Seit meiner Lektüre des Buches »Der Baum der Erkenntnis« von Humberto Maturana und Francisco Varela vor mehr als 30 Jahren verfolgt mich der zentrale Aphorismus des Buches: Erkenntnis ist Tun und Tun ist Erkenntnis. Das Buch hatte sich zum Ziel gesetzt, die Erkenntnis als einen biologischen Prozess zu begreifen. Es wurde aber nicht dargestellt, wie konkrete Gedanken zustande kommen. Der Grundgedanke, dass Gedanken in der Interaktion mit der Welt entstehen, ist zweifellos richtig, aber damit kann nicht verstanden werden, aus welchen Elementen die Gedanken aufgebaut werden. Das Buch ist nach meinem Eindruck von der falschen Voraussetzung ausgegangen, dass das Denken in der verbalen Sprache stattfindet. Das Erkenntnisziel des Buches ist deshalb Programm geblieben. Seitdem ließ mich die Frage nicht mehr los, wie das Denken als ein natürlicher Prozess verstanden werden kann.
Meine Zweifel, dass die verbale Sprache nicht die Bedingung des Denken ist, kamen von der Behauptung der Sprachforscher, dass die Sprache erst relativ spät in der Menschheitsgeschichte entstanden ist. Die Vermutungen über das Alter der verbalen Sprache schwanken erheblich. Aber selbst bei der größten Schätzung mit 250000 Jahren heißt das, dass die Menschheit erst seit kurzem die verbale Sprache benutzen. Man muss davon ausgehen, dass die Menschen auch davor gedacht haben.
Die Analyse der Gebärdensprache bei heutigen Menschen, die wegen Ohrschäden mit Gebärden kommunizieren müssen, lässt erkennen, dass die Gesten, mit denen die Menschen sehr lange Zeit vor der verbalen Sprache kommuniziert haben, ein vollwertiger Ersatz für die phonetische Sprache sein können (Lane). Das bedeutet, dass mit differenzierten Handbewegungen auch komplexe Gedanken ausgetauscht werden können. Wenn z. B. die Gebärden für Brot, bitten und schneiden gemacht werden, weiß das Gegenüber, dass er gebeten wird, eine Scheibe Brot abzuschneiden. Die beobachteten Bewegungen der Hände werden also als Aufforderung interpretiert, eine bestimmte Handlung zu vollziehen.
Vermutlich haben die Gesten die Entdeckung der phonetischen Sprache vorbereitet. Es wurde gelernt, bei der Wahrnehmung bestimmter Handbewegungen an eine ganz bestimmte reale Handlung zu denken. Es lag seitdem praktisch sozusagen auf der Hand, die Handbewegungen mit besonderen Lauten, d.h. mit inneren körperlichen Bewegungen zu ersetzen. Das wurde sicherlich lange Zeit spontan in Situationen gemacht, in denen die Menschen soweit voneinander entfernt waren, dass sie die Handbewegungen der anderen nicht klar erkennen konnten und stattdessen Rufe verwendet wurden. Die stimmlichen Laute waren ein konsequente Weiterentwicklung, da Handlungen der Hände bloß durch innere Handlungen der Lautorgane (Kehlkopf, Rachen, Zwerchfell) ersetzt wurden. Die Sprache ist demnach nichts grundsätzlich Neues, sondern arbeitet mit natürlichen biologischen Prinzipien. Dieser Blick auf die Gebärdensprache eröffnete für mich einen Weg, das Denken als einen natürlichen Prozess zu begreifen.
Die Gebärden mussten als Gewohnheiten gelernt werden, damit alle Beteiligten die Handbewegungen zweifelsfrei erkennen konnten. Das setzt voraus, dass die Gesten genau gestaltet werden, die für jede einzelne Gebärde typisch sind, so dass sie nicht mit anderen Gebärden verwechselt werden können. Auch die stimmlichen Laute müssen als Gewohnheiten abgespeichert werden. Damit wird sichergestellt, dass man sofort an eine bestimmte Bewegung denkt, wenn der entsprechende Laut gehört wird. Umgekehrt wird an den Laut gedacht, wenn die ihm entsprechende Bewegung beobachtet wird. Bedeutung heißt nichts anderes, als dass bei einer sinnlich wahrgenommenen Bewegung an eine andere Bewegung gedacht wird.
