von ethischen Sätzen soll sein, dass sie die Worte »soll«, »soll nicht«, »sollte«, »sollte nicht« u.Ä. direkt enthalten oder sich in solche Sätze übersetzen lassen.138 Weiterhin sollen sie universalierbare Handlungsanweisungen sein. Beide Bedingungen gelten offensichtlich auch für normale Handlungen, wie z.B. beim Gebrauch von Werkzeugen. Da das Denken immer normative Bezüge enthält, ist es unmöglich, ethische Aussagen eindeutig von normalen Aussagen zu unterscheiden. Viel wichtiger für das Verständnis des menschlichen Verhaltens ist die Frage, wie sich moralische Normen bilden, wie sich das Verhältnis zum moralischen Handeln durch die Sprache verändert hat und wie sichergestellt werden kann, dass sie eingehalten werden. Im Folgenden soll der bereits entwickelte Gedanke wieder aufgegriffen werden, dass die moralischen Normen letztlich Regeln sind, die die Aufgabe haben, ein harmonisches Zusammenleben zu ermöglichen.139 Deshalb wird im Folgenden stets von moralischen Regeln gesprochen, wenn moralische Normen gemeint sind.

Zur Beurteilung, wie ethische Urteile getroffen werden, muss zunächst untersucht werden, wie moralisches Handeln gelernt wird. Es wird davon ausgegangen, dass moralisches Handeln regelgesteuertes Verhalten ist. Ihre Regeln müssen deshalb genauso gelernt werden wie die Regeln des normalen instrumentellen Handelns. Sie werden ebenso wie die motorischen Fähigkeiten durch Nachahmung des Verhaltens von Bezugspersonen gelernt. So verlangt Ehrlichkeit das Erlernen der Regel, dass das Eigentum der anderen zu respektieren ist. Oder Gehorsam setzt voraus, dass man gelernt hat, sich den Anordnungen von Autoritätspersonen kritiklos zu unterwerfen. Die moralischen Regeln werden ausschließlich an Vorbildern gelernt, nicht durch Unterweisung. Sie haben eine große Widerstandskraft gegen spätere Veränderungen, weil sie meistens sehr früh in der Kindheit und ohne jegliche begleitende Reflexion gelernt werden.

Immer dann, wenn Menschen in einem Milieu aufwachsen, in dem sie Liebe, Achtung und Respekt erfahren und die Chance erhalten, ohne Angst einen guten Umgang mit ihren Gefühlen erlernen, ist zu beobachten, dass sich eine spontane Lust am Kontaktaufnehmen und ein Interesse am Glück der anderen entwickeln. Wer uneingeschränkte Liebe erfahren hat, kann andere Menschen nicht verletzen. Er braucht die Regel »Du sollst nicht töten« nicht zu verinnerlichen, weil sie sich für ihn ganz selbstverständlich aus seiner Liebe zu anderen Menschen ergibt. Wer als Kind erfahren hat, dass knappe Lebensmittel unter den Familienmitgliedern gleichmäßig verteilt werden, lernt ohne Mühe, die Regel der Gerechtigkeit einzuhalten. Wem immer geholfen wurde, ohne dass dafür eine Gegenleistung verlangt wurde, dem wird Solidarität zu einer selbstverständlichen Grundregel. Im Klima der Liebe können sich so alle Gefühle im Sinne eines harmonischen Zusammenlebens ordnen. Es stellt sich von selbst ein gutes Einfühlungsvermögen in die Gefühle anderer Menschen ein. Umgekehrt: Wer das Gefühl des Respekts nicht erfahren und gelernt hat, wird die Regel der Ehrlichkeit nicht einhalten können. Wer das Gefühl der Liebe nicht kennt, wird bei seinem Verhalten keine Rücksicht auf die Bedürfnisse der anderen Menschen nehmen.

Wie gut der Prozess der Verinnerlichung der moralischen Regeln, die aus dem Verhalten der Eltern erschlossen werden, gelingt, hängt also vor allem davon ab, ob Kinder ihre Beziehung zu den Eltern als sicher empfinden. Wenn Kinder starke emotionale Verletzungen erfahren, scheitert das Erlernen der moralischen Verhaltensgewohnheiten. Es müssen zu viele Abwehrmechanismen aufgebaut werden, die sich in chronischem Ärger, Missgunst, Feindseligkeit, Unterwürfigkeit, Kontaktvermeidung und Neid manifestierten. Dadurch wird ein vertrauensvoller und respektvoller Kontakt zu anderen Menschen behindert. Es gelingt nicht, in schwierigen Handlungssituationen eine gute Antworten zu finden. Die Dominanz der Angst führt zu einem Festhalten an starren, fehlangepassten, ethisch problematischen Verhaltensmustern.

Das bedeutet, dass ethische Probleme dadurch entstehen, dass die Menschen daran gehindert werden, die moralischen Regeln ihrer Gemeinschaft angstfrei zu erlernen. Wenn also Menschen in ihrer Kindheit einem Übermaß an Angst ausgesetzt waren und starke emotionale Verletzungen erleiden mussten, muss damit gerechnet werden, dass sie unfähig sind, die moralischen Regeln aus Überzeugung einzuhalten.

Zu Recht hat Adam Smith die These vertreten, dass die Gefühle die Basis der Moral darstellen.140 Genauer müsste man sagen, dass es primär die Gefühle der Liebe und Freude sind und dass die Moral untergraben wird, wenn diese Gefühle fehlen. Denn als soziale Lebewesen können die Menschen nur dann relativ harmonisch miteinander zusammenleben, wenn sie wechselseitig ihre Bedürfnisse respektieren und sich bei der Befriedigung ihrer Bedürfnisse helfen. Strenge Gebote und harte Strafen für Regelverletzungen zerstören den natürlichen Impuls, das Leben möglichst selbstbestimmt und mit Rücksicht auf die anderen zu führen.

Es ist nicht zufällig, dass in allen Kulturen die Regeln der Achtung, der Hilfsbereitschaft, der Gerechtigkeit, des Vertrauens u.Ä. als die zentralen Tugenden des Zusammenlebens betrachtet werden. Das liegt daran, dass sie sich als unverzichtbar für ein harmonisches Zusammenleben erwiesen haben. Alle sozialen Gemeinschaften legen deshalb großen Wert darauf, dass ihre neuen Mitglieder frühzeitig diese Regeln in ihre Verhaltensgewohnheiten einbauen. Es wäre deshalb ein Missverständnis, wenn die moralischen Regeln als ethische Pflichten bezeichnet werden. Wenn sie nur als Pflichten gelernt werden, sind sie relativ unwirksam. Sie müssen in die Verhaltensgewohnheiten eingeflossen sein. Im Grunde werden sie dann nicht befolgt, sondern gelebt.

Da die soziale Gemeinschaft großen Wert darauf legt, dass ihre Regeln eingehalten werden, kommt es bei der ethischen Bewertung einer Handlung nicht auf das Ergebnis, sondern auf die Absicht an. Wenn man z.B. Glück hatte, dass man beim Autofahren kein Kind überfahren hat, obwohl man mit Alkohol gefahren ist, wird die Handlung dennoch moralisch verurteilt. Es kommt nicht auf die äußere pflichtgemäße Einhaltung der Regeln an, sondern dass sie aus Überzeugung eingehalten werden. Denn nur dann ist gewährleistet, dass sie auch in Extrem- oder Konfliktsituationen beachtet werden.

Vor der Entstehung der Sprache waren Eltern gezwungen, strikt darauf zu dringen, dass ihre Kinder die von der Gemeinschaft gepflegten Verhaltensgewohnheiten gut einüben. Sie haben ihren Kindern mit allen Kräften geduldig geholfen, wenn ihnen das nicht gleich gelingt. Nachdem aber die Sprache zum selbstverständlichen Bestandteil des Alltags geworden ist, besteht die große Neigung, sich darauf zu verlassen, dass die sprachlichen Befehle von den Kindern aus Einsicht beherzigt werden oder zu glauben, dass es ausreicht, Kinder zu ermahnen, zu beschimpfen oder zu bestrafen. Es wird allzu leicht vergessen, dass die moralischen Gebote nicht aus Einsicht befolgt werden können, sondern in Verhaltensgewohnheiten verankert sein müssen.

Wenn vor der Entstehung der Sprache moralische Regeln nicht eingehalten wurden, ging man vermutlich davon aus, dass die Regeln nicht bekannt sind, nicht hinreichend eingeübt wurden oder aus bestimmten Motiven willentlich gebrochen wurden. Jede Regelverletzung wurde als ein Hinweis auf Lerndefizite oder emotionale Defizite verstanden. Seitdem die Sprache das ethische Denken prägt, hat sich diese Haltung total verändert. Jetzt kann jede Regelverletzung als Ausdruck des bösen Willens und des schlechten Charakters oder als Werk des Teufels erscheinen. Damit wird man dem Menschen, der eine Regelverletzung begangen hat, nicht gerecht. Ihm darf dafür keine Schuld gegeben werden. Dafür sind in erste Linie die Erziehungsinstanzen verantwortlich, die nicht darauf geachtet haben, dass die Regeln richtig in Verhaltensgewohnheiten eingebaut werden. Auf Regelverletzungen kann sinnvollerweise nur so reagiert werden, dass eine Nacherziehung angestrebt wird, d.h. dass die Versäumnisse in der bisherigen Erziehung nachgeholt wurden. Vorher muss geklärt werden, warum es zu der Regelverletzung gekommen ist. Damit wird die Regelverletzung nicht entschuldigt oder verharmlost. Es wird erwartet, dass der Täter den durch die Regelverletzung verursachten Schaden wiedergutmacht und die vereinbarten Folgen (Korrektur des Verhaltens, Strafe u.Ä.) trägt. Dabei ist entscheidend, dass er nicht die Achtung gegenüber sich selbst verliert und die Chance erhält, sich schnell wieder in die soziale Gemeinschaft einzugliedern.

Die Sprache hat auch den Charakter der Strafe verändert. Vor der Entstehung der Sprache wirkte Strafe über die Konditionierung des Verhaltens, da sie bedingte Reflexe entstehen ließ. Seit Entstehung der Sprache kann für den Fall der Regelverletzung eine Strafe angekündigt werden. Während früher die Strafe mit körperlicher Gewalt verbunden war, kann man sich jetzt auf das Androhen von körperlicher Strafe oder von Liebesentzug, auf Beschimpfen, auf Warnen u.Ä. beschränken. Es wird erwartet, dass die Androhung von Strafe oder die Maßregelung eine abschreckende Wirkung hat.

Die Strafandrohung kann wirksam sein, da sie einen Druck auf regelgerechtes Verhalten ausübt, aber nur unter der Voraussetzung, dass die Regeln bereits relativ gut in Verhaltensgewohnheiten eingebaut wurden. Die Erfahrung zeigt aber, dass mit der Strafandrohung allein Regelverletzungen nicht verhindert werden können, sondern dass allenfalls die Anstrengungen erhöht werden, die Regeln zu umgehen. Sprache wird jetzt benutzt, sich zu verteidigen und die Regelverletzungen als rational zu begründen. Auch Appelle an das Gewissen oder die Einsicht sind letztlich zwecklos, da wegen des Mangels an geeigneten Verhaltensgewohnheiten allenfalls ein regelgerechtes Verhalten geheuchelt wird. Die Erfahrung zeigt, dass die Bestrafung von Regelverletzungen das regelverletzende Verhalten eher verstärkt. Das ist damit zu erklären, dass die Bestrafung meistens als ungerecht empfunden wird, da die Regelverletzung unbeabsichtigt passiert ist.

Verantwortung für sein Handeln übernehmen, bedeutet in diesem Konzept nicht, dass man sich für eine Regelverletzung moralisch schuldig fühlt. Sich für sein Handeln schuldig zu fühlen, würde bedeuten, dass man sich selbst für ein Handeln abwertet, für das man sich aus guten Gründen entschieden hat. Vielmehr muss man die Folgen der Nichteinhaltung auf sich nehmen. So wie man beim praktischen Handeln mit Misserfolg bestraft wird, wenn man sich nicht an die Ordnung der Dinge hält, so wird man bei Nichteinhaltung der Regeln des zwischenmenschlichen Handelns so bestraft, wie es in den Regeln festgelegt ist. Diese Regeln für die Nichteinhaltung sollen einen gewissen Druck ausüben, dass die sozialen Regeln eingehalten werden. Verantwortung ist deshalb in dem ursprünglichen Sinne des Wortes zu verstehen, dass man sich selbst die Antwort auf das eigene Handeln gibt, d.h. die Folgen der Handlung übernimmt und bereit ist, künftig sein Verhalten an den sozial verbindlichen Regeln zu orientieren.

Neue moralische Regeln entstehen, wenn die Erfahrung gemacht wird, dass die bestehenden Regeln nicht zum moralisch gewünschten Ergebnis führen oder ein gutes Leben behindern. So wurde das religiös begründete Verbot der Onanie durch die Erfahrung vieler Menschen untergraben, dass die angeblich negativen Folgen der Onanie jeglicher Grundlage entbehren. Der Anstoß kommt von spontanen Bewertungen. Wenn solche Bewertungen von vielen Menschen geteilt werden, verlieren die alten Regeln ihre Verbindlichkeit.

Ethische Urteile fällen, heißt, die Tauglichkeit von moralischen Regeln für den konkreten Entscheidungsfall prüfen.141 Was ethisch richtig ist, hängt davon ab, welche moralischen Regeln sich in einer sozialen Gemeinschaft für solche oder ähnliche Situationen herausgebildet haben. Wie die moralischen Regeln angewandt werden, ist also keine Frage der geistigen Erkenntnis oder der Interpretation, sondern richtet sich danach, wie sie als Verhaltensgewohnheiten gelernt und abgespeichert wurden.

Es wäre ein Missverständnis der ethischen Urteile, wenn sie als ein bewusster Akt des Überlebens und Abwägens begriffen werden. Die Überzeugung Kants, dass ethisches Verhalten aus Vernunft möglich sei, ist nicht haltbar. Im Regelfall werden moralische Entscheidungen unbewusst auf der Basis der verinnerlichten Regeln getroffen. Moralische Regeln anwenden, heißt deshalb, sich von den inneren Bewertungen leiten lassen, die eine zum Handeln drängende Situation auslöst.

Im Grunde hat jeder Mensch in seinen angeborenen emotionalen Bedürfnissen nach Beziehung und Sicherheit einen inneren Kompass für ethische Entscheidungen. Er hat ein untrügliches Gefühl, was in einer gegebenen Situation ethisch gut bzw. schädlich ist. So kann z.B. jeder Mensch ein persönliches Gefühl für Gerechtigkeit und ein Gefühl entwickeln, ob er von anderen Menschen ausreichend geachtet wird.142 In diesem Sinne ist Aristoteles davon ausgegangen, dass man niemanden aufzufordern braucht, glücklich zu sein, weil jeder Mensch von Natur aus nach dem Guten strebe. Zu Recht wird davon gesprochen, dass sich die Menschen von ihrem inneren ethischen Kompass leiten lassen sollen.143 Der Volksmund sagt dazu, dass man auf seinem Bauch hören soll. Wissenschaftlich ausgedrückt, folgt man den Impulsen der natürlichen Selbstorganisation, die auch im Bereich der moralischen Regeln als ethische Selbststeuerung wirksam ist.

Oftmals wird man vor schwierige moralische Entscheidungen gestellt, bei denen der innere ethische Kompass versagt. Dies ist ein Zeichen dafür, dass geeignete Regeln fehlen, um die Situation zu bewerten. In solchen Situationen wird besonders deutlich, dass die Vernunft überfordert ist, eine tragfähige Entscheidung herbeizuführen. Denn wenn Regeln fehlen, ist keine Entscheidung zu finden, die mit einem Gefühl der Stimmigkeit verbunden ist.

Allerdings darf nicht übersehen werden, dass es sich bei dem Begriff des ethischen Kompasses nur um eine Metapher für unbewusst ablaufende moralische Entscheidungen handelt. Außerdem muss berücksichtigt werden, dass die angeborenen emotionalen Bedürfnisse, die den moralischen Entscheidungen zugrunde liegen, durch Erfahrungen kulturell überformt werden und dass die Regeln der Gemeinschaft über Nachahmung früh in der Kindheit in die eigenen Reaktionsgewohnheiten eingebaut werden. Die Regeln sind also nicht angeboren, sondern sind das Ergebnis von Lernprozessen. Was also z.B. in einer Kultur als gerecht empfunden wird, hängt vorrangig von den Regeln ab, die dafür entwickelt wurden. Da man aber über angeborene emotionale Bedürfnisse verfügt, bleibt man grundsätzlich in der Lage, die kulturell vorherrschenden Regeln kritisch zu überprüfen und im Hinblick auf die eigenen Bedürfnisse zu bewerten.

Da die moralischen Regeln genauso abstrakt sind wie die Regeln des instrumentellen Handelns, können sie leicht an unterschiedliche soziale Konstellationen angepasst werden. Wer die moralischen Regeln stur anwendet, kann nicht situationsgerecht reagieren. Moralisches Handeln verlangt ein ebenso ausgeprägtes Regelbewusstsein, wie es für instrumentelles Handeln erforderlich ist.

Es wäre verfehlt, für die Bildung von ethischen Urteilen den Begriff der Nützlichkeit zu verwenden, wie es von der Theorie des Utilitarismus vorgeschlagen wird.144 Damit wird unterstellt, dass ethische Urteile aus einem bewussten rationalen Kalkül hervorgehen. Man muss vielmehr davon ausgehen, dass ethische Entscheidungen entweder gelernten Gewohnheiten entsprechen oder von unbewussten Bewertungen getroffen werden, in die sowohl der persönliche Nutzen als auch die Wirkung des Handelns auf die Ordnung der Gemeinschaft eingehen. Das bedeutet, dass ethische Urteile nicht von der Vernunft getroffen werden. Die weit verbreitete Überzeugung, dass das ethisch Richtige von der Vernunft bestimmt werden könne, erweist sich als ein großer Irrtum.

Das Fazit der Überlegungen zum ethischen Denken ist, dass die Sprache das Verhältnis der Menschen gegenüber den Regeln des sozialen Zusammenlebens extrem gestört hat. Die öffentliche Diskussion der Moral leidet darunter, dass nicht beachtet wird, dass die moralischen Regeln nicht als verbale Ge- und Verbote, sondern als Verhaltensgewohnheiten gelernt werden müssen. Anstatt den Zerfall der Werte zu beklagen, müsste untersucht werden, welche konkreten sozialen Strukturen das Lernen von sozial verträglichen Verhaltensgewohnheiten behindern.

Es zeigt sich, dass sich das ethische Denken wenig vom normalen instrumentellen Denken unterscheidet, das Regeln daran misst, ob damit bestimmte Ziele erreicht werden können. Da sich das moralische Verhalten nach der organismischen Selbstorganisation richtet, ist es im Grunde irreführend, von ethischem Denken zu sprechen. Dadurch wird die Illusion gefördert, dass man sich aus Vernunft für moralisches Verhalten entscheiden könne.

Die Besonderheit der moralischen Regeln besteht also darin, dass sie mit somatischen Bewertungen verbunden sind, die sich als Gefühle kundtun.145 Während sich die normalen Regeln aus den Bedingungen der Dinge (z.B. Materialbeschaffenheit) oder aus den äußerlich vorgegebenen Zwecken (z.B. Ordnung des Straßenverkehrs) ergeben, auf die sie sich richten, werden die moralischen Regeln durch die Struktur des Zusammenlebens geprägt. Wenn das Zusammenleben vom Gefühl der Liebe dominiert wird, werden sich völlig andere moralische Regeln herausbilden, als wenn die Gefühle des Eigennutzes, des Misstrauens und der Angst vorherrschen.

4.12. Die Grenzen des Verstehens

»Der Mensch ist das Maß aller Dinge.« (Protagoras)

Die traditionellen Theorien des Denkens waren von der Allmacht des Denkens überzeugt. Diese Überzeugung gipfelte in der philosophischen Metaphysik. Je mehr aber erkannt wird, wie sehr das Denken vom Handeln abhängig ist und wie die Gefühle das Denken prägen, treten die Grenzen des Denkens ins Bewusstsein und muss die Überzeugung, dass das Denken geeignet ist, ein Abbild von der Realität zu erzeugen, infrage gestellt werden.

Es wurde die These vertreten, dass das Denken die Funktion hat, das Handeln anzuleiten. Gedanken sind deshalb nicht mehr als Anleitungen für realitätsgerechtes Handeln. Dementsprechend werden Sätze verstanden, wenn nachvollzogen werden kann, welches Ziel die angesprochenen Bewegungen erreichen sollen. Verstehen heißt, Bewegungen als geregelte Bewegungen wahrzunehmen bzw. in den Bewegungen ihr Muster zu erkennen. Verstehen gründet also in der elementaren biologischen Fähigkeit, wahrgenommene Bewegungen innerlich nachvollziehen zu können.146 Ohne diese Fähigkeit wären das Lernen von Bewegungen und das Verstehen von Geschichten undenkbar. Daraus folgt, dass Verstehen im Grunde kein intellektueller, sondern ein natürlicher Prozess ist.

Auch theoretische Sätze werden erst verstanden, wenn sie in Bewegungsprozesse übersetzt werden. Als Beispiel kann ein Absatz aus dem Regelkapitel angeführt werden: »Das Besondere an den Regeln ist, dass sie nicht direkt auswendig gelernt werden können. Sie müssen durch Vormachen und Nachahmen in eigene Verhaltensgewohnheiten eingebaut werden. Solange sie nur im verbalen Gedächtnis aufbewahrt werden, können sie keine Wirkung entfalten. Wenn man die Regeln des Fahrradfahrens kennt, kann man noch lange nicht Fahrradfahren.« Die Kernaussage besteht darin, dass man sich Regeln nur dadurch aneignen kann, dass man seine Verhaltensgewohnheiten so ändert, dass sie automatisch die Regeln befolgen. Da sie sich auf vertraute Bewegungen bezieht, ist die Aussage nachvollziehbar.

Die äußere Natur kann nicht auf die unmittelbare Weise verstanden werden, wie es bei menschlichen Bewegungen der Fall ist. Die äußere Natur funktioniert nach Prinzipien, die man nicht auf diese persönliche Weise kennt. Die Eigenschaften von Objekten lassen sich im Grunde nicht verstehen, da sie nicht auf menschliche Bewegungen zurückgeführt werden können. Sie können nur als Randbedingungen von menschlichen Bewegungen zur Kenntnis genommen werden, mit denen auf die Objekte eingewirkt wird. So kann z.B. die Härte von Holz nur gefühlt werden. Sie ist bedeutsam, weil sie dem Sägen und Nageln Widerstand entgegensetzt. Da die Kenntnis der Objekte davon abhängig ist, auf welche Weise man auf die Objekte einwirkt, muss sie immer fragmentarisch bleiben. Daraus folgt, dass die Menschen letztlich nur ihre eigenen Bewegungen verstehen.

Es ist nicht zufällig, dass alle Bewegungen, die die Menschen in der Natur beobachten, in Analogie zu menschlichen Bewegungen verstanden werden. So wird z.B. gesagt, dass sich die Sterne am Himmel »bewegen«. Da die Menschen nur ihre eigenen Bewegungen verstehen, können sie gar nicht anders, als die Welt nach Maßgabe ihrer Regeln zu begreifen. So haben Religionskritiker immer wieder behauptet, dass die Götter idealisierte Abbilder der Menschen sind. Oder beim Verständnis von Tieren wird davon ausgegangen, dass sie wie Menschen handeln. Seitdem die Menschen Maschinen produzieren können, werden Tiere vorzugsweise als Automaten betrachtet, die von angeborenen Instinkten gesteuert werden. Auch der menschliche Körper wird seitdem in Analogie zu produzierten Maschinen begriffen. Auch die Metapher von Leibniz, dass die Welt ein Uhrwerk ist, war ein Versuch, mit dem Maschinenmodell das Unerklärliche zu erklären. Offensichtlich wird etwas erst verstanden, wenn es in Analogie zu menschlichen Bewegungen oder zumindest zu von Menschen produzierten Bewegungen (Maschinen) gesetzt werden kann. Was die Menschen nicht handelnd wiederholen oder verändern können, entzieht sich ihrer Erkenntnis.

Bereits 1725 hat Giambattista Vico das Axiom aufgestellt, dass wir nur erkennen können, was wir machen können. Er wollte damit ausdrücken, dass die Menschen nur ihre kulturellen Erzeugnisse, nicht aber die Natur verstehen können. Naturprozesse können erst erkannt werden, wenn sie hergestellt bzw. nachgebildet werden können. So konnte der Regenbogen erst verstanden werden, als man die Regenbogenfarben mit einem Prisma selbst erzeugen konnte. Theorien über Naturprozesse haben erst dann Beweiskraft, wenn die Naturprozesse reproduziert werden können.

Diese Gedanken haben weitreichende Folgen für das Verständnis des Wesens der Realität. Im Begriff des Wesens steckt die Erwartung, dass mit dem Denken bestimmt werden kann, was das Wesentliche an den Objekten ausmacht. Das Wesen wird als etwas Überzeitliches, Objektives und allgemein Gültiges gedacht. Wenn aber an den Objekten immer nur das erkannt werden kann, was für die aktuelle Praxis wichtig ist, muss die Frage nach dem Wesen als metaphysisch zurückgewiesen werden. So ist die Behauptung, dass man das Wesen eines Tisches kennen muss, um ihn herstellen zu können, Unsinn. Für seine Herstellung reicht die Kenntnis seiner Funktion.

Da man nur verstehen kann, was man innerlich nachvollziehen kann, wird es den Menschen grundsätzlich verwehrt bleiben, die Prozesse im Gehirn zu verstehen. Die im Gehirn auf der zellulären Ebene ablaufenden Prozesse sind grundsätzlich nicht in Analogie zum menschlichen Handeln zu begreifen, da es sich hier um chemische und elektrische Prozesse handelt. Deshalb ist das Versprechen der Gehirnforscher, »in absehbarer Zeit psychische Vorgänge wie Empfindungen und Gefühle, Gedanken und Entscheidungen aus physikochemikalischen Vorgängen des Gehirns erklären und voraussagen zu können«, illusorisch.147 Neurobiologisches Wissen, wie im Gehirn Gedanken entstehen, ist in keiner Weise geeignet, das Denken besser zu verstehen, geschweige denn, dass man damit besser denken und effizienter handeln kann.

Platon hat behauptet, dass Verstehen ein Wiedererkennen ist. Aus der Sicht der hier entwickelten Theorie des Denkens ist dies zutreffend. Es ist allerdings kein Wiedererkennen von ewigen Ideen, wie Platon annahm, sondern vielmehr ein Wiedererkennen von bekannten Bewegungen. Man kann nur das verstehen, was man bereits kennt und deshalb innerlich nachvollziehen kann. Wenn das Verstehen von Gedanken darin besteht, dass die angesprochenen Bewegungsregeln innerlich nachvollzogen werden, also innerlich gehandelt wird, bedeutet dies, dass man keine ominöse geistige Sphäre (wie z.B. die Ideen von Platon oder den körperlosen Geist von Descartes) braucht, um gedankliche Prozesse zu verstehen.

Wenn normalerweise von den Grenzen des Denkens gesprochen wird, geht es um die Behauptung, dass das Denken nicht in der Lage ist, die Realität korrekt zu erkennen. Die bisherigen Überlegungen laufen darauf hinaus, dass sich bereits der Anspruch, mit dem Denken die Wirklichkeit zu erkennen, nicht begründen lässt. Wenn Wissen die Funktion hat, das Handeln zu steuern, kann das Denken nur das Ziel haben, praxisbezogenes Wissen zu erzeugen. Dem Denken kann nicht die Kraft abgesprochen werden, Antworten auf aktuelle Probleme zu finden. Es stößt aber an seine Grenzen, wenn es sich anmaßt, über Fragen außerhalb der praktischen Erfahrungswelt Aussagen treffen zu können. So sind Fragen nach dem Sinn des Seins, nach der Unsterblichkeit der Seele, nach dem Ursprung oder das Ziel des Lebens oder nach dem Tod und dem Jenseits sinnlos, weil sie nicht mit aus dem Handeln gewonnenen Erfahrungen beantwortet werden können. Die Grenzen werden auch überschritten, wenn geglaubt wird, dass künftige Entwicklungen prognostiziert werden können. Die Grenzen des Denkens sind in Wirklichkeit die Grenzen des Handelns. Wo nicht gehandelt werden kann, lässt sich das Denken nicht überprüfen.

Wenn sich das Denken an die vom Handeln gesteckten Grenzen hält, kann es als pragmatisch bezeichnet werden. Das heißt keineswegs, dass es sich auf das unmittelbar Nützliche beschränken muss. Auch die persönlich und gesellschaftlich angestrebten Ziele gehören zum Bereich des pragmatischen Denkens, weil sie unentbehrlich für die Ordnung des eigenen Handelns sind. Pragmatisches Denken wendet sich aber kritisch gegen die Überzeugung, dass das Denken zu metaphysischen Höhenflügen fähig ist.

4.13. Zusammenfassung

»Es wird alles immer gleich ein wenig anders, wenn man es ausspricht.« (Hermann Hesse)

Es sollte deutlich gemacht werden, dass die Bausteine des Denkens Regeln sind. Das Denken ist ein wertneutraler Prozess, in dem Regeln so miteinander kombiniert werden, dass damit reale Probleme handelnd gelöst werden können. Es kann somit als ein natürlicher Prozess verstanden werden, der die Funktion hat, das Handeln vorzubereiten. Alle Merkmale des Denkens wie seine Selbstreflexivität, seine Kreativität, seine Rationalität u.Ä. können aus dieser Perspektive als Aspekte des Handelns verstanden werden. Ein selbständiges, nur auf die reine Erkenntnis bezogenes Denken ist eine Fiktion.

Bei dem Versuch, alle mentalen und psychischen Prozesse mit Hilfe des Begriffs der Regel zu verstehen, wurde das Ergebnis erzielt, dass sie ausschließlich aus natürlichen Bewegungsabläufen bestehen. Die alte esoterische Weisheit, dass alles Bewegung ist, findet so eine rationale Begründung. Geistige und seelische Instanzen müssen kritisiert werden, weil sie nicht mit Erfahrungen aus der natürlichen Erfahrungswelt begründet werden können und dazu verleiten, übernatürliche Kräfte zu unterstellen. Letztlich kann die Innenwelt der Gedanken viel besser ohne den Begriff des Geistes verstanden werden. Dadurch wird der Blick auf die Abhängigkeit des Denkens vom Handeln freigelegt.

Weder Begriffe noch Vorstellungen sind für das Denken konstitutiv, sie können aber als Hilfsmittel benutzt werden, um die Aufmerksamkeit auf ein Problem zu richten. Sie können die Wahrnehmung schärfen und das Denken stimulieren, da mit ihnen bestimmte Regeln aufgerufen und problematische Situationen vergegenwärtigt werden können. Da das Denken unbewusst mit Hilfe von Regeln organisiert wird, macht es keinen Sinn mehr, vom sprachlichen Denken zu sprechen. Die verbreitete Überzeugung, dass Vorstellungen, Begriffe und Handlungsmuster gleichwertige Erklärungsansätze für das Denken sind, erweist sich als unhaltbar.

Es wurde gezeigt, dass die hier entwickelte Theorie des Denkens ohne das Begriffspaar mental – materiell auskommt. Mit diesem Begriffspaar kann überhaupt nichts geklärt werden; es führt nur dazu, dass Unterschiede konstruiert werden, die in der Wirklichkeit gar nicht existieren. So entsteht die Frage, ob das unkörperliche Denken an den materiellen Körper gebunden ist und wie man sich das vorstellen soll. Sie ist sinnlos, da die Basis des Denkens verallgemeinerte Bewegungen (Regeln) sind. Außerdem verführt das Begriffspaar dazu anzunehmen, dass der Geist höherwertiger als die Materie sei. Diese Überlegungen bedeuten, dass das Etikett materialistisch, dass üblicherweise Theorien angeheftet wird, die nicht mit dem Begriff des Geistes arbeiten, bei der hier entwickelten Theorie des Denkens nicht passt.

Das Verhältnis der Menschen zu sich selbst und zu anderen Menschen wird durch Regeln bestimmt, die in der gemeinsamen Kommunikation entstehen. Jedes Handeln hat den Charakter eines Dialoges, weil man auf etwas einwirkt und dessen Rückwirkungen erfährt. Handeln bedeutet, sich selbst und die Realität kennenlernen. Wo nicht gehandelt werden kann, macht das Denken keinen Sinn. So sind der Tod und das Jenseits Felder jenseits des Denkbaren. Wenn das Denken mit quasi-persönlichen Instanzen wie Geist, Seele oder Wille operiert, vergisst es seine vom Handeln gesteckten Grenzen.

Es sollte gezeigt gemacht werden, dass die üblichen Überlegungen zum Verhältnis von Denken und Fühlen von falschen Annahmen über die Natur des Denkens und der Gefühle ausgehen. Wenn das Denken als ein Hantieren mit Regeln und das Fühlen als ein Bewerten verstanden werden, folgt daraus, dass die übliche Frage, ob das Denken die Gefühle oder die Gefühle das Denken bestimmen, falsch gestellt ist. Denken und Gefühle sind gleich wichtige Aspekte bei der Handlungsvorbereitung. Die spontanen Bewertungen der Gefühle legen die Richtung des Handelns fest, das evtl. mit Hilfe der Regeln an die aktuelle Situation angepasst werden muss.

Skeptiker bezweifeln, ob das Denken überhaupt fähig ist, eine Theorie über sich selbst aufstellen. Man könne nicht denken und sich gleichzeitig beim Denken wie von außen beobachten. Um die Mechanismen des Denkens zu erkennen, wäre ein Standpunkt außerhalb des Denkens erforderlich, der aber unerreichbar ist. Wenn aber von der Theorie ausgegangen wird, dass das Denken in der allgemeinen Fähigkeit wurzelt, das eigene Handeln mit Hilfe von Regeln vorzubereiten und in der Selbstreflexion zu prüfen, fallen diese Vorbehalte weg. Da die Menschen fähig sind, selbstreflexiv zu handeln, können sie auch ihr Denken, das nichts anderes als ein probeweises Handeln ist, analysieren.

Da die Regeln überhaupt erst das Denken ermöglichen, begründen sie die Intelligenz. Intelligentes Denken kann dadurch gefördert werden, dass man möglichst vielfältig handelt, um reichhaltige Erfahrungen machen zu können und den Vorrat an Regeln zu vergrößern. Die Regeln werden wie von selbst aus den Erfahrungen extrahiert, wenn man sich ihnen uneingeschränkt öffnet.

5. Der Mensch als natürliches Wesen

»Wer Worte macht, tut wenig: seid versichert,
Die Hände brauchen wir und nicht die Zungen!« (William Shakespeare, Richard III.)

Die bisherigen Überlegungen zeigen, dass die Regeln im Zentrum des Denkens und Handelns stehen. Regeln haben eine immanente Tendenz, dass sie als solche wahrgenommen und reflektiert werden, um damit das naive Handeln, dass in der blinden Befolgung von Regeln besteht, zu überwinden. Regelbewusstsein eröffnet die Chance, die Effizienz des Handelns zu steigern. Es setzt aber voraus, dass man bereit ist, über die Regeln nachzudenken, die zu Konflikten und suboptimalen Ergebnissen führen. Natürlich müssen auch neue Regeln ausprobiert und bei neuen Regeln ständig geprüft werden, ob sie richtig eingehalten werden. Außerdem muss akzeptiert werden, dass sich die Regeln spontan bilden, auch wenn man über neue Regeln nachdenkt, und dass die Regeln im Bereich des zwischenmenschlichen Handelns nicht willkürlich verändert werden können.

Weder das idealistische noch das mechanistische Menschenbild lassen ein angemessenes Verständnis der Regeln zu. Deshalb sollen im Folgenden beide Konzepte mit dem Ziel kritisiert werden, ein Verständnis des Menschen zu entwickeln, das ein besseres Verständnis der Regeln ermöglicht. Im Zentrum des neuen Verständnisses steht die These, dass die Menschen natürliche Wesen sind, allerdings nicht in dem traditionellen Sinne, dass die Menschen zugleich auch mehr als natürliche Wesen, nämlich Geist- und Vernunftwesen sind, sondern dass sie auch als Kulturwesen ein Teil der Natur bleiben. Auch wenn die Menschen akzeptieren, dass ihr Denken und Fühlen völlig unbewusst abläuft, empfinden sie sich nicht als fremdbestimmt, weil sie sich auf die Produktivität und Kreativität ihres Denkens verlassen können.

5.1. Der Mensch als handelndes Wesen

»Was jemand denkt, merkt man weniger an seinen Ansichten als an seinem Verhalten.« (Isaac Bashevis Singer)

Das Selbstverständnis der Menschen wurde bisher von der idealistischen Leitidee des Menschen als einem denkenden Wesen geprägt. Im Zentrum steht dabei die Überzeugung, dass das Denken die Kraft hat, das Handeln zu steuern. Bevor die Menschen handeln, wägen sie Ziele und Mittel vernünftig ab. Das Ziel des Denkens besteht primär in Erkenntnis. Am besten könne sich Denken in kontemplativer Betrachtung der Wirklichkeit entfalten. Es könne objektive Erkenntnisse gewinnen, wenn es frei von Interessen und Gefühlen sei. Das Denken sei eine Fähigkeit, die nicht aus biologischen Zusammenhängen abgeleitet werden könne, weil es einer eigenen Seinssphäre angehört. Dazu gehört auch die Überzeugung, dass die Sprache die Menschen befähigt, mit ihrer Hilfe ein korrektes Abbild der Wirklichkeit zu erzeugen. Das bedeutet, dass es kategorisch ausgeschlossen wurde, dass das Denken auf das Handeln angewiesen ist oder durch das Handeln geprägt wird.

Die bisherigen Überlegungen haben viele Argumente zusammengetragen, die das idealistische Menschenbild erschüttern. Das Ergebnis kann folgendermaßen zusammengefasst werden: Was bisher als »geistige Welt« bezeichnet wurde, lässt sich besser als die Gesamtheit der Überzeugungen verstehen, mit denen das Handeln organisiert wird. Da die Überzeugungen auf Regeln für das Handeln basieren, geht es dabei letztlich um ein System von Handlungsanweisungen. Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, dass sich die Menschen ihre Welt handelnd erschließen. Alles Wissen resultiert primär aus dem handelnden Kontakt mit der Welt und hat nur Sinn in Bezug auf das Handeln. Das Denken kann keine selbständig steuernde Funktion beanspruchen, weil seine Zielrichtung von den spontanen Bewertungen der Gefühle vorgegeben wird. Damit wird die »geistige Welt« keineswegs auf Materielles reduziert. Vielmehr wird ihre Einzigartigkeit, aber auch ihre Kontinuität mit der Welt des Handelns deutlich. Die geistige Welt verstehen, heißt, die Struktur des Handelns verstehen. Wenn die Menschen denken, handeln sie.

Auch die Evolutionstheorie legt diese Sicht nahe. Nach der Evolutionstheorie hat sich das Nervensystem entwickelt, um das Handeln mit den Wahrnehmungen der Sinnesorgane besser steuern zu können. Deshalb werden schon relativ einfache Verknüpfungen von Sinnesdaten und Handeln von den Biologen als Denken bezeichnet. Auch das menschliche Denken muss als eine Leistung des Nervensystems anerkannt werden, das den Zweck hat, das Handeln in einer komplexen Umwelt mit Hilfe von Erfahrungen zu erleichtern. Die Strukturen des menschlichen Denkens haben sich im Evolutionsprozess herausgebildet. Die These von Immanuel Kant, dass die subjektiven Anschauungsformen von Raum und Zeit unabhängig von aller Erfahrung dem menschlichen Verstand gegeben sind, muss aus der Sicht der Evolutionstheorie infrage gestellt werden. Handeln findet zwangsläufig im Raum statt, weil es auf die im Raum verteilten Objekte einwirkt, wobei es beim Handeln immer ein zeitliches Nacheinander gibt. Die Anschauungsformen Raum und Zeit ergeben sich so eindeutig aus der Struktur des menschlichen Handelns, wie es sich im Verlauf der Evolution herausgebildet hat.

Wie sehr das Handeln ursprünglich im Zentrum des Denkens stand, zeigt sich an der etymologischen Herkunft des Sinnbegriffs. Sinn bedeutete ursprünglich Weg. Beim Sinn geht es also darum, Wege für die Probleme des Lebens zu kennen. In diesem Sinn fragt man z.B. nach dem Sinn einer bestimmten Handlung. Wenn man den beabsichtigten Weg der Handlung kennt, versteht man sie. Menschen, die die Kraft haben, ihre Probleme »in die Hand zu nehmen«, haben keine Zweifel am Sinn des Lebens. Typischerweise stellt sich regelmäßig die Sinnfrage, wenn die Kraft fehlt, sich Ziele zu setzen und sie handelnd umzusetzen. Sinn kann deshalb nicht durch reines Nachdenken gefunden werden, sondern braucht ein Denken, das aufs Handeln abzielt. Denn alle Probleme sind letztlich praktische Probleme der Lebensgestaltung. Alles Denken muss darin einmünden, handelnd in die Wirklichkeit einzugreifen. Wer nicht handelt, bleibt in seinen Problemen gefangen.

