Philosophie der Muster    Aufsatz "Empathie"

Ein neuer Empathiebegriff (2017)

Zu Fritz Breithaupts Buch Die dunklen Seiten der Empathie

1. Einleitung

Seit einigen Jahren wird die Empathie als der zentrale Schlüssel zum Verständnis der Moral verstanden. Viele betrachten die Empathie als moralischen Leitwert zur Lösung von sozialen Problemen. Jeremy Rifkin sieht in der Empathie sogar den moralischen Kitt der Gesellschaft. → [1]

Die Glorifizierung der Empathie hat viele Kritiker aufgerufen, vor einer Überschätzung der Empathie warnen. Sie weisen darauf hin, dass die Empathie oft ein schlechter Ratgeber ist, da sie parteiisch ist → [2] und dass die Empathie auch dunkle Seiten hat. → [3] Viele kulturelle Phänomene wie Sadismus, Strafen, Vergewaltigung, politische Gefolgschaft, Stalker, Helikopter-Mütter u.a. ließen sich nach der Auffassung von Breithaupt besser verstehen, wenn sie aus der Sicht der Empathie begriffen werden.

Im Folgenden wird die These vertreten, dass die kontroverse Einschätzung der Empathie damit zusammenhängt, dass jeder Autor seinen eigenen Begriff verwendet und dass meist ein sehr weiter und damit relativ unbestimmter Begriff der Empathie verwendet wird. Das liegt daran, dass es bisher nicht gelungen ist, eine eindeutige, präzise und allseits akzeptierte Definition der Empathie zu entwickeln.

2. Die Schwierigkeit, Empathie zu definieren

Es ist bemerkenswert, dass der Begriff der Empathie ein relativ junger Begriff ist. Er ist erst 1907 aus der Übersetzung der deutschen »Einfühlung« durch den amerikanischen Psychologen Titchener hervorgegangen. Aus der Rückübersetzung ins Deutsche entstand die Empathie. Der Begriff der Einfühlung bezog sich ursprünglich bei Theodor Lipps auf die ästhetische Wahrnehmung. Kunstwerke würden verstanden werden, indem der Betrachter seine eigenen Gefühle in sie hineinprojiziert. Erst später wurde der neue Begriff auch für das psychische Verstehen anderer Menschen verwendet.

Alle Definitionen von Begriffen für die psychische Innenwelt stehen grundsätzlich vor der Schwierigkeit, dass alle psychischen Zustände kaum voneinander abzugrenzen sind. Alle psychischen Fähigkeiten gehen nahtlos ineinander über und bestimmen sich auf unentwirrbare Weise wechselseitig. Vor jeder Definition steht deshalb die Aufgabe, eine bestimmte psychische Fähigkeit genau zu identifizieren. Zusätzlich wird jede Definition unvermeidlich von der Theorie bestimmt, die man über die Funktion der Gefühle hat. Insofern kann jede Definition nicht mehr als eine Interpretation sein. Alle Definitionen stellen letztlich nur provisorische Versuche dar, die Phänomene einzugrenzen, die sinnvollerweise mit dem Begriff der Empathie gefasst werden sollten.

Die Hirnforschung hat übrigens bisher wenig dazu beigetragen, die Empathie von anderen psychischen Fähigkeiten abzugrenzen. Das liegt daran, dass jedem empirischen Versuchsaufbau bereits bestimmte Begriffsdefinitionen zugrundegelegt werden muss. Da die Ergebnisse mit den begrifflichen Vorentscheidungen interpretiert werden, können sie immer nur die verwendeten Begriffe bestätigen.