Es ist zweckmäßig, die den Gewohnheiten zugrunde liegende körperliche Gedächtnisspuren als Muster zu bezeichnen. Der Begriff des Musters hat sich gebildet, als im Mittelalter Textilhändler ihre Stoffen in Form von Abschnitten zeigten, da es zu umständlich war, ständig große Stoffballen mit sich zu führen. Das Wort wurde vom lat. monstrare für zeigen abgeleitet. Die Muster zeigen das Typische des Stoffs. In diesem Sinn wird in der körperlichen Gedächtnisspeicherung das Typische einer Bewegung festgehalten. Man könnte auch sagen, dass das Muster das einer Gewohnheit zugrunde liegende Bewegungsprogramm bezeichnet. Auf der Ebene der Gebärden und Laute sind alle Muster spezielle Bewegungsprogramme.
Da die Muster unbewusst gebildet werden, stehen sie normalerweise nicht im Fokus der Aufmerksamkeit. Es ist aber sinnvoll, davon auszugehen, dass allen Gewohnheiten Muster zugrunde liegen. Denn die Gebärden und Laute sind künstliche Gebilde, die gelernt werden müssen. Sie müssen deshalb im Körper abgespeichert werden. Außerdem müssen die Muster immer wieder verändert werden, wenn die Gewohnheiten verändert und angepasst werden.
Die Musterbildung gelingt bei Gebärden reibungslos, da sie sich auf sinnlich wahrnehmbare Bewegungen bezieht. Auf der Ebene der verbalen Sprache ist die Musterbildung nicht mehr gewährleistet. Denn es können Laute gebildet werden können, bei denen dieser Bezug fehlt und sie deshalb keine unbewusst gebildeten Muster haben. So können z.B. aus Verben Substantive gebildet werden. Daraus entstehen abstrakte Allgemeinbegriffe wie Geist oder Vernunft. Bei solchen künstlichen Begriffen muss das Muster willkürlich festgelegt werden. Deshalb hat z. B. der Begriff der Vernunft bei fast jedem Philosoph eine andere Bedeutung.
Die verbale Sprache entsteht demnach, wenn Gesten durch spezifische Lautfolgen ersetzt werden. Es muss eine Kombination von mehreren Lauten sein, da sonst die Vielzahl der Bewegungen nicht abgebildet werden könnte. Auf diese Weise entstehen die Wörter.
Wenn kleine Kinder ein Wort zum ersten Mal hören, können sie nur etwas damit anfangen, wenn sie gleichzeitig die Bewegung ausführen, die zu dem Objekt gehört. Das Wort Ball wird dann mit der Aktivität des Werfens verbunden. Wenn das Kind später den Begriff ausspricht, will es seine Mutter auffordern, den Ball zu ihm zu werfen. Begriffe, bei denen ihr Bezug zu bestimmten Aktivitäten noch nicht bekannt ist und denen also noch kein Muster zugeordnet wurde, sind leer. So kann das Kind mit dem Wort traurig erst etwas anfangen, wenn seine Mutter zu ihm sagt: Du bist bestimmt jetzt traurig, weil Du den Ball verloren hast. Die Kombination von Wort und Aktivität muss in der Regel mehrmals wiederholt werden, bis dafür eine neue Gewohnheit gebildet wurde. Insofern ist jedes Wort eine kleine Gewohnheit.
Da Wörter sich von vornherein auf Muster beziehen, enthalten sie immer schon eine Bedeutung. Insofern ist es zweckmäßig, die Wörter mit den Begriffen gleichzusetzen. Die Unterscheidung der Linguisten zwischen Wort und Begriff ist wenig hilfreich, da es keine bedeutungslosen Wörter gibt.