Das Ziel des Lebens kann deshalb allgemein damit gekennzeichnet werden, dass man sich alle Fähigkeiten aneignen muss, die für ein gemeinsames Überleben mit den Mitmenschen erforderlich sind. Dazu gehört vor allem auch die Bereitschaft, andere Menschen nicht zu verletzen und die Sensibilität dafür, was sie Menschen davon abhält zu handeln und wo sie ungerecht behandelt werden. Mitgefühl verlangt, den anderen Menschen zu helfen, ihre momentane Ohnmacht zu überwinden, um wieder zum selbständigen Handeln zu gelangen. Das eigene Handeln kann nur dauerhaft erfolgreich sein, wenn auch die Mitmenschen dazu fähig sind. Verantwortung für sich selbst schließt die Verantwortung für die Mitmenschen mit ein.

Im Kontrast zum Bild des Menschen als geistigem Wesen könnte der Mensch als handelndes Wesen charakterisiert werden. Der Philosoph Arnold Gehlen hat als erster nachdrücklich den Primat des Handelns bei der Bestimmung des Menschen herausgearbeitet.148 Es stützt sich dabei auf die Auffassung von Johann Gottfried Herder, dass der Mensch ein Mängelwesen ist. Zum Ausgleich für die mangelhafte organische Ausstattung würden die Menschen das lernfähige Handeln besitzen, mit dem sie die Realität umgestalten können. Die herausragende Lernfähigkeit hat es ihnen ermöglicht, auch in Lebensräumen mit widrigeren klimatischen und natürlichen Bedingungen zu überleben, als in denen sie sich ursprünglich entwickelt haben. Ob die Menschen angesichts dieser überragenden Anpassungsfähigkeit tatsächlich als Mängelwesen bezeichnet werden dürfen, ist zweifelhaft. Die Menschen müssen in erster Linie deshalb als handelnde Wesen angesehen werden, weil sie eine extrem entwickelbare Handlungsfähigkeit besitzen, die sich auch darin ausdrückt, dass sie mit dem inneren probeweisen Handeln, das als Denken bezeichnet wird, die Effizienz ihres Handelns steigern können. Wegen des Primats des Handelns beim Denken, muss das alte Bild des Menschen als geistiges Wesen aufgegeben werden.

Für die Analyse des Menschen als handelndes Wesen ist das philosophische Konzept des Menschen als Naturwesen nützlich. Dass die Menschen Naturwesen sind, bedeutet, dass sie als Teil der Natur von den natürlichen Bedingungen ihres Körpers und ihrer Umwelt abhängig sind. Zum Überleben benötigen sie saubere Luft und sauberes Wasser, giftfreie Lebensmittel und ausreichend Materialien für ihre kulturellen Artefakte wie Häuser und Werkzeuge. Wie das Phänomen der seelischen Erkrankungen zeigt, brauchen sie aber auch eine liebevolle, respektierende und die mentale Entwicklung fördernde soziale Umgebung. Wenn die natürliche und soziale Umwelt den natürlichen Bedürfnissen nicht entspricht, werden die Menschen krank. Alle kulturellen Umgestaltungen der Umwelt müssen auf die natürlichen Bedürfnisse Rücksicht nehmen. Das ist oft sehr schwierig, weil sich die natürlichen Bedürfnisse nicht operationalisieren lassen und einen weiten Spielraum an Befriedigungen zulassen. Soziale Unzufriedenheit, soziale Krisen und Krankheiten enthalten die Botschaft, dass der Spielraum überschritten worden ist. Das macht deutlich, dass die Menschen auch als Kulturwesen Naturwesen bleiben.

Im idealistischen Menschenbild befinden sich die Menschen in einem ständigen Kampf zwischen dem Geist bzw. der Vernunft und ihren natürlichen Trieben bzw. Leidenschaften. Der Geist hat die Aufgabe, die tierischen Triebe zu kontrollieren und zu zügeln. Seit Immanuel Kant herrscht die Überzeugung vor, dass der Mensch als Naturwesen von seinen natürlichen Trieben fremdbestimmt wird, dass er aber als Vernunftwesen autonom, d.h. nichts als seinem freien Willen verpflichtet ist. Es wird erwartet, dass sich die Menschen mit der Kraft des Willens selbst beherrschen. Dies ist offensichtlich ein Zerrbild. Im eigenen Erleben spielt die Selbstbeherrschung keine Rolle. Wenn man für alle Aktivitäten des alltäglichen Lebens Regeln eingeübt hat, läuft das Leben relativ mühelos ab, ohne große Versuchungen und innere Kämpfe. Denn die Regeln legen fest, wie die natürlichen Triebe und Bedürfnisse befriedigt werden können. Die Menschen fühlen sich deshalb nicht von ihren Trieben und Bedürfnissen fremdbestimmt, sondern lassen sich von ihnen führen. Das Sich-führen-lassen ist natürlich nur eine Metapher, die zum Ausdruck bringen soll, dass sich unbewusst Reaktionen bilden, mit denen sich die Menschen identifizieren können, weil sie als Ausdruck der Gesamtheit ihrer Erfahrungen und Überzeugungen verstanden werden. Daraus ergibt sich, dass die traditionelle Überzeugung falsch ist, dass die Menschen als Naturwesen unfrei sind, weil sie von ihren Trieben und sinnlichen Bedürfnissen bestimmt werden.

So gilt im idealistischen Menschenverständnis der Eigennutz als eine verwerfliche Eigenschaft, die durch die Vernunft eingeschränkt werden müsse. Diese Abwertung des Eigennutzes verkennt, dass der Eigennutz eine mächtige Triebfeder für allen sozialen und ökonomischen Fortschritt und für kooperatives und altruistisches Verhalten ist, wie der Nationalökonom Adam Smith herausgearbeitet hat. Er hatte erkannt, dass der Eigennutz nur dann eine positive Kraft ist, wenn die soziale Gemeinschaft Regeln aufstellt, die einen Missbrauch des Eigennutzes (z.B. durch Bildung von Monopolen, durch Armut, durch Ausschluss von der Bildung) verhindern. Der Eigennutz ist zwar eine biologisch vorgegebene Antriebskraft, wie er sich aber im sozialen Zusammenleben auswirkt, hängt von den sozialen Regeln ab. So kann sich der Eigennutz sowohl in altruistischem Verhalten als auch in der rücksichtslosen Durchsetzung der eigenen Interessen auf Kosten anderer ausdrücken.

Letztlich ist auch die Kennzeichnung des Menschen als handelndes Wesen wenig befriedigend, weil sie indirekt an der falschen Polarität von Denken und Handeln festhält. Wenn man sich aber bewusst bleibt, dass das Denken nur eine Sonderform des Handelns ist, kann man diese Bezeichnung durchaus verwenden, um damit das bisherige Selbstverständnis des Menschen als geistiges Wesen zu überwinden.

Den Menschen als handelndes Wesen verstehen, bedeutet keineswegs, dass damit dem Handeln der Vorrang vor dem Denken gegeben wird, wie ein häufig zu hörendes Vorurteil behauptet. Das Gegenteil ist der Fall! Erst mit einem realitätsgerechten Verständnis des Menschen wird das Denken von blockierenden Missverständnissen befreit und kann es sich intensiv darum bemühen, für die Verwirklichung der kulturellen Werte geeignete Regeln zu entwickeln. Wenn dem Handeln keine Angst vor Bestrafung entgegensteht, kann das Denken sich für die Verwirklichung der Bedürfnisse nach Beziehung, Anerkennung und Sicherheit mit aller Kraft einsetzen und alle Probleme des praktischen Lebens mit Engagement lösen.

5.2. Befreiung vom Mythos des Geistes

»Um klar zu sehen, genügt oft ein Wechsel der Blickrichtung.« (Antoine de Saint-Exupery)

Im Kapitel über das Denken wurden viele Argumente vorgebracht, dass der Begriff des Geistes völlig ungeeignet ist, um damit das menschliche Denken und Handeln zu verstehen. Insbesondere wurde deutlich gemacht, dass es ein Fehler wäre, den Geist als Urheber oder als Subjekt des Handelns aufzufassen und damit zu mystifizieren. Da der Mythos des Geistes nach wie vor im Zentrum der vorherrschenden Auffassung vom menschlichen Denken und Handeln steht, soll die Kritik am Konzept des Geistes weiter vertieft werden.

Es ist auffallend, dass alle Antworten, die die Menschen bisher auf die Frage gefunden haben, wer im Menschen denkt, nach dem Modell des handelnden Menschen gebildet wurden. Man konnte offensichtlich die inneren Prozesse nicht anders verstehen, als dass sie als das Ergebnis innerer denkender Instanzen oder Wesenheiten angenommen wurden. Ursprünglich bis ins Zeitalter von Homer hatte man geglaubt, dass die Gedanken von den Göttern geschickt werden. Im religiösen Denken wurde das menschliche Denken als eine von Gott verliehene Fähigkeit angesehen. Deshalb war die Suche nach einer rationalen Erklärung des Denkens ein Sakrileg.

Erst in der Neuzeit setzte sich immer mehr durch, das Denken mit dem Denkvermögen der Seele, des Geistes, der Vernunft, des Ichs u.Ä. zu erklären. Vermutlich sind die Begriffe »Seele«, »Ich«, »Geist« und »Vernunft« historisch ein Ersatz für die denkenden Götter. Nicht zufällig wird oft vom Glauben an die Vernunft geredet. Bereits aus der Vielzahl der teilweise widersprüchlichen Theorien über innere Denkinstanzen ist abzulesen, dass sie nur Pseudoerklärungen für die menschliche Denktätigkeit sind.

Auch die gegenwärtig vorherrschende Tendenz, das Denken als eine Leistung des Gehirns anzusehen, ist noch Ausdruck der alten Neigung, für das Denken eine innere Instanz anzunehmen. Oben wurde dargestellt, dass das Gehirn keine autonome Schaltstelle, sondern nur eine Clearingstelle ist, in der alle Impulse des gesamten Organismus aufeinander abgestimmt werden.149 Außerdem wurde argumentiert, dass das Denken in Wirklichkeit ein virtuelles Handeln ist. Daraus folgt daraus, dass die neuronalen Nervenzellen keine Gedanken zustande bringen, sondern ausschließlich damit beschäftigt sind, Bewegungen zu koordinieren. Es ist deshalb problematisch zu sagen, dass das Gehirn denkt. Es kann allenfalls die Aussage vertreten werden, dass alle Gedanken im Gehirn zusammenlaufen. Die Gehirnforschung kann noch nicht einschätzen, was es bedeutet, dass beim Denken minimale Innervationen in den Muskeln stattfinden, die für die gedachten Bewegungen erforderlich sind. Wenn davon ausgegangen wird, dass das Denken nichts anderes ist, als probeweise Bewegungen auszuführen, verbietet sich jede Einschränkung des Denkvermögens auf ein isoliertes Organ. Eigentlich müsste man sagen, dass am Denken das gesamte Nervensystem beteiligt ist. Der Spruch von Joseph Beuys »Ich denke sowieso mit dem Knie« ist eine ironische Bemerkung, die die übliche Vernachlässigung der Beweglichkeit des ganzen Körpers und die Fixierung des Denkens auf den Geist bzw. das Gehirn kritisiert.

Der Versuch der Gehirnforscher, das Denken aus der Aktivität von Neuronen, Synapsen und Neurotransmittern zu erklären, ist für das Verständnis des Denkens völlig irrelevant. Er bringt nicht mehr als die triviale Einsicht, dass alles Denken auf biologischen Prozessen basiert. Da die verwendeten Begriffe bloß neuronale Prozesse beschreiben, ist damit eine Erklärung des Denkens nicht zu leisten. Zur inhaltlichen Seite des Denkens wird damit nichts beigetragen. Symptomatisch für die Qualität der Ergebnisse der Gehirnforschung ist, dass sie z.B. nicht zu neuen Lerntheorien führen, sondern nur neurowissenschaftliche Argumente zur Begründung bereits vorhandener Lerntheorien anbieten, die außerdem den Nachteil haben, dass sie nicht nachvollziehbar sind.

Die Grenzen der Gehirnforschung bestehen darin, dass der Prozess des menschlichen Denkens prinzipiell nicht in Experimenten nachgebaut werden kann. Selbst wenn es gelingen würde, Roboter mit künstlicher Intelligenz zu bauen, die z.B. Erfahrungen aus Handlungen akkumulieren und mit verbaler Sprache an sozialen Kooperationen teilnehmen könnten, bliebe das Problem, nicht zu wissen, ob nicht auch die Roboter das Gefühl haben, frei zu handeln und welche Zwecke sie verfolgen. Auch der beliebte Vergleich des Gehirns mit einem Computer ist wenig hilfreich, da die Tätigkeit des Denkens nicht im Rechnen, sondern im Regelfinden und Regelanwenden besteht. Mit dem Computermodell ist deshalb die herausragende Fähigkeit des Menschen, Regeln bilden zu können, nicht erklärbar.

Die aktuelle Diskussion um den Begriff des Geistes dreht sich um das Konzept des Naturalismus, das vor allem von Gehirnforschern vertreten wird. Als naturalistisch werden Konzepte bezeichnet, die das Denken und die Erkenntnis als natürliche Prozesse auffassen, die aus nicht-kognitiven Bedingungen des animalischen Überlebens hervorgehen. Der Begriff des Naturalismus wird häufig als ein Kampfbegriff benutzt, insbesondere wenn von einem engen Begriff des Naturalismus ausgegangen wird, für den nur kausale, naturwissenschaftliche Erklärungen von geistigen Phänomenen zulässig sind. Es ist aber problematisch, den Begriff so stark einzuengen, weil das Denken auch mit nicht-naturwissenschaftlichen Denkansätzen als ein natürlicher Prozess begriffen werden kann, wie aus den bisherigen Überlegungen in diesem Buch hervorgeht.

Die naturalistischen Konzepte leiden daran, dass sie das Mentale umstandslos als einen Aspekt der als materiell verstandenen Natur begreifen. Es wird angenommen, dass der Geist bereits in den elementaren Bestandteilen der Natur angelegt ist. Das ergibt sich zwingend aus dem logischen Grundsatz, dass nichts Neues entstehen kann, was nicht bereits im Alten angelegt ist. Damit erhält man aber das widersinnige Ergebnis, dass die Natur etwas enthält, was ihrem Begriff eigentlich widerspricht. Deshalb wird gegen naturalistische Erklärungen des Geistigen zu Recht der Vorwurf erhoben, dass das Geistige auf das Materielle reduziert wird und dabei die Eigenständigkeit des Geistigen verloren geht. Es wird geltend gemacht, dass das Mentale offensichtlich Eigenschaften hat, die kein materieller Gegenstand besitzt: die Intentionalität der Begriffe, die Bedeutung von Gedanken und das Selbsterleben des Denkens. Es erscheint deshalb als unzulässig, das Geistige als einen Aspekt der Materie zu betrachten. Diese Auseinandersetzung konnte bisher nicht zu Ende geführt werden, weil die Begriffe Geist und Materie unreflektiert geblieben sind.

Da menschliche Handlungen von Regeln gesteuert werden und Ziele anstreben, müssen die Begriffe der Materie und des Geists neu bestimmt werden. Dabei kann es aber nur um die lebendige menschliche Materie gehen, da sich die übrige Materie letztlich dem menschlichen Verstehen entzieht.150 Offensichtlich ist menschliche Materie nicht bloß etwas Ausgedehntes, sondern zugleich mit der Fähigkeit ausgestattet zu handeln, Ziele zu setzen und zu korrigieren und innerlich probeweise zu handeln. Die lebendige Materie enthält damit in sich alle Fähigkeiten, die normalerweise dem Geist zugesprochen werden. Das Denken erwächst also aus dem Handeln, das als ein Dialog mit der Realität verstanden werden muss. Die dabei gemachten Erfahrungen werden im Dialog mit sich selbst und mit anderen Menschen zu Regeln aufbereitet, um damit künftiges Handeln zu verbessern. Denken ist deshalb keine Leistung des Verstandes oder Geistes, sondern die Folge von praktischen Fertigkeiten, in Interaktion mit der Umwelt zu treten.

Das hier entwickelte Konzept des Denkens ist frei von jeglichem Reduktionismus, da das Mentale nicht auf elementare Bausteine (Gene, Materie, Neuronen u.Ä.) reduziert, sondern aus der Verknüpfung von Regeln abgeleitet wird. Das menschliche Denken wird in die Kontinuität des Denkens gestellt, das vermutlich schon in der subhumanen Natur am Werk ist. Da das »Geistige« nichts anderes als die Gesamtheit der aus Erfahrungen abgeleiteten Regeln ist, können alle Kategorien, die für die Analyse des Handelns verwendet werden, auch für die Analyse des Denkens verwendet werden.

Da die hier vorgelegte Theorie der Sprache ein Beschreibungssystem enthält, das biologische (Regeln) und kulturelle Elemente (Ziele) auf die gleiche Ebene stellt, kann der unfruchtbare Dualismus von natürlicher/biologischer und geistiger Welt aufgegeben werden. Alle Dualismen von Denken und Gefühl, Subjekt und Objekt, Geist und Natur, Leib und Seele u.Ä. verdanken sich einem unreflektierten Gebrauch der Sprache. Auf beiden Seiten der dualistischen Begriffspaare stehen abstrakte Allgemeinbegriffe, die von Menschen aus denkpraktischen Gründen konstruiert wurden, denen also nichts Reales entspricht. Wenn über solche Dualismen nachgedacht wird, ohne ihre Konstruiertheit zu bedenken, entstehen zwangsläufig unlösbare Probleme.

In diesem Konzept fällt der traditionelle Dualismus von Geist und Materie in sich zusammen. Er erweist sich als ein begriffliches Konstrukt, das aus der Unfähigkeit entstanden ist, die dialogischen Prozesse auf der Ebene von handelnden Lebewesen zu verstehen. Damit wird auch das Etikett »naturalistisch«, das seine Bedeutung aus diesem Dualismus erhält, unbrauchbar. Da auch der Begriff der Natur seinen Gehalt aus dem Gegensatz zum Begriff des Geistes bezieht, muss er neu bestimmt werden.151 Der Dualismus von Körper und Geist braucht deshalb im Grunde nicht überwunden, sondern muss bloß als ein Scheinproblem durchschaut werden. Wenn der Begriff »Geist« nur noch eine denkpraktische Bedeutung beanspruchen kann, erübrigt sich die philosophische Frage, wie der Geist in die natürliche Welt passt. Damit erledigt sich das krampfhafte Bemühen vieler Philosophen, die phänomenale Eigenständigkeit des »Geistigen« retten zu wollen.152 Das »Geistige« erweist sich als ein Missverständnis von Philosophen, denen das innige Zusammenspiel von Denken und Handeln aus dem Blickfeld geraten ist.

Der Mythos des Geistes ist ein großes Hindernis bei dem Wagnis, selbst zu denken. Denn er unterstellt, dass es so etwas wie objektive Wahrheiten gibt, die es aufzudecken gilt oder die von besonders klugen Menschen aufgedeckt werden können. Deshalb verführt der Mythos des Geistes zum fremdbestimmten, unselbständigen Denken. Er weckt die irrige Hoffnung, dass mit »richtigen« Theorien das Leiden an den sozialen Lebensverhältnissen geheilt werden könne. Er macht blind dafür, wie sehr das Denken vom Handeln geprägt wird.

Außerdem lässt der Mythos des Geistes die Überzeugung entstehen, dass die Regeln, an denen sich das Handeln orientiert, vom Geist gesetzt werden. Es kann nicht akzeptiert werden, dass sich die meisten Regeln spontan in der Auseinandersetzung mit der Umwelt herausbilden. Es entsteht die Illusion, dass die Regeln jederzeit verändert werden können. Da aber die Regeln ein Produkt der organismischen Selbstorganisation sind, muss davon ausgegangen werden, dass die bewusste kulturelle Setzung von Regeln einen Versuch darstellt, den natürlichen Prozess der Regelbildung für die kulturelle Entwicklung zu nutzen.

Die Befreiung von Mythen hat das Ziel, ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Mythen verweigern das Selbstbestimmungsrecht, da sie dogmatisch vorgeben, wie das Leben zu führen ist. Erst wenn der Einzelne die Fähigkeit hat, an die Stelle von Mythen eigene Regeln zu setzen, die immer wieder anhand der eigenen Erfahrungen korrigiert werden, ist die Aufklärung an ihr Ende angekommen.

Aus dieser Sicht ist die traditionelle Überzeugung von der Sonderstellung des Menschen gegenüber dem übrigen Tierreich problematisch. Der entscheidende Unterschied zwischen den Menschen und den übrigen Tieren besteht also nicht darin, dass die Menschen Geist haben und sprechen können, sondern darin, dass bei den Menschen die Instinkte fast vollständig durch Regeln ersetzt werden. Dadurch wird die bereits bei den Tieren zu beobachtende Fähigkeit, die Umwelt für die eigenen Bedürfnisse umzugestalten, gewaltig gesteigert. Die menschliche Kultur kann als ein Produkt der natürlichen Regelbildungsfähigkeit verstanden werden. Im Grunde liegt also kein radikaler Bruch mit dem übrigen Tierreich vor. Beim Menschen ist bloß die Kreativität, die bereits bei den höher entwickelten Tieren zu beobachten ist, extrem angewachsen.

Bei der Analyse der menschlichen Natur wurde bewusst darauf verzichtet, die Unterschiede zwischen Menschen und höheren Säugetieren zu bestimmen. Da es den Menschen verwehrt ist, genau erkennen zu können, wie die Tiere ihr Leben organisieren, sind solche Vergleiche wenig erhellend. So ist die These von Helmuth Plessner, dass sich die Menschen dadurch auszeichnen, dass sie sich zu sich selbst verhalten können, nicht mehr als eine unbeweisbare Behauptung. Die Vergleiche von Mensch und Tier haben stets nur dazu geführt, dass den Tieren das Gegenteil von dem zugeschrieben wurde, was die Menschen auszeichnen soll. Daraus ergibt sich, dass die Analyse der menschlichen Fähigkeiten in sich überzeugend sein muss und dass Vergleiche mit den Tieren wertlos sind.

Es ist merkwürdig, dass sich die Überzeugung vom Menschen als geistigem Wesen so lange halten konnte. Zur Erklärung muss davon ausgegangen werden, dass Menschenbilder immer festlegen, welche Verhaltensweisen privilegiert und welche abgewertet werden. Es ist deshalb zu fragen, welche historische Funktion sie hatten. Eine detaillierte historische Analyse des traditionellen Selbstverständnisses würde sicherlich zum Ergebnis führen, dass sich die Vorstellung, dass die Menschen geistige Wesen sind, sehr gut dafür geeignet war, soziale und politische Herrschaft von weltlichen und kirchlichen Machthabern wirkungsvoll zu rechtfertigen. Da der Geist damit definiert wird, dass er die Aufgabe hat, den Körper zu führen, kann daraus ohne weiteres abgeleitet werden, dass Menschen, die einen höher entwickelten Geist haben, dazu berufen sind, Menschen mit geringerem Geist zu regieren. Wenn von der Überzeugung ausgegangen wird, dass die Götter das Leben der Menschen leiten und Götter sich dadurch auszeichnen, dass sie Geist besitzen, können die Menschen, die als König oder Priester einen privilegierten Zugang zu den Göttern beanspruchen, dies damit begründen, dass sie als Vertreter der Götter auf Erden die Menschen führen. Deshalb wurde auch an der Überzeugung festgehalten, dass die Menschen eine Sonderstellung innerhalb der Natur einnehmen.

Wenn die Menschen als handelnde Wesen begriffen werden, kann das »Geistige« nicht mehr zur Legitimation von sozialer Unterdrückung missbraucht werden. Es verbietet sich dann, über den Geist zu reden, als wäre er eine innere Instanz, die die Menschen zu dem macht, was sie sind. Am besten sollte der Begriff »Geist« ganz vermieden werden, weil er historisch zu stark mit problematischen Assoziationen beladen ist. Die Kraft des Denkens kann sich erst voll entfalten, wenn sich das Denken nicht unter dem Druck von sozialer Herrschaft einschränken muss.

5.3. Kritik des mechanistischen Weltbildes

»Durch Worte und Begriffe werden wir immer wieder verführt, die Dinge uns einfacher zu denken als sie sind.» (Friedrich Nietzsche)

In der Frühphase der menschlichen Entwicklung wurde das Denken wahrscheinlich vom Grundgedanken des Animismus153 geprägt. Nach der Erfindung der Sprache wandelte sich das animistische Grundverständnis dahin, dass alle Wirkungen auf das Denken bzw. den Geist zurückgeführt werden. Das neue geistorientierte Grundverständnis drückt sich z.B. im Alten Testament darin aus, dass die Welt aus Gottes Wort entstanden ist. Seitdem hat sich die Überzeugung durchgesetzt, dass das menschliche Denken in der Lage ist, die Welt zu erkennen. Als Zentrum des Denkens im Menschen wurde zunächst die Seele, später der Geist bzw. der Verstand angenommen. Solange die Menschen von der Existenz der Seele überzeugt waren, haben sie die inneren Regungen der körperlichen Signale, Empfindungen, Gefühle, Gedanken und Entscheidungen als Werk der Seele erklären können. Sie fühlten sich deshalb nicht für ihre inneren Regungen verantwortlich. Sie konnten sie bruchlos übernehmen und sich von ihnen führen lassen, weil sie annahmen, dass sich darin eine übernatürliche Vernunft ausdrückt. Denn die individuelle Seele wurde als ein Abkömmling der Weltseele verstanden. Als zu Beginn der Neuzeit, insbesondere unter dem Einfluss der wachsenden Bedeutung der Naturwissenschaften, die Seele an Überzeugungskraft verloren hatte, konnte sich das mechanistische Menschenbild durchsetzen. Es entstand das neue Dogma des kausalen Denkens. Die Welt wurde jetzt als eine komplexe Maschine begriffen, deren einzelne Elemente mit Naturnotwendigkeit aufeinander einwirken. Dementsprechend müssen alle in der Realität beobachteten Wirkungen auf Naturgesetze zurückgeführt werden.

Das neue mechanistische Weltverständnis schien lange Zeit eine adäquate Abbildung der Wirklichkeit zu sein. Bei einer genaueren Analyse ist aber nicht zu übersehen, dass es genauso wie die früheren Weltverständnisse mit Metaphern operiert. Leitmetaphern sind die Maschine und das Gesetz. Beide Metaphern wurden aus dem Bereich des menschlichen Handelns übernommen. Auch wenn das mechanistische Weltverständnis bei der Herstellung von Instrumenten zur Naturbeherrschung äußerst erfolgreich war, hat es deutliche Schwächen. Das zeigt sich besonders daran, dass es für das Verständnis des menschlichen Handelns völlig ungeeignet ist.

Gegen das mechanistische Weltverständnis müssen vor allem folgende inhaltliche Argumente vorgebracht werden:

1) Das kausale Denken verlangt, die das Handeln beeinflussenden Faktoren, also das Denken, die Gefühle, die Bedürfnisse oder die Ziele, als Ursachen des Handelns zu betrachten. Diese Sichtweise wird der Struktur der menschlichen Entscheidungsprozesse nicht gerecht. Wie im nächsten Kapitel über die Willensfreiheit erläutert wird, läuft der Entscheidungsprozess, auf welche Weise die persönlichen Ziele realisiert werden, unbewusst ab. In den Entscheidungsprozess gehen alle bisher gesammelten Erfahrungen auf. Das Handeln ist deshalb stets der Ausdruck des gesamten Organismus. Da hier keine fremden Kräfte am Werk sind, wie das kausale Denken unterstellt, macht es keinen Sinn, das Handeln mit dem Begriff der Kausalität zu erklären. Das kausale Denken ist auch deshalb untauglich, weil es unterstellt, dass das menschliche Handeln wie das Verhalten von Maschinen verstanden werden könne. Angesichts der Komplexität menschlicher Entscheidungen ist dies prinzipiell nicht möglich. Aus diesen Gründen kann der Begriff der Kausalität nicht auf den Bereich des menschlichen Handelns übertragen werden.

2) Ob es Naturgesetze gibt, können die Menschen aufgrund der Begrenztheit ihres Denkens grundsätzlich nicht wissen. Es können nur Regelmäßigkeiten erkannt werden. Regelmäßigkeiten lassen aber grundsätzlich Abweichungen und kreative Neuanpassungen zu. Oben wurde bereits dargestellt, dass der Begriff der Naturgesetze nicht mehr als eine Metapher für beobachtete Regelmäßigkeiten ist.154

3) Das stärkste Argument gegen das mechanistische Körperverständnis besteht darin, dass es das zentrale Thema des mentalen Innenlebens, dass ständig Entscheidungen über die Art des Kontaktes zur Umwelt getroffen werden müssen, nicht begreifen kann. Wenn angenommen wird, dass alles Handeln gesetzmäßig determiniert ist, wird den Menschen die Entscheidungsfähigkeit abgesprochen. Entscheidungen zu treffen ist aber eine Fähigkeit, die allen Menschen zukommt. Es wäre aber falsch anzunehmen, dass Entscheidungen vom bewussten Denken getroffen werden. »Wir wägen verschiedene Handlungsmöglichkeiten gegeneinander ab, untersuchen die Argumente, die für diese oder jene Sichtweise sprechen, und entscheiden uns dann für die Option, die uns als die sinnvollste erscheint.«155 Diese Betrachtungsweise übersieht, dass allen Entscheidungen unbewusst getroffene Bewertungen zugrunde liegen, in die alle Erfahrungen einbezogen werden, die im Laufe des Lebens gewonnen wurden.156 Entscheidungen basieren darauf, dass zur Lösung eines Problems aus der Gesamtheit aller im Laufe des Lebens gebildeten Regeln die geeignetste Regel ausgewählt wird. Selbst wenn man den Eindruck hat, dass man sich nach reiflicher Überlegung für einen bestimmten Lösungsweg entschieden hat, stützt man sich letztlich auf eine unbewusst getroffene Entscheidung. Denn sobald gespürt wird, dass eine bestimmte Entscheidungsalternative zielführend sein könnte, legt man sich auf sie fest. Da in die Entscheidungen alle persönlichen Erfahrungen eingehen, identifiziert man sich spontan mit ihnen. Die traditionelle Vorstellung, dass Entscheidungen aus dem bewussten Abwägen von Gründen hervorgehen, erweist sich als ein rationalistischer Irrtum.

Menschen empfinden sich zu Recht nicht als Bioautomaten, sondern haben ein untrügliches Gefühl, ob ihre Entscheidungen wahr, also Ausdruck ihrer persönlichen Ziele sind, oder ob sie auf Zugeständnissen an die Anforderungen der Umwelt basieren. Man fühlt sich nur dann als Opfer von unbewussten Entscheidungen, wenn sie durch symbiotische Rücksicht auf die Erwartungen anderer Menschen beeinflusst werden. Jeder Handelnde weiß mehr oder minder bewusst, wie bedeutsam der Einfluss der sozialen Umwelt auf seine Entscheidungen ist, aber dies wird nicht als Determinismus empfunden. Da man im Rahmen der gegebenen Umweltbedingungen handeln muss, identifiziert man sich mit den eigenen Entscheidungen, die immer Ausdruck der persönlichen Erfahrungen sind.

Im alltäglichen Leben spielen Entscheidungen eigentlich kaum eine Rolle. Wenn sich ein Bedürfnis meldet oder sich ein Problem einstellt, wird spontan mit den erlernten Verhaltensgewohnheiten reagiert, ohne dass man sich einer Entscheidung bewusst ist. Die Verhaltensgewohnheiten nehmen so die Last der Entscheidung ab. Der Zwang zur Entscheidung tritt nur dann ins Bewusstsein, wenn die Gewohnheiten versagen oder negative Ergebnisse zu befürchten sind. Es geht dann in erster Linie darum, nach neuen Lösungswegen zu suchen. Die Entscheidung, für welchen Lösungsweg man sich entscheidet, wird dann auf der Grundlage der unbewussten Bewertungen getroffen. Nur so kann sichergestellt werden, dass ein Lösungsweg ausgewählt wird, der den persönlichen Zielen am besten entspricht. Daraus ergibt sich, dass die Überzeugung von der Existenz bewusster Entscheidungen ein Irrtum ist.

4) Das mechanistische Körperverständnis ist auch deshalb problematisch, da es das zentrale Prinzip des Lebens ausblendet, dass das Zusammenwirken aller körperlichen Bestandteile dialogisch erfolgt. Bei der Diskussion des Modells der Selbstorganisation wurde dargestellt, dass die Erkenntnis, dass die Symbiose die entscheidende evolutionäre Kraft darstellt, bedeutet, dass das Leben sich entfaltet, indem immer komplexere Formen der Kooperation und der Kommunikation entwickelt werden. Was die Menschen als Geist bezeichnen, ist aus der Sicht der Evolution der erfolgreiche Versuch, mit verbalen Zeichen die Kommunikation mit anderen Menschen zu intensivieren. Denken ist keine absolut neuartige Qualität, sondern eine Ausdifferenzierung von bereits lange erprobten Formen der Kommunikation.

Wie bereits dargestellt wurde, neigen die Menschen dazu, die Welt nach dem Modell des dialogisch organisierten Handelns zu verstehen.157 Tatsächlich können die Menschen besser verstanden werden, wenn der Begriff der Kommunikation in den Mittelpunkt der Analyse gestellt wird.158 Der Begriff des Körpers, der die Vorstellung der Kommunikation auf der körperlichen Ebene nicht zulässt, muss deshalb aus seiner Entgegensetzung zum Begriff des Geistes befreit werden. Der Begriff des Körpers hat seit Descartes seinen Inhalt daraus bezogen, dass er alles ist, was der Geist nicht ist. Wenn aber akzeptiert wird, dass auch auf der biologischen Ebene dialogische Prozesse (Informationsaustausch) stattfinden, kann der Körper nicht mehr als Nichtgeist begriffen werden. Ich ziehe es deshalb vor, den Begriff Organismus zu verwenden, wenn es um die Ganzheit des Menschen als ein sich selbst organisierendes natürliches Wesens geht. Dieser Begriff ist eher dafür geeignet, die Vorstellung in sich aufzunehmen, dass sich spontan Regeln bilden, mit denen der Organismus seinen inneren Informationsaustausch und seine Kommunikation mit der Umwelt organisiert. Analog dazu kann auch der Begriff der menschlichen Natur neu gefasst werden. Die menschliche Natur ist demgemäß nicht bloß ausgedehnte Materie, sondern ein komplexes lebendiges System, das sich mit Hilfe von vielfältigen Kommunikationsprozessen und ohne immaterielle Kräfte reproduziert.

Das Ergebnis diese Überlegungen ist, dass die Menschen nicht von ihren Trieben und Leidenschaften beherrscht werden, wie angeblich die Tiere von ihren Instinkten gesteuert werden. Beim Menschen haben die Regeln die Funktion der Instinkte übernommen. Die Regeln haben einen großen Spielraum eröffnet, wie die Menschen sich kreativ an die Umwelt anpassen und die Umwelt für ihre Bedürfnisse benutzen können. Inwieweit der Spielraum ausgenutzt wird, ist keine Frage ihrer bewussten Reflexion oder Entscheidung, sondern hängt davon ab, was unter den gegebenen Lebensbedingungen als Problem wahrgenommen wird. Das unbewusst ablaufende Denken und Fühlen schließt keineswegs kreatives, umweltangepasstes Denken und Handeln aus.

5.4. Die repressive Funktion der Willensfreiheit

»Man hat nur Angst, wenn man nicht mit sich einig ist.« (Hermann Hesse)

Obwohl sehr viele Argumente gegen das mechanistische Denken sprechen, ist festzustellen, dass das öffentliche Bewusstsein nach wie vor vom mechanistischen Denken geprägt ist. Das zeigt sich z.B. an der jüngst von einigen Gehirnforschern aufgestellten Behauptung, dass der Glaube an die Willensfreiheit eine Fiktion ist. Das wird damit begründet, dass alle kognitiven Prozesse nach Naturgesetzen ablaufen. Die Vorstellung, dass man sich in jeder Situation auch anders hätte entscheiden können, als man es getan hat, sei reiner Selbstbetrug. Kritisch ist dagegen einzuwenden, dass die Vorstellung, dass die Prozesse im Gehirn nach Naturgesetzen ablaufen, ein menschliches Konstrukt ist.159 Ebenso ist es ein Irrtum, die Entscheidungen als Willensakte zu begreifen. Der Wille ist ein abstrakter Allgemeinbegriff, dem nichts in der Realität entspricht. Es liegt nahe anzunehmen, der er bloß eine Versubstantivierung der Kraft ist, mit der Handlungen durchgeführt werden, und dass er deshalb ebenfalls nur ein mentales Konstrukt ist.160 Der Begriff der Willensfreiheit setzt sich offensichtlich aus zwei Begriffen zusammen, von denen jeder für sich bereits nur mit größter Vorsicht verwendet werden darf.

Im Rahmen der hier entwickelten Handlungstheorie ist davon auszugehen, dass sich das individuelle Handeln aus der Summe von Erfahrungen, Gewohnheiten und Präferenzen ergibt, die im Laufe des Lebens gebildet wurden. Wie sich aus diesem Geflecht das konkrete Handeln ergibt, entzieht sich dem Bewusstsein. Denn einerseits läuft der Entscheidungsprozess nahezu automatisch ab und andererseits hat niemand einen vollständigen Überblick über die Gesamtheit seiner Regeln. Deshalb identifiziert man sich mit seinen Entscheidungen, insofern sie nicht von außen erzwungen werden. Schließlich gehen sie aus Überzeugungen hervor, die man für wahr hält. Man fühlt sich deshalb nicht von seinen Gedanken und Entscheidungen ferngesteuert. Deshalb macht es auch keinen Sinn, davon zu sprechen, dass das Handeln durch die persönlichen Präferenzen verursacht wird.

Im konkreten Handeln stellt sich nicht die Frage, ob man auch anders hätte handeln können. Man handelt immer nach dem, wovon man zutiefst überzeugt ist. Und das kann immer nur ein bestimmter Weg sein. Schließlich gründen die Entscheidungen auf unbewusst erfolgten Bewertungen und bewährten Regeln. Die internalisierten Regeln legen unbewusst fest, wie die Ziele verwirklicht werden. Das bedeutet, dass denkbare Alternativen immer weniger positiv bewertet werden als der Weg, den man bevorzugt. Wenn man sich nicht zu einer Entscheidung durchringen kann, liegt das nicht daran, dass man zwei gleichwertigen Alternativen gegenübersteht, sondern dass man nicht die Kraft hat, die eigenen Bedürfnisse gegen die Erwartungen anderer Menschen durchzusetzen. Daraus folgt, dass die Behauptung der Verteidiger der Willensfreiheit, dass man unter gleichen Bedingungen immer auch anders handeln kann, nicht zu begründen ist. Diese Vorstellung konnte sich durchsetzen, weil die Menschen dazu neigen, die unbewusste Einflussnahme der eigenen Bewertungen zu negieren, und weil übersehen wird, dass keine Wahlfreiheit besteht, welche Regeln in einer konkreten Situation benutzt werden. Die Idee der Willensfreiheit ist somit ungeeignet, damit das menschliche Handeln zu verstehen.

Ohnehin ist die Übertragung des Begriffs der Freiheit, der aus der Sphäre der politischen Herrschaft stammt, auf das normale menschliche Handeln nicht sinnvoll. Von Freiheit bzw. Unfreiheit kann nur sinnvoll geredet werden, wenn das Handeln von anderen Menschen eingeschränkt wird. Dies ist beim normalen Handeln nicht der Fall.

Während die Idee der Willensfreiheit für das individuelle Handeln völlig belanglos ist, hatte sie historisch in Gesellschaften mit sozialer Unterdrückung eine zentrale Funktion. Herrschaftssysteme müssen die geltenden moralischen Werte absolut setzen, um deren kritische Diskussion zu unterbinden. Denn viele moralische Werte werden von den herrschenden Gruppen so ausgelegt, dass sie im Widerspruch zu dem Verständnis stehen, wie es sich dem gesunden Menschenverstand darstellt. So ist z.B. das natürliche Gefühl für Gerechtigkeit absolut unverträglich mit den Ungleichbehandlungen, die von jedem Herrschaftssystem vom Einzelnen abverlangt werden. Das Postulat der Willensfreiheit hatte die Funktion, dem Einzelnen die Verantwortung für sein Handeln zuzuweisen. Nur bei individueller Verantwortlichkeit kann die Nichteinhaltung der herrschenden Werte bestraft werden. Ohne Schuld gibt es keine Sühne. Auch eine Rechtsprechung, die nach dem Prinzip von Schuld und Sühne arbeitet, braucht die Idee der Willensfreiheit.

Die Erfahrung zeigt, dass das Prinzip von Schuld und Sühne weder eine ausreichende abschreckende Wirkung hat, noch zur Resozialisierung des Täters führt. Es mündet vielmehr in den verhängnisvollen Teufelskreis von Ablehnung, Verbitterung, Rückzug und Rachegedanken, in dem sowohl Richter als auch Täter seelischen Schaden erleiden. Die Erfahrung zeigt, dass die Bestrafung von Regelverletzungen kontraproduktiv ist,161 da die eigentlich anstehende Aufgabe, beim Regelverletzer neue Gewohnheiten zur Einhaltung der Regeln einzuüben, unterbleibt oder zu kurz kommt. Zu Recht wurde immer wieder das Prinzip von Schuld und Sühne massiv kritisiert, weil es einen menschenwürdigen Umgang mit Regelverletzern verhindert.162 Aus diesen Überlegungen ergibt sich, dass die Willensfreiheit von denen heftig verteidigt wird, die nicht bereit sind, das reaktionäre Moralsystem von Schuld und Sühne und das problematische Verständnis von moralischer Verantwortung aufzugeben.