Der gemeinsame Kern aller gebräuchlichen Definitionen ist das Mitfühlen mit den Gefühlen anderer Menschen. Viele orientieren sich an der Definition in Wikipedia: »Empathie bezeichnet die Fähigkeit und Bereitschaft, Empfindungen, Gedanken, Emotionen, Motive und Persönlichkeitsmerkmale einer anderen Person zu erkennen und zu verstehen.« Breithaupt definiert Empathie als Mit-Erleben. »Mit-Erleben im Allgemeinen heißt, imaginär den Standpunkt eines anderen einzunehmen und seine oder ihre Reaktion auf die Situation zu teilen. Man schlüpft dort in die Haut eines anderen, wo sie auf ihre Umwelt trifft.« »Mit-Erleben bedeutet, dass man in die (kognitive, emotionale, leibliche) Situation eines anderen Wesens transportiert wird. → [3] Es wird sich zeigen, dass diese Definitionen zu weit angelegt und deshalb unscharf sind.

Im Folgenden wird argumentiert, dass die Definition mit Hilfe des Mitfühlens und Miterlebens unbrauchbar ist. Es wird eine alternative Definition vorgeschlagen und begründet, die auf dem Spüren der Bedürfnisse von anderen Menschen aufbaut.

Die historische Arbeit an der Begriffsschärfung ist noch lange nicht abgeschlossen. Es wäre eine Illusion zu glauben, dass jemals eine endgültige Definition gefunden werden kann. Denn jede Definition hängt davon ab, welche Funktion den Emotionen im Allgemeinen und der Empathie im Besonderen gegeben wird.

3. Was weiß man vom anderen durch bloße Beobachtung?

Um zu einer brauchbaren Definition der Empathie wird vorgeschlagen, verschiedene psychische Zustände zu analysieren, die sich einstellen, wenn es um das Verständnis anderer Menschen geht, das allein aus der Beobachtung gewonnen wird. Auf dieser Basis kann entschieden werden, welcher psychische Zustand zweckmäßigerweise mit dem Begriff der Empathie bezeichnet werden sollte. Es muss gefordert werden, dass der Begriff sich auf spezifische Fähigkeiten bezieht, die nicht bereits beim normalen Verstehen der Gefühle und Gedanken anderer am Werke sind und es sich um einen Erfahrungsbereich handelt, der nicht bereits durch einen eingeführten Begriff abgedeckt wird. Die Einschränkung auf Beobachtbares ist zweckmäßig, da es zur Dimension der Gefühlen gehört, dass sie präverbal verstanden werden können.

3.1. Die Gefühle anderer nachvollzogen oder nachahmen.

Wenn Gefühle bei anderen beobachtet werden, werden sie anhand des sichtbaren körperlichen Ausdrucks spontan innerlich nachvollzogen bzw. simuliert. Die Beobachtung rührt an ähnliche eigene Gefühle. Die Gefühle der anderen werden umso besser verstanden, je mehr man seine eigenen Gefühle kennt. Umgekehrt bedeutet dies, dass man Gefühle anderer, die man selbst noch nicht erfahren hat, nicht richtig verstehen kann und auf zusätzliche verbale Erläuterungen angewiesen ist.

Es ist keine Frage, ob das Mitfühlen die Gefühle der anderen akkurat wiedergibt. Wenige körperliche Merkmale genügen, um die Gefühle der anderen als ähnlich mit den eigenen Gefühlen zu erkennen.

Die Gefühle anderer beobachten ist im Grunde immer ein Mitfühlen. Zu Recht redet man von Mitfreude und Mitleiden. Das Mitfühlen ist deshalb keine eigenständige Fähigkeit, sondern gehört zur menschlichen Grundausstattung bei der Wahrnehmung von Gefühlen. Wenn man den Kontakt zu den eigenen Gefühlen verliert, geht auch die Fähigkeit verloren, mit anderen mitzufühlen.