Es ist hervorzuheben, dass es genauso wie die Gebärden auch Begriffe nur eine Bedeutung haben, wenn sie sich auf Bewegungen beziehen. Die übliche Unterscheidung zwischen Subjekten, die handeln, und Objekten, die behandelt werden, hat es erschwert, die verbale Sprache zu verstehen. Wie an dem Beispiel des Ball bereits erläutert wurde, werden auf der Ebene der Muster die Objekte damit erfasst, was man mit ihnen anfangen kann. Zu Recht hat Edmund Husserl hervorgehoben, dass alle Objekte mit dem Interesse betrachtet werden, wofür sie nützlich sind. Die Eigenschaften der Objekte spielen nur eine untergeordnete Rolle, um sie besser von anderen Objekten unterscheiden zu können. In die Begriffe von Objekten geht primär ein, für welche Aktivitäten sind gebraucht werden können. Genauso wie bei der Gebärdensprache beziehen sich alle den Begriffen zugrunde liegenden Muster auf Bewegungen. Die übliche Praxis, Objekte über ihre Eigenschaften zu definieren, ist ungenau.
In der Regel wird das Denken angestoßen, wenn man mit einem Problem konfrontiert wird. Wenn ich z. B. eine Scheibe von einem Brotlaib essen möchte, fällt mir sofort ein, dass ich mir dafür ein Messer besorgen muss. In der Vorstellung schneide ich eine Scheibe ab. Es wird dabei das Muster für Brot, das aus dem Essen eines aus Getreide gebackenen Lebensmittel besteht, mit dem Muster des Messers, das sich auf das Schneiden bezieht, verknüpft. Wenn ich kein Messer zur Verfügung habe, kommt mir vielleicht der Gedanke, dafür eine Säge zu benutzen, da dessen Muster auch aus dem Trennen besteht. In Gedanken werde ich ausprobieren, ob diese Methode zielführend sein könnte. Diese Beispiele zeigen, dass das Denken ein inneres Tun, ein Probehandeln ist.
Ob die gedanklich gewählte Methode tauglich ist, sieht man den Gedanken nicht an. Gewissheit kommt allein aus dem Handeln. Beim Handeln werden die angewandten Muster entweder bestätigt oder infrage gestellt. Wenn das Handeln scheitert, müssen bessere Muster gesucht werden und erneut gehandelt werden. Insofern ist auch das Handeln ein Denken. Es vermittelt neue Erfahrungen, die den Anstoß dazu geben, die Muster zu korrigieren.
In der Regel läuft das Denken völlig unbewusst ab. Bei vielen Problemen weiß man aus Erfahrung, was zu tun ist. Der das Handeln vorbereitende Denkprozess wird nicht bemerkt. Man hat das Gefühl, spontan zu handeln. Das Denken tritt meistens erst ins Bewusstsein, wenn geeignete Muster zur Lösung eines Problems fehlen oder wenn man durch äußere Faktoren am Handeln gehindert wird. In Phasen der Unsicherheit wird ein bewusster Suchprozess eingeschaltet.
So entsteht die doppelte Qualität des Denkens, sowohl unbewusst als auch bewusst sein zu können. Wenn man sich den bewussten Suchprozess genauer anschaut, läuft er nicht völlig frei ab. Es können nur die Muster in die Auswahl einbezogen, die bereits aus Erfahrung bekannt sind oder die andere kennen, von denen man sich beraten lässt. Außerdem wird der Suchprozess dadurch eingeengt, dass alle Möglichkeiten, die mit Angst besetzt sind, von vorn herein ausgeschlossen werden. Ohne dass man sich dessen bewusst ist, bestimmen soziale Erwartungen, welche Auswahl getroffen wird. Insofern bestimmt die soziale Umwelt mit, welche Alternativen erwogen werden.
Daraus folgt, dass auch das bewusste Denken einer eigenen Logik folgt. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass das Denken frei sei. Dieser Eindruck entsteht, weil die inneren und äußeren Zwänge, die auf das Denken einwirken, nicht bewusst sind. Im Grunde ist das Denken konformistisch. Neue Wege werden erst beschritten, wenn ein Problem von sehr vielen Menschen als eine Aufforderung erlebt wird, nach völlig neuen Wegen zu suchen. Nicht zufällig sind viele Erfindungen Zufallsentdeckungen.