5.5. Das Ich als Gewohnheit

»Identität ist nutzlos, sie ist eigentlich nur ein Traum.« (Jean Baudrillard)
»Der wahre Wert eines Menschen ist in erster Linie dadurch bestimmt, in welchem Grad und in welchem Sinn er zur Befreiung vom Ich gelangt ist. « (Albert Einstein)

Da der Geist als das innere Zentrum der persönlichen Entscheidungen und als der Urheber der Regeln aufgegeben werden muss, ergibt sich daraus die Notwendigkeit, auch das Konzept des Ichs zu überdenken. Denn das Ich wurde bisher als eine Instanz betrachtet, die im Wesentlichen ähnliche Funktionen wie der Geist hat. Im Folgenden soll die These geprüft werden, dass das traditionelle Ichverständnis ein angemessenes Verständnis der Regeln und des Menschen als Naturwesen verhindert.

In meinem Buch »Geliebte Fesseln« habe ich die These vertreten, dass das Ich ein mentales Konstrukt ist und primär als eine verbale Bezeichnung für die innere Erfahrung der Autorschaft der eigenen Handlungen, Gefühle und Gedanken dient. Das Personalpronomen »ich« wurde notwendig, weil die Menschen gemeinsam miteinander handeln und deshalb einen Begriff dafür brauchen, um die eigenen Gedanken, Gefühle und Wünschen von denen anderer Menschen abzugrenzen. Auf diese Weise kann eine Handlung einem Menschen zugerechnet und darüber kommuniziert werden. Es kann über Schuld oder Verdienst gesprochen werden. Der Begriff »ich« ist deshalb im praktischen Leben unverzichtbar. Er ist eine sehr nützliche verbale Gewohnheit. Bereits Georg Lichtenberg hatte im 18.Jh. festgestellt: »Das Ich anzunehmen, zu postulieren, ist ein praktisches Bedürfnis.«163

Wer also »ich ..« sagt, will eigentlich nicht mehr sagen, als dass er Gedanken äußert, die sich in seinem Körper gebildet haben. Das Personalpronomen »ich« stellt weder eine Beziehung zu etwas anderem her noch hat es eine bestimmte Bedeutung. Es hat lediglich die Funktion, dass die sprechende Person die Verantwortung für die eigenen Gedanken und Handlungen übernimmt und ausdrücklich feststellt, dass niemand sonst dafür verantwortlich ist.

Problematisch wird es, wenn das Personalpronomen »ich« als Substantiv verwendet wird. Das Substantiv »Ich« erlaubt zahlreiche grammatikalisch korrekte Formulierungen, die aber nur scheinbar sinnvoll sind. Wenn es so benutzt wird, als wäre es eine innere Instanz mit bestimmten kognitiven Fähigkeiten, entstehen unlösbare Scheinprobleme. Ist das Ich für seine Gedanken verantwortlich? Kann sich das Ich über die Gefühle hinwegsetzen und sie kontrollieren? Woraus bezieht das Ich die Gewissheit, dass seine Überzeugungen richtig sind? Solche Fragen sind letztlich nicht beantwortbar, weil die unterstellte Instanz eines Ichs nicht nachgewiesen werden kann. Zu Recht hat der Physiker und Philosoph Ernst Mach bereits im 19. Jahrhundert die Existenz des Ichs geleugnet und die Auffassung vertreten, dass die Rede vom Ich nur Sinn macht, wenn man es als eine denkökonomische Einheit betrachtet.

Gegen die Kritik am »Ich« wird immer wieder auf die intuitive Gewissheit verwiesen, dass man ein personales Selbstverständnis besitzen würde. Dem ist das Argument entgegenzuhalten, dass das personale Selbstverständnis nichts Natürliches ist, sondern sich erst im kulturellen Entwicklungsprozess herausgebildet hat. Es entstand bei dem Übergang von den stammesgesellschaftlichen Sozialstrukturen zur bürgerlichen Gesellschaft. Aus der historischen Perspektive betrachtet ist das personale Selbstverständnis eine Folge des Individualismus der bürgerlichen Gesellschaft. Während in den früheren Stammesgesellschaften der Einzelne in die kollektive Ordnung eingebettet war und sich auf die Versorgung durch den Stamm verlassen konnte, wird in der bürgerlichen Gesellschaft vom Einzelnen verlangt, dass er sein Leben selbst in eigene Verantwortung übernimmt. Erst in der bürgerlichen Gesellschaft erhält das Ich seine Bedeutung als Zentrum des eigenverantwortlichen Denkens und Handelns. Das Substantiv »Ich« ist demnach ein sehr spätes Produkt der kulturellen Entwicklung. Es ist die Folge des personalisierenden Denkens, das alle Phänomene nach dem Modell des Handelns interpretiert.164 Gegen die intuitive Gewissheit, dass es ein Ich geben würde, ist auch der Zweifel der Gehirnforschung an der Existenz des Ichs ins Feld zu führen. Bisher ist es nicht gelungen, im Gehirn den Ort des Ichs zu lokalisieren.165

Auch aus der Perspektive des Selbstorganisationskonzeptes ist die Annahme eines Ichs, das die mentalen und psychischen Prozesse steuert, problematisch. Es wird nicht das Phänomen geleugnet, dass jeder Mensch ein Selbstbewusstsein besitzt. Aber das Selbstbewusstsein ist kein innerer Agent, sondern nur Ausdruck der Prozesse, die sich im Bewusstsein präsentieren. Man hat nur ein richtiges Verständnis von sich selbst, wenn man sich mit allen mentalen und psychischen Prozessen in sich selbst identifiziert und die Verantwortung für die Folgen des Handelns dafür übernimmt, ohne sich aber für deren Entstehung schuldig zu fühlen. Es wäre falsch, sich von den eigenen Regungen zu distanzieren, da sie durch und durch nichts Fremdes, sondern ein Ausdruck von sich selbst sind.

So wie das Ich ein mentales Konstrukt ist, so gilt dies auch für den Begriff des Selbst. Nach dem Modell der Selbstorganisation ist es nicht zulässig, aus der Erfahrung selbsttätiger natürlicher Prozesse abzuleiten, dass sie von einer höheren Instanz mit dem Namen Selbst gesteuert werden. Der Begriff des Selbst ist offensichtlich das Ergebnis der menschlichen Neigung, alle inneren Prozesse nach dem Modell von handelnden Personen zu verstehen.166 Wenn naturwissenschaftlich orientierte Gehirnforscher an dem philosophischen Begriff des Selbst festhalten, obwohl er sich neuroanatomisch überhaupt nicht nachweisen lässt, ist dies nur so zu verstehen, dass sie ein starkes Bedürfnis haben, ihre wenig nachvollziehbaren neurophysiologischen Gedanken mit etablierten philosophischen Konzepten konsensfähig zu machen.167

Auch wenn man die Menschen als natürliche Wesen betrachtet, ist für das Ich kein Platz. Es ist nicht zu übersehen, dass sich nicht nur die körperliche, sondern auch die seelische Struktur weitgehend naturwüchsig entwickelt. So kann man überhaupt nicht kontrollieren, mit welchen Abwehrmechanismen man auf emotionale Verletzungen reagiert. Wenn psychische Veränderungen stattfinden, sind sie nicht das Ergebnis von bewussten Vorsätzen, sondern das Resultat von neuen Erfahrungen aufgrund von veränderten Lebensumständen.

Solange man an der Illusion des Ichs festhält, scheinen die Regeln, an denen man sein Handeln orientiert, selbst gesetzte Regeln zu sein, die jederzeit ohne weiteres verändert werden können. Die Überzeugung, der Initiator der eigenen Regeln zu sein, verhindert die Einsicht, dass die Regeln nicht beliebig zur Disposition stehen. Vor allem bei moralischen Regeln, die immer wieder zu zwischenmenschlichen Problemen führen, ist die Illusion jederzeitiger Veränderbarkeit der eigenen Regeln kontraproduktiv, da sie übersehen lässt, dass ihnen starke Ängste zugrunde liegen.

Für das Selbstverständnis folgt aus diesen Überlegungen die Aufgabe, dass man sich nicht mehr wie gewohnt als den Akteur der eigenen Entscheidungen und Regeln begreifen darf. Als Sigmund Freud behauptete, dass der Mensch nicht Herr im eigenen Hause sei, hatte er dies mit der Dominanz des Es begründet. Aus den hier angestellten Überlegungen folgt, dass an die Stelle des »Ichs« nicht ein anderer Akteur rückt, sondern dass überhaupt darauf verzichtet werden muss, einen inneren Akteur anzunehmen. Mit jedem Versuch, einen inneren Akteur zu suchen, würde man in falsches personalisierendes Denken zurückfallen. Da sich alle Gedanken, Impulse, Empfindungen u.Ä. von selbst einstellen, besteht das einzig angemessene Verhältnis zu sich selbst darin, diese Regungen uneingeschränkt anzunehmen. So wie man sich spontan mit seinen Gefühlen identifiziert, sollte man auch seine Gedanken gutheißen, welche Gestalt auch immer sie besitzen. Wenn man also »Ich denke« sagt, muss man das in dem Sinne sagen, dass man von dem berichtet, was der eigene Organismus gedacht hat. Eine geeignete Metapher für dieses Verhältnis zu sich selbst ist der Pressesprecher, der nur verkündet, was andere Stellen entschieden haben. Wenn ich mich frage, wer ich bin, kann die Antwort nur darin bestehen, dass ich die Summe meiner Gewohnheiten bin.

Dieses Verhältnis zu sich selbst kann als rezeptives Lebensmodell bezeichnet werden, weil es im Prinzip darum geht, alle inneren Regungen in Empfang zu nehmen und zu akzeptieren, auch wenn sie negativ bewertet werden. Dem rezeptiven Lebensmodell entspricht, dass darauf verzichtet wird, sich selbst zu kontrollieren oder sich zu etwas zu zwingen. Wenn einem z.B. zu einem Problem nichts einfällt, vertraut man darauf, dass sich bald eine Lösung einstellen wird. Bei körperlichen und seelischen Krankheiten verlässt man sich auf die Selbstheilungskräfte. Man unterstützt sie zwar evtl. durch geeignete Übungen; wenn diese aber nicht greifen, kämpft man nicht weiter gegen die eigenen Schwächen an, sondern akzeptiert sie vorbehaltlos. Man vermeidet konsequent die Substantive »Ich«, »Selbst« oder »Unbewusstes«.

Das rezeptive Selbstverständnis ist keineswegs etwas Neues. Es ist im Grunde die Substanz aller traditionellen Weisheitslehren. Es steckt in den Empfehlungen, sich mit sich selbst anfreunden, das Schicksal zu akzeptieren, auf die »Botschaft der Gefühle« zu achten oder auf die »Stimme des Herzens« zu hören. Nirgends ist dieses rezeptive Lebensmodell konsequenter und radikaler als im Buddhismus entwickelt worden. Nach buddhistischer Überzeugung setzt ein selbstvergessenes Handeln im Hier und Jetzt voraus, dass alle Überzeugungen über die Existenz eines Ichs oder Selbst als metaphysische Konstrukte begriffen werden müssen. Es wird gelehrt, dass der Glaube an die Existenz eines Ichs die Quelle von Leiden sei, weil er davon abhält, unangemessene Vorstellungen von der Realität loszulassen.

Neu ist allenfalls die hier vorgeschlagene Begründung, dass sich in den inneren Impulsen Bewertungen auf der Basis der persönlich gesammelten Erfahrungen ausdrücken und dass die inneren Impulse deshalb nichts Fremdes sind. Denn als natürliche Wesen handeln die Menschen so, wie es sich aus ihren gelernten Regeln ergibt. Es geht also nicht darum, dass das, was unbewusst ist, bewusst werden soll, wie Sigmund Freud gefordert hat, sondern dass man akzeptiert, dass sich das eigene Handeln aus unbewussten Prozessen ergibt. Es wäre aber falsch zu sagen, dass man gehandelt wird, da man keineswegs das Opfer von fremden Kräften ist.

Es fällt sehr schwer, das rezeptive Selbstverständnis zu verstehen, weil die Sprache keine geeigneten Verben hat, um es zu umschreiben. Entweder wird mit den aktiven Verben der Eindruck erweckt ("Ich denke, ..."), dass das Ich der Akteur der Gedanken sei, oder die passiven Verben suggerieren, dass fremde Kräfte das Denken determinieren ("Ich werde gedacht"). Beide Formulierungen geben die Eigentümlichkeit der inneren Prozesse, dass sie zwar unbewusst ablaufen, aber dennoch positiv besetzt werden können, nicht richtig wieder. Offensichtlich ist die Sprache nicht in der Lage, die inneren mentalen Prozesse angemessen auszudrücken. Deshalb setzt das rezeptive Selbstverständnis ein kritisches Verhältnis zur Sprache voraus.

5.6. Der Rhythmus des Atems

»Wenn der Atem geht, werden alle Dinge des Lebens leicht.« (Zen)

Um den Menschen als natürliches Wesen zu verstehen, muss man von der zentralen Bedeutung des Atems für die Gefühle ausgehen. In meinem Buch »Atem und Glück« habe ich ausführlich dargestellt, dass die Emotionen nur richtig verstanden werden können, wenn sie als modifizierte Atemschwingungen verstanden werden. So zeigen sich bei den einzelnen Emotionen deutliche Unterschiede hinsichtlich des Verhältnisses von Einatmung und Ausatmung, der Länge eines Atemzyklus (Frequenz), der Länge bzw. Abwesenheit von Atempausen, der Tiefe der Atmung (Amplitude) und ob der Atem kontinuierlich oder stockend und stoßartig erläuft. So zeichnet sich z. B. Angst durch einen schnellen Atemrhythmus, überwiegende Einatmung, unregelmäßige Stöße in der Einatmung, wiederholtes Anhalten des Atems und eine fehlende Atempause aus. Demgegenüber ist bei der Freude ein ruhiger Atemrhythmus, ein leichtes Überwiegen der Ausatmung und eine Atempause festzustellen. So hat jede Emotion ein charakteristisches Atemmuster und da der Atem den ganzen Körper ergreift, wird dieser in einen jeweils charakteristischen Schwingungszustand versetzt. Es liegt deshalb nahe, Emotionen als körpereigene Schwingungen zu verstehen, die durch den Atem möglich geworden sind.168 Die Erkenntnis dieses Zusammenhanges hat dazu angeregt, den Atem als Schnittstelle zwischen Körper und Seele zu bezeichnen. Unverkennbar ist der Atem das Medium der Gefühle und der Sprache.

Bei der Analyse der Gefühle wurde dargestellt, dass Gefühle im Kern somatische Bewertungen darstellen.169 Denn Gefühle bedeuten, dass man auf Ereignisse auf eine bestimmte Weise reagiert. Gefühle sind damit nichts anderes als Regeln, wie Ereignisse in der Umwelt bewertet werden. Wenn der Charakter der Gefühle als Regeln bisher nicht ausreichend wahrgenommen wurde, liegt das daran, dass die Gefühle als eine Art Stimmung missverstanden werden.

Da die Atmung ein muskulärer Prozess ist, können sich alle Muskeln, die an der Atmung beteiligt sind, genauso verhärten und chronisch verspannen, wie dies bei normalen Muskeln zu beobachten ist. Auch die Atemmuskeln müssen stetig und ausreichend benutzt werden, damit sie sich nicht zurückbilden. Die Gefahr der Rückbildung steigt an, wenn man ständig psychischen Belastungen ausgesetzt ist, denen man sich nicht gewachsen fühlt oder sich ständig bedroht fühlt. Unter dem Einfluss der andauernden Angst neigt man dazu, seine Nacken- und Brustmuskeln chronisch zu verspannen. Da der Atem nicht mehr frei schwingen kann, verliert er an Kraft, Flexibilität und Ausdauer. Der Vitalitätsverlust äußert sich in erhöhter Atemfrequenz und vermindertem Atemvolumen. Der Organismus verliert die Fähigkeit, bei einem Verlust des seelischen Gleichgewichts relativ rasch wieder in den Ruhezustand zurückzukehren. Da sich bei verminderter Atmung auch die Emotionen verändern, hat der Vitalitätsverlust auch unmittelbare Folgen für die psychische Verfassung.

Der Zusammenhang zwischen Atemvitalität und psychischer Verfassung ist bisher kaum untersucht worden. Viele Erfahrungen sprechen aber dafür, dass eine enge Wechselwirkung besteht. Dass Sportler in der Regel eine höhere Stresstoleranz aufweisen, kann als ein Beleg dafür genommen werden. Einerseits kann mit Atemübungen die geistig-psychische Verfassung verbessert werden und andererseits kann auch durch psychische und geistige Arbeit ein eingeschränkter Atem aktiviert werden. Diese Erfahrungen haben zur Entwicklung von Psychotherapie, Körperpsychotherapie und Atemtherapie geführt. Allen Therapien liegt letztlich explizit oder implizit die Hypothese zugrunde, dass zwischen psychischer Kraft und körperlicher Atemkraft ein enger Zusammenhang besteht. Mit psychischer Kraft wird die Fähigkeit gemeint, sich für seine eigenen Interessen einzusetzen, seine Gefühle uneingeschränkt zu artikulieren oder Zumutungen, Demütigungen u.a. abzuwehren. Es ist deshalb durchaus berechtigt, von psychischer Kraft zu sprechen. Zu Recht wird in der Psychologie von Ichstärke oder Abwehrkraft gesprochen.

Zur Erklärung dieser Wechselwirkung kann davon ausgegangen werden, dass das Wohlbefinden am größten ist, wenn sich der Atem im natürlichen Ruherhythmus befindet. Der Atem fließt dann ruhig und gleichmäßig, mit minimalem Kraftaufwand und mit einer kurzen Atempause nach der Ausatmung. Es ist fraglich, ob der Begriff der Ruhe geeignet ist, den Rhythmus des Atems richtig zu beschreiben, wenn der Atem sich im optimalen Zustand befindet, da der Atem ständig in Bewegung ist. Aus naturwissenschaftlicher Sicht zeichnet sich der Atem im Zustand der Muße und der inneren Ausgeglichenheit durch eine gleichmäßige Schwingung aus. Im Vergleich mit den anderen emotional bedingten Schwingungen ist der Atem im Zustand der Muße am ruhigsten. Innerlich ist er mit einem Wohlgefühl, mit Selbstvertrauen und dem Gefühl innerer Stärke verbunden. Da dieser innere Zustand sinnvoll mit dem Begriff der Ruhe umschrieben werden kann, scheint der Begriff des Ruheatems angemessen zu sein.

Der Atemruherhythmus zeichnet sich dadurch aus, dass sich in ihm die Gefühle der Liebe und Freude entfalten können. Hier hat der Organismus die größte Konzentrations- und Lernfähigkeit und die Kraft zur Vergebung, um seelische Verletzungen zu integrieren. Alle anderen Gefühle sind mit stärkeren Abweichungen vom Ruherhythmus verbunden. Am extremsten ist es bei der Angst, bei der die Atemfrequenz stark ansteigt und der Einatem verlängert und häufig angehalten wird. Die Atempause fällt dann weg. Diese Abweichungen sind mit Muskelverspannungen und hohem Energieverbrauch verbunden. Wer Angst hat, kann nicht lieben. Deshalb hat der Organismus eine starke Tendenz, so schnell wie möglich wieder in den Atemruherhythmus zurückzukehren.

Bei wiederholten emotionalen Verletzungen verliert der Organismus die Fähigkeit, sich nach seelischen Belastungen relativ schnell wieder zu beruhigen. Denn in einem chronisch verspannten Körper kann der Ruherhythmus nicht ohne weiteres wiederhergestellt werden. Die Gefahr, dass man dann bereits bei geringfügigen seelischen Belastungen das seelische Gleichgewicht verliert, wächst stark an. Das hängt damit zusammen, dass beim Ruherhythmus die Gefühle des Ärgers, der Wut, des Hasses oder der Schuld wesentlich schwächer artikuliert werden. Deshalb kann die Rückkehr in den Ruhezustand leichter erfolgen. Die Schwingungen der sogenannten negativen Gefühle können die Schwingung des Atem nicht völlig dominieren, sondern modulieren nur geringfügig die Grundschwingung des Atems, so wie sich eine große Welle im Meer nicht wesentlich verändert, wenn man einen Stein hineinwirft. Deshalb ist die seelische Verfassung am stabilsten, wenn die Gefühle der Liebe und Freude dominant sind.

Auch das Denken ist in die Atemdynamik eingebunden. Das Denken ist klar und sicher, wenn sich der Atem in der Nähe des Ruherhythmus befindet. Ist der Atem hektisch und unruhig, kann man keine klaren Gedanken fassen. Wenn die Gefühle der Wut, des Hasses, des Ärgers u.Ä. dominant sind, gelingt es nicht, situationsgerechte Gedanken bzw. Entscheidungen zu treffen. Das liegt daran, dass man im Zustand innerer Unruhe dazu neigt, automatisch anhand der erlernten Regeln zu reagieren, anstatt zunächst die Situation sorgfältig zu prüfen.

Diese Überlegungen bedeuten, dass man dem Zusammenwirken vom Denken und Fühlen besser gerecht wird, wenn davon ausgegangen wird, dass Denken und Fühlen verschiedene Aspekte einer einheitlichen körperlichen Ausdrucksbewegung sind, bei der die Schwingungen des Atems von den Schwingungen der Gedanken und Gefühle überlagert werden. Es liegt nahe zu vermuten, dass die psychische Kraft mit der Atemkraft identisch ist. Das bedeutet, dass die Kraft, seine Emotionen angstfrei artikulieren und sich für seine Bedürfnisse einzusetzen zu können, in dem Maße wächst, wie die Vitalität des Atems zunimmt. 170

Wenn die Gefühle als körperlich gebundene Bewertungsmuster und damit als Regeln verstanden werden, die eng mit dem Atem verflochten sind, folgt daraus, dass die emotionalen Regeln ein Bestandteil des Körpers sind. Zwar resultieren die Gefühle daraus, wie die bisherigen Erfahrungen verarbeitet wurden, aber dieser Prozess vollzieht sich nach einer körperimmanenten Eigendynamik. So entstehen chronische muskuläre Verspannungen, mit denen Ängste abgewehrt werden sollen, regelmäßig ohne Beteiligung des Bewusstseins. Die Einsicht in die körperliche Verankerung der Gefühle zerstört die weit verbreitete Illusion, dass die Gefühle ohne weiteres verändert werden können. Solange nicht neue Erfahrungen den Anlass geben, die bisherigen emotionalen Reaktions- und Bewertungsmuster zu ändern, entziehen sie sich einer bewussten Veränderung.

Diese Überlegungen bedeuten, dass der Grundpfeiler der psychosomatischen Medizin, dass Gefühle auf den Körper einwirken und somatische Krankheiten verursachen können, ins Wanken gerät. Wenn der Organismus immer auf Erfahrungen als Ganzer reagiert, macht es keinen Sinn, die Gefühle als eine eigenständige Kraft zu betrachten. Die zentrale Frage ist vielmehr, unter welchen Umständen persönliche Erfahrungen zu körperlichen Verletzungen führen können. Dies ist offensichtlich dann der Fall, wenn man aufgrund des Mangels an geeigneten Gewohnheiten unfähig ist, Angriffe auf die eigene Person abzuwehren und sich für seine eigenen Interessen einzusetzen. Wiederholte emotionale Verletzungen drücken sich in mangelndem Selbstvertrauen, Minderwertigkeitsgefühlen, mangelndem Durchsetzungsvermögen u.Ä. aus. Bei der Analyse der eigenen Gewohnheiten muss man deshalb davon ausgehen, dass sich solche grundsätzlichen persönlichen Probleme nicht auf bestimmte Vermögen beziehen, sondern dass die entsprechenden Begriffe, die zur Benennung der eigenen Probleme verwendet werden, nur abstrakte Allgemeinbegriffe sind, die sich auf fehlende Fertigkeiten und Reaktionsdispositionen beziehen. Wenn z.B. von mangelndem Selbstvertrauen gesprochen wird, geht es im Grunde darum, dass keine Fertigkeiten entwickelt werden konnten, sich für seine Bedürfnisse erfolgreich einzusetzen. Diese Fertigkeiten konnten sich nicht entwickeln, weil man die Gewohnheit entwickelt hat, sich an die Bedürfnisse anderer Menschen anzupassen.

Der Mangel, sich für seine eigenen Bedürfnisse einzusetzen, manifestiert sich in der inneren Ausschüttung von Hormonen, die zu Gefühlen der Angst führen. Zur Abwehr der Ängste bildet der Organismus muskuläre Verspannungen, die meistens chronisch werden und die körperliche Selbstregulation beeinträchtigen. Die Folge davon können körperliche Krankheiten sein. Weil mangelnde Handlungsfähigkeit zu einer Veränderung des hormonalen Gleichgewichts und zu muskulären Verspannungen führt, sind emotionale Verletzungen aus dieser Sicht immer körperliche Verletzungen. Ihre Spuren sind wenig sichtbar, aber das ändert nichts daran, dass sie die Gesundheit nachhaltig beeinträchtigen können. Aus diesen Überlegungen folgt, dass nicht Gefühle die Ursache für seelisch bedingte Krankheiten sind, sondern mangelnde Handlungsfähigkeit.

Da die mangelnde Handlungsfähigkeit aus emotionalen Verletzungen resultiert, die nicht verarbeitet werden konnten, kommt es darauf an, die sozialen Lebensverhältnisse so zu verändern, dass emotionale Verletzungen ausheilen können und künftig vermieden werden.

5.7. Mythos objektive Werte

»Das Geheimnis der Tugend ist die Gewohnheit.« (Anselm Feuerbach)

Im konventionellen ethischen Denken wird ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass es objektive, allgemeingültige Werte gibt. Wenn jedoch davon ausgegangen wird, dass moralisches Verhalten von Regeln gesteuert wird, die durch Nachahmung gelernt werden, kann diese Auffassung nicht länger aufrechterhalten werden. Im Folgenden soll die These diskutiert werden, dass der Mythos der objektiven Werte überwunden werden muss, wenn man ethisches Verhalten richtig verstehen will.

Vermutlich begann die Diskussion um die Existenz objektiver moralischer Werte historisch erst, als sich in herrschaftlich strukturierten Gesellschaften einerseits egoistisches Verhalten zur dominanten Lebensform entwickelt hatte und andererseits die Legitimation des moralischen Verhaltens durch Tradition und Religion immer schwächer wurde. Denn in Herrschaftssystemen wird auf die strikte Einhaltung der vorherrschenden moralischen Gebote großer Wert gelegt. Alle Impulse, die sich gegen die Interessen der herrschenden Gruppen richten, müssen frühzeitig erkannt und unterdrückt werden. Einschränkende Verhaltensanforderungen können am besten durchgesetzt werden, wenn sie als rational begründet werden. Deshalb richtete sich die Erwartung an die Philosophen, die Gültigkeit der überlieferten moralischen Normen zu begründen.

Wenn die moralischen Regeln mit religiösen oder metaphysischen Argumenten begründet werden, werden sie zu allgemeingültigen und objektiven Werten verabsolutiert. Damit verändert sich ihr Charakter. Die natürliche Neigung, die moralischen Regeln kritisch einzusetzen, d.h. sie an die jeweilige Situation anzupassen und ggfs. sogar ganz außer Acht zu lassen, geht verloren und macht einem moralistischen Bewusstsein Platz, das blinden Gehorsam gegenüber allen Regeln und die strenge Bestrafung aller Regelverletzungen verlangt. Es entsteht die Neigung, sich für Regelverstöße schuldig zu fühlen und sich selbst zu bestrafen. Wenn andere Gruppen oder Völker abweichende Regeln befolgen, erscheint dem moralistischen Bewusstsein nicht nur deren Bestrafung, sondern auch deren Unterdrückung (Ausnutzung als Sklaven u.Ä.) als gerechtfertigt. Insofern hat die Sprache dazu beigetragen, dass viel Grausamkeit unter die Menschen gekommen ist.171

Seitdem die Regeln der Lebensführung zusätzlich schriftlich niedergeschrieben werden können, hat sich die Selbstkontrolle des Einzelnen erheblich intensiviert. Für jede Lebenssituation kann jetzt eine Regel vorgeschrieben werden. Die Juden waren die Ersten, die von ihren Mitgliedern verlangt haben, dass sie die heiligen Schriften Tag und Nacht studieren und sich die Regeln »ins Herz schreiben«. Den schriftlich niedergelegten Regeln wurde absolute Verbindlichkeit zugeschrieben. Wer sie nicht einhält, versündigt sich.172

Dem Glauben an die Existenz von objektiven Werten entspricht die Überzeugung, dass das menschliche Verhalten vom Gewissen gesteuert wird, das als ein innerer Zensor gilt, der über die Einhaltung der sozialen Regeln wacht. In diesem Sinn prägte Immanuel Kant die Metapher vom Gewissen als innerem Gerichtshof. Bisher ist es weder der Psychologie noch der Gehirnforschung gelungen, eine entsprechende psychische Instanz oder ein entsprechendes Areal im Gehirn zu identifizieren. Die Annahme einer Gewissensinstanz widerspricht auch der oben entwickelten Theorie der Selbstorganisation. Aus der Sicht der Regeltheorie des moralischen Verhaltens ist das Gewissen ein Produkt des personalisierenden Denkens. Der Begriff Gewissen ist nicht mehr als ein abstrakter Allgemeinbegriff, der sich auf die Gesamtheit der verinnerlichten moralischen Regeln wie »Sei pünktlich!« »Du sollst nicht töten!« u.Ä. bezieht. Der Philosoph Ludwig Feuerbach hat darauf aufmerksam gemacht, dass der Begriff »Gewissen« von Wort »Wissen« abstimmt. Es handelt sich beim Gewissen also um nichts anderes als um das Wissen, bzw. das Können in Bezug auf moralisches Verhalten.

Bei der Analyse des moralischen Verhaltens muss man demnach davon ausgehen, dass das Verhalten in Wirklichkeit nicht vom Gewissen, sondern von den erlernten Verhaltensgewohnheiten bestimmt wird. Die verinnerlichten Befehle steuern das Verhalten auf die Weise, dass sie in die Verhaltensgewohnheiten eingehen. Wer nicht gelernt hat, pünktlich zu sein, wird immer wieder unpünktlich sein. Die gelernte Regel »Du sollst nicht töten« hat noch keinen Mörder von seiner Tat abgehalten. Wenn versäumt wurde, die inneren Befehle mit entsprechenden Verhaltensgewohnheiten zu verknüpfen, sind sie ohnmächtig. Es kommt dann allenfalls zur inneren Entzweiung: Man hört die inneren Befehle, kann sie aber nicht leben.

Das Konzept des Gewissens erscheint vielen Menschen als überzeugend, weil die verinnerlichten Gebote wie eine innere Selbstzensur wirken. Da sie mit der Angst vor Bestrafung bei ihrer Übertretung verbunden sind, provozieren sie Selbstvorwürfe (»Gewissensbisse«) und die Neigung, sich selbst dafür zu betrafen. So haben viele Gebote der Sexualmoral, wie z.B. das Verbot der Onanie oder das Verbot des vorehelichen Geschlechtsverkehrs, den inneren Frieden vieler Menschen vergiftet. Außerdem können sie bereits zu inneren Konflikten führen, wenn man sich bloß ein Verhalten vorstellt, dass im Widerspruch mit den verinnerlichen Geboten steht. Dadurch entsteht der falsche Eindruck, dass die moralischen Entscheidungen von einer fremden, unpersönlichen Instanz getroffen werden.

Da der Begriff des Gewissens unterstellt, dass die moralische Verhaltenssteuerung von einer unpersönlichen Instanz ausgeübt wird, verhindert er die Erkenntnis, dass jede moralische Entscheidung eine persönliche Entscheidung ist, auch dann, wenn sie unbewusst zustande gekommen ist. Die Entscheidungen orientieren sich nicht am Sitttengesetz, objektiven Werten oder der Vernunft, sondern an den persönlichen Regeln, die für zwischenmenschliches Verhalten gelernt wurden.

Aus dieser Sicht ist der kategorische Imperativ von Immanuel Kant für das praktische Handeln unbrauchbar. »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.«173 Vereinfacht lässt sich der kategorische Imperativ so ausdrücken: Handle nach solchen (subjektiven) Grundsätzen, die auch als allgemeine (objektive) Grundsätze gelten können. Die Schwäche des Kategorischen Imperativs liegt darin, dass ethische Entscheidungen als Aufgabe der Vernunft betrachtet werden und nicht berücksichtigt wird, dass die Menschen nicht nach Grundsätzen handeln, sondern nach Verhaltensgewohnheiten, die sie in emotional geprägten Situationen gelernt haben. Selbst wenn die Menschen nach Grundsätzen handeln würden, bleibt Kant den Nachweis schuldig, nach welchen Methoden geprüft werden kann, ob die subjektiven Grundsätze auch als allgemeine (objektive) Grundsätze gelten können.

Wenn von objektiven Werten die Rede ist, handelt es sich lediglich um Verallgemeinerungen von persönlich gelebten moralischen Regeln. Der Anspruch auf absoluter Geltung ist nicht mehr als ein Versuch, den persönlichen Regeln eine allgemeine Geltung zu verschaffen. Wenn also persönliche Regeln in die öffentliche Diskussion über offene ethische Fragen eingebracht werden, kann es nur um die Prüfung gehen, ob sie von den anderen Mitgliedern der Gemeinschaft akzeptiert werden können. Auch die sogenannten Menschenrechte sind letztlich aus der Verallgemeinerung von persönlich gebildeten moralischen Regeln hervorgegangen. Da viele Menschen davon überzeugt sind, dass sie am besten den menschlichen Bedürfnissen entsprechen, wurde der Anspruch erhoben, dass sie allen Menschen aufgrund ihrer Natur zukommen. Damit sollten sie der öffentlichen Diskussion entzogen werden. Aber es wäre für eine lebendige öffentliche Diskussion förderlicher, wenn sie als diskussionsfähige Regeln betrachtet werden würden.

Der Glaube an eine höhere Quelle der ethischen Werte ist somit ein Ausdruck der Unkenntnis, dass auch zwischenmenschliches Handeln auf Verhaltensgewohnheiten basiert, die mühsam erlernt werden müssen.174 Moralische Regeln werden nicht wie die 10 Gebote auswendig gelernt und dann angewendet, sondern von jedem Einzelnen durch Nachahmung von Vorbildern gelernt. Bloß auswendig gelernte moralische Regeln sind Schall und Rauch. Nach wie vor gibt es ethische Werte, aber sie sind mit dem Bewusstsein verbunden, dass sie bloß abstrakte Grundsätze sind, welche aus positiv bewertetem Verhalten abgeleitet wurden und die im konkreten Verhalten angestrebt werden (Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität u.Ä.). Sie haben bloß eine persönliche Verbindlichkeit, weil sie den persönlichen Bedürfnissen entsprechen.

Die kritische Auflösung objektiver Werte bedeutet keineswegs, dass alle Werte relativ und gleichwertig sind. Mit Hilfe des inneren ethischen Kompasses können die Menschen durchaus entscheiden, ob die Werte, deren Einhaltung von der Gemeinschaft verlangt wird, ihren Bedürfnissen gerecht werden oder nicht.175 Mit der Entfaltung der Sprache ist nicht nur die Möglichkeit entstanden, die moralischen Regeln als allgemeingültige Werte zu verabsolutieren, sondern auch die Chance, sie kritisch zu bewerten. Vorher hatte sich das Handeln blind an den Regeln orientiert, die sich gleichsam naturwüchsig herausgebildet haben. Soziale Gemeinschaften haben deshalb dazu tendiert, die überkommenen Regeln zu bewahren und gegen Änderungen zu verteidigen. Mit der Sprache wurde es möglich, die bisher blind befolgten Regeln kritisch zu überprüfen und durch neue zu ersetzen bzw. zu erweitern. Die Sprache hat somit ein Potential erschlossen, sich kritisch mit den überkommenen Regeln auseinandersetzen zu können. Dieses Potential wurde historisch vor allem in der Kritik an der Religion genutzt.176

Die Qualität einer Gesellschaft bemisst sich daran, wie groß der Spielraum ist, dass moralische Regeln infrage gestellt werden können, über Alternativen diskutiert werden darf und neue Lebensstile ausprobiert werden können. Dies dokumentiert sich in einer lebhaften öffentlichen Diskussion über die Fragen des Zusammenlebens, in der sich kein Teilnehmer auf dogmatische Festlegungen versteift.

Das in der Öffentlichkeit diskutierte Werteproblem besteht nicht darin, dass die Werte nicht richtig erkannt oder definiert werden. Es geht auch nicht darum, dass die Werte richtig begründet werden und dass sie in den Menschenrechten verankert sind. Die entscheidende Frage allein ist, ob die Organisation des sozialen Lebens geeignet ist, dass die Regeln, die für ein harmonisches Zusammenleben als erforderlich gehalten werden, gut und sicher als Verhaltensgewohnheiten gelernt werden können, und zwar so, dass auch ihre kritische Anwendung möglich ist. Dies ist am ehesten gewährleistet, wenn eingesehen wird, dass Egoismus, mangelndes Einfühlungsvermögen und Respektlosigkeit anzeigen, dass Defizite beim Lernen der moralischen Verhaltensgewohnheiten bestehen und Reformen der sozialen Lebensverhältnisse anstehen. Diese Einsicht wird sicherlich erleichtert, wenn sich die Menschen als natürliche Wesen verstehen, weil dann die irrige Überzeugung wegfällt, dass moralisches Handeln durch Denken gelernt werden könnte.

5.8. Psychologie der Regeln

»Stets ist die Sprache kecker als die Tat.« (Friedrich von Schiller)

Wenn man soziale Beziehungen verstehen will, fragt man der vorherrschenden psychologischen Betrachtungsweise entsprechend nach den Gefühlen der Beteiligten. Treten Konflikte auf, wird konsequenterweise der Blick auf die Gefühle gerichtet: Welche Gefühle wurden verletzt, welche Gefühle sind dysfunktional, welche Gefühle blockieren die wechselseitige Kommunikation? Welcher Partner hat zu wenig Einfühlungsvermögen, Respekt, Zuneigung u.Ä. bzw. zu viel Egoismus gezeigt? Natürlich hat die psychologische Betrachtungsweise eine gewisse Berechtigung, da Beziehungen von Gefühlen bestimmt werden. Aber sie ist insofern beschränkt, als sie übersieht, dass das Wesentliche an den Gefühlen die Bewertungen sind, die in ihnen zum Ausdruck kommen, und dass sich die Bewertungen nach den Regeln richten, die sich in einer Beziehung herausgebildet haben. Deshalb sollte der analytische Blick nicht primär auf die Gefühle, sondern auf die Regeln gerichtet werden.

Die psychologische Betrachtungsweise konnte entstehen, weil lange Zeit nicht erkannt worden ist, dass soziale Beziehungen primär von Regeln strukturiert werden. Normalerweise werden alle Regeln relativ unbewusst von den Eltern und anderen Autoritätspersonen übernommen. Die Kritik am patriarchalischen Rollenmodell in den 60er und 70er Jahren des vorherigen Jh. hat bei vielen Menschen das Bewusstsein dafür geöffnet, dass den Gefühlsbeziehungen geschichtlich entstandene Rollenmuster und Normen, also Regeln zugrunde liegen. Jetzt erst wurde erkannt, dass die Regeln des Zusammenlebens gestaltbar sind und bewusst reflektiert werden müssen, um Konflikte im Zusammenleben zu beseitigen. Das traditionelle Prinzip des Gehorsams, mit dem bisher versucht wurde, Konflikte zu lösen, begann sich aufzulösen.

Bei der psychologischen Betrachtungsweise besteht die Neigung, dem anderen die Schuld für den Konflikt zuzuschreiben und ihn durch moralischen Druck zur Veränderung seines Verhaltens zu drängen. Aus der Sicht der Regeltheorie des moralischen Handelns entstehen aber Konflikte dadurch, dass beide Partner aufgrund ihrer unterschiedlichen Regeln abweichende Erwartungen an das Verhalten des anderen haben. Konflikte fordern deshalb beide Partner auf, ihre Regeln so aufeinander abzustimmen, dass künftig Konflikte vermieden werden können. Das kann nur dadurch erreicht werden, dass der Blick nach vorn gerichtet wird und neue Regeln entwickelt und versuchsweise ausprobiert werden.

Bei dieser neuen Einstellung gegenüber persönlichen Konflikten wird die Beziehung gleichsam von außen betrachtet. Durch den Blick von außen auf das Regelsystem der Beziehung wird vermieden, dass man sich mit seinen Gefühlen überidentifiziert. Wenn Konflikte auf unterschiedliche Verhaltensregeln zurückgeführt werden, fällt es beiden Partnern leichter, sich von dysfunktionalen Verhaltensmuster zu verabschieden. Weil man sich nicht schuldig zu fühlen braucht, entfällt der Zwang, sich verteidigen zu müssen und damit eine Veränderung zu blockieren. Es entfällt die Neigung zu Anklagen, zu Schuldvorwürfen, zu Versuchen, den anderen zu erziehen, zu Rechtfertigungen, zu Begründungen u.a. Es wird deutlich, dass alle anderen Wege, das Verhalten des Partners zu verändern, wie z.B. die Androhung von Strafe oder Liebesanzug, Herumnörgeln u.a., kontraproduktiv sind, da sie ihm die dysfunktionale psychologische Betrachtungsweise aufzwingen und ihn zum Widerstand provozieren.