Seit einiger Zeit glaubt die Hirnforschung, den Schlüssel für die Empathie gefunden zu haben. Aus der Beobachtung, dass bei der Wahrnehmung von Bewegungen anderer die gleichen Gehirnareale aktiviert werden, die auch bei der eigenen Ausführung dieser Bewegungen aktiv sind, wurde geschlossen, dass die daran beteiligten Neuronen, die als Spiegelneuronen bezeichnet wurden, auch für das Mitfühlen zuständig sind. Seitdem wird immer wieder behauptet, dass die Spiegelneuronen die Grundlage der Empathie sind. Im Grunde wird nur bestätigt, dass alle Bewegungen – Gefühle sind nichts anderes als körperliche Bewegungen – spontan innerlich nachvollzogen werden.

Daraus ergibt sich, dass eine Definition der Empathie mit dem Mitfühlen völlig unzureichend ist, da das Mitfühlen bei allen Kontakten beteiligt ist, in denen immer auch Gefühle mit im Spiel sind.

3.2. Die Gedanken anderer nachvollziehen bzw. simulieren

Die Gedanken anderer können grundsätzlich nicht durch Beobachtung verstanden werden. Allerdings kann aus dem Handeln des anderen erschlossen werden, welche Ziele verfolgt werden. Aus den eigenen Erfahrungen weiß man, welche Gedanken wahrscheinlich damit verbunden sind. Wenn sich das Handeln und die dahinter stehenden Gedanken nicht spontan erschließen, bemüht man sich, sich bewusst in die Position des anderen hineinzuversetzen und dessen Perspektive einzunehmen. Ähnlich wie bei den Gefühlen werden also beim Verständnis der Gedanken anderer die eigenen Erfahrungen auf den anderen projiziert. Dabei kann es durchaus graduelle Unterschiede des Verständnisses geben, da die Perspektiveübernahme besser gelingt, wenn sie trainiert wird.

Auch beim Hören von Geschichten muss davon ausgegangen werden, dass sie nur verstanden werden können, wenn alle einzelnen Verhaltensschritte innerlich nachvollzogen werden. Die Handlungen der anderen werden miterlebt, indem sie innerlich reproduziert werden. → [4]

Der innere Nachvollzog beobachteter oder gehörter Handlungen gehört genauso wie das Mitfühlen zur menschlichen Grundausstattung bei der Beobachtung anderer. Deshalb ist es nicht zweckmäßig, das mentale Miterleben mit in die Definition der Empathie aufzunehmen. Deshalb ist es sinnlos, von kognitiver Empathie zu sprechen.

3.3. Sich mit dem Gefühlen anderer identifizieren

Bei der Beobachtung von Gefühlen anderer ist immer das Problem gegeben, dass die Differenz zwischen sich und dem anderen verloren gehen kann und man mit den Gefühlen der anderen verschmilzt. Es wird dann von emotionaler Ansteckung gesprochen. Man glaubt, dass Gefühl selbst gebildet zu haben. Es geht das Bewusstsein verloren, dass die eigenen Gefühle von anderen ausgelöst wurden.

Die Identifikation mit den Gefühlen anderer ist im Grunde mit dem Verlust des Bewusstseins seiner selbst verbunden. Sie ist Ausdruck einer mangelhaften Selbstachtung und Identität. Aus Unsicherheit bindet man sich an andere und lebt über sie. Der andere wird nicht verstanden, sondern missbraucht, um eigene persönliche Versäumnisse nachzuholen

Da emotionale Identifizierung die Folge von persönlichen Defiziten ist, ist es nicht sinnvoll, die Identifizierung als eine Vorstufe der Empathie zu betrachten, wie es Breithaupt vorschlägt.

3.4. Auf die Gefühle anderer mit eigenen Gefühlen reagieren

Im Normalfall löst der innere Nachvollzug von Gefühlen anderer sofort eine eigenständige Gefühlsreaktion aus. So kann die Wut des anderen das Gefühl der Schuld hervorrufen, weil man anerkennt, dass man den anderen verletzt hat. Die Gefühle sind eine angemessene Reaktion auf die Botschaft, die in den Gefühlen des anderen wahrgenommen werden. Die eigenen Gefühle lösen einen Impuls auf, auf die emotionale Botschaft des anderen zu reagieren. Da die eigenen Gefühle als eine sinnvolle Reaktion erlebt werden, schwingt in ihnen die Überzeugung mit, den anderen richtig verstanden zu haben.