Das Ziel des Denkens ist Wissen. Da es darum geht, wie etwas zu erreichen ist, ist es ein Wissen-wie. Denken ist kein Selbstzweck, sondern soll die Handlungsfähigkeit verbessern. Wissen besteht aus Handlungsanweisungen. Es ist falsch, nach der Wahrheit des Wissens zu fragen. Wissen muss sich bewähren, es muss nützlich sein.
Die Menschen verstehen, was sie innerlich nachvollziehen können. Bekannte Begriffe werden verstanden, weil man ihre Muster kennt und die davon angesprochenen Bewegungen innerlich reproduzieren kann. Sätze werden intuitiv verstanden, wenn es um bekannte Handlungsmuster geht.
Aber natürliche Prozesse wie z.B. die Photosynthese entziehen sich dem Verständnis, da sie nicht auf bekannte Muster zurückgeführt werden können. Es müssen ersatzweise Analogien mit menschlich bekannten Prozessen hergestellt werden. Solche Erkenntnisse sind deshalb zwangsläufig Hilfskonstruktionen.
Man wird dem Denken mehr gerecht, wenn von der Selbststeuerung des Denkens gesprochen wird. Dieser Begriff kommt aus der Biologie, in der man seit einiger Zeit von dem Gedanken Abschied genommen hat, dass die Pflanzen und Tiere ein inneres Ziel haben, auf das sie hinstreben. Da keine Möglichkeit besteht, das innere Ziel genau zu bestimmen und es vermutlich ein Restbestand fragwürdiger Metaphysik ist, ist es zweckmäßig, mit der Vorstellung zu arbeiten, dass die Tiere und Pflanzen sich in Abhängigkeit von ihren inneren und äußeren Bedingungen entwickeln. Selbststeuerung heißt, dass alle Organismen versuchen, die Anforderungen der natürlichen und sozialen Umwelt mit den Anforderungen, die sich aus der inneren Struktur ergeben, optimal auszugleichen. Selbststeuerung heißt auch, dass die Menschen nicht erkennen können, nach welchen Prinzipien dieser Ausgleich stattfindet und dass sie keinen Einfluss darauf nehmen können.
Es ist zweckmäßig, die Idee der Selbststeuerung auch auf das menschliche Denken anzuwenden. Das Denken unterliegt vielfältigen Abhängigkeiten. Man muss von der Fiktion Abschied nehmen, dass die Menschen frei über ihr Denken verfügen können.
Aus dem Gedanken der Selbststeuerung folgt, dass es keine inneren geistigen Instanzen gibt, die das Denken, Fühlen und Handeln steuern. Nach meiner überzeugung sind die Begriffe Geist, Vernunft, Seele, Selbst, Ich, Wille, Bewusstsein u. a., mit denen die mentalen und psychischen Prozesse bisher erklärt wurden, überbleibsel des mythologischen Denkens sind. In der Antike wurden die Götter zum Teil durch geistige innere Instanzen ersetzt. Wie an die Götter musste auch an den Geist, die Vernunft oder die Seele geglaubt werden, da sie nicht nachgewiesen werden können. Aus der Tatsache, dass die Menschen denken können, ergibt sich keineswegs, dass sie einen Geist haben.
Die kritische Analyse der Begriffe für innere mentale Instanzen ergibt, dass die Begriffe künstlich geschaffen wurden, indem Verben in Substantive umgewandelt wurden. So wurde aus atmen die Seele oder aus vernehmen die Vernunft. Da es sich um Kunstbegriffe handelt, besitzen sie kein Muster, das ihnen in der Praxis zuwächst, so wie Begriffe für sinnlich wahrnehmbare Objekte unbewusst mit einem Muster verbunden werden. Es handelt sich um leere Allgemeinbegriffe, die wegen ihrer Abstraktheit eigentlich unverständlich sind. Da sie aber mit Versprechungen beladen wurden und sie mit viel Druck gelernt werden müssen, scheinen sie schließlich eine eigene Existenz zu haben. Da an sie geglaubt wird, werden sie nicht kritisch hinterfragt. Das macht sie hervorragend dafür geeignet, vielfältige Erzählungen (z.B. „Der Geist steuert das Handeln.“ oder „Die Seele ist unsterblich.“) darauf aufzubauen.