Die Aufgabe, die persönlichen Regeln aufeinander abzustimmen, gelingt nur, wenn beide Partner den Mut haben, den anderen darauf aufmerksam machen, dass er an Regeln festhält, die man nicht akzeptieren kann. Jeder muss bereit sein, seine Bedürfnisse und Gefühle zu artikulieren, nach einem fairen Kompromiss zu suchen und diesen zu akzeptieren. Jeder muss die gleiche Chance haben, auf die Vereinbarung Einfluss zu nehmen. Dementsprechend muss auch jeder akzeptieren, dass ihm Achtung und Zuwendung entzogen wird, wenn er sich nicht an die vereinbarten Regeln hält. In diesem Sinne hat Nikolaus Luhmann von moralischer Kommunikation gesprochen, die er damit definiert hat, dass man seinem Gegenüber die Bedingungen mitteilt, von denen man die Zuteilung von Achtung abhängig macht.177 Liebe macht die Mühe der kommunikativen Abstimmung keineswegs überflüssig, allerdings erleichtert sie sie erheblich.

Bei der moralischen Kommunikation geht es nicht darum, den anderen in dem Sinne zu verstehen, dass man weiß, aufgrund welcher familiärer Erfahrungen er bestimmte Gefühle entwickelt hat. Die auf Einsicht gerichtete psychologische Analyse ist wenig produktiv, da sie auf die Vergangenheit gerichtet ist und deshalb daraus nicht abgeleitet werden kann, mit welchen neuen Regeln die Konflikte vermieden werden können. Um den Partner zu verstehen, ist es nicht unbedingt erforderlich, sich in seine aktuellen Gefühle einzufühlen. Es reicht völlig aus zu wissen, von welchen Regeln er sich leiten lässt. Dazu ist allein die genaue Wahrnehmung seines Verhaltens erforderlich. Wenn man die Regeln des anderen kennt, ist es wesentlich leichter, mit ihm gemeinsam nach besseren Regeln zu suchen.

Wer in traditionellen Beziehungen aufgewachsen ist, dem fällt die gleichberechtigte moralische Kommunikation schwer. Man wächst mit der Überzeugung auf, dass die eigenen Gefühle richtig sind und sich deshalb der andere an die eigene Person anzupassen hat. Man neigt dazu, den anderen mit Vorwürfen und Anklagen zu überschütten und bei anhaltendem Widerstand aggressiv zu reagieren. Konflikte können dann nur auf die Weise überwunden werden, dass sich ein Partner unterwirft und damit die Kommunikation indirekt abbricht.

Wenn ein Partner sich weigert, seine Regeln infrage zu stellen, liegt es häufig daran, dass die moralische Kommunikation in der eigenen Herkunftsfamilie nicht gelernt werden konnte. Es kann aber auch daran liegen, dass man nicht bereit ist, die eigenen Verhaltensweisen zu modifizieren, da man sonst die Möglichkeit verlieren würde, damit tiefsitzende Ängste abzuwehren. Menschen mit neurotischen Verhaltensmustern neigen deshalb dazu, sich der moralischen Kommunikation zu verweigern. Es ist auch zu beachten, dass sich in Beziehungen häufig ein Regelsystem einspielt, das den Partnern ungleiche Rechte und Pflichten zuweist. Deshalb sehen zunächst beide Partner persönliche Vorteile darin, an ihren Verhaltensmustern festzuhalten. Aber solche Regelsysteme stellen ein großes Risiko dar, weil sie beide Partner schwächen. Der eine Partner leidet an seiner Benachteiligung, der andere daran, dass er zu wenig Anerkennung erhält. Auf beiden Seiten bleiben Fähigkeiten unentwickelt, die für eine umfassende Persönlichkeitsentwicklung notwendig sind. Deshalb kann das fragile Gleichgewicht jederzeit zusammenbrechen und der Zwang entstehen, das Regelsystem der Beziehung neu zu ordnen.

Wenn der Partner nicht bereit oder fähig ist, in einer gemeinsamen Diskussion seine Regeln evtl. zur Disposition zu stellen, bleibt nichts anderes übrig, als dies zu akzeptieren. Auf jeden Fall muss man ihm die eigene Missbilligung und Missachtung deutlich spüren lassen und u.U. die Beziehung aufkündigen.

Wenn man sich als ein natürliches Wesen begreift, fällt es leichter, bei Konflikten in der Partnerschaft darauf zu bestehen, dass die wechselseitigen Regeln geklärt werden müssen. Da man davon überzeugt ist, dass es keine objektiven Werte gibt, ist man bestrebt, gerechte Regeln im kommunikativen Austausch zu finden. Die naive Überzeugung kann aufgegeben werden, im Recht zu sein und besser zu wissen, was für die Beziehung gut ist.

Wer von der Notwendigkeit der moralischen Kommunikation überzeugt ist, wird das romantische Konzept der Liebesbeziehung, die allein von Gefühlen der Liebe getragen ist, infrage stellen und an seine Stelle das Konzept der Partnerschaft stellen, in dem die Beziehung als wechselseitige Hilfe und Unterstützung bei den materiellen und emotionalen Bedürfnissen auf der Basis fair ausgehandelter Regeln organisiert wird. Nur in einer solchen partnerschaftlichen Beziehung können sich Gefühle der Zuneigung und Liebe entwickeln und erhalten. Faire Regeln geben beiden Partner die Chance, sich in der Beziehung weiter zu entwickeln und sich treu zu bleiben.

5.9. Pragmatische Ethik

»Vergebung ist der Schlüssel zu Tat und Freiheit.« (Hannah Arendt)

Da es keine absoluten Werte gibt, mit denen die bestehenden moralischen Normen und Regeln begründet werden können, bleibt bei moralischen Konflikten nur der Weg, in einer offenen Diskussion eine Lösung zu finden, die von allen Betroffenen geteilt werden kann. Moralische Regeln sind deshalb im Idealfall das Ergebnis eines Kompromisses unter gleichberechtigten Partnern (»herrschaftsfreie Diskussion«).178 Da es dabei darum geht, pragmatisch nach fairen Lösungen zu suchen, kann eine solche Ethik als pragmatische Ethik bezeichnet werden.

Die Grundvoraussetzung der pragmatischen Ethik besteht darin, dass die Menschen ein Gespür dafür haben, was für ein glückliches Leben hier und heute erforderlich ist. Sie können sich darüber einigen, weil sie aufgrund ihrer angeborenen Gefühle über ein gemeinsames Bewertungsraster verfügen, vorausgesetzt, dass das Sprechen darüber nicht von weltlichen und religiösen Machthabern unterdrückt wird. Pragmatisch denkenden Menschen stört es deshalb nicht, dass die gefundenen Verhaltensregeln im Vergleich mit den Regeln anderer Gruppen als relativ erscheinen. Entscheidend ist, dass sie sich bei der harmonischen Regulierung des Gruppenlebens bewähren.

Das erste Grundprinzip einer pragmatischen Ethik ist Vergebung statt Strafe. Vergebung bedeutet den Verzicht auf Strafe bei Regelverletzungen. Der Verzicht auf Strafe macht es dem Täter leichter, die sozialen Regeln anzuerkennen und sie sich zu eigen zu machen. Aber es wird nicht ausgeschlossen, dass der Täter verpflichtet wird, die Verletzung nach Möglichkeit wiedergutzumachen oder einen angemessenen Ausgleich herzustellen. Vergebung ist auch im Verhältnis zu sich selbst nützlich. Sich-selbst-Vergeben ist der Verzicht auf Ärger, Schuldzuweisung und Vorwürfe gegenüber anderen Menschen. Weil man die Erwartung aufgibt, dass sich der andere entschuldigt und seine Schuld wiedergutmacht, kann man sich von einem sich selbst auferlegten Druck befreien. Man hört auf, sich selbst zum Opfer zu machen. Dadurch befreit man sich von eigenen Verletzungen, die zu Blockierungen des Handelns und Fühlens führen. Selbstvergebung befreit, weil sie die Fesseln löst, die an dysfunktional gewordene Verhaltensgewohnheiten binden.179

Dabei ist aber zu beachten, dass starke Verletzungen die Fähigkeit zur Vergebung schwächen. Dadurch wird die Liebesfähigkeit als Voraussetzung der Vergebung zerstört. Eigentlich sollte Vergebung spontan auf der Basis von Liebesfähigkeit erfolgen. Vergebung kann nicht von anderen abverlangt werden.

Das zweite Grundprinzip einer pragmatischen Ethik besteht darin, dass religiöse, weltanschauliche, sexuelle, herkunftsmäßige Unterschiede keine Bedeutung für das konkrete Verhalten des Einzelnen, also z.B. seine Partner- und Berufswahl, haben dürfen. Das allgemeine Prinzip, dass jeder sein Leben in freier Selbstbestimmung entfalten darf, sofern nicht die Selbstbestimmung anderer eingeschränkt wird, muss in allen Lebensbereichen eine konkrete Gestalt annehmen und darf nicht an den Grenzen der eigenen Familie, Gemeinschaft, Nation u.a. aufhören.

Das dritte Grundprinzip einer pragmatischen Ethik lautet, dass in Beziehungen beide Partner darauf achten, dass die Chancen, dass jeder die Beziehung gestalten und sich in ihr einbringen kann, gerecht verteilt sind. Gerechtigkeit bemisst sich daran, dass jeder Partner seine Gefühle und Wünsche äußern, seine persönlichen Interessen nachgehen und Beziehungen zu anderen Menschen pflegen kann. Die Regeln, die sich in einer gerecht organisierten Partnerschaft herausbilden, lassen jedem Partner einen ausreichenden persönlichen Entfaltungsspielraum. Gerechte Beziehungen stellen so ein stabiles Gleichgewicht her. In vielen Beziehungen herrschen jedoch Regeln vor, die einem Partner in den wesentlichen Lebensbereichen die dominante Rolle zuweisen und vom anderen Partner Unterordnung verlangen. So bestimmt z.B. ständig ein Partner, über welche Themen geredet wird, welches Fernsehprogramm ausgewählt wird oder wohin es im Urlaub geht. Solche Beziehungen können sehr dauerhaft sein, weil die Regeln eine klare Ordnung vorgeben, sie sind aber zugleich sehr gefährdet, weil der ungerecht behandelte Partner an seiner Ungleichbehandlung leidet und der dominante Partner zu wenig Anerkennung erfährt.

Stabile Beziehungen zeichnen sich dadurch aus, dass beide Partner immer wieder prüfen, ob die Regeln bzw. die Verhaltensgewohnheiten, die ihr Zusammenleben ordnen, noch dem Gerechtigkeitsanspruch genügen. Die Verhaltensgewohnheiten werden freiwillig geändert, wenn bemerkt wird, dass sich eine ungerechte Verteilung der Lebenschancen eingespielt hat.

Das vierte Grundprinzip einer pragmatischen Ethik verlangt gleiche Teilnahmechancen am gesellschaftlichen Leben und ein gewisses Maß an Gleichverteilung der materiellen Güter. Kleine Kinder empfinden es als ungerecht, wenn Geschwister mehr Nahrung und mehr Kleidung als sie selbst bekommen. In einer ungerecht organisierten Welt muss das kindliche Gerechtigkeitempfinden unterdrückt werden. Erwachsenwerden heißt, dass die krasse Ungleichverteilung der materiellen Güter entweder verteidigt oder akzeptiert wird, je nachdem wo man in der sozialen Hierarchie steht. Aber das angeborene Gerechtigkeitsgefühl kann nicht restlos unterdrückt werden. Es wird immer wieder von jeder wahrgenommenen materiellen Ungleichverteilung verletzt. Zugleich macht man ständig die Erfahrung der eigenen Ohnmacht, dass man an den ungerechten Lebensverhältnissen nichts ändern kann. Am unlösbaren Gerechtigkeitsproblem kann erfahren werden, dass einer pragmatischen Ethik enge Grenzen gesetzt sind.

Wenn es bisher nicht gelungen ist, einen Konsensus über den Gerechtigkeitsbegriff zu finden, liegt dies sicherlich daran, dass es in einer Welt mit individuellem Eigentumsrecht unmöglich ist, eine akzeptable Begründung für die krasse Ungleichverteilung der materiellen Güter zu finden. Wenn es dennoch versucht wird, kommt ein komplizierter und widersprüchlicher Gerechtigkeitsbegriff heraus, der keine Chance hat, sich durchzusetzen.180

Das wichtigste Prinzip einer pragmatischen Ethik ist die Prävention. So wie es bei körperlichen Erkrankungen meist sehr aufwändig ist, den Gesundheitszustand wiederherzustellen und sich viele Krankheiten durch richtiges Leben vermeiden ließen, so können Regelverletzungen im sozialen Kontakt am besten vermieden werden, wenn die Regeln frühzeitig unter positiven Bedingungen eingeübt werden. Schwere Regelverletzungen, wie z.B. Gewalt gegenüber anderen Menschen oder Diebstahl, sind immer ein Zeichen dafür, dass der Grundsatz der Prävention grob vernachlässigt wurde. Zur Prävention gehört auch, dass man bei Konflikten sich fragt, welche eigenen Regeln dazu beigetragen haben.

Die pragmatische Ethik verlangt einen reflektierten Umgang mit den moralischen Regeln der sozialen Gemeinschaft. Das bedeutet, dass man sich der Regeln bewusst ist, die das eigene Verhalten steuern, und kritisch prüft, ob sie den eigenen Bedürfnissen entsprechen. Es darf nicht vergessen werden, dass die moralischen Regeln keine Vorschriften, sondern bloß Empfehlungen sind. Nur wenn die Regeln reflektiert angewandt werden, kann erreicht werden, dass das Handeln sowohl der Situation als auch den persönlichen Bedürfnissen gerecht wird. Es wäre ein Missverständnis dieser Prinzipien, dass sie bewusst angewandt werden können. Sie werden in dem Maße wirksam, wie die sozialen Beziehungen von den Gefühlen der Liebe und des Respekts geprägt werden.

5.10. Sinn und Transzendenz

»Es gibt kein Ding, das Nirwana wäre: es gibt nur das Wort Nirwana.« (Hermann Hesse )
»Alle Ideologien, ob religiöse oder politische, sind idiotisch, denn es ist das begriffliche Denken, das begriffliche Wort, das die Menschen auf so unglückliche Weise gespalten hat.« Krishnamurti

Vor der Entstehung der Sprache war es sicherlich ganz selbstverständlich, dass sich die Menschen als ein Teil der Natur wahrgenommen haben und dass sie die dadurch gesetzten Grenzen sorgsam beachtet haben. Es war völlig ausgeschlossen, dass sich die Menschen anmaßen, die Krone der Schöpfung zu sein oder über geistige Fähigkeiten zu verfügen, die die Tiere nicht besitzen. Erst mit der Sprache konnte die verhängnisvolle Überzeugung entstehen, dass die Menschen als Geistwesen über der Natur stehen. Erst mit der Sprache konnten Theorien über den Sinn und das Ziel des Lebens, das Woher und Wohin der Menschen, die Ursache des Lebens u.Ä. entwickelt werden. Jetzt konnte auch der Gedanke entstehen, dass die Menschen die ursprüngliche Einheit mit der Natur verloren haben.

Die Religionen waren historisch der erste Versuch, Antworten auf die mit der Sprache entstandenen zentralen Fragen des Lebens zu geben, vor allem auf die Frage nach dem Sinn des Lebens. Diese Versprechen konnten sie nur um den Preis geben, dass die religiösen Gedanken als Offenbarungen der Götter oder transzendenter Kräfte verstanden und die Regeln des religiös richtigen Lebens absolut gesetzt wurden. Die religiöse Sprache hat sich so zu einem kulturell mächtigen Instrument entfaltet, um bestimmte Überzeugungen bei allen Mitgliedern der Glaubensgemeinschaft durchzusetzen. So wurden religiöse Überzeugungen in der Geschichte immer wieder zur Begründung von sozialen Normen, schließlich sogar zur Verteidigung von Eroberungskriegen benutzt. Deshalb gab es lange Zeit eine enge Allianz von religiösen und weltlichen Machthabern. Noch nachhaltiger war die Wirkung der Religionen darin, dass sie die menschliche Neigung unterstützt haben, die Verantwortung für das eigene Leiden übernatürlichen Kräften zuzuweisen und umgekehrt von ihnen Heil zu erwarten.

Wenn man die Entwicklung der Religionen aus der Sicht der These betrachtet, dass das menschliche Denken gar nicht anders kann, als alles nach dem Muster des menschlichen Handelns zu betrachten, muss die Behauptung, dass es ein natürliches Bedürfnis nach Transzendenz gibt, infrage gestellt werden. Vieles spricht dafür, dass die Religionen erst unter bestimmten historischen Bedingungen entstanden sind. Ausschlaggebend waren sicherlich natürliche Katastrophen durch Überflutungen oder Meteoriteneinschläge, die den Menschen ihre bisher erlangte Kontrolle ihres Lebens total zerstört hatten.181 Es wurde nach Personen/ Instanzen/ Prinzipien gesucht, die für die unerklärliche zerstörerische Gewalt der Natur verantwortlich gemacht werden können. Da irdische Personen nicht identifiziert werden konnten, lag es nahe, überirdische Personen anzunehmen. Alle Vorstellungen von Transzendenz haben vermutlich so ihre Ursache in der menschlichen Neigung, das Unerklärliche mit der Wirkung von fremden Kräften zu erklären, die ähnlich wie Menschen handeln und denken. Eine zweite wichtige historische Bedingung für die Entstehung von Vorstellungen über eine transzendente Welt war, dass sich die Sprache als Instrument der zwischenmenschlichen Kommunikation soweit entwickelt hatte, dass die Menschen sich darauf verständigen konnten, welcher Name den transzendenten Kräfte gegeben wird und welche Funktion sie für das menschliche Leben haben.

Seit der Aufklärung im 18. Jh. und dem Siegeszug der Naturwissenschaften im 19. Jh. haben die Religionen zunehmend ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt. Dennoch haben sie ihre kulturelle Dominanz noch weitgehend erhalten können. Die Religionen verteidigen sich mit den Argumenten, dass das Leben leichter fällt, wenn man des göttlichen Trosts gewiss sein kann, dass der Tod mit der Gewissheit der Unsterblichkeit der Seele besser bewältigt werden kann oder dass Krankheit und Leiden mit dem Glauben an Gott besser ertragen werden können. Für naturwissenschaftlich ausgebildete Menschen sind diese Argumente überhaupt nicht überzeugend, weil nicht nur die Prämisse, dass es einen Gott ist, nicht mehr geteilt werden kann, sondern weil es für die Belastungen des Lebens bessere Erklärungen gibt. Aufgeklärte Menschen vermuten, dass das Bedürfnis nach Transzendenz von den Religionen selbst geschaffen wurde, da sie die Erziehung der Menschen zu mündigen, selbständig denkenden Bürgern verhindert haben, indem sie über Jahrhunderte hinweg statt Bildung und Menschenrechte die Erziehung zu Autoritätshörigkeit und fremdbestimmtem Denken gefördert haben.

Die Menschen als natürliche Wesen verstehen, heißt vor allem, dass jeglicher Form von Transzendenz eine Absage erteilt wird. Das bedeutet nicht nur, dass der Glaube aufgegeben wird, dass das menschliche Leben von übernatürlichen Kräften (Götter, Schicksal, Lebensgeister, Energie u.Ä.) beeinflusst wird, sondern dass auch darauf verzichtet wird, anderen Menschen die Schuld für das eigene Leiden zuzuweisen. So dürfen weder die Eltern noch der Partner für das eigene Leben verantwortlich gemacht werden. Solange anderen Kräften oder Personen die Macht gegeben wird, das eigene Leben zu beeinflussen, kann man sich nicht als ein natürliches Wesen begreifen, da man indirekt erwartet, dass geistige Kräfte Heilung bringen könnten. Ebenso muss der Glaube, dass mit Hilfe von inneren Instanzen wie die Vernunft, der Geist oder das Ich psychische Gesundheit herbeigeführt werden kann, als Fiktion durchschaut werden. Stattdessen muss das, was sich als unveränderbar erweist (persönliche Schwächen, Verlust eines Menschen, unheilbare Krankheit u.Ä.), ohne Einschränkungen akzeptiert werden.

Die Philosophie hat von der Religion das Versprechen übernommen, Antworten auf die zentralen Fragen des Lebens zu geben. Letztlich hat sie es nicht einlösen können, da sie sich gegenüber der Sprache unkritisch verhalten hat. Da zum Verständnis des mentalen Innenlebens und der übersinnlichen Transzendenz keine geeigneten Begriffe zur Verfügung stehen, blieb nur der Ausweg, dafür Begriffe aus der Welt der sinnlichen Wahrnehmung als Metaphern zu verwenden. Die Philosophie hat lange Zeit nicht erkannt, dass ihre zentralen Begriffe nur Notbehelfe sind.

Wenn z.B. im Alltag vom Sinn einer Handlung oder einer Aussage gesprochen wird, soll damit zum Ausdruck gebracht werden, dass sie einen Zweck für etwas anderes hat, das außerhalb der Handlung liegt. Der Sinn meines Lebens insgesamt könnte dann z.B. darin bestehen, dass ich meiner Familie das Überleben absichere. Wenn jedoch nach dem Sinn des Lebens als solchem gefragt wird, zwingt der Begriff des Sinns dazu, nach etwas zu suchen, das außerhalb des Lebens steht. Damit wird die eigentliche Funktion des Begriffs, Beziehungen zwischen sinnlich wahrnehmbaren Größen herzustellen, missachtet und vom Denken etwas erwartet, was es grundsätzlich aufgrund seiner Bindung ans Handeln nicht leisten kann. Die falsche Frage nach dem Sinn des Lebens als solchem verleitet dazu, etwas dem Leben Transzendentes anzunehmen. Es wird nicht erkannt, dass die Frage nach dem Sinn des Lebens eine unsinnige Fragestellung ist.

Mit der naiven Frage nach dem Sinn des Lebens wird verschleiert, dass die meisten Probleme der Menschen durch die aktuellen Lebensbedingungen verursacht werden und deshalb nicht mit Hilfe des Denkens allein gelöst werden können. Normalerweise provozieren ungerechte Lebensbedingungen Widerstand. Wenn aber der Druck der Verhältnisse zu stark wird, führt das zur Erfahrung der Ohnmacht und schließlich zu Zweifeln am Sinn des Lebens. Das bedeutet, dass Sinn kein theoretisches, sondern ein praktisches Problem ist. Sinn kann nicht theoretisch, sondern muss praktisch bewältigt werden. Das bedeutet, dass Sinn weder durch philosophische noch durch religiöse Gedankensysteme gefunden werden kann. Sinn setzt Handeln-Können voraus. Da die meisten Menschen das Gefühl haben, dass sie total ohnmächtig sind, etwas an den vorherrschenden Lebensbedingungen ändern zu können, richtet sich ihre Hoffnung auf Menschenbilder, die ihnen Erlösung in der Transzendenz versprechen. Offensichtlich ist es schwer, das Gefühl der Ohnmacht zu ertragen.

Auch bei der Frage nach dem Sinn der Geschichte oder der Natur stellt sich die Problematik, dass der Begriff des Sinns unkritisch angewandt wird. Die teleologische Vorstellung, dass den Dingen ein immanenter Zweck innewohnt und dass es zweckgerichtete Prozesse in der Natur gibt, ist offensichtlich die Folge davon, dass sich die Menschen als Wesen verstehen, die im Handeln Ziele verfolgen. Deshalb ist die Frage nach dem Sinn der Geschichte oder der Natur nichts anderes als eine Projektion der Zielerfahrung beim Handeln auf die Geschichte oder die Natur.

Sicherlich speiste sich in der Vergangenheit das Interesse an der Philosophie lange Zeit aus der Erwartung, dort Hilfe für praktische Lebensprobleme zu finden.182 Aus den vorliegenden Überlegungen folgt, dass die Philosophie nur solange eine therapeutische Funktion übernehmen konnte, wie sie die religiösen Mythen durch neue Begriffsmythen ersetzt hat und damit praktisch ein Religionsersatz ist. Wenn sie aber konsequent ihre kritische Aufgabe wahrnimmt, im philosophischen Vokabular alle mythologischen Restbestände zu zerstören, verliert sie ihre Fähigkeit, Trost zu spenden. Trost können Gedanken nur spenden, wenn sie im personalisierenden mythischen Denken verhaftet sind. Denn Trost braucht personale Zuwendung. Dies ist nur in Form von Erzählungen oder Geschichten möglich. Da die sprachkritische Philosophie die Kraft zu theoretischen Erzählungen verliert, kann sie den Bedürfnissen nach Trost und Lebenshilfe nicht bieten.

Der therapeutische Bedeutungsverlust der Philosophie zeigt sich daran, dass für sie der Tod längst nicht mehr ein Gegenstand der Reflexion ist. Zur Verarbeitung der Endlichkeit des Lebens stehen den Menschen nur religiöse Vorstellungen oder deren kritische Negation zur Verfügung. Wer sich als natürliches Wesen verstehen will, findet in diesem Punkt keine Unterstützung. Er steht vor der Aufgabe, aus den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, dass nach dem Tod die einzelnen Körperzellen in ihre einzelnen chemischen Bausteine zerfallen, eine eigene Interpretation zu bilden. Er weiß, dass bereits die Feststellung, dass die Menschen nicht wissen können, was nach dem Tod kommt, irreführend ist, weil damit unterstellt wird, dass es eine Fortexistenz in irgendeiner Form geben könnte. Nachdem der Glaube an die Seele aufgegeben wurde, scheiden solche Gedanken aus. Er weiß auch, dass nach dem Tod nicht das Nichts kommt, sondern nur der materielle Zerfall. Der einzige Trost, der verbleibt, besteht darin, dass man noch einige Zeit in der Erinnerung der Überlebenden fortlebt. Die Wahrscheinlichkeit dafür steigt in dem Maße, wie man den Mitgliedern der Gemeinschaft geholfen hat, ihr Leben besser zu meistern.

Die Schwierigkeit, mit dem Denken trostspendende Weltbilder zu entwickeln, soll im Folgenden an zwei Weltbildern demonstriert werden, die beanspruchen, ganzheitlich zu sein. Beim Weltbild des Panpsychismus (z.B. David Chalmers) wird angenommen, dass nach dem Modell des Animismus alles von Geist erfüllt ist. Bei der Gaia-These von James Lovelook wird davon ausgegangen, dass der Planet Erde als Ganzes ein lebendiges, sich selbst organisierendes System ist.183 Die Einheit der Erde wird also entweder darüber hergestellt, dass der eine Geist alles durchdringt oder dass die Erde als ein gigantisches Lebewesen begriffen wird, von dem die Menschen ein Teil sind.

Von ganzheitlichen Erklärungsansätzen wird erwartet, dass sie die verlorene Einheit von Mensch und Natur, Geist und Körper wiederherstellen, die im Animismus lebendige Wirklichkeit gewesen sein soll und die in vielen Mythen als das Goldene Zeitalter beschworen wird. Der Verlust der Einheit äußere sich darin, dass sich die Menschen als von der umgebenden Natur abgespalten erleben oder sogar überzeugt sind, außerhalb der Natur zu stehen. Hinter dieser Klage steht die Überzeugung, dass die gegenwärtigen Probleme nur dann gelöst werden können, wenn die verlorene Einheit mit einem ganzheitlichen Weltbild wiederhergestellt wird.

Im Konzept des Panpsychismus besitzt die gesamte physische Wirklichkeit geistige Eigenschaften. Geist wird als ein fundamentaler Aspekt des Physikalischen und nicht als ein evolutionär entstandenes Produkt der physischen Wirklichkeit verstanden. Da nach den Gesetzen der Naturwissenschaft Physisches nur Physisches bewirken kann, muss das Geistige ein Aspekt des Physischen sein, das immer schon da ist.

Der Panpsychismus hat die Schwäche, dass er an einem unreflektierten Begriff des Geistes festhält. Er kann nicht erklären, bei welcher Entwicklungskonstellation des Physischen das Geistige zum Ausdruck kommt. Die pauschale Erklärung, dass die Komplexität ausreichend hoch sein muss, ist wenig befriedigend. Der Panpsychismus biete keine plausible Erklärung an, warum das Geistige sich erst bei den Menschen richtig entfaltet. Nach den bisherigen Überlegungen sind die Phänomene, die unter dem Begriff des Geistigen zusammengefasst werden können, die Folge der komplexen Beweglichkeit des Menschen und der Fähigkeit, Bewegungen zu benutzen, um damit andere Bewegungen zu symbolisieren. Daraus folgt, dass mit dem so verstandenen Geistigen kein ganzheitliches Weltbild hergestellt oder begründet werden kann, da es nicht als ein alles durchdringendes Medium verstanden werden kann.

Im Gaia-Konzept hat das Leben in einem kooperativen Zusammenspiel von geologischen, chemischen und biologischen Prozessen selbst die Bedingungen für seine eigene Entwicklung erschaffen. Da die Menschen ein Produkt des kreativen evolutionären Entwicklungsprozesses sind, müssen sie sich als Teil eines globalen Lebewesens begreifen. Daraus ergibt sich eine ganzheitliche Perspektive, die alle Trennungslinien zwischen Mensch und Natur, Geist und Körper aufhebt.

Die Vorstellung der Welt als eines lebendigen, wachsenden Körpers weckt sofort den Verdacht, dass hier ein anthropomorphes Denken am Werk ist. Offensichtlich werden die beobachteten Prozesse nach dem Modell des menschlichen Handelns begriffen. Es wird der Fehler gemacht, dass das Denken mit der Wirklichkeit verwechselt wird. Wenn die Grenzen des menschlichen Denkens eingehalten werden würden, kann man den Planeten Erde allenfalls so betrachten, als ob er ein Lebewesen wäre. Aber damit würde die angestrebte Ganzheitlichkeit wieder aufgehoben.

Es zeigt sich, dass es schwierig ist, mit den Mitteln des aufgeklärten Denkens ein ganzheitliches Weltbild zu entwickeln. Alle Aussagen über die Welt sind als theoretische Konstrukte anfechtbar. Die Spaltungen im Denken sind nicht Produkte falschen Denkens, sondern Folgen des unreflektierten sprachlichen Denkens, die nur durch die Reflexion der Sprache überwunden werden können. Wer in der Lage ist, sein eigenes Handeln zu reflektieren und ein differenziertes Regelbewusstsein zu entwickeln, kann auf die Suche nach einem ganzheitlichen Weltbild verzichten.

Hinter dem Wunsch nach Ganzheitlichkeit steht die Überzeugung, dass die Einheit mit der Natur verloren gegangen ist. Der Glaube, dass dieser Verlust durch das naturwissenschaftliche Weltbild verursacht wurde, ist ein Mythos. Das naturwissenschaftliche Weltbild konnte erst entstehen, nachdem die Einheit mit der Natur zerbrochen war. Der eigentliche Bruch mit der Natur ist auf der emotionalen Ebene passiert. Entscheidend war, dass die Menschen gezwungen wurden, in Herrschaftssystemen mit rigider Gefühlsunterdrückung zu leben und dass sie dabei das Vertrauen verloren haben, sich von ihren Gefühlen leiten zu lassen. Sie werden zu einem Handeln gezwungen, mit dessen Folgewirkungen sie nicht einverstanden sein können, da es im Widerspruch zu den eigenen Gefühlen steht. Mit anderen Worten: Der Bruch mit der Natur ist passiert, weil die Menschen ihre Gefühle unterdrücken mussten und die Fähigkeit verloren haben, selbstverantwortlich zu handeln. Da alle ganzheitlichen Weltbilder den Glauben wecken, dass der Bruch hier und heute mit den richtigen Gedanken geheilt werden könnte, müssen sie als Ideologie durchschaut werden.

Wenn Weltbilder als Produkt der Sprache dechiffriert werden, kann erkannt werden, dass es eine Illusion ist, von ihnen eine Erklärung der sogenannten existentiellen Fragen zu erwarten. Diese Fragen erweisen sich als Pseudofragen, da sie einem falschen Gebrauch der Sprache geschuldet sind. Sie sind Symptome unerträglicher Lebensbedingungen. Es zeigt sich auch, dass die Unterstellung aller Weltbilder, dass es eine allgemeingültige Rechtfertigung der Regeln des gemeinsamen Lebens gibt, falsch ist. Alle Regeln sind letztlich willkürliche, zufällige Festlegungen, deren Begründung allein darin liegt, dass sie ein gemeinsames Handeln ermöglichen.

5.11. Exkurs: Lachen macht glücklich

»Das richtige Lachen ist der Beginn des richtigen Denkens und Empfindens.« (Carl Zuckmayer)
»Nichts ist gesünder auf der Welt, als ab und zu sich krank zu lachen.« (Carolus Magnus)

An kleinen Kindern gefällt, dass sie viel lachen. In der Literatur wird berichtet, dass Kinder 300 – 400-mal am Tag lachen, während dies Erwachsene nur ca. 15-mal tun.184 Auch wenn die Zahl für die Kinder als übertrieben erscheint, ist die Differenz zwischen Kindern und Erwachsenen nicht zu übersehen. Offensichtlich haben Kinder noch einen uneingeschränkten Sinn für Humor. Geht bei den Erwachsenen der kindliche Sinn für Humor von selbst verloren oder wird er durch die Härte des Lebens unterdrückt? Es ist ein erstaunliches Phänomen, dass sich in vielen Städten Indiens morgens Menschen in Parks zum gemeinsamen Lachen treffen und dass in der letzten Zeit an vielen Orten in aller Welt Lachclubs gegründet werden, die gemeinsames Lachen als eine Sonderform des Yoga praktizieren. Außerdem arbeiten in einigen Krankenhäusern Lachtherapeuten, die den Genesungsprozess von Kranken mit Lachen unterstützen.

Die Bereitschaft, sich über andere lustig zu machen, Witze zu erzählen und alles witzig zu finden, nimmt in der zwischenmenschlichen Kommunikation einen breiten Raum ein. Humorvollen Menschen, denen es leicht fällt, andere zum Lachen zu bringen, wird mehr Sympathie entgegengebracht. Das Lachen ist eine angeborene Reaktion. Offensichtlich ist aber mit der Sprachfähigkeit der Menschen die Fähigkeit exponentiell angestiegen, andere zum Lachen zu bringen. Die Sprache hat dazu beigetragen, dass der Humor eine größere Bedeutung im Zusammenleben einnimmt. Es ist verwirrend festzustellen, dass zugleich der Sinn für Humor zurückzugehen scheint!

Obwohl zahlreiche Denker (Schopenhauer, Bergson, Freud, Plessner u.a.) versucht haben, das Rätsel des Humors und des Lachens zu lösen, gibt es überraschenderweise bisher keine umfassende Theorie des Humors. Bei den zahlreichen Theorien des Humor wird offensichtlich stets nur einer der vielen Aspekt des Humors – das Überraschungsmoment, das Widersprüchliche, das Paradoxe oder Inkongruente, der Gefühlswechsel, das Komische u.a. - zur Erklärung herangezogen. Zumindest besteht aber ein Konsens darüber, dass Humor die Fähigkeit ist, das Komische und Lustige an einer gegebenen Situation wahrzunehmen und darauf zu reagieren.

Vor kurzem hat ein Autorenteam um Matthew Hurley ein Buch herausgegeben, in dem erstmals der Versuch gemacht wird, eine umfassende Theorie des Humors zu entwickeln.185 Die Kernthese besteht darin, dass Humor entsteht, wenn entdeckt wird, dass eine Überzeugung ungültig oder falsch ist. Humor wird als ein mentaler Mechanismus aufgefasst, der auf inkonsistente Überzeugungen aufmerksam macht, damit sie beseitigt oder angepasst werden können. Es wird der Anspruch aufgestellt, dass mit diesem Ansatz erklärt werden kann, dass alle Theorien, die bisher über die Ursachen des Humors entwickelt wurden, stets nur einzelne Aspekte des Humors herausgegriffen haben. Vor allem wird behauptet, dass die vorgelegte Theorie zum ersten Mal erklären könne, warum die Menschen beim Humor lachen. Die Evolution hat demnach das Lachen als Belohnung entwickelt, damit die eigenen Überzeugungen immer wieder auf Inkonsistenzen überprüft werden.

Dieses Buch hat mich angeregt, das Phänomen des Humors aus der Sicht der Regeln zu betrachten. Da Überzeugungen nichts anderes als Regeln sind, liegt es nahe, die Funktion des Humors darin zu sehen, dass auf fehlerhafte Regelanwendungen aufmerksam gemacht wird. Da Regeln ohne Sprache auskommen, wäre es ein Fehler, von dem Humor auszugehen, der sich der Sprache bedient. Die Theorie des Humors muss vielmehr von der Art des Humors ausgehen, der vor der Entstehung der Sprache vorherrschte, nämlich das Lachen über komische Situationen. Vermutlich liegt in der Situationskomik die Grundform des Humors vor. Eine Theorie des Humors muss deshalb von dem Phänomen ausgehen, dass Menschen unwillkürlich lachen, wenn einem anderen ein Missgeschick passiert. Aus der Sicht der Regeln bedeutet ein Missgeschick, dass eine Regel nicht richtig beachtet wurde. Das Lachen steckt den anderen an, mitzulachen. Dadurch wird es ihm erleichtert, sein Missgeschick zu akzeptieren, ohne sich selbst abzuwerten. Deshalb hilft das Lachen, das mit dem Missgeschick verbundene Gefühl der Schwäche leichter zu verarbeiten.

Es ist auffallend, dass Kinder zunächst ausschließlich über Situationskomik lachen. Wenn Kinder so viel lachen, hängt das sicherlich damit zusammen, dass sie ihre Gefühle noch unkontrolliert ausdrücken. Sie können z.B. lauthals lachen, wenn jemand hinfällt, während Erwachsene solche Reaktionen als unpassend unterdrücken.

Bei der Situationskomik laufen im Gehirn folgende Prozesse ab: Bereits bei der ersten Wahrnehmung einer Situation versucht das Gehirn, den weiteren Verlauf der Handlung zu antizipieren. Denn das Verhalten anderer Menschen verstehen, setzt voraus, dass deren Handeln innerlich nachvollzogen wird. Aufgrund der eigenen Regeln kann man in etwa voraussehen, was kommen wird. Es fällt sofort unangenehm auf, wenn das innerlich nachgeahmte Handeln von den eigenen Erwartungen abweicht. Wenn das Handeln anders verläuft, als es aufgrund der eigenen Regeln erwartet wurde, entsteht eine innere Spannung. Warum handelt der andere Mensch anders, als ich selbst handeln würde? Sind meine Regeln, die ich als Vergleichsmaßstab genommen habe, falsch oder hat sie der andere noch nicht richtig gelernt oder habe ich seine Absicht falsch verstanden? Die innere Spannung entlädt sich im Lachen. Zugleich setzt sie mentale Prozesse in Gang, die das Ziel haben, die eigenen Regeln zu überprüfen oder zu bestätigen.

Die Situationskomik soll am folgenden Beispiel erläutert werden: Im Gerichtssaal verkündet der Richter nach einer langen Verhandlung sein Urteil: Der Angeklagte wird hiermit freigesprochen. Der wegen Diebstahls von Geld Angeklagte ist außer sich vor Freude und sagt: "Heißt das, dass ich das Geld behalten darf!" Der Witzhörer hat nach dem Urteilsspruch erwartet, dass der Angeklagte tatsächlich unschuldig ist. Umso überraschender ist das indirekte Eingeständnis, dass er das Geld doch gestohlen hat. Der Witzhörer wird indirekt aufgefordert, seine Regel, dass richterliche Urteilssprüche der Wahrheit entsprechen, zu relativieren. Außerdem wird er aufgefordert, sich konsequent an die Regel zu halten, vor Gericht alles zu vermeiden, das ihn selbst belasten könnte.

Ein anderes Beispiel verpackt ein alltägliches Ärgernis in einen Witz: »Ein Autofahrer sucht verzweifelt einen Parkplatz, weil er pünktlich zu einem wichtigen Vorstellungsgespräch kommen will. Schließlich verspricht er seinem Schutzheiligen, dass er keinen Whisky mehr trinken wird, wenn er ihm zu einem Parkplatz verhilft. In diesem Moment entdeckt er einen freien Parkplatz. Sofort sagt er zu seinem Schutzheiligen: "Du brauchst Dich nicht mehr zu bemühen, ich habe schon einen gefunden!" Der Witzhörer erwartet, dass der Autofahrer sich an das Versprechen hält. Implizit teilt er mit dem Autofahrer den Glauben an die Hilfe überirdischer Kräfte. Die überraschende Wende besteht darin, dass der Autofahrer den gefundenen Parkplatz als seinen Verdienst ausgibt. Indirekt wird der Witzhörer aufgefordert, seinen Glauben an überirdische Hilfe bei der Parkplatzsuche als Aberglaube aufzugeben.