Wenn man sich die wenigen Gefühle anschaut, die von den Psychologen zu den Basisgefühlen gerechnet werden, fällt auf, dass sie stets mit einem Handlungsimpuls verbunden sind. → [5] Daraus leitet sich die Theorie ab, dass die Gefühle evolutionär die Funktion haben, das Handeln anzuleiten. Dies ist bei der Angst unübersehbar, da sie zur Flucht oder zum Kampf aktiviert. Aber auch die Freude, die dazu anhält, ähnliche Situationen, die mit einem Wohlgefühl verbunden sind, immer wieder aufzusuchen, ist mit einem Handlungsimpuls verbunden.

Es ist auffallend, dass das Mitleid von den Psychologen nicht zur den Basisgefühlen gerechnet wird. Das hängt wohl damit zusammen, dass Mitleid nicht notwendig mit einem Handlungsimpuls verbunden ist. Man kann mit jemanden mitleiden, ohne dass daraus eine Handlung folgt.

Wenn bei der Vielzahl menschlicher Gefühle wie Hass, Ärger, Scham, Neid u.a. kein Handlungsimpuls feststellbar ist, liegt das daran, dass diese Gefühle sich gerade dadurch auszeichnen, dass sie mit einem blockiertem Handeln verbunden sind. Man ärgert sich, weil man Angst aus, seine Wut auszudrücken.

3.5. Gespür, was der andere braucht

Aus der Beziehung von Müttern zu ihren Säuglingen geht hervor, dass unmittelbar gespürt werden kann, was dem anderen fehlt und wie ihm geholfen werden kann. Das undifferenzierte Schreien des Säuglings kann von der Mutter als ein Auftrag verstanden werden, etwas Bestimmtes zu seinem Wohl zu tun. Es ist nicht erforderlich, dass die Empfindungen und Gefühle des Säuglings simuliert werden. Es wird unmittelbar aus der Situation heraus gespürt, was er braucht.

Beim Gespür, was der andere braucht, geht es also um das spontane Verstehen der Bedürfnisse des anderen. Wenn sich z.B. jemand verletzt hat, müssen seine Schmerzen nicht nachvollzogen werden, da intuitiv gespürt wird, dass ihm geholfen werden muss.

Es wird vermutet, dass die menschliche Fähigkeit, die Bedürfnisse anderer zu spüren und sich für deren Befriedigung einzusetzen, evolutionär aufgrund der langjährigen Abhängigkeit der Kleinkinder von der elterlichen Fürsorge und Pflege entstanden ist. Die intensive Angewiesenheit der menschlichen Kleinkinder auf die elterliche Pflege und Fürsorge ist nirgends im Tierreich zu beobachten.

Es handelt sich um einen angeborenen Sinn. Bereits bei einjährigen Kindern kann beobachtet werden, dass sie anderen helfen wollen, wenn sie traurig sind. Es ist berechtigt, von einer Art von Sinn zu sprechen, da er ermöglicht, den Zustand anderer zu erfassen und darauf zu reagieren. Er unterscheidet sich von normalen Gefühlen, da er nicht mit einem spezifischen körperlichen Ausdruck verbunden ist, wie dies für die Gefühle typisch ist. Es wird deshalb von einer emotionalen Disposition gesprochen. Er wird zu Recht als gefühlsähnlich betrachtet, weil er sich durch einen Handlungsimpuls auszeichnet, der zum Wesen der Gefühle gehört.

Zu Recht wurde deshalb von Anthropologen vorgeschlagen, diese bei der menschlichen Brutpflege entstandene Fähigkeit mit dem Begriff der Empathie zu belegen. → [6] Bereits bei höher entwickelten Primaten (Schimpansen) können Phänomene beobachtet werden, die als Ausdruck von Empathie interpretiert werden können. Die menschliche Empathie wurde bei den Primaten durch die im Vergleich zu den Menschen weniger intensive Brutpflege evolutionär vorbereitet.