Der Glaube an die Existenz von inneren mentalen Instanzen wurde auch davon unterstützt, dass die Menschen ihr Selbstverständnis total verändert haben, seitdem sie in Herrschaftssystemen leben. Früher wurde geglaubt, dass die Götter die Gedanken und Gefühle bestimmen. In Herrschaftssystemen entstand der Zwang, die Gedanken und Gefühle zu kontrollieren, damit man nicht in Konflikt mit den Anforderungen der Herrschenden gerät. Für die Kontrolle schien ein innerer Kontrolleur erforderlich zu sein. Diese Funktion haben die oben erwähnten inneren Instanzen übernommen. Insofern sind die inneren Instanzen eine Folge von sozialer Herrschaft. Es wurde geglaubt, dass auch die inneren psychischen und mentalen Prozesse nach den Prinzipien von Herrschen und Unterwerfen funktionieren.
Die Vorstellung einer selbstständigen Welt des Geistes konnte entstehen, weil die Menschen dazu neigen, ihre Gedanken, die aus dem unbewussten Handeln entstehen, immer sofort zu verbalisieren. Es wurde vergessen, dass die Gedanken zunächst nur aus averbalen Bewegungsmustern bestehen.
Die Philosophen haben das Kunststück fertig gebracht, auch mit Begriffen zu denken, die nicht mit konkreten Bewegungen verbunden sind und deshalb keine Muster haben. Es wurde der Trick angewendet, abstrakte Allgemeinbegriffe wie Geist, Vernunft oder Seele so zu behandeln, als wären sie menschliche Personen. Auf diese Weise konnten ihnen Aktivitäten zugeordnet werden. Es ist der gleiche Trick, der zur Erfindung der allmächtigen und allwissenden Götter geführt hat. Andere abstrakte Begriffe wie Gerechtigkeit, Glück oder Verantwortung wurden insgeheim wie Aktivitäten behandelt. Die philosophischen Gedanken haben deshalb den Charakter von Erzählungen.
Da die Philosophen beanspruchten, dass ihre Gedanken den Menschen beim Handeln helfen können, haben sie behauptet, dass sie wahr wären. Aber dieser Nachweis ist misslungen. Auch der Begriff der Wahrheit gehört zu den leeren abstrakten Allgemeinbegriffen.
Der Gedanke der Selbststeuerung konnte von der Philosophie nicht thematisiert werden, weil sie die Aufgabe verfolgt haben, die Steuerung das Denkens und Handelns durch innere geistige Instanzen zu begründen.
Kleine Kinder haben den starken Drang, alles alleine machen zu wollen. Sie wollen alle Kompetenzen lernen, um selbständig handeln zu können. In Herrschaftssystemen wird aber der Impuls zur Selbständigkeit schon früh behindert und gebrochen. Das löst heftige Wut aus. Wenn die Wut ihr Ziel nicht erreicht, die Behinderung zu beseitigen, wandelt sie sich die Resignation und Unterwerfung um. Wenn sich selbständiges Denken und Handeln nicht entwickeln können, entsteht ein tiefes Unbehagen, in einer falschen, verkehrten Welt zu leben. Man ist bereit, der Behauptung der Mächtigen zu glauben, jeder sei für sein Unbehagen selbst schuldig ist. Mit Schuldgefühlen kann das schmerzende Defizitgefühl der Ohnmacht niedergehalten werden und die Hoffnung aufgebaut werden, dass es in Zukunft besser werden wird. In Extremfällen weichen die Menschen in die Welt des psychotischen Wahns aus.