Diese Beispiele lassen sich so interpretieren, dass das Komische dadurch zustande kommt, dass man zu einem inneren Handeln verleitet wird, das den eigenen Regeln widerspricht, dass man also virtuell gegen seine eigenen Regeln handelt. Man lacht, um sich von sich selbst distanzieren. In der Literatur wird das Komische damit erklärt, dass man von einer Situation überfordert, erschreckt oder verwirrt wird, aber sofort danach eine Erleichterung angeboten wird.186 Dieser Wechsel der Gefühle wird besser verständlich, wenn man von einer Regelverletzung ausgeht. Aus dieser Sicht sind nicht die Gefühle, sondern die Denkfehler die Ursache des Komischen. Die Gefühle sind bloß Begleiterscheinungen von Regelverletzungen.

Das Lachen über das Missgeschick anderer ist nicht zwangsläufig mit dem Gefühl der Schadenfreude oder Überlegenheit verbunden. Da man zwangsläufig jedes Missgeschick innerlich nacherlebt, ist jedes Lachen auch ein Lachen über sich selbst. Lachen ist von Haus aus ein mitfühlendes Lachen. Es wird nur bei Menschen zum aggressiven Lachen, zur Schadenfreude oder zum Auslachen, die abgelehnt werden. Bei geliebten Menschen überwiegen das Mitgefühl und das Mitleiden. Daraus geht hervor, dass Schadenfreude und Überlegenheit keine wesentlichen Merkmale des Witzes sein können.

Die bisherigen Beispiele zeigen, dass sich das Lachen an komischen Situationen und nicht an sprachlichen Effekten entzündet. Die Bedeutung der Sprache für den Humor besteht nicht darin, wie Witze sprachlich formuliert werden, sondern darin, dass sie es ermöglicht, in der Vorstellungswelt absurde Situationen entstehen zu lassen, die in der Wirklichkeit nicht vorkommen.

"Von diesem Krimi bin ich wirklich absolut gefesselt." "Sag´ mal, ist das nicht hinderlich beim Umblättern?" Bei diesem Witz wird die Regel verletzt, dass der Begriff des Fesselns in dem vorliegenden Kontext nicht wörtlich genommen werden darf. Die Pointe des Witzes basiert aber nicht darauf, dass die metaphorische Verwendung des Begriffs missverstanden wird, sondern dass dadurch eine komische Situation konstruiert wird. Zugleich enthält der Witz die Aufforderung, beim Gebrauch der Sprache sorgsam und kritisch mit Metaphern umzugehen.

Wie die zahlreichen Witze demonstrieren, stellt die Sprache vielfältige Methoden bereit, um durch Übertreibungen, Untertreibungen, Darstellung durchs Gegenteil, Verzerrungen, Doppel- und Mehrdeutigkeit, Paradoxien, Andeutungen, Auslassungen, absichtliches Missverstehen u.a. witzige Situationen in der Vorstellung entstehen zu lassen. "Meinst Du es auch ernst mit der Schlankheitskur?", fragt der besorgte Ehemann. "Und ob, ich lese in der Zeitung nicht einmal das Fettgedruckte!" Dieser Witz basiert darauf, dass die Regel, bei der Schlankheitskur Fettes zu vermeiden, ins Absurde verallgemeinert und dadurch auch wieder relativiert wird. Das Lachen wird durch die absurde Situation ausgelöst, die durch die Doppeldeutigkeit des Wortes »fett« erzeugt wird. Zugleich wird der Schlankheitswahn, mit dem der Ehemann für Spannung sorgt, lächerlich gemacht.

Ein anderer wichtiger Aspekt der Sprache besteht darin, dass die Sichtweise einer Situation schlagartig verändert werden kann. Damit ist die Möglichkeit entstanden, zur gegebenen Situation auf Distanz zu gehen. Das wird dadurch erreicht, dass die Perspektive, mit der die Situation normalerweise betrachtet wird, auf überraschende Weise verändert wird. »480 v. Chr. droht Xerxes I. den Griechen bei den Thermopylen: "Ich habe so viele Bogenschützen, dass ihre Pfeile die Sonne verdunkeln werden!" König Leonidas von Sparta lässt der Überlieferung nach antworten: "Umso besser – dann kämpfen wir im Schatten!" Obwohl die Spartaner in einer hoffnungslosen Situation waren, konnte Leonidas der Situation noch etwas Positives abgewinnen und vermeiden, sich durch Verzweiflung zu lähmen. Die aufmunternde Wirkung des Witzes drückt sich in der Formel aus: »Humor ist, wenn man trotzdem lacht«. Sprache kann Situationen komisch machen, die eigentlich gar nicht zum Lachen sind.

Viele Witze leben von dem Gefühl der Überlegenheit über andere. Das ist bei den Witzen der Fall, deren Hauptaufgabe darin besteht, eine bestimmte Gruppe (Frauen, Blondinen, Österreicher u.a.) als dumm, faul oder tugendlos abzuwerten. Warum geht eine Blondine immer auf Fußspitzen am Medizinschrank mit Schlaftabletten vorbei? Weil sie die Schlaftabellen nicht aufwecken will! Offensichtlich ist es dabei nicht die Aufgabe der Witze, die eigenen Regeln zu korrigieren. Vielmehr werden die angeblichen Regelverletzungen nur dazu benutzt, um eine bestimmte Randgruppe bloßzustellen. Witze werden benutzt, um indirekt Vorurteile zu verbreiten. Sie dienen als Waffen im sozialen Konkurrenzkampf.

Eine weit verbreitete Funktion des Witzes ist die verschleierte Kritik an Autoritätspersonen (Lehrer, Ärzte, Priester, Führer, Unternehmer, Politiker u.a.). Da die Aggression nicht direkt geäußert werden darf, um Sanktionen zu vermeiden, bieten die Witze ein Ventil dafür an. Auch bei sexuellen Witzen übernehmen die Witze die Funktion, tabuierte sexuelle Phantasien für einen Augenblick im Bewusstsein zuzulassen. "Der Chefarzt erzählt seinem Freund von seinem Dienstjubiläum. Ich komme in die Klinik, kein Mensch gratuliert mir, nichts. Aber abends fragt mich unsere hübsche Schwester, ob ich noch mit zu ihr nach Hause kommen will. Gesagt, getan. In der Wohnung verschwindet sie im Schlafzimmer und flüstert mir noch zu: "Sie dürfen aber erst reinkommen, wenn ich rufe!" Ich warte also, sie ruft endlich, ich rein ins Schlafzimmer – und da steht das ganze Personal der Klinik mit einem riesigen Blumenstrauß! Der Freund des Chefarztes: "Da warst du aber von den Stocken, was?" "Nein, die Socken waren das einzige, was ich noch anhatte." Unter dem Einfluss von Sigmund Freud werden solche Witze damit erklärt, dass sie für einen Augenblick das Verdrängte befreien. Aus der hier entwickelten Sicht kann die Wirkung des Witzes damit erklärt werden, dass die soziale Regel, dass außerehelicher Geschlechtsverkehr ein Tabu ist, kurzzeitig außer Kraft gesetzt wird, um sie zugleich wieder zu bestätigen, da eine Verletzung offensichtlich zu heiklen Situationen führen kann.

Wenn einem selbst ein Missgeschick passiert, laufen ähnliche Prozesse ab, wie sie für die Wahrnehmung des Missgeschicks von Dritten beschrieben wurden. Es wird ständig geprüft, ob die eigenen Regeln eingehalten werden. Aber es ist offensichtlich viel schwerer, über sich selbst als über andere zu lachen. Das hängt offensichtlich damit zusammen, dass eine gewisse seelische Stärke dafür erforderlich ist, seine eigenen Fehler und Schwächen zu akzeptieren, anstatt sich darüber zu ärgern oder sich schuldig zu fühlen. Wenn jemand über sich selbst lachen kann, gilt dies zu Recht als Ausdruck von Charakterstärke. Umgekehrt gelten Menschen, die nicht über sich selbst lachen können, als schwach und unsicher.

Da das Lachen eine spontane Reaktion ist, macht es keinen Sinn, sich vorzunehmen, mehr über sich selbst zu lachen und das Leben nicht so ernst zu nehmen. Man kann zwar grundlos lachen, aber es ist ausgeschlossen, absichtlich über sich selbst in Situationen zu lachen, die eigentlich dazu Anlass geben. Deshalb ist die häufig zu hörende Empfehlung, über sich selbst zu lachen, nicht umzusetzen. Das Prinzip des Humors besteht gerade darin, dass das Lachen unwillkürlich erfolgt.

Die bisherige Analyse des Humors zeigt, dass die These von Matthew Hurley, dass Witze die Funktion haben, auf Inkonsistenzen in den eigenen Überzeugungen aufmerksam zu machen, nur für die Situationskomik zutrifft. Humor hat ohne Zweifel im Alltag die wichtige Aufgabe, auf Denkfehler hinzuweisen. Er unterstützt damit das am praktischen Handeln orientierte Denken. Humor kann deshalb als ein Mittel der mentalen Selbstorganisation verstanden werden. Aber bei den meisten künstlich konstruierten Sprachwitzen geht es nicht darum, Denkfehler offenzulegen. Es werden vielmehr absichtlich Denkfehler gemacht, um komische Situation zu erzeugen, die den Witzhörer zum Lachen bringen sollen. Witze konstruieren Denkfehler, um aggressive oder sexuelle Impulse virtuell abzureagieren bzw. dem Verbotenen kurzfristig ein Ventil zu schaffen. Das vorgeschlagene Konzept, Humor mit der Verletzung von Regeln zu verstehen, kann deshalb beanspruchen, die verschiedenen Formen des Humors zu verstehen.

Als wichtiges Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass beim Humor, der mit Hilfe der Sprache provoziert wird, also den Witzen, nichts grundsätzlich Neues gegenüber der Situationskomik hinzukommt. Die Sprache mit ihren vielfältigen Gestaltungsmittel wird nur benutzt, um in der inneren Vorstellungswelt fiktive witzige Situationen entstehen zu lassen. Was allgemein als Wort- und Gedankenwitz bezeichnet wird, ist letztlich nichts anderes als fiktive Situationskomik. Während Situationskomik von allen Menschen verstanden wird, gilt dies nicht für die sprachlich konstruierten Witze. Sie setzen entsprechende Erfahrungen und Intelligenz voraus.

Wie oben bereits erwähnt wurde, vertritt Matthew Hurley die These, dass das Lachen beim Humor eine Belohnung für das erfolgreiche Entdecken von Fehlern sei. Diese These ist aus zwei Gründen problematisch. Einmal gibt es – wie gezeigt wurde – zahlreiche Witze, bei denen die Fehlersuche völlig nebensächlich ist, insbesondere diejenigen, deren Hauptziel die Abwertung einer bestimmten Menschengruppe ist. Zum anderen ist Lachen eine menschliche Fähigkeit, die bei vielfältigen Anlässen vorkommt: nach anstrengenden Aktivitäten, nach heftiger Trauer, bei unerwartetem Erfolgen beim Glücksspiel u.a. Diese Phänomene sprechen dafür, dass Lachen ein universeller Mechanismus ist, um starke innere Spannungen abzubauen. Bekanntlich werden beim Lachen ca. 240 Muskeln in Vibration versetzt, also etwas weniger als die Hälfte aller Körpermuskeln. Das charakteristische Staccato des Lachens wird von den rhythmischen Bewegungen des Zwerchfells, dem größten Muskel im menschlichen Körper, erzeugt. Damit ist eine wirkungsvolle ganzkörperliche Entspannungsreaktion verbunden, zugleich wird das Immunsystem gestärkt, der Blutkreislauf gestärkt, Stresshormone abgebaut, die Atmung verbessert und der Stoffwechsel angeregt. Wegen der überragenden Wirkung des Lachens auf die Gesundheit wird das Lachen oft als ein Grundbedürfnis angesehen. Diese Überlegungen bedeuten, dass das Lachen beim Humor nur eine Ausdrucksform des Lachens ist. Deshalb trifft die These, dass das Lachen eine Belohnung für die Entdeckung von Inkonsistenzen ist, nur für den Fall der Situationskomik zu.

Vermutlich ist der oft beklagte Verlust des Sinns für Humor darauf zurückzuführen, dass emotionale Verletzungen zu einer Verhärtung der Muskulatur führen, so dass man unfähig wird, spontan zu lachen. Denn chronisch verspannte Muskeln lassen das spontane Lachen nicht mehr zu. Wer nicht lachen kann, tut sich schwer damit, seine Regeln so anzupassen, dass sie problemlos das Handeln anleiten können. Es entsteht der Bedürfnis nach stärkeren Reizen: Das organisierte Lachen in Lachclubs und in Comedysendungen im Fernsehen ist offensichtlich ein Ersatz für den Verlust des unwillkürlichen Lachens im Alltag.

Das überraschende Ergebnis dieser Analyse des Humors ist, dass das Lachen offensichtlich eine kognitive Leistung ist, obwohl es gemeinhin als eine emotionale Angelegenheit angesehen wird. Bei vielen Denkern entzündet sich die Analyse an der Diskrepanz zwischen der Unwillkürlichkeit und Körperlichkeit des Lachens und der unübersehbaren Beteiligung des Denkens am Lachen. Arthur Schopenhauer machte in diesem Sinne das Lachen an der erkannten Inkongruenz des Gedachten mit dem Anschaulichen fest. Im Lachen siegt für ihn die ursprüngliche anschauliche, an der Sinneswahrnehmung orientierte Erkenntnis über das abstrakte Denken, siegt der Leib über den Intellekt. Helmuth Plessner betont noch stärker die Unwillkürlichkeit des Lachens, indem er feststellt, dass der Lachende seine Kontrolle über sich verliert und aus dem Gleichgewicht gerät, gleichwohl aber seine spontane Reaktion als sinnvoll erlebt. So wie Schopenhauer im Lachen eine höhere kognitive Leistung als im abstrakten Denken sieht, so lässt das Lachen Plessner an dem Dualismus von Körper und Geist zweifeln. Beide Theorien bestätigen die Theorie, dass es beim Humor um die Feststellung der Mangelhaftigkeit von Verhalten und Gedanken geht und dass eine Korrektur angeregt wird. Der scheinbare Widerspruch zwischen dem Lachen als emotionaler Reaktion und als kognitiver Leistung löst sich auf, wenn man daran denkt, dass jede Emotion eine Bewertung darstellt und Denken ein unbewusster Prozess ist.

Auch die Theorien von Sigmund Freud und Henri Bergson gehen davon aus, dass das eigene Denken mit dem Wahrgenommenen spontan verglichen wird. Freud konzentriert sich auf das Phänomen, dass durch nicht eingetroffene Erwartungen eine innere energetische Spannung entsteht. Die Energie wird im Lachen abgeführt. Wenn man aber davon ausgeht, dass jede erfahrene Abweichung von den persönlichen Regeln das Bedürfnis nach innerer Konsistenz verletzt und dass im Lachen die dadurch entstandene innere Spannung aufgehoben wird, kann das Lachen besser verstanden werden. Auch Bergsons Grundgedanke, dass das Lachen durch die Wahrnehmung von mechanischem, starrem, unlebendigem Verhalten ausgelöst wird, ist besser verständlich, wenn man daran denkt, dass mechanisches Verhalten durch die rigide Anwendung von Regeln zustande kommt. Im Lachen macht man dem anderen klar, dass er sich nicht situationsangemessen verhält.

Als Ergebnis ist festzuhalten, dass sich Humor nur teilweise als ein Mechanismus der mentalen Selbstorganisation erweist. Denn Humor wird seit Entstehung der Sprache auch dafür eingesetzt, andere Menschen bloß zum Lachen zu bringen, ohne dass damit eine inhaltliche Botschaft vermittelt wird. Entweder werden Vorurteile bekräftigt oder fiktive Situationen konstruiert, in denen sexuelle Wünsche oder aggressive Impulse imaginativ abreagiert werden können. Letztlich basiert jeder Humor darauf, dass die Regeln der eigenen Lebenswelt real oder fiktiv verletzt werden. Lachen macht glücklich, weil es hilft, sich selbst und das Leben zu akzeptieren.187

Offensichtlich können die Menschen lachen, weil sie Regeln benutzende Tiere sind. Lachen hat die Funktion, die Menschen immer wieder auf den richtigen Pfad der Regeln zurückzubringen, wenn sie versehentlich davon abgekommen sind.

5.12. Zusammenfassung

»Der Philosoph behandelt eine Frage; wie eine Krankheit.« (Ludwig Wittgenstein)
»So wenig wie möglich sitzen; keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung und in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern.« (Friedrich Nietzsche)

Das Verständnis des Menschen muss daran ansetzen, dass die Menschen keine geistigen Wesen sind, deren höchstes Ziel die Erkenntnis ist. Die idealistische Überzeugung, dass die Welt erkannt werden könne, erweist sich als die Folge einer Allmachtsphantasie, die erst auf dem Boden des falschen Verständnisses des Menschen als Geistwesen entstehen konnte. Auch die Überzeugung, dass der Geist bzw. die Vernunft die Aufgabe hätten, die tierischen Leidenschaften und Begierden zu zügeln, kann als Irrtum abgelegt werden. Dementsprechend müssen die Ideale der Selbstkontrolle und Selbstbeherrschung als Produkt des idealistischen Weltbildes durchschaut werden.

Die bisherigen Überlegungen zeigen, dass die Menschen ihrer Natur mehr gerecht werden, sie sie sich als handelnde Wesen verstehen. Als handelnde Wesen denken die Menschen keineswegs weniger, als wenn sie sich als geistige Wesen verstehen. Im Gegenteil reagieren sie dann viel kritischer auf indirekte und direkte Einschränkungen ihres Denkens durch Mythen, Weltbilder, Theorien und sozialen Druck. Da das Denken und Fühlen unbewusst abläuft, nehmen sie die daraus erwachsende Verantwortung wahr, für soziale Lebensbedingungen zu kämpfen, die dem Denken optimale Bedingungen geben. Sie wissen aus Erfahrung, dass das unbewusste Denken eine Garantie für kreative und produktive Denkergebnisse darstellt.

Wenn sich Menschen als natürliche Wesen verstehen, lehnen sie alle Vorstellungen von Religion und Transzendenz ab. Der Anspruch der Religionen, den Menschen eine Orientierung zu geben und auf die Fragen nach dem Sinn des Leben und dem Leben nach dem Tod Antworten zu geben, hat sich als trügerisch erwiesen. Die Geschichte zeigt, dass religiöse Überzeugungen dazu benutzt wurden, freies Denken zu unterdrücken und die Herrschaftsverhältnissen, die vielen Menschen das Leben erschwert haben, zu legitimieren. Auch die sogenannten Weltbilder können die existentiellen Fragen nicht lösen. Die Erwartung, sie theoretisch lösen zu können, ist illusionär. Da sie durch soziale Herrschaft entstanden sind, können sie nur durch praktisches Handeln beantwortet werden.

Es war für die menschliche Entwicklung verhängnisvoll, dass die moralischen Regeln als ewige Werte verabsolutiert wurden. Das Postulat der Willensfreiheit und die Moral von Schuld und Sühne hatten die historische Funktion übernommen, soziale Herrschaftssysteme zu legitimieren. Wenn die sozialen Normen als von Menschen gemachte Regeln erkannt werden, wird der Weg zu einer pragmatischen Ethik der Vergebung freigemacht. Nur wenn sich die Menschen als natürliche Wesen begreifen, kann der Irrtum, dass die moralischen Werte aus Einsicht oder Pflicht eingehalten werden, überwunden werden.

Es wird verständlich, warum früher so großer Wert darauf gelegt wurde zu begründen, dass die Menschen eine Sonderstellung in der Natur (»der Mensch als Krone der Schöpfung«) einnehmen. Dieses Verständnis hatte offensichtlich die historische Funktion, die Menschen besser beherrschen zu können. Nur wenn die Menschen z.T. auch außerhalb der tierischen Natur stehen und als geistige Wesen von den Zwängen der Natur befreit sind, können sie zur Verantwortung gezogen werden und für Regelverletzungen bestraft werden.

Die These, dass die Regeln nichts Mentales sind, kann aus der Sicht, dass die Menschen natürliche Wesen sind, besser verstanden werden. Die Regeln haben bei den Menschen offensichtlich die Funktion der Antriebe übernommen, die bei den Tieren als Instinkte bezeichnet werden. Das ist dadurch möglich geworden, dass die Regeln weitgehend außerhalb der Sphäre des bewussten Denkens gebildet werden, also ein Teil der organismischen Selbstorganisation sind. Gute Regeln werden gleichsam zur zweiten Natur. Aber sie können jederzeit korrigiert werden, wenn die objektiven Verhältnisse dazu Anlass geben.

Der Grund, warum bisher die zentrale Rolle der Regeln beim Denken, Fühlen und Handeln nicht erkannt worden ist, liegt wahrscheinlich darin, dass man nicht bereit war, von dem Dogma Abschied zu nehmen, dass das Denken eine bewusste Leistung des Geistes ist. Denn die Analyse der Regeln führt zwingend zu der Konsequenz, dass man nicht mehr an dem Bild des Menschen als geistigem Wesen festhalten kann. Aber nach den vorherrschenden Denkgewohnheiten kann aus der Tatsache, dass das Denken unbewusst abläuft, nur die unannehmbare Konsequenz gezogen werden, dass die Menschen vom Unbewussten gesteuert werden.

Im Konzept des Menschen als handelndes Wesen wird aus der Tatsache, dass alle psychische und mentale Prozesse mit Hilfe von Regeln unbewusst ablaufen, die Konsequenz gezogen, dass es nicht zulässig ist, dafür irgendwelche innere Instanzen zu postulieren, da man damit in das problematische personalisierende Denken zurückfallen würde. Außerdem darf dies nicht als etwas Negatives angesehen werden, da dadurch überhaupt erst die Kreativität des Denkens begründet wird. Wenn man davon ausgeht, dass das eigene Denken und Handeln immer Ausdruck aller persönlichen Regeln, also des ganzen Organismus ist, verliert man nicht an Selbstwert, wenn akzeptiert wird, dass man auf sein Denken und Handeln nicht unmittelbar einwirken kann. Auf die Qualität des Denken und Handeln kann man trotzdem indirekt dadurch Einfluss nehmen, dass man sich darum bemüht, möglichst viele Regeln zu lernen, und dass man sich angstfrei allen Erfahrungen öffnet, die sich beim mutigen Handeln einstellen. Da die Qualität des Denkens und Fühlens davon abhängig ist, wie die sozialen Lebensverhältnisse beschaffen sind, kommt es auch darauf an, das traditionelle Übergewicht der Theorie zugunsten eines Handelns für humane Lebensbedingungen zu überwinden.

6. Regelbewusstes Handeln

»Nur wenn man noch viel verrückter denkt als die Philosophen, kann man ihre Probleme lösen.« (Ludwig Wittgenstein)

Unter dem Einfluss des Ichkonzeptes ist der Eindruck entstanden, dass man sich zu sich selbst so verhalten könne, wie man sich zu anderen Menschen verhält. So wie man andere Menschen beeinflussen und auf sie einwirken kann, so könne man auch auf sich selbst Einfluss nehmen. Kann man wirklich ein instrumentelles Verhältnis zu sich selbst einnehmen? Wenn man bedenkt, dass das Ich keine innere Instanz, sondern nur eine verbale Gewohnheit ist, wie man sich anderen Menschen mitteilt, muss diese Frage ganz klar mit nein beantwortet werden. Es gibt keine innere Instanz, von deren Position aus man sich gleichsam gegenübertreten und beeinflussen kann.

Wenn man sich selbst beobachtet, ist das im Grunde nichts anderes, als dass man sich selbst erlebt bzw. selbst wahrnimmt. So kann man den Fluss der Gedanken, Gefühle und Impulse wahrnehmen, der durch das Bewusstsein strömt. Es wäre aber ein Missverständnis, wenn diese inneren Prozesse als ein Werk des Ichs, des Bewusstseins, des Selbst oder des Geistes begriffen werden. Vielmehr müssen sie als Ausdruck der Selbstreflexivität des Handelns begriffen werden. Gedanken, Gefühle und Impulse stellen sich spontan ein, wenn man durch Assoziationen angeregt wird, sich an eine bestimmte Situation zu erinnern. Es ist so, als würde man noch einmal in die Situation gehen, in der man spontan entsprechend seinen Gewohnheiten reagiert.

Daraus folgt: Wer Einfluss auf sich selbst nehmen will, muss handeln. Solches Handeln kann auch Meditieren, Gedächtnistraining, Musizieren, Atemtraining u.Ä. sein. Wie jedes Handeln wird dabei vorausgesetzt, dass Regeln in Gewohnheiten umgeformt wurden. Beim Handeln können die beabsichtigten Ziele nicht unmittelbar angestrebt werden. Es bleibt stets ungewiss, ob sich die erwünschten Wirkungen nach dem Handeln einstellen.

6.1. Zur Kunst, gekonnt mit Regeln umzugehen

»Wenn du das Wort Glück begreifen willst, mußt du es als Lohn und nicht als Ziel verstehen, denn sonst hat es keine Bedeutung.« (Antoine de Saint-Exupéry)

Die Empfehlung von Friedrich Nietzsche »Werde, der Du bist!« taucht in der Literatur in vielfältigen Formulierungen auf: Man soll sein eigenes Wesen entfalten, seinen inneren Kern zum Ausdruck bringen, den Weg zu sich selbst gehen, sich selbst erkennen, sich selbst verwirklichen, sich vom Selbst führen lassen u.Ä. Dazu ist kritisch anzumerken, dass in den Formulierungen offensichtlich stets die gleiche Metapher verwendet wird, dass der verborgene innere Kern »ent-wickelt« werden soll. Nach den bisherigen Überlegungen ist der Glaube an die Erkennbarkeit des inneren Wesens der Person ein Restbestand einer überholten Erkenntnistheorie. So wenig wie das Wesen der Dinge erkannt werden kann, so wenig ist das Wesen der eigenen Person zu erkennen.

Über sich selbst nachdenken, kann nach den bisherigen Überlegungen nur darin bestehen, dass geprüft wird, von welchen Regeln und Gewohnheiten man sich leiten lässt. Dazu ist es sinnvoll, sich bei Konflikten oder Problemen zu fragen, welche Gewohnheiten dafür verantwortlich sind. Wenn man sich eine Problemsituation nachträglich vor Augen führt, werden meistens sofort die Regeln erkannt, die den Gewohnheiten zugrunde liegen. Wenn hier betont wird, dass beim Nachdenken über sich selbst der Fokus auf die Gewohnheiten gerichtet werden soll, ist dies eine Kritik an dem üblichen Ansatz, dass der Blick auf die eigenen Überzeugungen gelenkt werden soll. Da Überzeugungen nichts anderes als Interpretationen der eigenen Regeln und Gewohnheiten, ist es sinnvoll, sich gleich die Regeln anzuschauen, die sich in den Überzeugungen ausdrücken.

Dabei muss der große Unterschied zwischen den instrumentellen und den moralischen Regeln beachtet werden. Bei den instrumentellen Regeln geht es um den Umgang mit den Objekten der Umwelt, während sich die moralischen Regeln auf den Kontakt mit anderen Menschen beziehen. Beim instrumentellen Verhalten ist es meistens eindeutig, welche Regeln bzw. dass keine Regeln befolgt werden. Hingegen ist dies beim zwischenmenschlichen Verhalten selten sofort ersichtlich. So wird man z.B. aus dem Vorwurf, dass man im Gespräch keinen Augenkontakt hält, nicht gleich auf eine persönliche Regel schließen, weil einem das Verhalten als völlig natürlich vorkommt.

Der entscheidende Grund, warum die moralischen Regeln anders behandelt werden müssen, besteht darin, dass sich instrumentelle Regeln relativ leicht ändern lassen, während bei den moralischen Regeln mit großem Widerstand zu rechnen ist. So können z.B. ohne weiteres Regeln entwickelt werden, wie die regelmäßige Pflege des Fahrrads aussehen sollte, damit es leicht läuft und lange hält (z.B. anhand von Erfahrungen, Ratschlägen von anderen Menschen oder von Handbüchern). Aber bei dem Vorwurf, dass man im Gespräch den Augenkontakt nicht hält, kann man nicht ohne weiteres eine Regel finden, wie sich das Wegschauen vermeiden ließe.

Während bei den instrumentellen Regeln die Frage nebensächlich ist, warum man sich bisher keine Gedanken darüber gemacht hat, steht sie bei den moralischen Regeln im Zentrum. Bei dem Versuch zu ergründen, welche Regel z.B. hinter der Vermeidung des Blickkontaktes wirksam ist, stößt man sofort auf persönliche Ängste, die den engen Kontakt vermeiden lassen. Es stellt sich die Frage, welchen Glaubenssatz man für solche Situationen gebildet hat. Man wird dazu gezwungen, sich einzugestehen, dann man sich aus Angst zu dem als Problem empfundenen Verhalten entschieden hat.

Besonderes Interesse sollte auf die Gewohnheiten gerichtet werden, die immer wieder Anlass zu innerer Unruhe und zu Konflikten geben. Es sind Reaktionsgewohnheiten, die spontan ablaufen, wenn man kritisiert wird, wenn etwas verlangt wird, zu dem man nicht bereit ist oder wenn man etwas tun soll, dass den eigenen Werten widerspricht. Man muss berücksichtigen, dass jede innere Unruhe ein Mangel an innerer Stärke ist, ruhig und gelassen Kritik oder Zumutungen zurückzuweisen. Dieser Mangel ist im Grunde ein Mangel an geeigneten bzw. der Besitz von dysfunktionalen Gewohnheiten. Auf jeden Fall sollte man auch die Gewohnheiten in Besitz nehmen, die bisher aus dem Bewusstsein ausgeblendet wurden. Es sind Gewohnheiten, für man sich schämt und die man ablehnt. Ihre innere Abwertung ist kontraproduktiv, da sie dadurch noch verstärkt werden. Da sie einen persönlichen Nutzen haben, sollten sie wohlwollend akzeptiert werden.

Ebenso sollte die Aufmerksamkeit den Gewohnheiten zugewandt werden, wie man mit Schicksalsschlägen und emotionalen Verletzungen umgeht. Neigt man dazu, anderen Menschen oder übernatürlichen Kräften die Schuld dafür zu geben? Oder wird die Verletzung einfach verdrängt? Es kommt darauf an, eine von außen erlittene Gewalt als etwas wahrzunehmen, dem man aufgrund eigener Schwäche nichts entgegensetzen konnte und die man deshalb als eine Gewalt begreift, die man sich selbst zugefügt hat. Deshalb müssen die Regeln, wie man auf Gewalt reagiert, kritisch überprüft werden.

Bei dem Versuch der Selbsterkenntnis darf nicht der Fehler gemacht werden, die Gefühle auszuklammern. Zu Recht wird immer wieder empfohlen, sich von seinen Gefühlen führen zu lassen oder auf die Stimme des Herzens zu hören. Diese Aufgabe ist allerdings sehr schwierig, weil sie ein gutes Gespür dafür voraussetzt, ob sich in den momentanen Gefühlen wirklich die eigenen Bewertungen ausdrücken oder ob sie aus der Rücksichtnahme auf die Erwartungen anderer Menschen resultieren. Diese Fähigkeit ist meistens verlorengegangen, so dass man nicht mehr merkt, dass man sich in seinen Gefühlen im Grunde den Bedürfnissen anderer Menschen unterwirft. Häufig ist man von Gefühlen wie Neid, Hass, Feindseligkeit, Ärger, Habgier u. Ä. erfüllt. Hier handelt es sich nicht um ursprüngliche Gefühle, sondern um Reaktionsbildungen auf Liebesverlust, Enttäuschungen oder andere emotionale Verletzungen. Ihnen zu folgen, würde den Kontakt zu anderen Menschen eher verschlechtern, anstatt ihn wiederherzustellen. Der Rat, auf die innere Stimme zu hören, wäre deshalb kontraproduktiv.

Die Empfehlung, sich von seinen Gefühlen führen zu lassen, funktioniert im Grunde nur bei emotional gesunden Menschen. Sie können ohne Angst vor Sanktionen handeln. Solches Handeln wird zu Recht als wahrhaft bezeichnet, weil es in Übereinstimmung mit den spontanen Bewertungen steht. Oder es wird von Identität gesprochen: Man ist mit sich selbst identisch, weil sich im eigenen Handeln nur die eigenen Bewertungen ausdrücken. Deshalb ist es überflüssig, solchen Menschen den Rat zu geben, auf die Stimme der Gefühle zu hören.

Die Erfahrung lehrt, dass es äußerst schwierig ist, persönlich unerwünschte Verhaltensweisen zu verändern. Zu Recht wird im Zen-Buddhismus gesagt, dass der Wunsch nach Veränderung der beste Weg ist, jegliche Veränderung zu verhindern. Das hängt damit zusammen, dass die unerwünschten Verhaltensweisen eine nützliche persönliche Funktion haben. Sie wurden gebildet, um damit persönliche Ängste abzuwehren. Es ist deshalb sinnlos, sich neue Regeln vorzunehmen. So ist z.B. die Regel, künftig in Gesprächen den Augenkontakt herzustellen, zwecklos, weil sie nicht eingehalten werden kann, solange die dahinter stehende Angst nicht integriert werden konnte. Jeder Wunsch nach Veränderung stößt deshalb auf eine starke innere Abwehr und ist in Wirklichkeit ein Zeichen dafür, dass die Voraussetzungen für Veränderungen denkbar schlecht sind. Man kann sich nicht bewusst vornehmen, sich selbst zu verändern.

Deshalb haben auch die sogenannten Lebensweisheiten nur eine sehr beschränkte Wirkung. »Sehen sie die Herausforderung, nicht das Problem!« Auch wenn man Lebensweisheiten noch so überzeugend findet, sie prallen an der Mauer der eigenen tief verwurzelten Gewohnheiten ab, mit denen man sein Leben organisiert. In der Regel scheitern die Lebensweisheiten bereits daran, dass sie mit abstrakten Verben, mit Metaphern oder mit Allgemeinbegriffen formuliert werden. »Lebe in der Gegenwart!«. »Denken Sie flexibel!«. »Grenzen Sie sich ab!« Solche Regeln sind völlig ungeeignet, das Handeln anzuleiten. Wenn Regeln überhaupt eine gewisse Chance haben, befolgt zu werden, müssen sie ganz konkret angeben, welche Bewegungen in welcher Situation auszuführen sind. Statt »Seien Sie Ihr eigener Ratgeber« müsste es z.B. lauten: »Wenn Sie ein Problem haben, fragen Sie nicht andere um Rat, sondern suchen Sie solange, bis Sie selbst eine geeignete Antwort gefunden haben!« Neue Regeln können sich aber in der Regel nicht gegen die eingefleischten Gewohnheiten durchsetzen, die unter dem Druck von Angst gebildet wurden.

Als Beispiel soll die Lebensweisheit untersucht werden, dass man Gelassenheit findet, wenn das Leben als ein Spiel betrachtet wird. Die metaphorische Gleichsetzung der Lebens mit dem Spiel soll den Blick auf mehrere Aspekte des Lebens lenken: Das Leben verläuft nach Regeln, die trotz aller Verbindlichkeit jederzeit geändert werden können. Das Leben kann wie beim Spiel jederzeit wieder neu begonnen werden. Wer die Regeln einhält, hat Erfolg. Das Leben soll nicht ernster als das Spiel genommen werden. Was im Leben als natürlich erscheint, ist in Wirklichkeit nur eine Spielregel, über die jederzeit verändert werden kann. Es wird auch daran erinnert, dass viele Regeln des Lebens sich dem individuellen Zugriff entziehen und dass es weise ist, sie zu akzeptieren (z.B. die Regel des Todes). Die Metapher vom Leben als Spiel soll also das Bewusstsein darauf lenken, dass man nicht blind nach den anerzogenen Regeln handeln soll und dass jederzeit die Chance besteht, bewusster zu leben. Da aber die persönlichen Ängste bewirken, dass man sich in kritischen Situationen an die eigenen Verhaltensgewohnheiten klammert, fehlt die Gelassenheit, das Leben als Spiel anzusehen.

Diese Überlegungen gelten auch für den beliebten Appell »Denke selbständig!« Man kann sich genauso wenig vornehmen, selbständig zu denken, wie es unmöglich ist, absichtlich spontan zu sein. Wenn die Ängste wegfallen, die bisher angepasstes Denken erzwungen haben, stellt sich ganz von selbst selbständiges Denken ein.

Wenn in psychologischen Ratgeberbüchern der Rat gegeben wird, sich seinen Ängsten zu stellen und sich direkt mit ihnen zu konfrontieren, wird das Prinzip der Angst verkannt. Solange Angst vorhanden ist, sperrt sich der Organismus gegen jeden Versuch, sie aufzulösen. Die Angst verschwindet von selbst, wenn der Organismus erkennt, dass es keinen Grund mehr für sie gibt. Deshalb können Ängste auch nicht auf die Weise bewältigt werden, dass man sich immer wieder einredet, dass man die Kraft hat, sein Verhalten in die gewünschte Richtung zu ändern. Wenn man z.B. darunter leidet, sich nicht konzentrieren zu können, ist es völlig nutzlos, sich einzureden, dass einem die Arbeit Spaß macht. Mit positiven Suggestionen lassen sich die Ängste, die die Konzentrationsfähigkeit behindern, nicht verscheuchen. Die tiefsitzende Überzeugung, sich nicht konzentrieren zu können, bleibt unverändert. Indem man die Angst ignoriert und vermeidet, wird sie eher noch verstärkt.

Da es also nutzlos ist, sich mit seinen Ängsten direkt zu konfrontieren, kommen für den Versuch, die persönlichen Ängste zu integrieren, allenfalls Methoden infrage, die helfen, den Kontakt mit der Angst herzustellen. Als eine sehr wirksame Methode bietet sich dafür die Meditation an, die im Kapitel 6.3 dargestellt wird. Eine Variante der Meditation ist die von der Psychologin Angelika C. Wagner entwickelte Selbsttherapie der Introvision.188 Im Prinzip geht es bei beiden Methoden darum, dass man sich zunächst eine Problemsituation vergegenwärtigt und sich überlegt, welcher Glaubenssatz zur Bewältigung der dort ausgelösten Angst eingesetzt wird.

Die Kontaktaufnahme mit der Angst beginnt damit, dass der Atem beruhigt wird.189 Die chronischen Muskelverspannungen, die zur Abwehr von emotionalen Verletzungen aufgebaut wurden, können sich lockern oder ganz auflösen. Dadurch werden die Blockaden beseitigt, die den inneren Dialog behindern. Der innere Informationsaustausch kann wieder reibungslos ablaufen. Im Zustand des beruhigten Atems kann der ausgewählte Glaubenssatz achtsam betrachtet werden. Der Glaubenssatz wird immer wieder innerlich rezitiert. So könnte z.B. der Glaubenssatz: »Ich habe Angst, anderen Menschen in die Augen zu schauen!« aufmerksam konstatierend wahrgenommen werden. Es kommt dabei darauf an, dass jegliche Wertung und jedes Denken über alternatives Handeln vermieden wird. Da der Glaubenssatz nicht mehr wie üblich sofort wieder verdrängt wird, wenn er von der Angst aktiviert wird, besteht die Chance, dass die Angst, die von dem Glaubenssatz verdeckt wird, ins Bewusstsein tritt. Offensichtlich ist der Organismus im Zustand der Tiefenentspannung eher in der Lage, sich mit den unbewältigten Ängsten direkt zu konfrontieren. Wenn wiederholt eine Angst unmittelbar gespürt wird, können die Erinnerungen, die bei der ursprünglichen Verletzung von ihr abgespalten wurden, wieder mit ihr verbunden werden. Damit wird die Angst in die übrigen Erinnerungen integriert und so zu einem Bestandteil der persönlichen Lebensgeschichte gemacht. Dadurch wird auch die Kopplung der Angst mit Glaubenssätzen gelockert. Die Sätze werden nicht mehr automatisch aktiviert, wenn die Angst durch einen Reiz angesprochen wird. Damit verliert die Angst ihre Kraft auf das Verhalten. Man wird frei, angemessen auf Situationen zu reagieren, die bisher Ängste aktiviert haben. So wie die unerwünschten Verhaltensweisen letztlich unwillkürlich entstanden sind, so können sich jetzt spontan neue Verhaltensweisen herausbilden.

Die Empfehlung, seine moralischen Regeln zunächst einfach nur zur Kenntnis zu nehmen, anstatt sofort nach einer Alternative zu suchen, ergibt sich aus der Struktur der Emotionen. Man wird den Emotionen nur gerecht, wenn man von einer tiefen Ohnmacht ihnen gegenüber ausgeht. Da sich die eigenen moralischen Regeln unbewusst herausgebildet haben und völlig unbewusst angewandt werden, ist es zwecklos, sich neue Regeln auszudenken. In akuten Problemsituationen werden alle guten Vorsätze vergessen. Wenn aus Angst gehandelt wird, neigt man dazu, blind nach den festgelegten Regeln zu reagieren, anstatt alle Aspekte der Situation wahrzunehmen und evtl. die Regeln zu modifizieren.

Es kann natürlich auch gefragt werden, warum man sich gerade für diese Gewohnheiten entschieden hat und welchen persönlichen Nutzen sie haben. Aber das ist im Grunde nicht wesentlich, da es primär darum geht, dass man sich für die Regeln im eigenen Handeln sensibilisiert. Das Wissen, welche Erfahrungen in der Kindheit zur Bildung der eigenen Regeln beigetragen haben, kann für die eigene Identität nützlich sein, aber für ein sensibles Regelbewusstsein ist es nicht unbedingt notwendig.