Wenn die selbständiges Denken und Handeln behindert wird, wird aufgegeben, sich an den eigenen Bedürfnissen und denen der andere Mitmenschen zu orientieren. Die Fähigkeit, die Bedürfnisse in das Denken einzubeziehen, hat die Menschen zu empathischen Wesen gemacht. Wenn die Empathie verkümmert, wird das Denken egoistisch. Es beschränkt sich auf die Frage, mit welchen Mitteln die eigenen Interessen am wirkungsvollsten verfolgt werden können, unabhängig davon, welche Folgen dies für andere Menschen und die Umwelt hat. Statt zu fragen, wie zu handeln ist, um mit anderen Menschen verbunden zu bleiben, wird gefragt, was den eigenen Interessen am meisten hilft. Es entsteht das instrumentelle Denken, das Horkheimer als Kennzeichen des Kapitalismus diagnostiziert hatte.
Das gelähmte Denken wird starr, konformistisch und fremdbestimmt. Es orientiert sich an den Konventionen und den Erwartungen der anderen. Es verliert seine kritische Kraft. Es wird anfällig für Ideologien. So wird z. B. mit der Ideologie der Willensfreiheit der Verlust des selbständigen Denkens oder mit der Ideologie des Marktes der Verlust der sozialen Selbstständigkeit verschleiert.
Diese überlegungen zeigen, dass das Denken immer in gefühlsmäßige Bezüge eingebunden ist. Das philosophische Ideal des gefühlsfreien Denkens ist eine Illusion. Wenn sich Empathie und Neugierde nicht entfalten können, macht sich Egoismus breit. Ohne eine gefühlsmäßige Einbindung gibt es kein Denken.
Wer selbstständig denken kann, weiß, wie er sich moralisch zu verhalten hat. Es braucht keine Moral, weil er sich von seinen Bedürfnissen und den Erfordernissen der Situation leiten lässt. Moralische Entscheidungen stellen sich von selbst ein. Denn das Denken kann dann spontan das richtige Verhalten auswählen. Man kann deshalb auch von einer moralischen Selbststeuerung sprechen.
Die Menschen brauchen die Moral, wenn sie nicht in der Lage sind, sich an ihren eigenen Bedürfnissen und denen der anderen Menschen zu orientieren. Sie brauchen dann Halt an moralischen Regeln, ethischen Prinzipien und der Angst vor Strafen. Wo soziale Herrschaft besteht, gibt es Moral. Die moralischen Regeln legitimieren indirekt die soziale Herrschaft, da sie den Eindruck unterstützen, für unmoralisches Verhalten schuldig zu sein.
Nur in Herrschaftssystemen wird ständig über Werte geredet. Wenn alle Menschen gleich sind, respektieren sie sich wechselseitig und legen großen Wert auf faires Verhalten. Das Gerede über die Werte ist ein Alarmzeichen, dass die realen sozialen Lebensbedingungen moralisches Verhalten unmöglich machen.
Das Schlüsselereignis in der Menschheitsgeschichte ist vermutlich die Erfindung des Privateigentums, also der Eigentumsform, die Besitzern das ausschließliche Verfügungsrecht über das Eigentum verleiht. Es war verhängnisvoll, dass das Privateigentum die Tendenz hat, sich zu vermehren, so dass ein zunehmender Anteil der Menschen vom Eigentum ausgeschlossen wurde. Es entstand die Möglichkeit, andere Menschen in Abhängigkeit zu zwingen. Wer keinen Grund und Boden besitzt, muss für Eigentümer arbeiten, um zu überleben. Da die Eigentümer so aufgewachsen sind, dass sie ihre Empathie verloren haben, wurde die Abhängigkeit mit langen Arbeitszeiten und geringem Lohn schamlos ausgenutzt. Dafür musste rücksichtslos Gewalt eingesetzt werden. Die Folge war, dass die Gewalt in alle sozialen Beziehungen eingedrungen ist. Wer Gewalt erfährt, hält sich unbewusst an Schwächeren schadlos. Die Opfer waren die Ehefrauen und Kinder und sozial schwächere Gruppen. Viele emotionale Verletzungen gehen auf das Konto der mit der Abhängigkeit verbundenen Gewalt.