Dass problematische Gewohnheiten mit ihren Regeln nur zur Kenntnis genommen werden sollen, hat auch den Sinn, dass sie vom unbewussten Denken als ein Problem wahrgenommen werden, das es zu lösen gilt. Unter Umständen setzt von selbst eine Dynamik ein, bei der die Gewohnheiten umstrukturiert werden. Wenn man die normale Naivität gegenüber seinem eigenen Verhalten verliert und sich bewusst wird, dass man eine Regel befolgt, ist der erste Schritt zu einer Veränderung getan. Wenn eine Veränderungsdynamik ausbleibt, muss dies als ein Zeichen dafür genommen werden, dass es noch zu viele Gründe gibt, an den alten Gewohnheiten festzuhalten. Da sich Gefühle nicht wegdenken lassen, muss in solchen Fällen gewartet werden, bis sich die zugrunde liegenden Gefühle aufgrund von neuen Erfahrungen von selbst neu geordnet haben.

Welche Verhaltensweisen sich nach erfolgreicher Angstintegration herausbilden, lässt sich nicht voraussehen. Der Regelbildungsprozess lässt nicht steuern. Das bedeutet, dass es nicht erforderlich ist, die eigenen Überzeugungen bewusst zu verändern. Da Überzeugungen nur Interpretationen von Regeln sind, werden sie sich spontan ändern, wenn sich die Regeln ändern. Er sollte vermieden werden, sich neue Regeln auszudenken, da man dabei dazu neigt, Regeln von anderen Menschen zu übernehmen, die meistens doch nicht passen.

Veränderungen werden leichter geschehen, wenn man die Illusion aufgibt, die Kraft zu besitzen, sich verändern zu können. Es geht nicht um Resignation, sondern um die Einsicht in die Ohnmacht gegenüber den eigenen Gefühlen. In diesem Sinne vertreten die Selbsthilfegruppen »Emotions Anonymous« den Grundsatz, dass die Menschen gegenüber ihren Gefühlen machtlos sind und dass emotionale Gesundheit allein von der »höheren Macht« kommen kann, der man sich anvertraut, wobei es jedem überlassen bleibt, was er unter »höherer Macht« versteht. Damit soll ausgedrückt werden, dass sich Veränderungen nur einstellen, wenn die Voraussetzungen dafür gegeben sind, dass man sie aber selbst nicht herbeiführen kann

Auch muss man der Neigung widerstehen, Heilung von übernatürlichen Kräften zu erwarten oder anderen Personen die Schuld für das eigene Leiden zuzuweisen. Solange man über das eigene Leiden Klage führt, hält man daran fest, dass die Heilung eigentlich von außen kommen müsste. Vor allem müssen die eigenen Eltern in dem Sinne begraben werden, dass man sie nicht länger für die eigenen Unzulänglichkeiten verantwortlich macht. Erst wenn man wirklich bereit ist, für das eigene Leben die volle Verantwortung zu übernehmen, ist man offen für Veränderungen.

Solange Angst da ist, kann es kein Glück geben. Bei chronisch gewordener Angst, die sich in Gefühlen der Feindseligkeit, Neid, Ärger, Missgunst, Hass, Schuldgefühle u.Ä. ausdrückt, verschwindet das Glück. Wenn Angst überwiegt, dominiert das Nein zum Leben! Das Nein verhärtet sich zu emotionalen Gewohnheiten des Vermeidens, des Rückzugs und der Selbstabwertung.

Es ist deshalb ein häufig anzutreffendes Missverständnis, dass es das Ziel der persönlichen Entwicklung sei, Glück als einen möglichst andauernden Gefühlszustand anzustreben. Bezeichnenderweise wird Glück in der Regel nicht in den wissenschaftlichen Listen der Gefühle aufgeführt. Das liegt daran, dass das Glück im Grunde nur ein Signal dafür ist, dass das eigene Leben in Ordnung ist. Das zeigt sich daran, dass man alles tun kann, was man möchte. Es werden Ziele verfolgt, die auch die Gemeinschaft fördern. »Diejenigen die ihren Sinn nur im privaten Umfeld suchten, sind tendenziell weniger glücklich, als jene, die sich einer Sache verpflichtet fühlen, die über ihr Ich und ihr privates Umfeld hinausging.« 190 Man spricht deshalb zu Recht auch von »geglücktem Handeln«. Wie Seneca festgestellt hat, ist Glück kein Ziel, das direkt angestrebt werden kann. Es ist nicht davon abhängig, ob man seine Ziele erreicht hat, sondern vielmehr ob man das Vertrauen hat, seine Ziele weiterhin anstreben zu können. Glück resultiert also daraus, dass man fähig ist, im Einklang mit seinen Gefühlen zu leben. Es setzt voraus, dass man überwiegend Gefühle hat, die den Kontakt zu anderen Menschen herstellen, und nicht solche, die den Kontakt behindern. Das Verhältnis zur Welt wird dann durch das Ja geprägt. Das Eigentümliche am Glück ist, dass man es nur spürt, wenn es nicht mehr vorhanden ist, wenn es also nicht mehr gelingt, im Einklang mit seinen Gefühlen zu leben.

Wenn es darum geht, sich neue Regeln anzugewöhnen, die sich auf die Arbeit, das Freizeitverhalten, die Körperpflege, die Ordnung in der Wohnung u.Ä. beziehen, lohnt es sich den Blick darauf zu werden, wie kleine Kinder solche Regeln lernen. Kinder wachsen in ein soziales Umfeld hinein, in der ihre Eltern beharrlich darauf drängen, dass alle Regeln eingehalten werden. Sie werden immer wieder ermuntert, es erneut zu versuchen, wenn es noch nicht perfekt gelingt, und gelobt, wenn sie sie beherrschen. Wenn man Glück hatte, gute Eltern zu haben, hat man genügend Selbstdisziplin, Frustrationstoleranz und Fähigkeit zur Selbstkontrolle gelernt, um neue Regeln zu lernen. Wenn diese Fertigkeiten fehlen, muss man sich ein künstliches förderndes Umfeld schaffen. Das kann z.B. so ausschauen, dass man eine neu zu lernende Regel in einen Kalender, auf einem Merkzettel oder in einem Merkheft aufschreibt und sich mit Hilfe der Aufzeichnungen immer wieder an seine Vorsätze erinnert und sich selbst ermuntert, weiter beharrlich die neuen Regeln einzuüben. Wenn es immer wieder misslingt, lohnt es sich zu fragen, welcher Glaubenssatz dem entgegensteht. So kann z.B. hinter dem Problem, dass man sich nicht über mehrere Stunden auf eine Studienarbeit konzentrieren kann, der Glaubenssatz stehen, dass man die Angst hat, nichts wert zu tun. Durch die wiederholte meditative Wahrnehmung des Glaubenssatzes »Ich bin nichts wert!« kann das Problem gelindert, wenn nicht sogar gelöst werden.

Der hier vorgeschlagene Weg, wie über sich selbst nachgedacht werden soll, unterscheidet sich von dem traditionellen »Erkenne Dich selbst!« Diese Forderung bezog sich ursprünglich darauf, bei allem Handeln von einem Bewusstsein der Begrenztheit der menschlichen Fähigkeiten und der Sterblichkeit des Menschen auszugehen und ein Leben in Bescheidenheit und Demut zu führen. Seit Platon hat die Forderung die Wendung angenommen, dass Selbsterkenntnis als Mittel für ein tugendhaftes Leben gepflegt werden soll. Beide Positionen verfehlen die Aufgabe, sich selbst in seinen alltäglichen Gewohnheiten kennenzulernen. Selbsterkenntnis kann nur darin bestehen, dass man seine Gewohnheiten und Regeln zur Kenntnis nimmt.

Der Empfehlung, auf die Stimme der Gefühle zu hören, kann also nur so viel bedeuten, dass man dafür sorgt, dass die persönlichen Ängste integriert werden, so dass der innere Dialog reibungslos ablaufen kann. Dann kann die wahnhafte Idee aufgegeben werden, sich verändern zu müssen, und sich das Vertrauen entwickeln, dass sich die Gewohnheiten ändern werden, wenn die Zeit dafür reif ist. Wenn alles beim Alten bleibt, liegt das daran, dass man aus guten Gründen noch an seinen Ängsten festhalten muss.

Die Fähigkeit, sich die eigenen Regeln bewusst zu machen, kann durchaus als eine Kunst bezeichnet werden. Sie ist vergleichbar mit der Kunst des Bogenschießens oder des Geigenspielens, da sie darin besteht, den Prozess der Regelbildung bewusst zu gestalten. Wenn man bedenkt, dass sich der Begriff »Kunst« vom Verb »können« ableitet, könnte man auch sagen, dass die Kunst der Regeln darin besteht, gekonnt mit den Regeln umzugehen.

6.2. Rituale der Selbstberuhigung

»Ach, die Gewohnheit ist ein lästiges Ding, selbst an Verhasstes fesselt sie.« (Sappho")

Jedes ungewohnte Handeln ist mit der Angst vor dem Scheitern oder vor unerwünschten Nebenwirkungen verbunden. Angst manifestiert sich im angehaltenen Atem und verspannten Muskeln. Handeln in gefährlichen Situationen ist deshalb immer mit teilweisen muskulären Verspannungen verbunden, die häufig auch nach dem abgeschlossenen Handeln noch fortbestehen und zukünftiges Handeln beeinträchtigen können. Die Gefahr von chronischen muskulären Verspannungen ist besonders groß bei traumatischen Verletzungen durch Unfälle, Verluste, wiederholten Kränkungen und Demütigungen oder Krankheiten. Die Menschen haben deshalb immer schon das Bedürfnis verspürt, mit bestimmten Ritualen muskuläre Verspannungen wieder aufzulösen.191

In den kulturellen Traditionen Asiens sind zahlreiche Körperübungen wie Tai Chi, Qi Gong, Meditation, Yoga, Pranayama u.a. entwickelt worden, um den Körper von erlittenen Verspannungen zu befreien. In Europa sind zusätzlich das Autogene Training, Feldenkrais, die Progressive Muskelentspannung u.a. entstanden. Das gemeinsame Ziel aller Übungssysteme besteht ohne Zweifel darin, über Bewegungen des Körpers beruhigend und ausgleichend auf den Atem einzuwirken. Es wurde erkannt, dass emotionale Verletzungen über muskuläre Verspannungen den Atem einschränken und unruhig machen und dass sich durch die Beruhigung des Atems die Verspannungen zurückbilden können. Alle Übungssysteme beanspruchen, dass der beruhigte Atem auch auf den Alltag ausstrahlt. Wenn es gelingt, in allen Bewegungen einen ruhigen und ausgeglichenen Atem zu behalten, könne man seinen Alltag gelassen und ohne geistige und psychische Unruhe bewältigen. Das buddhistische Prinzip der Ruhe in der Bewegung basiert auf dem oben erwähnten Grundsatz, dass psychische Kraft und Atemkraft miteinander identisch sind.

Da aus dieser Sicht alle Übungssysteme das gleiche Ziel haben, ist es im Grunde nebensächlich, für welches Übungssystem man sich entscheidet. Ausschlaggebend ist, dass die Übungen regelmäßig wie ein Ritual – möglichst zu festen Tageszeiten – ausgeführt werden, weil dann der atemberuhigende Effekt am Größten ist. Sehr wichtig ist auch, dass alle Bewegungen mit einem Maximum an innerer Beteiligung ausgeübt werden. Durch das Sich-in-die-Bewegung-Hineinversenken sollen während des Übens alle Gedanken über persönliche Probleme vertrieben werden, die mit der aktuellen Bewegung nichts zu tun haben. Es wird dabei gelernt, sich voll und ganz auf das zu konzentrieren, was gerade geschieht. Das gelingt am Leichtesten, wenn bei allen Übungen ein Teil des Bewusstseins auf den Atem gelenkt wird. Der Atem kann sich auf die aktuellen Bewegungen des Körpers einschwingen und sich beruhigen. Übrigens bedeutet die antike Empfehlung, die Seele zu pflegen, im Grunde nichts anderes, als den Atem zu pflegen und dafür zu sorgen, dass sich der Atem überwiegend im Ruherhythmus befindet.

Als Ziel der Selbstberuhigungsrituale wird häufig die körperliche und seelische Entspannung angegeben. Dies ist ein Missverständnis. In Wirklichkeit geht es um die Atemberuhigung. Wenn sich der Atem beruhigt, tritt automatisch Entspannung ein, weil sich dann die körperlichen Verspannungen auflösen können. Dann kann der innere Dialog wieder reibungslos ablaufen. Im atemberuhigten Zustand kann sich der Organismus für die volle Wahrnehmung der Realität öffnen. Es stellt sich die natürliche Achtsamkeit her, die erfahrungsgemäß unter dem Druck von Verspannungen verloren geht. Man steht nicht mehr unter dem Zwang, seine Gewohnheiten automatisch einzusetzen, sondern kann sie flexibel an die Situation anpassen. Insofern ist Entspannung nichts anderes als der Versuch, in den normalen Zustand des selbstreflexiven Handelns zurückzukehren. Entspannung ist ein Nebeneffekt der Atemberuhigung.

Aufgrund dieser Überlegungen darf auch die Achtsamkeit nicht als Ziel der Selbstberuhigungsrituale betrachtet werden. Achtsamkeit ist eine Fähigkeit, die sich von selbst einstellt, wenn sich der Atem im Ruherhythmus befindet. Es werden spontan alle äußeren und inneren Signale für die Vorbereitung des Handelns genutzt. Es ist also nicht unbedingt erforderlich, dass die inneren Signale bewusst wahrgenommen werden. Sobald Ängste vorherrschen, reduziert sich die Achtsamkeit. Ein gezieltes Achtsamkeitstraining ist nützlich. Es muss aber immer mit Methoden ergänzt werden, die direkt oder indirekt an der Integration der persönlichen Ängste arbeiten.

Die stimulierende Wirkung von körperlichen Bewegungsübungen auf den Atem kann besser verstanden werden, wenn man davon ausgeht, dass der Atemprozess primär durch den Zwerchfellmuskel in Gang gehalten wird. Wie oben bereits erwähnt wurde, ist das Zwerchfell, das den Brustraum mit der Lunge und dem Herzen vom Bauchraum mit dem Magen, der Leber, der Milz, der Niere, der Bauchspeicherdrüse und dem Darm trennt, der größte und stärkste Muskel im ganzen Körper. Das Zwerchfell zieht sich pro Tag ca. 20.000-mal zusammen. Bekanntlich hat es die Funktion, den Atem einzusaugen, indem es sich zusammenziehend einen Unterdruck in der Lunge entstehen lässt und die Luft wieder auszupressen, indem es bei der Ausatmung in seine Ausgangsstellung zurückfedert, wobei im Brustraum ein Überdruck und im Bauchraum ein Unterdruck entsteht. Die rhythmischen Druckveränderungen im Brust und Bauchraum haben darüber hinaus auch wichtige Aufgaben beim Blutkreislauf und bei der Arbeit der Verdauungsorgane. Während die Atemarbeit hauptsächlich vom Zwerchfell geleistet wird, unterstützt durch die Zwischenrippenmuskeln, die den Brustkorb bei der Einatmung weiten und stabilisieren, haben alle anderen Muskeln im Hals- und Bauchbereich nur eine Hilfsfunktion, um den Brustkorb zu stabilisieren, bei anstrengenden Aktivitäten für ausreichenden Sauerstoff zu sorgen oder zur Verfügung zu stehen, wenn das Zwerchfell seine Funktion nicht richtig wahrnehmen kann.

Weil das Zwerchfell der Hauptatemmuskel ist, beeinträchtigen alle körperlichen Verspannungen seine Funktion. Ein Symptom für ein verspanntes Zwerchfell ist eine schwache Atembewegung im Bauchraum und verstärkte Aktivität im Brustraum unter Einsatz der Atemhilfsmuskulatur. Alle Atemübungen zielen darauf ab, dem Zwerchfell seine Hauptrolle im Atemprozess zurückzugeben.

Aus dieser Analyse ergibt sich, dass Körper- und Atemübungen umso wirksamer sind, je mehr sie direkt das Zwerchfell aktivieren. Erstaunlicherweise setzen alle Übungen zur Verbesserung von Stimme und Gesang direkt beim Zwerchfell an, während bei den traditionellen Körpertherapien und auch bei den Atemtherapien das Zwerchfell nicht die Beachtung findet, die ihm eigentlich als Atemhauptmuskel zukommen müsste. Das liegt wahrscheinlich daran, dass die traditionellen Körpertherapien in einer Zeit entstanden sind, als die Funktion des Zwerchfells noch nicht bekannt war und ein ganzheitliches Verständnis des Atems vorherrschte.192

Viele Menschen sind davon überzeugt, dass das Zwerchfell von Natur so gut entwickelt sei, dass es nicht ermüdet und nicht an Kraft verlieren kann, da es schließlich einer der wenigen Muskeln ist, der ständig im Einsatz ist. Die Erfahrung zeigt aber, dass das Zwerchfell wie jeder Körpermuskel an Kraft einbüßen kann, wenn er nicht ausreichend trainiert wird.193 Das zeigt sich daran, dass der Zwerchfellmuskel dann dünner wird.

Wie alle Muskeln kann auch das Zwerchfell nur dadurch gestärkt werden, dass es gegen einen Widerstand arbeiten muss. Der Widerstand muss aber relativ stark sein, damit ein Trainingseffekt eintritt. Gelegentliches Lachen hilft deshalb wenig. Erst anhaltendes heftiges Lachen stärkt das Zwerchfell, weil dann der Ausatemstrom immer wieder angehalten wird. Wie belastend das für das Zwerchfell sein kann, zeigt sich daran, dass es dabei schmerzen kann. Auch sportliche Aktivitäten bringen in der Regel zu wenig Widerstand. Deshalb wird von Sportpädagogen empfohlen, die Zwerchfellmuskulatur mit eigens dafür entwickelten Geräten zu trainieren.

In der Literatur sind viele Übungen zu finden, wie das Zwerchfell gestärkt werden kann. So kann es z.B. durch das Lachen mit einem »ha, ha, ha« simuliert werden. Andere Methoden bestehen darin, wie ein Hund zu hecheln, mit gespitzten Lippen kräftig auszuatmen, als würde man eine Kerze ausblasen wollen, tief einzuatmen und langsam in kleinen Schritten auszuatmen oder ganz schnell auszuatmen, ein Papierblatt an der Fensterscheibe mit dem Ausatem festzuhalten u.v.m. Diese Übungen sind in erster Linie für das Sprach- und Gesangstraining entwickelt worden. Ihr Nachteil liegt darin, dass damit für die Zwerchfellarbeit nur ein relativ geringer Widerstand aufgebaut werden kann.

Die meisten Atemtherapien legen weniger Gewicht auf die Kraft der Atmung als auf die Achtsamkeit für den Atem. Eine Ausnahme besteht in der von der russischen Gesangspädagogin Alexandra N. Strelnikowa entwickelten Atemgymnastik.194 Hauptmerkmale dieser Atemmethode sind eine geräuschvolle, heftige und kurze Einatmung durch die Nase und eine geräuschlose Ausatmung durch den Mund. Die Einatmung ist äußerst aktiv, während die Ausatmung absolut passiv ist. In der Phase der Einatmung werden gleichzeitig Bewegungen ausgeführt, die den Atemraum im Rumpf einschränken. Durch diese paradoxe Atemweise wird das Zwerchfell stark stimuliert. Ein wichtiger Nebeneffekt ist, dass dadurch auch die Nasenatmung gefördert wird. Übrigens arbeiten die oben erwähnten Geräte zur Stärkung der Zwerchfellmuskulatur mit der gleichen Atemweise.

Der Haupteffekt der Atemgymnastik nach Strelnikowa besteht in der Heilung von zahlreichen Krankheiten. In dem oben erwähnten Buch wird von zahlreichen Heilungserfolgen berichtet. Im Vordergrund stehen Erkrankungen der Atemwege wie Schnupfen, Bronchitis, Nasennebenhöhlenentzündung und Bronchialasthma. Aber auch bei Herz- und Kreislauferkrankungen wie Hypertonie und Hypotonie, bei Hautkrankheiten, bei Kopfschmerzen, Stottern, Übergewicht u.a. soll die Atemgymnastik sehr hilfreich sein. Das spricht dafür, dass eine geschwächte Atmung der Nährboden für zahlreiche Krankheiten sein kann.

Das Erstaunliche an dieser Atemgymnastik ist, dass damit auch psychische Belastungen wie Ärger, Sorgen oder Beleidigungen kurzzeitig abgeschwächt werden können. Nach einer halben Stunde Übungszeit verschwinden Ärger und Unruhe und stellt sich ein produktiverer Umgang mit dem zugrunde liegenden Konflikt ein. Die Belastungen werden nicht weggeatmet, aber der etwas beruhigte Atem eröffnet die Chance, sie zu verarbeiten. Das spricht für die These, dass eine gestärkte Atmung mit einer erhöhten Kraft verbunden ist, emotionale Verletzungen zu integrieren.

Die Hervorhebung der Stärkung des Zwerchfells bedeutet keineswegs, dass damit das Prinzip der Achtsamkeit gegenüber dem Atem abgewertet wird. Beide Prinzipien sind absolut gleichwertig. Eine mechanische Stärkung des Zwerchfells nutzt der psychischen Integrationskraft relativ wenig, wenn sie nicht mit gesteigerter Achtsamkeit für die Schwingungen des Atems verbunden wird. Hohe Achtsamkeit hilft wenig, wenn das Zwerchfell zu schwach ist.

Das Ziel aller Selbstberuhigungsrituale besteht darin, dass das geschwächte Selbstvertrauen wiederhergestellt wird. Ein gestörtes Selbstvertrauen zeigt sich daran, dass man nicht mehr die Kraft hat, sich seinen inneren Impulsen anzuvertrauen und sich von ihnen führen zu lassen. Man wird unsicher und neigt dazu, sich den Forderungen anderer Menschen zu unterwerfen. Ein starkes Selbstvertrauen gründet in der eigenen Fähigkeit, für sich selbst zu sorgen und alle psychischen Übergriffe energisch zurückzuweisen.

6.3. Gesund durch Meditation

»Wir sind so gewöhnt, uns vor anderen zu verstellen, dass wir es zuletzt auch vor uns selber tun.« - (François de La Rochefoucauld)

Für regelmäßiges Meditieren werden in der Literatur vielfältige Gründe genannt: Sie schult die Achtsamkeit und Konzentrationsfähigkeit, sie führt zum Kontakt mit sich selbst, sie hilft, das egozentrierte Denken zu überwinden, sie intensiviert die Erfahrung der Gegenwart, sie macht das Leben im Hier und Jetzt möglich, sie ist die Quelle von spirituellen Erfahrungen, sie ist ein Weg, um persönliche Ängste zu bewältigen u.a. Offensichtlich liegt allen Begründungen die Erfahrung zugrunde, dass der normale Bewusstseinszustand ungeeignet ist, ein gelingendes Leben zu führen.

Im Folgenden soll die These diskutiert werden, dass es bei der Meditation letztlich darum geht, in den ursprünglichen Bewusstseinszustand zurückzukehren, der vorherrschend war, bevor die Sprache entstanden ist. Denn der normale Bewusstseinszustand ist ungeeignet, uneingeschränkte Achtsamkeit für das Handeln im Hier und Jetzt aufzubringen. So ziehen immer wieder unerledigte Konflikte die Aufmerksamkeit auf sich und lösen ein oft störendes inneres Geplapper aus. Man orientiert sich ungeprüft an inneren Glaubenssätzen, obwohl sie zu falschem Verhalten führen. Man kommentiert ständig alles Geschehen um sich herum, anstatt es einfach so hinzunehmen, wie es ist. Man presst ständig alle Wahrnehmungen in vorgefasste Begriffsschemata wie Körper – Geist, Subjekt – Objekt, Natur – Kultur u.Ä., ohne noch zu prüfen, ob sie im konkreten Fall stimmig sind. Man wertet andere Menschen ab, weil sie andere Überzeugungen vertreten. Allen Verhaltensweisen ist gemeinsam, dass sie die Fähigkeit einschränken, sich uneingeschränkt auf die im Hier und Jetzt anstehenden Aufgaben zu konzentrieren.

Der Buddhismus hat aus den negativen Erfahrungen, dass im normalen Bewusstseinszustand die Achtsamkeit geschwächt ist, die Lehre gezogen, dass die Achtsamkeit durch geeignete Rituale geübt werden muss. So werden z.B. die buddhistischen Schüler angewiesen, mit ruhigem Geist dazusitzen und das, »was ist«, zu erfahren, ohne es in Worte zu fassen oder einem Begriff zuzuordnen - eine Narzisse so zu sehen, wie sie ist, ohne die Bezeichnungen »Narzisse«, »Blume«, »gelb« oder »hübsch« zu verwenden, sie also mit dem Geist in seinem natürlichen Zustand zu sehen, so wie er war, bevor die Sprache das Bewusstsein gestört hat. Es wird empfohlen, so lange und so intensiv zu meditieren, bis es gelingt, die Achtsamkeit über längere Zeit auf den Atem oder ein bestimmtes Meditationsobjekt zu richten. Im Zen-Buddhismus wird dieser Zustand als Nicht-Denken bezeichnet, weil er sich dadurch auszeichnet, dass die inneren Prozesse nicht mehr sofort in die verbale Sprache übersetzt werden. Es wird die Fähigkeit entwickelt, alle inneren Impulse ohne Bewertung und ohne vorgefasste Meinungen achtsam wahrzunehmen. Man wird so fähig, die Welt nicht mehr durch den sprachlichen Schleier wahrzunehmen und kann die Fülle der Welt im Hier und Jetzt genießen.

Die Wirkung der Meditation auf die Klarheit des Denkens, die Fähigkeit zum authentischen Handeln und die Widerstandskraft gegenüber Stress ist unbestritten. Aber aus der Sicht der hier entwickelten pragmatischen Sprachtheorie ist die buddhistische Erklärung, dass die Meditation wirksam ist, weil mit ihr die Welt der Sprache verlassen wird, unzureichend. Oben wurde bereits erwähnt, dass nicht die Sprache als solche das Leben im Hier und Jetzt behindert, sondern dass die Störungen allein von den Glaubenssätzen ausgehen, die zur Abwehr von emotionalen Verletzungen gebildet wurden. Die Störimpulse gehen letztlich von den nicht integrierten Ängsten aus, die den Glaubenssätzen zugrunde liegen. Außerdem führt nur der unreflektierte Gebrauch von Allgemeinbegriffen dazu, dass die Welt nicht unvoreingenommen wahrgenommen wird. Dass die Welt ständig durch den Filter von vorgefassten Überzeugungen wahrgenommen wird, ist sicherlich ein Problem, aber die Welt lässt sich nicht völlig unvoreingenommen wahrnehmen. Die Gesamtheit der Überzeugungen, die den Blick auf die Realität filtern, lässt sich nicht ausschalten. Wenn sich einzelne Überzeugungen als problematisch erweisen, werden sie durch neue ausgewechselt, ohne zu wissen, ob sie der Wirklichkeit besser entsprechen. Es reicht aus zu wissen, dass sie sich im Handeln bewähren.

Bei dem folgenden Versuch, die bewusstseinsfördernde Funktion der Meditation zu begründen, wird von der These ausgegangen, dass sich bei den Menschen chronische Ängste entwickeln können, für deren Bearbeitung sie von Natur aus nicht ausgestattet sind. Wie oben bereits dargestellt wurde, hat die Sprache die emotionale Verletzbarkeit erhöht und die soziale Unterdrückung begünstigt. Chronische neurotische Ängste stören die Funktionsfähigkeit der mentalen Selbstregulation, die die Aufgabe hat, Gedanken, die aufgrund von emotionalen Verletzungen fixiert wurden und die das Handeln blockieren, wieder loszulassen. Vor Erfindung der Sprache war es ausgeschlossen, dass Gedanken hängenbleiben. Alle Gefühle wurden auf der Stelle abreagiert oder mit körperlicher Strafe in bedingte Reflexe umgewandelt. Seit Erfindung der Sprache werden die Ängste mit Sätzen verbunden, die in Stresssituationen gehört oder spontan gebildet wurden: »Du bist nichts wert!« oder »Du bist nicht mein Kind!« Diese Sätze haben den Nachteil, dass sie das Handeln stören können, indem sie das Bewusstsein auf sich ziehen. Die Angst bleibt virulent; sie wartet sozusagen auf eine endgültige Bearbeitung. Aber im normalen Bewusstseinszustand misslingt dies. Aus diesen Gründen wurden kulturelle Rituale erforderlich, die geeignet sind, die mentale Selbstregulation bei Bedarf wiederherzustellen.195

Die Meditation zeichnet sich dadurch aus, dass der ganze Organismus in einen tiefen Zustand der Entspannung versetzt wird. Wie im Kapitel 6.1. dargestellt wurde, kann dadurch eine befreiende Dynamik ausgelöst werden. Während sich im normalen Bewusstseinszustand allenfalls die Glaubenssätze im Bewusstsein melden, die bei der Abwehr der Angst gebildet wurden, aber nicht die Angst selbst, kann jetzt die bisher abgespaltene Angst unmittelbar ins Bewusstsein treten und in die übrigen persönlichen Erinnerungen integriert werden. Die Angst wird dann nicht mehr automatisch aktiviert, wenn in einer Situation ein Glaubenssatz geweckt wird. Es wird deshalb zu Recht gesagt, dass die Angst durch die Meditation deautomatisiert wird. »Meditation kann Wahrnehmung und Gefühle „deautomatisieren“ und so die intensive Erfahrung der Gegenwart fördern.«196

Der Ablauf der Meditation kann unterschiedlich strukturiert werden. Wenn die zu integrierende Angst einigermaßen klar bestimmt werden kann, empfiehlt es sich, die Angst direkt als Objekt der Meditation zu nehmen. Nachdem die Tiefenentspannung erreicht wurde, kann der Satz, in dem sich die Angst ausdrückt, eine Zeit lang ohne Bewertung betrachtet werden. Es hat sich auch als sehr nützlich erwiesen, sich in der Meditation die angstauslösende Situation in allen Einzelheiten zu vergegenwärtigen. Wenn es jedoch schwerfällt, die Angst zu identifizieren, empfiehlt sich das traditionelle Vorgehen, ohne Ziel in die Meditation zu gehen und sich für alle Prozesse ohne Bewertung zu öffnen, die während der Meditation geschehen.

Die Tiefenentspannung wird am leichtesten dadurch erreicht, dass die bewusste Aufmerksamkeit fortwährend auf den Strom des Atems gerichtet und wahrgenommen wird, wie der Atem die einzelnen Körperteile in rhythmische Bewegungen versetzt. Da sich der Atem ständig verändert, weil sich in ihm die aktuellen Gefühle spiegeln, kann keine Monotonie entstehen, die den vagabundierenden Gedanken wieder Raum geben würde. Wenn sich Gedanken mit Tagesresten oder unerledigten Aufgaben im Bewusstsein vordrängen, wird die Aufmerksamkeit sofort wieder auf den Atem gelenkt, ohne die Gedanken zu bewerten und sich ihnen weiter zu überlassen. Wenn diese Methode nicht befriedigend funktioniert, kann man zusätzlich still eine persönliche verbale Formel rezitieren, wie z.B. »Es atmet mich« oder »Mein Atem wird immer ruhiger und entspannter«. Es muss nicht ein traditionelles Mantra wie z.B. »OM AH HUM« sein! Solche Formeln wirken nicht über ihre inhaltliche Botschaft, sondern aufgrund ihrer gleichförmigen Schwingungen, die verhindern, dass sich spontan auftretende Gedanken Raum im Bewusstsein erobern können. Übrigens benutzt auch das Autogene Training verbale Formeln (wie z.B. »Mein rechter Arm wird ganz schwer«), um schnell in den Zustand der Tiefenentspannung zu gelangen.

In der Meditationsliteratur ist die These zu finden, dass die Meditation auch dann wirksam sein kann, wenn die Meditation ohne ein Aha-Erlebnis, ein »Erwachen« oder eine emotionale Erfahrung beendet wird.197 Aus der Sicht der hier entwickelten Theorie des Denkens kann das damit erklärt werden, dass im Zustand der gesteigerten Achtsamkeit unbewusste Denkprozesse angestoßen werden. Wenn sich z.B. die Achtsamkeit auf eine bestimmte Angst richtet, wird dies vom unbewussten Denken als ein zu lösendes Problem wahrgenommen. In der Meditation werden somit optimale Bedingungen für kreatives unbewusstes Denken hergestellt. Das Ergebnis drückt sich nicht unmittelbar im Bewusstsein aus, weil die gewohnheitsmäßige Disposition, alle inneren Denkprozesse direkt in Sprache zu übersetzen, ausgeschaltet ist. Das hat den Vorteil, dass es zu keinen Verfälschungen der Ergebnisse des Denkens kommen kann. Die erfolgreiche Integration der Ängste kann sich darin ausdrücken, dass im Alltag neuartige Handlungsimpulse auftreten. Impulse, die bisher durch Erwartungen und Überzeugungen überdeckt wurden, können jetzt unmittelbar zum Ausdruck kommen. Die Wirksamkeit der Meditation liegt also nicht darin, dass Erwartungen und Überzeugungen bewusst gemacht werden, die bisher das Handeln blockiert haben, sondern dass sie einfach entfallen. Sobald die Ängste ihre Kraft verlieren, können sich die persönlichen Regeln wie von selbst neu ordnen.

Aus dieser Sicht ist die übliche Theorie problematisch, dass die Meditation dazu verhilft, bewusst zu handeln, statt unbewusst zu reagieren.198 Oben wurde dargestellt, dass die Annahme eines Gegensatzes zwischen unbewusstem automatischem und bewusstem Reagieren dem Handeln nicht gerecht wird. Handeln erfolgt immer nach gelernten Gewohnheiten. Wenn für die aktuelle Situation keine angemessenen Gewohnheiten zur Verfügung stehen, wird nach neuen Verhaltensmustern gesucht. Die Meditation erleichtert diesen Suchprozess, weil die Ängste, die bisher situationsangemessene Verhaltensweisen verhindert haben, wegfallen und sich neue Verhaltensmuster bilden können.

Die Wirksamkeit der Meditation ist sicherlich auch damit zu begründen, dass es im Zustand der Tiefenentspannung leichter fällt, auftauchende Gedanken und Gefühle, die normalerweise als negativ bewertet werden, als eigene Gedanken zu akzeptieren. Die normale Bereitschaft, andere Personen, die Kindheit oder die Gesellschaft dafür verantwortlich zu machen, kann aufgegeben werden. So wie häufig der Erfolg der Psychotherapie davon abhängig gemacht wird, dass man die Verantwortung für alle Gedanken und Gefühle übernimmt, so kann auch die Meditation erfolgreich sein, weil spontan erkannt wird, dass man für alle seine Gedanken und Gefühle verantwortlich ist. Aber der Appell an den Meditierenden, Verantwortung für sich zu übernehmen, ist zwecklos.

Obwohl die Meditation im Kontext der buddhistischen Religion entwickelt wurde, ist sie im Grunde eine Form der Selbsttherapie. Der therapeutische Gesichtspunkt wird allerdings in den buddhistischen Meditationskonzepten abgelehnt. Meditation soll als eine zweckfreie, nicht zielgerichtete Aktivität, als ein Nicht-Tun begriffen werden. Da aber die Erfahrung zeigt, dass die Meditation durchaus die Funktion übernehmen kann, unverarbeitete Ängste zu integrieren, ist es sinnvoll, ihre therapeutische Funktion zu nutzen und die Meditation zielgerichtet als ein Mittel einzusetzen, um sprachlich bedingte Störungen im Handeln und Denken zu beseitigen. Anstatt die Meditation als eine Methode der Geistesschulung zu verselbständigen, sollte sie als ein kulturelles Ritual verstanden werden, das die Aufgabe hat, die volle Handlungsfähigkeit wiederherzustellen.

Wenn man die Meditation nüchtern aus der Sicht der Sprache betrachtet, fällt auf, dass in der Meditation Prozesse ablaufen, die sich letztlich der sprachlichen Fixierung entziehen. Nirgends sonst stößt man so sehr an die Grenzen der Sprache wie in der Meditation. Alle Begriffe, mit denen Meditationserfahrungen anderen mitgeteilt werden sollen, können nur versuchsweise Umschreibungen sein. Alles, was über Erfahrungen in der Meditation gesagt wird, ist nichts mehr als eine Interpretation mit untauglichen Begriffen aus der Welt der realen Erfahrung. Es gilt deshalb der Neigung zu widerstehen, Theorien über die äußere Realität zur Interpretation der meditativen Erfahrungen zu benutzen.

Mit dem Ritual der Meditation steht im Grunde ein Weg zur Verfügung, um seine Gewohnheiten zu verändern. Wie dargestellt, ist die Veränderung von Verhaltensgewohnheiten deshalb so schwierig, weil sich jeder Veränderung unbewusste Ängste entgegenstellen. Der Zustand der meditativen Tiefenentspannung hat den Vorzug, dass es dabei gelingen kann, die persönlichen Ängsten bewusst zu machen und dadurch ihre Kraft zu brechen.

Für viele Menschen ist die Meditation immer noch eine fragwürdige esoterische Praxis, bei der es primär um spirituelle Erfahrungen geht. Das liegt daran, dass die Meditation nach wie vor mit den traditionellen Zielen der Erleuchtung und des Erwachens oder mit dem Versprechen allgemeiner Erlösung verbunden wird. Auch wird behauptet, dass in der Meditation die Wahrheit der zentralen buddhistischen Erkenntnisse (die nicht-dualistische Struktur der Welt, die Einheit der Welt und das Leben im Hier und Jetzt) erfahren werden kann. Erst wenn die Meditation von allen Beimischungen von Esoterik, Mystik und Spiritualität gereinigt wird, kann sie in den Alltag integriert werden und ihre volle praktische Bedeutung entfalten.

In vielen Meditationsschulen wird gelehrt, die Meditation als Achtsamkeitsschulung in den ganzen Alltag einzubauen. Wenn man z.B. isst, soll das Bewusstsein ganz und gar beim Kauen, Schmecken und Schlucken verweilen und sich nicht durch Zeitunglesen oder Reden ablenken lassen. Eigentlich ist diese Empfehlung überflüssig. Wer frei von Ängsten handeln kann, befindet sich wie die kleinen Kinder ständig in einem meditativen Bewusstseinszustand. Er muss sich nicht anstrengen, seine Aufgaben mit ungeteilter Aufmerksamkeit selbstvergessen zu erledigen. Wenn sich dieser Bewusstseinszustand nicht automatisch einstellt, ist dies ein Zeichen dafür, dass noch unbewältigte Ängste vorhanden sind, die mit gezielten Meditationsübungen bearbeitet werden müssen. Insofern ist die Meditation als eigenständiges Ritual nur eine vorübergehende therapeutische Maßnahme.

Es spricht also vieles dafür, dass die Meditation als ein kulturelles Ritual erfunden wurde, um die Störungen, die von chronischen Ängsten ausgehen, auszugleichen und dadurch die Fähigkeit wiederherzustellen, im Hier und Jetzt zu leben. Letztlich geht es also bei der Meditation nicht darum, sich von der Sprache zu befreien, um die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist, oder das Denken zum Stillstand zu bringen, sondern die Ängste zu bewältigen, die den vorbehaltlosen Kontakt mit der Welt behindern. Das gelingt am besten, wenn man sich in einen meditativen Entspannungszustand bringt, in dem das innere sprachliche Selbstgespräch zum Stillstand kommt.

6.4. Die Heilkraft der Musik

»Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum.« (Friedrich Nietzsche)

Bei dem menschlichen Bedürfnis, sich von muskulären Verspannungen zu befreien, die bei der Arbeit, bei zwischenmenschlichen Auseinandersetzungen oder bei emotionalen Verletzungen entstanden sind, standen ohne Zweifel lange Zeit tänzerische Bewegungen, unterstützt durch Rhythmus- und Melodieinstrumente, im Vordergrund. Der Tanz kann eine entspannende Wirkung übernehmen, weil damit der gesamte Körper in zweckfreie, nicht auf äußere Zwecke gerichtete Bewegungen versetzt wird. Bei der musikalischen Begleitung des Tanzens tritt der Körper zusätzlich in Resonanz mit den Schwingungen der Musikinstrumente. Durch die intensiven rhythmischen Bewegungen wird die Atmung aktiviert und die verspannten Muskelzonen aufgeweicht. Da der Tanz immer in Gemeinschaft erfolgt, kann der Einzelne auch seine Beziehung zur Gruppe festigen und seine Ängste vor dem Verlust der Beziehung abbauen. Insofern hat der Tanz die doppelte Funktion, den verspannten Körper mit zwanglosen Bewegungen zu lockern und die sozialen Beziehungen zu stärken. Interessanterweise ist die Grundbedeutung von Spiel eine lebhafte Bewegung. Offensichtlich bestand das ursprüngliche Spiel aus Tanzen. Alle später entwickelten zweckfreien Bewegungen wurden deshalb in Analogie zum Tanz gesehen. Spiel war lange Zeit ausschließlich Bewegungsspiel.

Sicherlich ist der Tanz die Keimzelle der Musik. Die Menschen haben vermutlich bereits getanzt, als sie weder Melodieinstrumente besaßen noch singen oder sprechen konnten. Es kann angenommen werden, dass die ältesten Musikinstrumente, wie z.B. die Knochenflöten, im Dienst des Tanzens standen. Die Entwicklung der Musik war lange Zeit daran orientiert, das Tanzen zu unterstützen. So wird in der Musikwissenschaft die These diskutiert, dass sich die klassische Musik aus der barocken Tanzmusik heraus entwickelt hat.