Die soziale Dynamik des Privateigentums war am Anfang der Entwicklung ein großes ärgernis. Das Privateigentum wurde deshalb z. B. vom frühen Christentum heftig bekämpft. Je mehr sich aber die soziale Herrschaft auf der Basis des Privateigentums etabliert hat, umso mehr wurden Ideologien verbreitet, die das Eigentum als Garant des sozialen Fortschritts und Wohlstands sanktionieren. Je mehr die Eigentumskonzentration in wenigen Händen zunahm, umso mehr wurde das Eigentum regelrecht heilig gesprochen.
Das Unbehagen setzt sich somit aus dem Verlust der sozialen Selbstständigkeit und den emotionalen Verletzungen zusammen, die darüber hinaus aus der Gewalt entstanden sind, die unfairen Lebensbedingungen zu verteidigen. Die überwindung des Leidens an der sozialen Ungleichheit verlangt politische Reformen. Das Leiden aus erfahrener Gewalt kann unter Umständen mit Hilfe von Psychotherapie verringert werden.
Eigentum ist nicht identisch mit Abhängigkeit. Eigentum kann demokratisiert werden. Wenn jeder ein Stimmrecht in der Firma hat, in der er arbeitet, wird der Gegensatz von Kapital und Arbeit aufgehoben. An die Stelle von konkurrierenden Kapitaleignern tritt der Konkurrenz von Unternehmen um Kreativität fördernde Arbeitsplätze und ökologisch wertvolle Produkte. Es verlangt die Rückkehr zum Prinzip der Selbstverwaltung, das vor der Etablierung des Herrschafts- und Eigentumsprinzip vorherrschte.
#Die Befreiung von sozialer Abhängigkeit setzt die Befreiung des Denkens von falschen Illusionen voraus. In Herrschaftssystemen wird jedem der Glaube an die Willensfreiheit indoktiniert. Deshalb konnte der große Einfluss der Gewohnheiten auf das Denken, Fühlen und Handeln nicht anerkannt werden. Am Glauben an die Freiheit kann nur festgehalten werden, wenn die Gewohnheiten abgelehnt werden. Die Befreiung setzt deshalb die Integration der Gewohnheiten in das Selbstverständnis der Menschen voraus. Dann wird sichtbar, wie sich die ungerechten Lebensbedingungen in den Gewohnheiten reproduzieren.
Nach den bisherigen überlegungen ist das Denken möglich geworden, weil die Menschen fähig sind, in der Vorstellung zu handeln, also reale Bewegungen simulieren zu können. Noch die abstraktesten Gedanken bestehen aus vorgestellten Bewegungen. Damit werden die Gedanken aus den luftigen Räumen des Geistes in die biologische Welt des menschlichen Körpers heruntergeholt. Es macht keinen Sinn, von verkörperten Gedanken zu sprechen, wie es in der angelsächsischen Philosophy of Mind geschieht. Damit wird an dem Dualismus von Körper und Geist festgehalten, der in dem hier vorgeschlagenen Denkansatz überwunden wird. Der ganze menschliche Organismus ist das Medium des Denkens. Es war ein Fehler, dass Maturana und Varela nach einer biologischen Erklärung des Denkens gesucht haben. Das Denkens kann nur im Rahmen der einzigartigen Fähigkeiten des menschlichen Handelns verstanden werden.
Alles, was die Menschen ausmacht – ihre Selbstreflexivität, Kreativität, Herstellung von Werkzeugen, Sprachfähigkeit, Kunst, Wissenschaft – , verdankt sich den überragenden motorischen Fähigkeiten ihrer Hände. Die Hände sind das Merkmal, das die Menschen gegenüber allen anderen Lebewesen auszeichnet. Die Hände haben die Menschen zu Wesen gemacht, die sich durch herstellendes Handeln und vorbereitendes Denken auszeichnen.
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