Um die starke Faszination zu verstehen, die die Musik auf die Menschen ausübt, muss man von der ursprünglichen Einheit von Tanz und Musik ausgehen. Wenn viele Menschen spüren, dass sie die Musik direkt körperlich ergreift, liegt das an der Neigung der Menschen, sich auf alle wahrgenommenen Bewegungen einzuschwingen, also in Resonanz mit ihnen zu gehen. Bereits Säuglinge reagieren auf rhythmische Laute mit rhythmischen Bewegungen, so dass die Neigung besteht, darin eine angeborene Fähigkeit zu sehen. Die tiefe beruhigende und ausgleichende Wirkung der Musik kommt demnach dadurch zustande, dass man sich von den Bewegungen der Musik bewegen lässt. Sie ist umso größer, je mehr die Bewegungen der Musik in ganzkörperliche Bewegungen umgesetzt werden.

Üblicherweise wird die Wirkung der Musik damit erklärt, dass sie Gefühle nachahmt und Gefühle auslöst. Die emotionale Stimulierung durch die Musik ist nicht zu bestreiten, aber offensichtlich ist der Zusammenhang zwischen der Art der Musik und der Art der beim Einzelnen ausgelösten Gefühle sehr locker. Ob und welche Gefühle ausgelöst werden, ist vom Zustand des Einzelnen abhängig. Es ist deshalb bisher nicht gelungen, in Analogie zur Sprache die spezifische Bedeutung der Musik zu erfassen. Es spricht vieles dafür, dass die stimulierten Gefühle nur Nebenwirkungen der Musik sind und dass sie sich primär dem durch die Musik bewirkten Entspannungszustand verdanken, so wie auch in der meditativen Entspannung Gefühle durchbrechen können. Deshalb kann die Wirkungsweise der Musik nicht mit ihrer Wirkung auf die Gefühle erklärt werden. Es wäre eine Fehleinschätzung der Musik, wenn sie als Sprache der Seele bezeichnet wird. Ebenso falsch wäre es zu sagen, dass die Musik für die Seele da sei.

In der Musikwissenschaft wird die These diskutiert, dass sich die Musik aus der Sprache heraus entwickelt hat. Es wird davon ausgegangen, dass jede Sprache ihre eigene Melodie und einen ganz spezifischen Rhythmus hat. Musik und Sprache haben die Gliederung in Phrasen (Sätze) gemeinsam. Bereits Säuglinge erkennen ihre Mutter an deren Sprachmelodie und -rhythmus, wobei wahrscheinlich der Rhythmus wichtiger ist als die Melodie. Robert Jourdain kommt nach Prüfung aller Argumente zu dieser These zum Ergebnis, dass zwischen Sprache und Musik wenig Ähnlichkeit besteht.199 Auch aus neurologischer Betrachtung kann die These, dass sich die Musik der Sprache verdankt, nicht unterstützt werden.

Die Tatsache, dass Musik die Menschen unmittelbar anspricht, spricht dafür, dass sie wie die Sprache etwas überträgt. Ihre Botschaft besteht aber nicht darin, etwas über die Realität zu berichten, sondern sie will den Zuhörer direkt ins Mitschwingen versetzen. Sprachliche Laute sind Schwingungen, die Bewegungsregeln symbolisieren. Musikalische Laute sind Schwingungen, die nichts außerhalb von sich selbst symbolisieren. Die Menschen verstehen deshalb Musik auf andere Weise, als sie die verbale Sprache verstehen. Über die Musik kommen die Menschen mit ihrer inneren Schwingungsnatur in Kontakt. Dadurch, dass die Musik frei von ablenkenden inhaltlichen Assoziationen wie die Sprache ist, gelingt es ihr besser als die Sprache, Resonanz beim Zuhörer auszulösen. Da die Menschen ein tiefes Bedürfnis haben, ihre eigene Schwingungsnatur zu spüren, lieben sie die Musik.

Musik hat somit den Vorzug, dass sie unmittelbar verstanden werden kann. Das gilt allerdings nur, wenn man sich über viele Jahre mit den Gesetzen der Musik seiner Kultur vertraut gemacht hat. Für Menschen aus dem Abendland wird Musik aus orientalischen Kulturen nicht verstanden, weil man wegen der Unkenntnis ihrer Gesetze nicht in der Lage ist, die nächsten Töne zu antizipieren und längere Phrasen zu erfassen.

Die Schamanen und Priester wissen, wie durch Akzentuierungen, übertriebene Artikulation, Wiederholung von rituellen Formeln (salbungsvolle Rede) u.Ä. die Sprache zu einer Art Musik wird, die tiefe Wirkung auf ihre Zuhörer ausübt. Die Sprache ist insofern eine Form von Musik, die ihre Schwingungsnatur verleugnet. Indem der Akzent auf die Übermittlung von inhaltlichen Botschaften gelegt wird, tritt das musikalische Element der Sprache in den Hintergrund und kann sie so eine unbewusste Wirksamkeit entfalten.

Einzig das Singen verdankt sich direkt der Sprache. Der Gesang nutzt die bereits in der Sprache enthaltene musikalische Dynamik. In den Gesang kann mehr von der persönlichen emotionalen Befindlichkeit als in die Sprache eingehen. Wie das gemeinsame Tanzen hat das gemeinsame Singen nicht nur eine gemeinschaftsstiftende Funktion, sondern hat auch eine starke ausgleichende seelische Wirkung. Nichts kann mehr Ängste zerstreuen als gemeinsamer Gesang. Singen hat deshalb ein großes therapeutisches Potential. Menschen, die nach einem Schlaganfall in der linken Gehirnhälfte die Sprache verloren haben (Aphasie), können in vielen Fällen durch Singen ihre Sprachfähigkeit deutlich verbessern. Das wird damit erklärt, dass die rechte Gehirnhälfte, in der die emotionalen und melodischen Anteile der Sprache verarbeitet werden, verstärkt für die Sprache genutzt wird.

Diese Überlegungen sprechen dafür, dass alle Therapien mit Instrumentalmusik, Singen und Tanzen ihre Wirkung daraus beziehen, dass sie letztlich Bewegungstherapien sind. Es ist daran zu erinnern, dass auch mit reiner Bewegungstherapie mentale Defizite beseitigt werden können. Bewegungstherapien haben die Aufgabe, die körpereigenen Selbstheilungskräfte zu aktivieren, die unter dem Druck von Ängsten und den damit verbundenen muskulären Verspannungen beeinträchtigt wurden. Zu den Selbstheilungskräften gehört nicht nur das Potential, körperliche Verletzungen aus eigener Kraft zu heilen, sondern auch die Fähigkeit, psychische Ungleichgewichte, die durch emotionale Verletzungen entstanden sind, auszugleichen. Die psychischen Selbstheilungskräfte äußern sich im inneren Impuls, sich intensiv zu bewegen, um innere Unruhe und Angst zu beseitigen. Andere Reaktionen sind, sich gegenüber Verletzungen zur Wehr zu setzen, zu trauern, um Verluste zu verarbeiten, sich selbst und anderen Menschen zu vergeben, um den Ballast der Vergangenheit abzuschütteln u.Ä. Die Aufgabe der Bewegungstherapien kann deshalb auch damit umschrieben werden, dass sie dazu beitragen, den Organismus in einen relativ entspannten Zustand zurückzuversetzen, in dem sich die Selbstheilungskräfte entfalten können.

Diese Überlegungen bedeuten, dass die Selbstorganisation am besten funktioniert, wenn die inneren Kommunikationsprozesse ungestört ablaufen können. Das ist nicht der Fall, wenn sich einzelne Organe wegen Unter- oder Überforderung nicht im optimalen Gleichgewichtszustand befinden. Da blockierte Kommunikationsprozesse stets mit muskulären Verspannungen in bestimmten Körperzonen verbunden sind, wird dadurch die Atmung eingeschränkt. Verminderte Atmung ist deshalb immer ein Zeichen für geschwächte Selbstheilungskräfte.

Die oben geäußerte Behauptung, dass Tanz und Musik ursprünglich eine Einheit gebildet haben, kann jetzt aus der Sicht der körperlichen Selbstorganisation besser verstanden werden. Da der Körper aus einer Vielzahl von störungsanfälligen dialogischen Bewegungsprozessen und Kreisläufen besteht, kann eine innere Blockade nur durch äußerlich stimulierte Bewegungen wieder in Fluss gebracht werden. Da die Störungen von außen gekommen sind, muss auch der Heilungsimpuls von außen kommen. Das bedeutet, dass Verletzungen am besten im sozialen Dialog ausheilen. Tanz und Gesang haben dabei einen eindeutigen Vorrang, weil sie sich am besten dafür eigenen, den aufgrund von Ängsten verspannten Körper wieder in einen ausgeglichenen Muskeltonus zu bringen. Es kann sich dabei die Überzeugung bilden, dass die Gründe für die Angst, dass sich die Verletzung wiederholen könnte, nicht mehr fortbestehen. Deshalb sind Entspannungsrituale zu bevorzugen, die im sozialen Raum ablaufen. Idealtypisch sind dies die zweckfreien, spielerischen Tanzbewegungen. Da der Tanz früher immer Gemeinschaftstanz war, war seine Entspannungswirkung immer in gemeinsame, Vertrauen herstellende soziale Aktivitäten eingebunden. Wenn dagegen die Entspannung in der sozialen Isolation angestrebt wird, wie das bei der Meditation der Fall ist, muss die heilende Wirkung begrenzt bleiben.

6.5. Kritisches Verhältnis zur Sprache

»Geistreicher und schöner als Sprachkritik wäre ein Versuch, sich der Sprache auf magische Weise zu entwinden, wie es in der Liebe der Fall ist.« (Hugo von Hofmannsthal)

Wie oben dargestellt wurde, sind alle Begriffe, die für das Verständnis innerer Prozesse entwickelt wurden, abstrakte Allgemeinbegriffe. Wenn man sie benutzt, muss man stets eingedenk bleiben, dass es nur Hilfsbegriffe sind, die auf komplexe innere Prozesse verweisen, die sich nicht so eindeutig identifizieren lassen, wie das bei sinnlichen Gegenständen möglich ist. Das gilt nicht nur für die philosophischen Begriffe wie Geist, Seele, Ich, Verstand, Einbildungskraft u.Ä., sondern auch für die psychologischen Begriffe wie Selbstvertrauen, Widerstandskraft, Phantasie, Sensibilität, Wille, Willensstärke, Durchsetzungsvermögen u.Ä.

Jeder abstrakte Allgemeinbegriff muss daraufhin überprüft werden, ob er für den beabsichtigten Zweck tauglich ist. So kann ein lebendiges Bewusstsein dafür entstehen, dass sich in der Sprache nicht die Wirklichkeit darstellt, sondern dass die Sprache nur ein Hilfsmittel ist, Botschaften für andere Menschen zu formulieren und zu empfangen. Dazu gehört zu wissen, dass Botschaften darin bestehen, wie etwas getan oder erreicht werden kann. Wie die Wirklichkeit wirklich ist, interessiert praktisch handelnde Menschen nicht.

Da die Sprache nahelegt, beim Reden über innere Prozesse aktive Verben zu verwenden (»ich denke«, »ich fühle«, »ich träume« u.Ä.), kann der falsche Eindruck entstehen, dass es sich dabei auch um aktiv gestaltete Prozesse handelt. Aber die Sprache bietet als Alternative nur die passivische Verwendung von Verben an (»ich werde gedacht«). Da dies die Verhältnisse auch nicht richtig wiedergibt, bleibt keine andere Wahl, als ein angemessenes Verständnis von der Qualität der inneren Prozesse zu haben, um nicht von der Sprache zu einem falschen Selbstverständnis gezwungen zu werden.

Im Hinblick auf die magische Kraft der Worte wird oft empfohlen, auf Negativformulierungen wie »nicht«, »kein« oder »nie« zu verzichten, da sie sich negativ auf den Sprecher auswirken würden. Das kann damit erklärt werden, dass persönliche Überzeugungen, die das eigene Handeln lähmen, durch Negativformulierungen bestätigt werden, so dass man noch tiefer in die Ohnmacht hineingerät, in der man sich bereits befindet. Negativformulierungen schädigen, weil sie mit einer Bejahung der eigenen Ängste verbunden sind, die die eigentliche Ursache für die Blockierung sind. Deshalb kann die Empfehlung, Negativformulierungen zu vermeiden, nichts an den blockierenden Ängsten ändern. Der häufig zu hörende Rat, behutsam mit der Sprache umzugehen, ist gut gemeint, aber kaum umzusetzen. Es ist vernünftiger, einen häufigen Gebrauch von Negativformulierungen als Signal dafür zu nehmen, dass man vor bestimmten Situationen Angst hat. Es sollte versucht werden, die Angst zu bewältigen und ihr mit mutigem Handeln den Boden zu entziehen.200

Zum kritischen Umgang mit der Sprache gehört vor allem, dass man ein scharfes Bewusstsein für ihre zahlreichen Metaphern entwickelt, die in der Umgangssprache verwendet werden. Da sich die Metaphern tief in die Sprachgewohnheiten eingeschlichen haben, ist dies keine leichte Aufgabe. Im Grunde braucht man dabei eine stärkere Unterstützung durch die wissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit Sprachkritik beschäftigen, also Philosophie und Psychologie. Auch die vorliegende Arbeit stellt einen Versuch dar, auf einige zentrale Metaphern aufmerksam zu machen.

Wenn man ein reflektiertes Verständnis der Sprache gefunden hat, kann man sich leichter davor schützen, dass man von den Worten anderer Menschen verletzt wird. Wer die Funktion der Sprache durchschaut hat, lässt sich nicht beleidigen, kränken oder verfluchen und vermeidet es, sich durch falsches Denken zu blockieren.

Ein kritisches Verhältnis zur Sprache äußert sich auch in einem skeptischen Verhältnis gegenüber Theorien. Jede Theorie erscheint von Haus aus verdächtig, zumal wenn ihre Thesen sehr umständlich begründet werden. Wenn z.B. Platon in seinem Werk Phaidon die Theorie der Unsterblichkeit der Seele mit vielen Worten begründet, ist dies bereits ein Argument gegen diese Theorie. Zum kritischen Verhältnis zur Sprache gehört auch die Überzeugung, dass die eigentliche Ursache für das eigene Unbehagen niemals eine falsche Wahrnehmung oder eine unzureichende Erkenntnis der Realität ist. Das Unbehagen ist entweder darin begründet, dass den eigenen Impulsen der Zugang zum Handeln verwehrt wird, meist mit Hilfe von persönlichen Glaubenssätzen und Überzeugungen, oder dass man nicht bereit ist, die Verhältnisse so zu akzeptieren, wie sie sind.

Theorien, die dem praktischen Handeln helfen, lassen sich meistens auf knappe Lebensweisheiten reduzieren. Regeln für die Lebensführung brauchen nicht theoretisch begründet werden. Sie legitimieren sich allein durch ihre praktische Brauchbarkeit.

Im Grunde muss dem Gebrauch der Sprache genauso viel meditative Achtsamkeit zuteilwerden, wie dies für das normale Handeln gefordert wird. Da jedem Sprechen ein inneres Handeln zugrunde liegt, wird sich eine durch Meditation gewonnene Achtsamkeit im alltäglichen Handeln auch auf den Gebrauch der Sprache auswirken.

Sprechen verlangt, dass man sich kritisch gegenüber der Sprache verhält. Da Sprechen ein Handeln ist, muss wie beim normalen Handeln ständig geprüft werden, ob das angestrebte Ziel (z.B. der Verständigung) erreicht wird. Unterbleibt die sprachliche Selbstreflexion, verliert die Sprache ihr kreatives Potential.

6.6. Kritisches Denken

»Das Herz hat Gründe, von denen die Vernunft nichts weiß.« (Blaise Pascal)

Die beliebte Empfehlung, mit dem Herzen zu denken, lässt den Eindruck entstehen, dass es eine geheime Form des Denkens gibt, die zu tiefgründigeren und menschlicheren Gedanken führt. Sie ist von der Überzeugung getragen, dass das Herz die Quelle von Weisheit ist. Seitdem entdeckt worden ist, dass im Herz neuronale Zellen existieren, die mit dem limbischen System im Gehirn verbunden sind, scheint es eine Tatsache zu sein, dass auch das Herz denken kann und dass hier Entscheidungen getroffen werden. Wenn man aber bedenkt, dass die neuronalen Zellen die Funktion haben, Bewegungen zu koordinieren, kann aus ihrer Existenz im Herz keineswegs gefolgert werden, dass das Herz im üblichen Sinne denken kann. Außerdem ist mit 40.000 die Zahl der neuronalen Zellen viel zu gering, um damit die Fülle der Regeln kombinieren zu können. Es ist naheliegender anzunehmen, dass das Herz mit dem limbischen System rückgekoppelt ist, damit emotionale Handlungsprogramme ausgeführt werden können.201 Aus diesen Überlegungen folgt, dass die Empfehlung, mit dem Herzen zu denken, bloß eine Metapher dafür ist, dass man sich von seinen Gefühlen leiten lassen soll.

Aber die Empfehlung, sich von seinen Gefühlen leiten zu lassen, ist sehr irreführend. Denn das Denken leidet gerade darunter, dass es zu stark von Gefühlen beherrscht wird, insbesondere von persönlichen Ängsten. Die Gedanken werden unbewusst an die Erwartungen anderer Menschen angepasst, um Ärger oder Strafen zu vermeiden. Viele Gedanken werden unterdrückt, weil sie zu Konflikten mit den herrschenden Konventionen führen könnten, oder aus Angst vor Verunsicherung nicht überprüft. Bei der Empfehlung, sich von seinen Gefühlen leiten zu lassen, wird offensichtlich fälschlicherweise unterstellt, dass die positiven Gefühlen der Liebe und Begeisterung tonangebend sind, und übersehen, dass überwiegend Ängste bestimmend sind. Da die Gefühle spontan auftreten, lässt sich nicht steuern, von welchen Gefühlen man bestimmt wird. Deshalb ist die Empfehlung, auf die Gefühle zu hören, nicht nur völlig unbrauchbar, sondern auch kontraproduktiv!

Die Empfehlung, mit dem Herzen zu denken, ist offensichtlich der Ausdruck der Hoffnung, dass die Defizite des Denkens dadurch überwunden werden können, dass eine bessere Form des Denkens entwickelt wird. So wird ganzheitliches, leibliches, weibliches, bildhaftes oder mimetisches Denken gefordert, das in den Gegensatz zum linearen, logischen, männlichen, abstrakten oder geregelten Denken gesetzt wird. Aber die Erwartung, dass das schlechte Denken mit gutem Denken ersetzt werden könne, ist illusionär. Nach den bisherigen Überlegungen in diesem Buch gibt es nur die eine Form des unbewussten Denkens. Die scheinbar unterschiedlichen Formen kommen dadurch zustande, dass entweder ein Aspekt des Denkens verabsolutiert wird, oder dass die Ziele des Denken vernachlässigt werden und dass übersehen wird, dass die Defizite des Denkens darauf zurückzuführen sind, dass Angst im Spiel ist.

Vermutlich kommen alle Denkfehler dadurch zustande, dass das Denken aus Angst frühzeitig abgebrochen wird. Das Denken nimmt Fehler in Kauf, wenn es Begriffe nicht hinterfragt, Denkmuster unreflektiert angewendet, Gedanken nicht kontrolliert oder Gedanken ungeprüft von anderen übernimmt. Im Allgemeinen wird die Konformität mit den Regeln der Gruppe wichtiger als selbständiges, kritisches Denken genommen.

Da Ängste der Hauptfeind des selbständigen Denkens sind, ist die wichtigste Voraussetzung für kreatives Denken, dass die persönlichen Ängste bewusst gemacht und integriert werden. Alle Behauptungen, dass die Menschen zu einem neuen Denken gelangen müssen, lenken von dieser zweifellos schwierigen Aufgabe ab. Man sollte sie sehr skeptisch betrachten, da alle angeblich neuen Denkformen bisher nichts anderes als Zauberformeln waren. Selbständiges Denken zeichnet sich dadurch aus, dass es sich ausschließlich auf die eigenen Erfahrungen verlässt, aber deren Verarbeitung dem unbewussten Denken überlässt. Die Art der Verarbeitung kann nicht durch von außen vorgegebene Methoden, sondern nur durch achtsame Aufbereitung der Erfahrungen verbessert werden. Selbständiges Denken ist ein kritisches Denken, weil es erfahren hat, dass Gedanken fehlerhaft sein können und sich im Handeln bewähren müssen. Gedanken, die sich nicht überprüfen lassen, werden nicht verworfen, sondern werden als gute Hypothesen betrachtet, solange sie helfen, die Erfahrungen zu ordnen und zu interpretieren.

Obwohl das Denken unbewusst abläuft, bedeutet das keineswegs, dass man keine Verantwortung für das eigene Denken hat. Es kann ohne Zweifel auf vielfältige Weise gefördert werden:

1) Je mehr Erfahrungen über den ganzen Bereich eines Problems gesammelt werden, umso besser sind die Ergebnisse des unbewussten Denkens. Es geht aber nicht nur darum, alles bekannte Wissen zu sammeln, sondern es muss auch kritisch angeeignet werden, damit daraus Regeln abgeleitet werden können.

2) Sehr förderlich für kreatives Denken ist, wenn man sich einen kritischen Blick für die Metaphern in der Sprache erarbeitet.

3) Wer die engen Grenzen des menschlichen Denkvermögens kennt, insbesondere seine Neigung, alles nach dem Modell des menschlichen Handelns zu interpretieren, ist vorsichtig mit Verallgemeinerungen und stellt alle Gedanken immer wieder auf den Prüfstand.

4) Je mehr man sich seiner eigenen verinnerlichten Regeln bewusst ist, umso eher ist man bereit, sie zu reflektieren. Man wird Ratschlägen von Experten misstrauen, die sich auf Aktivitäten in einem instabilen Umfeld beziehen (z.B. Aktienkauf).

Der beste Weg, sein Denkvermögen zu steigern, ist ein kritisches Verhältnis zur Sprache. Dann wird nicht so schnell vergessen, dass es prinzipiell ausgeschlossen ist, das Gedachte korrekt und unmissverständlich ausdrücken, und dass neue Problemlösungen meistens zunächst einmal auf Unverständnis stoßen.

6.7. Wider den Bewegungsmangel

»Wer sich nicht selbst helfen wird, dem kann niemand helfen.« (Hans A. Pestalozzi, schweizerischer Publizist)

Die Industrialisierung der Arbeit, die Mechanisierung der Hausarbeit, die Motorisierung der Fortbewegung u.a. haben zu einem dramatischen Bewegungsmangel bei vielen Menschen geführt. Bereits kleine Kinder bevorzugen die zum Stillsitzen zwingenden Computerspiele, anstatt sich den traditionellen Bewegungsspielen zuzuwenden. Im meinem Buch »Geliebte Fesseln« wurde begründet, warum regelmäßige körperlich anstrengende Aktivitäten erforderlich sind, um die Vitalität des Körpers (also Kraft der Muskulatur, Stärke des Immunsystems, Belastbarkeit des Kreislaufsystems u.a.) auf hohem Niveau zu erhalten.202 Es ist deshalb nicht erforderlich, diese Argumente an dieser Stelle zu wiederholen.

Müßiggang darf nur eine Pause im Tätigsein und kein Dauerzustand sein. Wenn jemand gesundheitliche Probleme hat, gehört zur Analyse der Ursachen immer auch und zuallererst die Frage, ob der Körper ausreichend und regelmäßig durch Handeln beansprucht wird. Es wäre deshalb töricht, sich blindlings auf die Selbstheilungskräfte des Körpers zu verlassen. Vielmehr muss die Verantwortung für die Stärke der Selbstheilungskräfte durch ein aktives Leben übernommen werden.

7. Fazit

»Hätten wir das Wort, hätten wir die Sprache, wir bräuchten die Waffen nicht.« (Ingeborg Bachmann)

Die vorliegende Analyse der Sprache und des Denkens hat zu der Erkenntnis geführt, dass der Begriff der Regel der Schlüsselbegriff für das Verständnis des menschlichen Denkens und Handelns ist. Es wurde herausgearbeitet, dass die Regeln die Bausteine des Denkens und die Richtschnur des Handelns sind. Es hat sich gezeigt, dass mit diesem Ansatz viele bisher ungelöste philosophische Probleme geklärt werden können.

Abschließend soll noch die Frage diskutiert werden, welche Aufgaben sich aus der vorliegenden Analyse für die Philosophie ergeben. Dabei wird Philosophie nicht als Fachdisziplin, sondern als ein Kürzel für das Denken verstanden, das sich um die Regeln kümmert, mit denen die Menschen ein gelingendes Leben organisieren können. Außerdem soll versucht werden, eine Bilanz zu ziehen, wie sich das Leben der Menschen durch die Sprache verändert hat. Sind die Menschen durch die Sprache glücklicher geworden?

7.1. Unvollständige Aufklärung

»Die Sprache ist ein unvollkommenes Werkzeug. Die Probleme des Lebens sprengen alle Formulierungen.« (Antoine de Saint-Exupéry)

Der Prozess der Aufklärung begann nicht erst im 17. Jahrhundert, sondern bereits im 5. Jahrhundert v. Chr., als einige griechische Philosophen die überkommenen mythologischen Weltbilder kritisierten, um das Denken von religiösen Vorurteilen zu befreien. Als mythologisch wurden alle Vorstellungen diskriminiert, die die Fragen nach der Entstehung der Welt, dem Ziel der Geschichte, dem Sinn der Lebens, der Ursache von Geburt und Tod u.a. mit dem Wirken von Göttern oder Helden erklärten. Es wurde erkannt, dass die Menschen die Götter nach dem menschlichen Vorbild erdacht haben. Der Aufklärungsprozess konnte sich aber erst nach dem 17. Jahrhundert richtig durchsetzen, weil jetzt unübersehbar war, dass die religiöse Weltsicht mit der Welt von industrieller Produktion und internationalem Handel unvereinbar ist. Das Programm der Aufklärung, das Denken von Mythen zu befreien, wurde erneut mit Schwung in Angriff genommen.

Ein entscheidender Schritt im Aufklärungsprozess war, dass die magische Identifizierung von Wort und Sache aufgedeckt wurde. Wenn die Wörter als von Menschen geschaffene Zeichen durchschaut werden, verlieren sie ihre magische Wirkung. Es entsteht die Chance, sich kritisch mit den historisch überkommenen Bedeutungen der Begriffe auseinanderzusetzen und das von den traditionellen Begriffen geprägte Selbstverständnis an die veränderte Wirklichkeit anzupassen. Die Sprache, die überhaupt erst die mythischen Weltbilder ermöglicht hat, ist zugleich der Motor für die Aufklärung als der Befreiung von verzerrenden Weltbildern. Dieser Prozess findet in politischen Diskussionen von Menschen statt, die die politische Herrschaft bekämpfen, indem sie deren theoretischen Rechtfertigungen kritisieren.

Im Grunde ist die Aufklärung auch heute noch nicht an ihr Ziel angekommen. Das ist in erster Linie daran abzulesen, dass im kulturellen Selbstverständnis noch an der Überzeugung festgehalten wird, dass die Menschen souveräne Subjekte seien, die bewusst und zweckrational ihr Handeln steuern können. Das Konzept des souveränen Subjekts geht auf den Begriff des Geistes zurück, der sich in Klassengesellschaften herausgebildet hat. Angesichts der alltäglichen Erfahrung von Fremdbestimmung durch politische und religiöse Herrscher wurde angenommen, dass auch im eigenen Organismus eine Herrschaftsinstanz existiert, der der Name Geist gegeben wurde. Dem Geist wurde die Funktion zugesprochen, den Körper zu führen. Das Konzept des souveränen Subjekts erweist sich als ein Mythos, da das menschliche Verhalten weitgehend von unbewussten Gewohnheiten gesteuert wird. Solange an dem »Ich« oder dem »Geist« als selbständigen Bewusstseinsinstanzen festgehalten wird, die das Handeln bewusst steuern, ist die Aufgabe der Aufklärung, das Denken von Mythen zu befreien, unvollendet.203

Es wurde in diesem Buch immer wieder darauf hingewiesen, dass der Geist bloß ein Begriff ist, der den Zweck hat, das Nachdenken über das Denken zu erleichtern. Es wurde die These vertreten, dass das Denken besser verstanden werden kann, wenn auf diesen Begriff völlig verzichtet wird. Denn der Begriff des Geistes lässt an der falschen Polarisierung von Körper und Geist, Materie und Geist festhalten und verhindert, dass das Denken konsequent aus der Perspektive des Handelns begriffen wird. Da der Begriff des Geistes außerdem mit der Überzeugung von der Existenz einer inneren geistigen Instanz verbunden ist, muss er als Restbestand mythologischen Denkens dechiffriert werden.

Wenn man bedenkt, dass der Begriff »Geist« ursprünglich aus dem Begriff des Atems abgeleitet wurde, ist es merkwürdig, dass angesichts dieser erstaunlichen Verbindung bisher nicht philosophisch gefragt worden ist, was das für das Verständnis des Menschen bedeutet. Da der Atem im Angelpunkt vieler alter orientalischer philosophischer und religiöser Konzept stand, ist dies umso überraschender. Sicherlich war auch am Anfang der abendländischen Kultur ein tiefes Verständnis für die Bedeutung des Atems vorhanden. Im Alten Testament lässt Gott die Menschen dadurch entstehen, dass er seinen Atem in einen Klumpen Lehm einhaucht. Die Menschen waren überzeugt, dass das Leben mit dem ersten Atemzug beginnt und mit dem letzten endet. Wenn es im Johannes-Evangelium heißt: »Am Anfang war das Wort«, so ist das vermutlich eine Fehlübersetzung der Urschrift in das griechische Wort »logos«. Die tiefe Verwandtschaft des griechischen Wortes »logos« mit der Seele und dem Atem ist unübersehbar. Diese Beispiele zeigen, dass auch die Ursprünge des abendländischen Denkens von der Erfahrung des Atems geprägt waren.

Die Herkunft des Begriffs »Geist« aus dem Begriff des Atems ist nicht zufällig. Denn bei jedem Versuch, die rätselhaften inneren Phänomene des Denkens zu verstehen, stößt man sofort darauf, dass sie mit dem Atem verbunden sind. Beim Sprechen wird der Atem benutzt, um damit die begrifflichen Laute zu formen. Da das Denken als ein inneres Gespräch mit sich selbst begriffen wurde, schien auch das Denken vom Atem abhängig zu sein. Auch die Gefühle sind unübersehbar Phänomene, die vom Atem abhängen. Wie oben bereits erwähnt wurde, hat jedes Gefühl ein charakteristisches Atemmuster. Die Menschen wissen, dass sie nur kreativ denken können, wenn ihr Atem ruhig und ausgeglichen ist. Wenn sie unglücklich sind, ist der beste Weg, zur inneren Ruhe zurückzufinden, den Atem zu beruhigen. Oben wurde dargestellt, dass letztlich alle kulturellen Rituale dieses Ziel im Auge haben. Da sich einerseits die menschliche Sprache als Ausdruck des Geistigen dem Atem verdankt und andererseits der Atem ein Bestandteil der körperlichen Welt ist, wurde der Atem häufig als die Schnittstelle zwischen der geistigen und der körperlichen Welt begriffen. Daraus erklärt sich, warum der Atem in vielen alten Kulturen als der Angelpunkt des Weltverständnisses angesehen wurde.

Dass der Begriff des Atems von der abendländischen Philosophie völlig ignoriert wurde, kann damit erklärt werden, dass der Geist von Beginn der griechischen Philosophie an zu einer eigenständigen immateriellen Instanz mystifiziert wurde. Zugrunde lag vermutlich das Bedürfnis einer kriegerischen Gesellschaft, den Geist als etwas Höherwertiges und den Körper als etwas Minderwertiges zu behandeln. Soldaten sind umso stärker, je mehr sie ihren Körper missachten. Die berühmte Metapher von Platon, dass der Körper das Gefängnis der Seele ist, beleuchtet schlagartig die Körperfeindschaft der antiken Philosophie. Die herrschenden Schichten konnten ihren Herrschaftsanspruch damit begründen, dass ihr hoch entwickelter Geist den Körper lenkt, während alle anderen Menschen von ihrem Körper beherrscht werden und deshalb einer politischen Führung bedürfen.

Auch der Begriff der Vernunft, der Schlüsselbegriff der Aufklärung, ist letztlich ein Mythos. Es wurde oben begründet, dass die Vernunft keine innere Instanz ist, die aus eigener Kraft die Wahrheit aufdecken kann. Der Appell an die Vernunft ist ohnmächtig. Er übersieht, dass sich der Einzelne nicht mit Hilfe seines eigenen Denkens aus dem Käfig seiner Denk- und Verhaltensgewohnheiten befreien kann. Die Überwindung ungerechter, unterdrückender Lebensbedingungen setzt starke Gefühle der Ungerechtigkeit und der Empörung voraus. Ob diese Gefühle das Handeln anstoßen, hängt davon ab, dass auch andere Menschen von solchen Gefühlen zum Handeln gedrängt werden. Denn nur in gemeinsamen Aktionen können unterdrückende Lebensbedingungen überwunden werden. Die Gefühle geben mit ihren Bewertungen die Richtung der erforderlichen Veränderungen vor, aber die Vernunft ist nicht dazu in der Lage, endgültig zu bestimmen, welche Lebensverhältnisse auf Dauer mehr Gerechtigkeit und Solidarität garantieren. Das kann nur im Handeln ausprobiert werden. Wahrscheinlich ist das aktuelle Fehlen von gesellschaftlichen Utopien ein Ausdruck dafür, dass das Denken allmählich seine Begrenztheit erkennt.

Die wesentliche Hürde im Prozess der Aufklärung ist das weiterhin unreflektierte Verhältnis der Menschen zu ihrer Sprache. Es ist kaum ins Bewusstsein gedrungen, dass sich die abstrakten Begriffe wie Wille, Seele, Geist, Bewusstsein, Wahrheit, Freiheit, Einbildungskraft u.Ä. nicht auf die Wirklichkeit beziehen, sondern dass es sich dabei um denkpraktische Abkürzungen für komplexe innere Prozesse handelt. Ebenso ist bisher nur am Rande über die negativen Folgen der Sprache für das Glück und das Wohlbefinden der Menschen nachgedacht worden. Da die Philosophie mit der Sprache entstanden ist, muss aus der Sicht der hier entwickelten pragmatischen Sprachtheorie ihre Hauptaufgabe darin bestehen, kritisch zu untersuchen, wie die Sprache die Qualität des Denkens beeinflusst. Alle Theorien müssen immer wieder daraufhin überprüft werden, ob in ihnen noch mythologische Personalisierungen stecken. Das gilt auch für die Theorien der Naturwissenschaften. Wahrscheinlich werden die überzogenen Erklärungsansprüche der Gehirnforschung eines Tages als moderne Mythologie dechiffriert. Dasselbe gilt für das naturwissenschaftliche mechanistische Weltbild.204

Wenn der Philosophie die Aufgabe zugewiesen wird, ihre zentralen Probleme auf eine Weise zu dechiffrieren, dass deutlich wird, dass sie durch die Sprache selbst erzeugt wurden, bedeutet das, dass es sich bei ihren Problemen in der Regel nicht um reale Probleme handelt, die vom Handeln aufgeworfen wurden, sondern um sprachlich bedingte Pseudoprobleme. So sind z.B. die philosophischen Probleme, ob das Wesen der Dinge erkennbar ist oder wie Körper und Geist zusammenhängen, rein sprachlich bedingte Probleme, weil den abstrakten Begriffen »Wesen« und »Geist« nichts sinnlich Wahrnehmbares entspricht. Wenn diese Begriffe kritisch hinterfragt werden, fallen die durch sie angeregten Probleme in sich zusammen. Dasselbe gilt für die Frage nach dem Sein oder nach dem Guten. Alle Fragen, die sich um abstrakte Allgemeinbegriffe ranken, die wie Fetische behandelt werden, führen zu uferlosen und ergebnislosen Debatten, weil sie ohne den tragenden Grund der sinnlich wahrnehmbaren Realität behandelt werden.

Zweifellos verbirgt sich hinter den meisten philosophischen Problemen ein praktischer Kern. So steckt hinter der Frage nach der Seele die Frage, wie es zu erklären ist, dass sich Gedanken oder Gefühle wie von selbst einstellen. Oder hinter der Frage nach dem Dualismus von Körper und Geist steckt das praktische Interesse, wie das eigene Verhalten verändert werden kann und ob die Gefühle kontrolliert werden können.

Wenn die Philosophie es vermeidet, hinter ihren Problemen die sie tragenden praxisrelevanten Fragen aufzudecken, bleibt sie in der Erwartung stecken, dass ihre Probleme durch bessere Theorien gelöst werden könnten. Diese Erwartung hat die Philosophie von der Religion übernommen, die davon ausgeht, dass mit mentalen Vorstellungen, die der göttlichen Offenbarung entsprechen, Ordnung in das eigene Denken gebracht werden kann. Es wurde bereits erwähnt, dass dies eine Fehleinschätzung des Denkens ist. Wenn hinter den philosophischen Problemen praktische Probleme stehen, können Theorien nur hilfreich sein, wenn sie entweder das problemlösende Handeln stärken oder helfen, sich mit den übermächtigen Verhältnissen zu arrangieren. Dazu gehört auch, dass sie darüber aufklären, wie die Probleme durch die sozialen Verhältnisse verursacht wurden und dass sie nur politisch aufgelöst werden können.

Daraus ergibt sich die Überzeugung, dass nur von einer Philosophie, die den Menschen als natürliches Wesen versteht, erwartet werden kann, dass von ihr Impulse für die weitere kulturelle Entwicklung ausgehen. Sie darf nicht länger den irreführenden Eindruck erwecken, dass sie handlungsorientierendes Wissen liefern kann. Ohnehin wenden sich die Menschen immer mehr enttäuscht von der Philosophie ab, weil ihre Theorien keinen erkennbaren praktischen Nutzen haben und sie kaum noch Lebensweisheiten anbietet. Längst richten sie ihre Erwartungen nach Lebenshilfe woandershin. Die Philosophie steht vor der Aufgabe, sich neu zu definieren, nachdem sie aufgrund der hier vorgeschlagenen pragmatischen Neuorientierung ihr traditionelles Projekt, die Erkenntnistheorie, verloren hat. Sie kann nur dann der Motor der Aufklärung sein, wenn sie primär Sprachkritik ist.

7.2. Pragmatischer Ansatz

»Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie.« (Immanuel Kant)

Der amerikanische Pragmatismus, der Ende und Anfang des 19. Jahrhunderts von Charles Sanders Peirce, William James und John Dewey begründet wurde, war für die Entwicklung der Philosophie sehr folgenreich, da erstmals mit Nachdruck die Theorie vertreten wurde, dass das Denken nur aus der Perspektive des Handelns begriffen werden kann. »Nach den Ansichten der Pragmatiker beziehen sich alle Urteile, Anschauungen, Vorstellungen, Begriffe u.a. auf jeweils handelnde Menschen. Als zentrale Maxime kann Peirces Forderung gelten, Vorstellungen aller Art im Hinblick auf ihre möglichen praktischen Wirkungen zu beurteilen. Diese Forderung richtet sich vor allem gegen einen erkenntnistheoretischen Fundamentalismus und dessen Behauptung, durch Intuition oder Introspektion seien unmittelbare Erkenntnisse möglich.«205 Weitere wesentliche Kernthemen des Pragmatismus sind der Vorrang der Praxis, die Tendenz zu einer naturalistischen Erkenntnistheorie, die Kritik der Metaphysik, die Demontage des Wahrheitsbegriffs, die Relativierung sozialer Normen und die Kritik am traditionellen Dualismus von Körper und Geist.

Im Zentrum des pragmatistischen Denkens steht das Ziel, die Handlungsspielräume der Menschen zu erweitern. Da die Menschen Gewohnheitstiere sind, kann dieses Ziel am besten dadurch erreicht werden, indem man sich bewusst macht, welche Gewohnheiten dem praktischen Handeln zugrunde liegen. Es muss ständig geprüft werden, ob unsere Beschreibungsverfahren der Komplexität der Dinge entspricht, so »dass wir durch angemessenere Erfüllung unserer Bedürfnisse besser mit ihnen zu Rande kommen. Oder können wir mehr erreichen? Können wir eine Zukunft schaffen, die besser ist als unsere Gegenwart.«206 Der Pragmatismus ist deshalb skeptisch gegenüber allen Theorien, die nichts zum besseren Handeln beitragen.

Erstaunlicherweise konnte sich der Pragmatismus nicht durchsetzen. Es gibt nur sehr wenige lebende Philosophen – z.B. Richard Rorty, Richard Brandom und Hilary Putnam –, die sich zum Pragmatismus bekennen. Vermutlich konnte sich der Pragmatismus so wenig durchsetzen, weil er einerseits zu radikal mit vielen Dogmen des traditionellen Denkens gebrochen hat und andererseits keine Theorie des Denkens entwickelt hat, mit der die neuen Ansichten begründet werden können. So stützt sich der Pragmatismus bei der Theorie des Denkens lediglich auf die Überzeugung der Evolutionstheorie, dass sich das Denken aus den natürlichen Fähigkeiten einfacher Lebewesen heraus entwickelt hat. Die Verbesserung des Erkenntnisapparates habe sich als ein Überlebensvorteil erwiesen. Aber dieser allgemeine Grundsatz reicht nicht aus, um das Denken als einen natürlichen Prozess theoretisch rekonstruieren zu können. Geht man aber von der These aus, dass das Denken eine ähnliche Struktur wie das Handeln hat, weil es aus der inneren Kombination von Regeln bei der Vorbereitung des Handelns besteht, kann es theoretisch plausibel begründet werden.

Die hier entwickelten Theorien der Sprache und des Denkens wurden als pragmatisch gekennzeichnet, weil sie im Geist des Pragmatismus entwickelt wurden. Es wurde nachgewiesen, dass alle Phänomene der mentalen Innenwelt (Denken, Sprechen, Fühlen u.a.) aus der Struktur des menschlichen Handelns heraus erklärt werden können. Alle Kernthemen des Pragmatismus wie Erkenntnis oder Wahrheit konnten so konsistent behandelt und begründet werden. Damit stellt die vorliegende Analyse einen Beitrag zur Weiterentwicklung des Pragmatismus dar.

In diesem Zusammenhang soll kurz erwähnt werden, dass ich meine Bemühungen, das Denken als einen natürlichen Prozess zu erklären, bisher mit dem Etikett »Atemphilosophie« versehen hatte.207 Zugrunde lag die Überzeugung, dass das Denken nur richtig verstanden werden kann, wenn der Atem berücksichtigt wird. Der Atemphilosophie wurde die Aufgabe zugewiesen, die Schlüsselrolle des Atems bei der Konstitution des mentalen Innenlebens bewusst zu machen und die historische Verabsolutierung der für das Denken und Fühlen verwendeten Begriffe rückgängig zu machen. Die Atemphilosophie sollte auf das Defizit der abendländischen Philosophie aufmerksam machen, dass die körperliche Seite des Menschen fast vollständig ausgeblendet wurde. Der Atem schien dafür ein brauchbarer Ansatzpunkt zu sein, da er die einzige körperliche Funktion ist, die einerseits automatisch funktioniert und andererseits bewusst gesteuert werden kann. Denn erst durch diese Doppelnatur des Atems ist die menschliche Kultur mit ihrer Sprache, ihrer Dichtung, ihrem Gesang, ihren Gesetzen, ihren religiösen Ritualen, ihren Therapien u.Ä. möglich geworden. Da die verschiedenen kulturellen Erscheinungsformen im körperlichen Atem gründen, schien es möglich sein, mit diesem Ansatz die tiefe Kluft zwischen Natur und Kultur, Materie und Geist zu überwinden.

Die vorstehenden Überlegungen haben gezeigt, dass meine frühere Überzeugung, dass das Denken mit Hilfe der Analyse des Atems geklärt werden kann, nicht haltbar ist. Da das menschliche Denken mit Hilfe von Bewegungsregeln organisiert wird, die unabhängig vom Atemsystem produziert werden, muss dieses Konzept aufgegeben werden. Die philosophischen Überzeugungen, dass sich das menschliche Denken dem Sprechen verdankt und dass das Denken als ein inneres Sprechen verstanden werden kann, erweisen sich als falsch. Auch für das Verständnis der Gefühle ist der Atem nicht von zentraler Bedeutung, da das Wesentliche an den Gefühlen nicht ihr Atemmuster, sondern ihre Bewertungsfunktion ist. Damit wird der Begriff der Atemphilosophie ungeeignet, einen alternativen Ansatz zum Verständnis der mentalen Leistungen der Menschen zu umschreiben. Es wäre ein unpragmatistisches Vorgehen, den Atem als eine Schlüsselgröße für Erklärungen des mentalen Bereichs anzusehen. Ohnehin ist jede Bindestrich-Philosophie kritisch zu betrachten, da stets der Blick auf einen Aspekt fokussiert wird, der nicht weiter hinterfragt wird (z.B. Leibphilosophie, Naturphilosophie, Existenzphilosophie u.Ä.) und der Eindruck erweckt wird, dass dadurch alle Probleme besser gelöst werden könnten. Wenn es darum geht, die vorherrschenden philosophischen Denkgewohnheiten durch ein neues Paradigma zu ersetzen, wird kein werbewirksames Etikett benötigt, sondern muss die höhere Leistungsfähigkeit des neuen Paradigmas damit unter Beweis gestellt werden, dass jetzt bisher als unlösbar geltende Probleme relativ elegant gelöst werden können.

Auch wenn der Begriff der Atemphilosophie nicht mehr verwendet werden soll, bedeutet das nicht, dass die Grundintention des Programms der Atemphilosophie, die Körperfeindlichkeit der traditionellen Philosophie mit Hilfe des Atembegriffs zu überwinden, überholt ist. Der Atem scheint dafür ein guter Ansatzpunkt zu sein, da er dabei hilfreich sein kann, die Körpergebundenheit des Sprechens, Denkens und Fühlens theoretisch herauszuarbeiten und praktisch zu spüren. Damit kann den Menschen geholfen werden, sich als natürliche Wesen zu begreifen.

7.3. Versuch einer Bilanz

»Es gibt keine größere Illusion als die Meinung, Sprache sei ein Mittel der Kommunikation zwischen Menschen.« (Elias Canetti)

Im vorliegenden Buch wurden viele Argumente zusammengetragen, die die Bedeutung der Sprache für das menschliche Zusammenleben beleuchten. Der Schwerpunkt der Analyse lag zwar auf dem Verhältnis von Sprechen, Denken und Handeln, aber es wurden immer wieder Aspekte der Sprache herausgearbeitet, die die sozialen Auswirkungen der Sprache beleuchten. Während üblicherweise nur die positiven Aspekte der Sprache hervorgehoben werden, wurden hier auch zahlreiche negative Rückwirkungen dargestellt.

1. Zu den wichtigsten positiven Auswirkungen der Sprache gehören:

Die Verbesserung der zwischenmenschlichen Kooperation mit Hilfe der verbalen Sprache führt zu erhöhter Arbeitsproduktivität.

Die Sprache ermöglicht die Speicherung von Wissen und erleichtert die Produktion von neuem Wissen.

Die Sprache beflügelt das Denken, da das Bewusstsein mit Begriffen fokussiert werden kann und Gedächtnisinhalte mit Begriffen abgerufen werden können.

Die Sprache stößt den Prozess der Aufklärung an und macht politische Diskussionen zur Verbesserung der Lebensverhältnisse möglich.

2. Zu den negativen Auswirkungen der Sprache zählen:

Die Sprache hat die emotionale Verletzbarkeit der Menschen erhöht. Beleidigung, Demütigung, Selbstverneinung, Selbstabwertung, Grübeln u.Ä. gibt es erst seit Erfindung der Sprache.

Die Sprache hat den Aufbau von sozialer Herrschaft begünstigt, wenn nicht sogar ermöglicht, mit der Folge von sozialer Unterdrückung und dem Missbrauch der Sprache zur Legitimierung von Unfreiheit.

Abstrakte Allgemeinbegriffe begünstigen fremdbestimmtes Denken und die Entwicklung von theoretischen Wahnideen.

Selbstgespräche mit negativen Glaubenssätzen blockieren das Handeln.

Der Glaube an die Existenz von absoluten Werten führt zur Bestrafung von abweichendem Verhalten.

Die Sprache erschwert es, im Hier und Jetzt zu leben.

Unübersehbar greift die Sprache tief in die sozialen Strukturen ein. Es fällt aber schwer, die Vor- und Nachteile der Sprache gegeneinander abzuwägen und eine Bilanz zu ziehen. Beide Seiten sind zu unterschiedlich und lassen sich nicht gegenseitig aufrechnen. Aber es besteht kein Zweifel daran, dass die Menschen für den sprachlich bedingten materiellen Wohlstand den hohen Preis der sozialen Abhängigkeit zahlen mussten. Soziale Abhängigkeit bedeutet Zwang zur Konformität mit den vorherrschenden Verhaltensmustern. Einen abweichenden Lebensstil und selbständiges Denken zu entwickeln, ist mit dem hohen Risiko verbunden, zum Wohlfahrtsempfänger zu werden oder ganz in Armut abzustürzen. Die Vergesellschaftung ist in der globalisierten Wirtschaft inzwischen so total geworden, dass es unmöglich ist, mit der eigenen Hände Arbeit (Landwirtschaft) zu überleben.

Je stärker die soziale Abhängigkeit zunimmt, umso mehr wird deutlich, welchen Anteil die Sprache an diesem Prozess hat. Die Sprache hat zum Aufbau von Theorien ermutigt, die die Abhängigkeitsverhältnisse legitimieren. Gleichzeitig setzte sie den Prozess der Aufklärung frei, der im Wesentlichen darin besteht, dass das Denken kritisch mit den Produkten der Sprache umgeht. Sprache wird sich ihrer selbst bewusst. Kritisches Denken zerstört die abstrakten Allgemeinbegriffe wie Geist, Seele, Selbst, Freiheit, Werte, Wahrheit u.Ä., die im Wesentlichen zur Begründung von sozialer Ungleichheit benutzt wurden. Paradoxerweise ist das Angebot an theoretischen Rechtfertigungen der gegenwärtigen Lebensverhältnisse in dem Maße zurückgegangen, wie die Abhängigkeitsverhältnisse zugenommen haben. Das liegt daran, dass die Abhängigkeitsverhältnisse immer weniger einen persönlichen Charakter haben und immer mehr in die objektive sozio-ökonomische Struktur der aktuellen Lebensbedingungen eingegangen sind. Wenn die objektiven Lebensbedingungen von sich aus die Anpassung erzwingen, werden die alten legitimatorischen Begriffe wie Geist, Vernunft, Werte, Tugend u.a. nicht mehr benötigt. Das ist wahrscheinlich der eigentliche Grund für den Rückgang des auf die Gesellschaft bezogenen theoretischen Denkens. Wenn die Lebensverhältnisse übermächtig werden, trocknet das gesellschaftskritische Denken aus.

Der Rückgang des theoretischen Denkens macht den Blick auf die natürlichen Bedingungen des menschlichen Handelns frei. Das Bewusstsein, dass Regeln im Zentrum des Handelns stehen, führt zur Skepsis gegenüber dem theoretischen Denken. Alle Gedanken müssen daraufhin überprüft werden, ob sie im konkreten Handeln umgesetzt werden können. Dies ist nur dann der Fall, wenn sie die Gestalt von ausführbaren Regeln haben. Wenn erkannt wird, dass die Regeln nicht theoretisch begründet werden müssen, weil ihre Begründung allein in ihrer Brauchbarkeit für das Handeln liegt, wird das Denken vom Zwang zur Theorie befreit. Es ist nur scheinbar ein Paradox, dass die Theorie der Sprache vom theoretischen Denken befreit. Wird das Denken von falschen Vorstellungen über das Wesen der Sprache befreit, kann es seine Aufgaben pragmatisch angehen.



8. Literaturverzeichnis


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Aristoteles: Physik

Assmann, Jan: Monotheismus und die Sprache der Gewalt, Wien 2006

Bertram, Georg W.: Sprachphilosophie zur Einführung, Hamburg 2011

Beyer, Reinhard; Gerlach, Rebekka: Sprache und Denken, Wiesbaden 2011

Bourdieu, Pierre: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt/Main 1998

Brandom, Richard: Expressive Vernunft, Frankfurt/Main 2002

Brooks, David: Das soziale Tier. Ein neues Menschenbild zeigt, wie Beziehungen, Gefühle und Intuitionen unser Leben formen, München 2011

Burkhard Liebsch: Nach dem angeblichen Ende der Sprachvergessenheit: Vorläufige Fragen zur Unvermeidlichkeit der Verletzung Anderer in und mit Worten, in: Steffen K. Herrmann u.a. (Hrsg.). Verletzende Worte, Bielefeld 2007

Butler Judith: Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998

Chalmers, David.J.: The Conscious Mind. Oxford University Press, New York 1996

Crawford, Matthew B.: Ich schraube, also bin ich, Berlin 2010

Damasio, Antonio: Descartes' Irrtum: Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, München 2004

Damasio, Antonio: Selbst ist der Mensch. Körper, Geist und die Entstehung des Bewusstseins, München 2010

Demmerling, Christoph: Welcher Naturalismus? Von der Naturwissenschaft zum Pragmatismus, in: Janich, Peter (Hg.): Naturalismus und Menschenbild

Dewey, John: Öffentlichkeit, 2001

Dörner, Dietrich: Sprache und Denken, in: Funke, Joachim (Ed.): Denken und Problemlösen, Göttingen 2006

Fearn, Nicholas: Bin ich oder bin ich nicht. Neue philosophische Antworten auf ewige Fragen, München 2010

Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt/Main/Berlin/Wien, 1977

Freud, Sigmund: Gesammelte Werke, Frankfurt/Main 1961, Bd. XV

Gagné, Robert: Die Bedingungen des menschlichen Lernens, Braunschweig 1970

Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Frankfurt/Main 1962

Geuenich, Bettina; Hammelmann, Iris; Havas, Harald u.a.: Das große Buch der Lerntechniken, München 2009

Gigerenzer, Gerd: Bauchentscheidungen. Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition, München 2007

Groddeck, Georg: Das Buch vom Es, Frankfurt/Main 2004

Hadot, Pierre: Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike, Berlin 1991

Heinsohn, Gunnar: Die Erschaffung der Götter. Das Opfer als Ursprung der Religion, Reinbeck bei Hamburg, 1997

Heringer, Hand Jürgen (Hrsg): Seminar: Der Regelbegriff in der praktischen Semantik, Frankfurt/Main 1974

Janich, Peter: Kein neues Menschenbild. Zur Sprache der Hirnforschung, Frankfurt am Main 2009

Jourdain, Robert: Das wohltemperierte Gehirn. Wie Musik im Kopf entsteht und wirkt, Heidelberg 1998

Jürgen Habermas: Das Sprachspiel verantwortlicher Urheberschaft. Probleme der Willensfreiheit, in: Janich, Peter: Naturalismus und Menschenbild, Hamburg 2008

Kabat-Zinn, Jon: Gesund durch Meditation, München 2011

Kahneman, Daniel: Schnelles Denken, langsames Denken, München 2011

Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. v. J. Timmermann, Felix Meiner Hamburg 1998

Lane, Harlan: Mit der Seele hören. Die Lebensgeschichte des taubstummen Laurent Clerc und sein Kampf um die Anerkennung der Gebärdensprache, München 1988

Leiss, Elisabeth: Sprachphilosophie, Berlin 2009

Lovelock, James: Das Gaia-Prinzip. Die Biographie unseres Planeten, Zürich/München 1991

Luhmanns, Niklas: Theorie sozialer Systeme: Eine Einführung, Stuttgart 2000

Margulis, Lynn: Die andere Evolution, Heidelberg/Berlin 1999

Maturana, Humberto: Der Baum der Erkenntnis, Bern/München/Wien 1987

Mauthner, Fritz: Beiträge zu einer Kritik der Sprache, 1969

McConnell, Alison: Breathe Strong, Perform Better, 2011

Middendorf, Ilse: Der erfahrbare Atem. Paderborn 1988

Mohr, Bärbel: Reklamationen beim Universum. Nachhilfe in Wunscherfüllung, Omega-Verlag, Aachen 2001

Morgan, Elaine: Kinder des Ozeans. Der Mensch kam aus dem Meer, München 1988

Neubeck, Klaus: Atem-Ich, Frankfurt/Main 1992

Neubeck, Klaus: Psychosomatik des Atems, Frankfurt/Main 2000

Neubeck, Klaus: Atem und Glück, München 2003

Neubeck, Klaus: Geliebte Fesseln. Nachdenken über Gewohnheiten, München 2008

Neuweiler, Gerhard: Der Ursprung unseres Verstandes, in: Spektrum der Wissenschaft Jan. 2005

Newen, Albert: Einführung in die Sprachphilosophie, Darmstadt 2008

Noè, Alva: Du bist nicht Dein Gehirn. Eine radikale Philosophie des Bewusstseins, München 2011

Pfisterer, Christoph: Regelfolgen und Notwendigkeit, Wien 2001

Piaget, Jean: Einführung in die genetische Erkenntnistheorie, Frankfurt/Main 1973

Provine, Robert: Laughter. A Scientific Investigation. New York 2000

Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/Main 1979

Rorty, Richard: Der Spiegel der Natur: Eine Kritik der Philosophie, Frankfurt/Main 1981

Rorty, Richard: Hoffnung statt Erkenntnis, Wien 1994

Roth, Gerhard: Fühlen, Denken, Handeln, Frankfurt/Main 2001

Schtschetinin, Michael: Die populäre russische Atemgymnastik nach A.N.Strelnikowa, Moskau-Basel-Verlag 2003

Schmidt-Salomon, Michael: Jenseits von Gut und Böse. Warum wir ohne Moral die besseren Menschen sind. München 2009

Schwäbisch, Lutz; Siems, Martin: Selbstentfaltung durch Meditation - Eine praktische Anleitung, Darmstadt 2006

Schroeder, Susanne: "Lachen ist gesund!?" - eine volkstümliche und medizinische Binsenweisheit im Spiegel der Philosophie, Kap. 3, www.context-gmbh.de

Searle, John: Sprechakte, Frankfurt/Main 2003

Singer, Peter: Praktische Ethik, Stuttgart 1994

Smith, Adam: Theorie der ethischen Gefühle, Hamburg 2004

Soldt, Philipp: Denken in Bildern, Lengerich 2005

Spitzer, Manfred: Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens, Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg, Berlin, 2002

Tomasello, Michael: Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, Frankfurt/Main 2009

Vossenkuhl, Wilhelm: Ludwig Wittgenstein, München 2003

Wagner, Angelika C.: Gelassenheit durch Auflösung innerer Konflikte. Mentale Selbstregulation und Introvision, Stuttgart 2011

Wellmer, Albrecht: Sprachphilosophie, Frankfurt/Main 2004

Wittgenstein, Ludwig: Logisch-philosophische Abhandlung (Tractatus), Frankfurt/Main 1989

Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt/Main 2003

Wittgenstein, Ludwig: Vorlesungen 1930 - 1935, Frankfurt/Main 1989


1Für den inneren Ort des probeweisen Denkens gibt es eigentlich keinen brauchbaren Begriff. Die Begriffe Einbildungskraft oder Phantasie scheiden aus, da sie mit Assoziationen behaftet sind, die im Widerspruch mit der hier zu entwickelnden Sprachtheorie stehen. Auch der gewählte Begriff des mentalen Innenlebens ist problematisch, soll aber in dieser Arbeit als Kürzel für den Ort der Denkprozesse und der Gefühle verwendet werden.

2Vgl. Heringer, Hand Jürgen (Hrsg): Seminar: Der Regelbegriff in der praktischen Semantik, Frankfurt/Main 1974

3Pragma bedeutet im Griechischen Handeln.

4Diese Fragen werden ausführlich im Kap. 4 'Die Regeln des Denkens' behandelt

5Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt/Main 2003, § 109

6Vgl. Rorty, Richard: Der Spiegel der Natur: Eine Kritik der Philosophie, Frankfurt/Main 1981

7Vgl. Neubeck, Klaus: Geliebte Fesseln. Nachdenken über Gewohnheiten, München 2008

8Vgl. Spitzer, Manfred: Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens, Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg, Berlin, 2002.

9Spektrum der Wissenschaft, http://www.spektrum.de/alias/intelligenz/ratten-lernen-regeln/947986

10Vgl. Roth, Gerhard: Fühlen, Denken, Handeln, Frankfurt/Main 2001 Aufgrund der hohen Kosten, die bewusste Denkvorgänge verursachen, ist es daher nicht verwunderlich, »dass das Gehirn immer danach trachtet, Dinge aus der assoziativen Großhirnrinde auszulagern. Bewusstsein ist für das Gehirn ein Zustand, der tunlichst zu vermeiden und nur im Notfall einzusetzen ist.« S.231

11Searle, John: Sprechakte, Frankfurt/Main 2003

12Vgl. Vossenkuhl, Wilhelm: Ludwig Wittgenstein, München 2003, S.271

13Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, § 219

14Wittgenstein, Ludwig: a.a.O., § 202

15Aristoteles: Physik

16Die ausführliche Diskussion dieses Themas erfolgt unten im Vgl. Kap. 2.7. Regelbewusstsein.

17Vgl. Vossenkuhl, Wilhelm: Ludwig Wittgenstein, München 2003, S. 270

18Eine ausführlichere Diskussion erfolgt im. Kap. 4.1. Denken als inneres Handeln

19Der Gedanke wird im. Kap. 3.7. 'Missbrauch der Sprache' fortgeführt.

20Vgl. Kap 4.3. Rational ist Regeln kombinieren

21Das propriozeptive Nervensystem besteht aus Sinnesorganen, die sich in der Muskulatur, in den Sehnen, Bändern. Gelenkkapseln und Knochen befinden. Sie sammeln Informationen über die Stellung des Körpers im Raum, wie sich die Körperteile bewegen und zueinander stehen und über den Muskeltonus. Aus diesen Rückmeldungen entsteht ein inneres Körperbild, das man sich als eine innere Landkarte des Körpers vorstellen kann.

22Wie unten erläutert wird, sind alle Theorien, die behaupten, dass sich die moralischen Regeln aus sozialer Vereinbarung ergeben, in menschlichen Natur verankert sind oder von transzendenten Instanzen vorgegeben werden, infrage zu stellen. Vgl. Kap. 5.7. Der Mythos objektiver Werte

23Das kontroverse Thema wird im Kap. 4.10. 'Ethisches Denken ist Regeldenken' ausführlicher behandelt.

24Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, § 206

25Vgl. Noè, Alva: Du bist nicht Dein Gehirn. Eine radikale Philosophie des Bewusstseins, München 2011, S. 121

26Brooks, David: Das soziale Tier. Ein neues Menschenbild zeigt, wie Beziehungen, Gefühle und Intuitionen unser Leben formen, München 2011, S. 205

27Zur Funktion von Gewohnheiten Vgl. Neubeck, Klaus: Geliebte Fesseln, München 2008, Kap. 2

28Vgl. Noè, Alva: Du bist nicht Dein Gehirn. Eine radikale Philosophie des Bewusstseins, München 2011, S. 78

29Bourdieu, Pierre: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt/Main 1998

30Dieses Thema wird im Kap. 4.11. 'Die Grenzen des Denkens' fortgesetzt.

31Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Frankfurt/Main 1962

32Noè, Alva: Du bist nicht Dein Gehirn. Eine radikale Philosophie des Bewusstseins, München 2011, S. 69

33Eine ausführliche Diskussion erfolgt im Kap. 5.5. Das Ich als Gewohnheit

34Margulis, Lynn: Die andere Evolution, Heidelberg/Berlin 1999, S. 67

35Vgl. Neubeck, Klaus: Psychosomatik des Atems, Frankfurt/Main 2000, Kap. 4.5

36Maturana, Humberto: Der Baum der Erkenntnis, Bern/München/Wien 1987

37Singer, Wolf: Das Gehirn, das Tor zur Welt, in: Deutsche Forschungsgemeinschaft: Perspektiven der Forschung und ihrer Förderung 2007-2011, Wiesbaden 2008, S. 82

38Vgl. Noè, Alva: Du bist nicht Dein Gehirn. Eine radikale Philosophie des Bewusstseins, München 2011, S. 114

39Vgl. Kap. 5.10. Lachen macht glücklich

40Vgl. Kap. 4.2. Das Denken läuft unbewusst ab

41Dieser Gedanke wird im Kap. 5.2. 'Befreiung vom Mythos Geist' ausgeführt.

42Demmerling, Christoph, Welcher Naturalismus? Von der Naturwissenschaft zum Pragmatismus, in: Janich, Peter (Hg.): Naturalismus und Menschenbild, S. 241

43Die Konsequenzen für das Denken werden im Kap. 4.1. `Denken als inneres Handeln` dargestellt.

44Kant: Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. v. J. Timmermann, Felix Meiner Hamburg 1998

45Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt/Main 2003, % 199, S.133

46z.B. Newen, Albert: Einführung in die Sprachphilosophie, Darmstadt 2008 oder Bertram, Georg W.: Sprachphilosophie zur Einführung, Hamburg 2011

47Vgl. Kap. 3.8. Kritik der Abbildtheorie der Begriffe

48Middendorf, Ilse: Der erfahrbare Atem. Paderborn 1988

49Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Frankfurt/Main 1962

50Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen 1986, § 34

51Vgl. Bertram, Georg W.: Sprachphilosophie zur Einführung, Hamburg 2011, S. 63ff

52Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, § 43

53Wittgenstein, Ludwig: Vorlesungen 1930 - 1935, Frankfurt/Main 1989, S. 349

54Pfisterer, Christoph: Regelfolgen und Notwendigkeit, Wien 2001, S. 96

55Vgl. Brandom, Richard: Expressive Vernunft, Frankfurt/Main 2002

56Wittgenstein, Ludwig: a.a.O., § 199

57Vgl. Kap. 3.6. Die Ordnung der Begriffe

58In der Fachliteratur gibt es noch keinen Konsens über das Alter der Sprache. Die angegebene Zeitspanne setzt sich aus den von mir gefundenen Werten für den frühesten und für die spätesten Entstehungszeitpunkt zusammen.

59Tomasello, Michael: Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, Frankfurt/Main 2009

60Vgl. Tomasello, Michael, a.a.O., S. 349

61Neubeck, Klaus: Geliebte Fesseln. Nachdenken über Gewohnheiten, München 2008, Kap. 4.2.2.

62Vgl. Morgan, Elaine: Kinder des Ozeans. Der Mensch kam aus dem Meer, München 1988

63Vgl. Provine, Robert: Laughter. A Scientific Investigation. New York 2000

64Neuweiler, Gerhard: Der Ursprung unseres Verstandes, in: Spektrum der Wissenschaft Jan. 2005

65Vgl. Spiegel Spezial 4/2003: Die Entschlüsselung des Gehirns

66Rorty, Richard: Hoffnung statt Erkenntnis, Wien 1994, S.38

67z.B. Butler Judith: Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998, S.26

68Brandom, Richard: Expressive Vernunft, Frankfurt/Main 2002, S.42

69Brandom, Richard: a.a.O., S.43

70Vgl. Kap. 3.7. Missbrauch der Sprache

71Vgl. Kap. 4.1. Denken als inneres Handeln

72Noè, Alva: Du bist nicht Dein Gehirn. Eine radikale Philosophie des Bewusstseins, München 2011, S. 129

73Vgl. Tomasello, Michael, a.a.O., S. 358

74Eine grammatikalische Einsicht, die schon Hegels berühmte »Dialektik des Satzes« in der Phänomenologie des Geiste parat hält.

75Vgl. Beyer, Reinhard; Gerlach, Rebekka: Sprache und Denken, Wiesbaden 2011

76Tomasello, Michael: Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, Frankfurt/Main 2009, S. 250

77Vgl. Kap. 3.1. Begriffe als Zeichen für Regeln

78Dieser Gedanke wird weiter im Kap. 4.11. Die Grenzen des Denkens behandelt.

79Die Bedeutung der Grammatik für die Sprache wird im Vgl. Kap. 3.6. 'Die Ordnung der Begriffe' dargestellt.

80Vgl. Tomasello, Michael: Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, Frankfurt/Main S. 205

81Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, § 89

82Eine ausführliche Darstellung dieses Themas befindet sich in: Neubeck, Klaus: Atem und Glück, München 2003, S. 254ff

83Vgl. Neubeck, Klaus: Atem-Ich, Frankfurt/Main 1992 , S. 65F und Kap. 6.2. Rituale der Selbstberuhigung

84Vgl. Kap. 4.11. Die Grenzen des Denkens

85Vgl. Kap. 4.4. Die Bewertungen der Gefühle und Kap. 5.4. Die repressive Funktion der Willensfreiheit

86Vgl. Kap. 4.8. Wahrheit als Scheinproblem und Kap. 5.5. Das Ich als Gewohnheit

87Vgl. z.B. Leiss, Elisabeth: Sprachphilosophie, Berlin 2009

88Vgl. Rorty, Richard: Der Spiegel der Natur, Frankfurt/Main 1981

89In der Spiegelneuronentheorie wird behauptet, dass es spezielle Neuronen gibt, die das Nacherleben von beobachteten Gefühlen und Bewegungen ermöglichen. Sie sollen die Grundlage der Empathie sein.

90Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt/Main/Berlin/Wien, 1977, S. 7

91Vgl. Burkhard Liebsch: Nach dem angeblichen Ende der Sprachvergessenheit: Vorläufige Fragen zur Unvermeidlichkeit der Verletzung Anderer in und mit Worten, in: Steffen K. Herrmann u.a. (Hrsg.). Verletzende Worte, Bielefeld 2007, S. 268)

92Dies wird weiter unten im Kap. 5.5. 'Das Ich als Gewohnheit' am Beispiel des Ichs ausgeführt.

93Vgl. Kap. 5.2. Befreiung vom Mythos des Geistes

94Freud, Sigmund: Gesammelte Werke, Frankfurt/Main 1961, Bd. XV, S. 96

95Vgl. Kap. 4.7. Wissen ist Können

96Vgl. Kap. 3.9. Magie der Wörter

97Vgl. Kap. 2.7. Regelbewusstsein

98Fearn, Nicholas: Bin ich oder bin ich nicht. Neue philosophische Antworten auf ewige Fragen, München 2010, S. 99

99Noè, Alva: Du bist nicht Dein Gehirn. Eine radikale Philosophie des Bewusstseins, München 2011, S. 88

100Mauthner, Fritz: Beiträge zur einer Kritik der Sprache, 1969

101Vgl. Roth, Gerhard:: a.a.O., S. 231

102Vgl. Roth, Gerhard: Fühlen, Denken, Handeln, Frankfurt/Main 2001, S. 231

103Kahneman, Daniel: Schnelles Denken, langsames Denken, München 2011, S. 514,

104Dörner, Dietrich: Sprache und Denken, in: Funke, Joachim (Ed.): Denken und Problemlösen, Göttingen 2006

105Soldt, Philipp: Denken in Bildern, Lengerich 2005

106Dewey, John: Öffentlichkeit, 2001, S. 137

107Vgl. Kap. 2.6. Regeln ermöglichen flexibles Verhalten

108Vgl. Crawford, Matthew B.: Ich schraube, also bin ich, Berlin 2010, S. 41

109Vgl. Gigerenzer, Gerd: Bauchentscheidungen. Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition, München 2007

110Groddeck, Georg: Das Buch vom Es, Frankfurt/Main 2004 Sein berühmtester Satz ist: »Es denkt.«

111Beyer, Reinhard; Gerlach, Rebekka: Sprache und Denken, Wiesbaden 2011, S. 7

112Vgl. www.visuelles-denken.de

113Vgl. Lane, Harlan: Mit der Seele hören. Die Lebensgeschichte des taubstummen Laurent Clerc und sein Kampf um die Anerkennung der Gebärdensprache, München 1988

114Fodor, Jerry: The Language of Thought, Harvard University Press, 1975

115Steven Pinker hat dieses Konzept in seinem Buch »Der Sprachinstinkt« (Stuttgart 1998) weitergeführt.

116Dörner, Dietrich: Sprache und Denken, in: Funke, Joachim (Ed.): Denken und Problemlösen, Göttingen 2006

117Kant: Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. v. J. Timmermann, Felix Meiner Hamburg 1998. S. 235 [B171].

118Vgl. Vossenkuhl, Wilhelm: Ludwig Wittgenstein, München 2003, S. 143

119Piaget, Jean: Einführung in die genetische Erkenntnistheorie, Frankfurt/Main 1973

120Aebli, Hans: Denken. Das Ordnen des Tuns, Stuttgart 1980

121Dieser Bezug zum gesellschaftlichen Umfeld ist beim abendländischen Rationalitätsbegriff getilgt worden.

122Ausführliche Darstellung in: Neubeck, Klaus: Geliebte Fesseln, München 2008, Kap. 3 Emotionale Gewohnheiten, Vgl. auch: Damasio, Antonio: Selbst ist der Mensch. Körper, Geist und die Entstehung des Bewusstseins, München 2010, S. 67

123Wenn von Emotionen die Rede ist, bezieht man sich in der Regel auf die körperlichen Begleitsymptome der Gefühle. Der Begriffe der Gefühle ist für die innere Wahrnehmung dieser Zustände reserviert.

124Damasio, Antonio: Descartes' Irrtum: Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, München 2004

125Vgl. Kap. 5.4. Die repressive Funktion der Willensfreiheit

126Vgl. Crawford, Matthew B.: Ich schraube, also bin ich. Vom Glück, etwas mit den eigenen Händen zu schaffen, Berlin 2010, S. 36

127Kahneman, Daniel: Schnelles Denken, langsames Denken, München 2011, S. 145

128Vgl. Kap. 2.10. Die Selbstorganisation der Regeln

129Gagné, Robert: Die Bedingungen des menschlichen Lernens, Braunschweig1970

130Janich, Peter: Kein neues Menschenbild. Zur Sprache der Hirnforschung, Frankfurt/Main 2009, S. 173

131Vgl. Schnädelbach, Herbert: Was Philosophen wissen und was man von ihnen lernen kann, München 2012, S. 30

132Vgl. Geuenich, Bettina; Hammelmann, Iris; Havas, Harald u.a.: Das große Buch der Lerntechniken, München 2009, S. 187

133Newen, Albert: Einführung in die Sprachphilosophie, Darmstadt 2008, S.11

134z.B. Ludwig Wittgenstein, John Austin, John Searle

135Vgl. Wellmer, Albrecht: Sprachphilosophie, Frankfurt/Main 2004, S. 245

136Vgl. Kap. 4.7. Wissen ist Können

137Vgl. Kabat-Zinn, Jon: Gesund durch Meditation, München 2011, S. 39

138Newen, Albert: Einführung in die Sprachphilosophie, Darmstadt 2008, S. 153

139Vgl. Kap. 2.8. Die soziale Natur der Regeln

140Smith, Adam: Theorie der ethischen Gefühle, Hamburg 2004 (erstmals erschienen 1759)

141Der Begriff der Moral bezieht sich auf die Regeln des zwischenmenschlichen Handelns. Wenn über die moralischen Regeln nachgedacht wird, kommt der Begriff der Ethik ins Spiel.

142Vgl. Kap. 4.4. Das Denken braucht Gefühle

143Vgl. Neubeck, Klaus: Atem und Glück, München 2003, Kap. 7.4. Der ethische Kompass

144Vgl. Singer, Peter: Praktische Ethik, Stuttgart 1994

145Vgl. Kap. 4.3. Rational ist Regeln kombinieren

146Vgl. Kap. 3.9. Die Magie der Wörter

147Vgl. Gehirn und Geist, 6/2004, Manifest

148Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Frankfurt/Main 1962

149Vgl. Kap. 2.10. Die Selbstorganisation der Regeln

150Vgl. Kap. 4.11. Die Grenzen des Denkens

151Diese Analyse erfolgt im nächsten Kapitel (Kap.5.3. Kritik des mechanistischen Weltbildes)

152z.B. Jürgen Habermas, Das Sprachspiel verantwortlicher Urheberschaft. Probleme der Willensfreiheit, in: Janich, Peter: Naturalismus und Menschenbild, Hamburg 2008

153Vgl. Kap. 3.6. Die Ordnung der Begriffe

154Vgl. Kap. 3.7. Missbrauch der Sprache

155Schmidt-Salomon, Michael: Jenseits von Gut und Böse. Warum wir ohne Moral die besseren Menschen sind. München 2009, S. 141

156Vgl. Kap. 4.3. Rationales Denken

157Vgl. Kap. 4.11. Die Grenzen des Denkens

158Vgl. Neubeck, Klaus: Geliebte Fesseln, Nachdenken über Gewohnheiten, München 2008, Kap. 5

159Vgl. Kap. 5.3. Kritik des mechanistischen Weltverständnisses

160Das Konzept des blinden Willens bei Arthur Schopenhauer ist ein Beispiel für die Mystifizierung der Kraft, die hinter dem Handeln angenommen wird.

161Vgl. Kap. 5.7. Mythos objektive Werte

162Zuletzt von Schmidt-Salomon, Michael: Jenseits von Gut und Böse. Warum wir ohne Moral die besseren Menschen sind. München 2009

163Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe, Hg. von W. Promies, 2. Band, Sudelbücher II, München 1971, S. 412

164Vgl. Kap. 3.7. Missbrauch der Sprache

165Roth, Gerhard: Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten. Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern, Stuttgart 2007, S. 74, 167

166Vgl. Kap. 5.10. Sinn und Transzendenz

167z.B. Damasio, Antonio: Selbst ist der Mensch. Körper, Geist und die Entstehung des menschlichen Bewusstseins, München 2010

168Neubeck, Klaus: Atem und Glück, München 2003, S.50

169Vgl. Kap. 4.4. Die Bewertungen der Gefühle

170Diese Gedanken haben keineswegs etwas mit esoterischem Denken zu tun, da sich die Schwingungen des Atems und die Schwingungen der Emotionen eindeutig mit naturwissenschaftlichen Methoden nachweisen lassen.

171Die Diskussion des ethischen Verhaltens wird im Kap. 5.7.' Es gibt keine ethischen Werte' fortgesetzt

172Vgl. Assmann, Jan: Monotheismus und die Sprache der Gewalt, Wien 2006, S. 46ff

173Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft. Hrsg. H. D. Brandt, H. F. Klemme, Felix Meiner Hamburg 2003. S. 41.

174Vgl. Neubeck, Klaus: Atem und Glück, München 2003, S. 17ff

175Vgl. Kap. 4.10. Ethisches Denken ist Regeldenken

176Vgl. Kap. 5.10. Sinn und Transzendenz

177Luhmanns, Niklas: Theorie sozialer Systeme: Eine Einführung, Stuttgart 2000

178Schmidt-Salomon, a.a.O., S.201

179Vgl. Schmidt-Salomon, a.a.O., S. 271

180z.B. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/Main 1979

181Vgl. Heinsohn, Gunnar: Die Erschaffung der Götter. Das Opfer als Ursprung der Religion, Reinbeck bei Hamburg, 1997

182Vgl. Hadot, Pierre: Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike, Berlin 1991

183Lovelock, James: Das Gaia-Prinzip. Die Biographie unseres Planeten, Zürich/München 1991, David.J. Chalmers: The Conscious Mind. Oxford University Press, New York 1996.

184Kataria, Madan: Lachen ohne Grund. Eine Erfahrung, die Ihr Leben verändern wird, Petersberg 2002

185Hurley, Matthew M.; Dennett, Daniel C.; Adams, Reginald B.: Inside Jokes. Using Humor to Revers-Engineer the Mind, 2011 Massachusetts Institute of Technology

186Vgl. Hirsch, Eike Christian: Der Witzableiter oder Schule des Lachens, München 2005, S. 268

187Vgl. Kap. 6.1. Zur Kunst, gekonnt mit Regeln umzugehen

188Wagner, Angelika C.: Gelassenheit durch Auflösung innerer Konflikte. Mentale Selbstregulation und Introvision, Stuttgart 2011

189Vgl. Kap. 6.2. Rituale der Selbstberuhigung

190Schmidt-Salomon, Jenseits von Gut und Böse. Warum wir ohne Moral die besseren Menschen sind. München 2009, S. 233

191Im Kap. 2.9. wurde erläutert, dass der Begriff des Rituals in dem Sinne verwendet wird, dass er eine feste Abfolge von Handlungen meint.

192Zur Geschichte der Auffassungen vom Zwerchfell vgl. Schroeter, Susanne: "Lachen ist gesund!?" - eine volkstümliche und medizinische Binsenweisheit im Spiegel der Philosophie, Kap. 3, www.context-gmbh.de

193Vgl. McConnell, Alison: Breathe Strong, Perform Better, 2011

194Schtschetinin, Michael: Die populäre russische Atemgymnastik nach A.N.Strelnikowa, Moskau-Basel-Verlag 2003

195Religiöse Gebete, mystische Versenkung oder schamanistische Heilrituale sind alternative Methoden, um eine Lösung für dieses Problem zu finden.

196Mohr, Bärbel: Reklamationen beim Universum. Nachhilfe in Wunscherfüllung, Omega-Verlag, Aachen 2001, S. 59

197Schwäbisch, Lutz; Siems, Martin: Selbstentfaltung durch Meditation - Eine praktische Anleitung, Darmstadt 2006

198Vgl. Kabat-Zinn, Jon: Gesund durch Meditation, München 2011

199Vgl. Jourdain, Robert: Das wohltemperierte Gehirn. Wie Musik im Kopf entsteht und wirkt, Heidelberg 1998, S. 357

200Vgl. Kap. 6.3. Gesund durch Meditation

201Vgl. Kap. 4.4. Die Bewertungen der Gefühle

202Neubeck, Klaus: Geliebte Fesseln. Nachdenken über Gewohnheiten, München 2008, Kap. 6.4. Exkurs: Die Heilkraft der Bewegung

203Vgl. Kap. 5.5. Das Ich als Gewohnheit

204Vgl. Kap. 5.3. Kritik des mechanistischen Weltbildes

205Text aus dem Internet: www.wikipedia.de, Stichwort Pragmatismus

206Rorty, Richard: Hoffnung statt Erkenntnis, Wien 1994, S. 68

207Vgl. Neubeck, Klaus: Geliebte Fesseln. Nachdenken über Gewohnheiten, München 2008