Die Fähigkeit, die Bedürfnisse der anderen unmittelbar zu spüren und darauf zu reagieren, hat sich als eine nützliche Fähigkeit erwiesen. Es wird deshalb in der Erziehung darauf geachtet, dass sie sich entfaltet und in allen sozialen Beziehungen spontan zum Zuge kommt. Was in der Ethik als Achtung bezeichnet wird, ist im Grunde die Beachtung der Bedürfnisse der anderen.

Der Impuls, anderen zu helfen, geht häufig mit einem Gefühl einher. Meistens ist es Mitleid oder Trauer. Bei dem hier vorgeschlagenen Verständnis der Empathie ist der Hilfeimpuls nicht Bestandteil des Mitleids. Vielmehr ist das Gefühl des Mitleids ein Begleitgefühl der empathischen Hilfsreaktion. Der Begriff der Empathie soll die spezielle Fähigkeit abdecken, die Bedürfnisse anderer zu erkennen, ohne dass dabei ein Gefühl mit im Spiel sein muss.

Der Empathie wird häufig vorgeworfen, dass sie blind ist und oft zum Handeln gegen alle Vernunft anstiftet. → [7] Hier wird zu Unrecht das Vorurteil benutzt, dass die Gefühle irrational sind, wie es im Begriff des Bauchgefühls zum Ausdruck kommt. Die Erfahrung zeigt, dass in alle Gefühle persönliche Erfahrungen eingehen. Das gilt auch für die Empathie. Aufgrund von Lebenserfahrungen fällt es immer leichter, die Bedürfnisse der anderen richtig zu erkennen und angemessen darauf zu reagieren. Insofern ist die häufig vorgenommene Polarisierung von Empathie und Vernunft nicht berechtigt.

3.6. Folgerungen

Aus diesen Überlegungen ergibt sich, dass der Begriff der Empathie dafür reserviert werden sollte, dass gespürt wird, was dem anderen fehlt und dass mit einer bestimmten Verhaltensweise darauf reagiert wird. Diese Definition beschränkt die Empathie nicht auf die direkte materielle Hilfe anderer. Das Ziel der Empathie kann auch das psychische Bedürfnis nach Zuwendung, Trost oder Zuhören sein.

Empathie hat primär nichts mit den Gefühlen, sondern mit den Bedürfnissen der anderen zu tun. Das schließt nicht aus, dass in Situationen, in denen empathisch reagiert wird, auch Gefühle auftreten können. Diese Gefühle definieren aber nicht die Empathie. Das Einfühlungsvermögen wird zur Empathie, wenn es zum Handeln zugunsten anderer kommt.

Deshalb ist es nicht zweckmäßig, den Impuls, anderen zu helfen und für andere da zu sein, dem Mitgefühl zuzurechnen. → [8] Wie oben dargestellt wurde, kann das Mitgefühl nicht als ein eigenständiges Gefühl angesehen werden, da es eine Grundeigenschaft für das Verständnis der Gefühle anderer ist. Es bliebe dann ungeklärt, woher der Handlungsimpuls kommt.

Offensichtlich hatte vor der Erfindung des Begriffs der Empathie das Wort Mitleid die Funktion, das Phänomen der Empathie abzudecken. → [9] Beim Mitleid wurde immer auch die tätige Hilfe für andere mitgedacht. Mit der Erfindung des Begriffs der Empathie muss das Mitleid neu gedacht werden.

Die Empathie ist aus dieser Sicht eine durch und durch positive Fähigkeit. Allerdings ist zu beachten, dass sie sich nur unter gleichberechtigten Beziehungen voll entfalten kann. Unter anhaltendem sozialen Druck und Stress kann sie sehr leicht verletzt und wie jedes Gefühl blockiert werden. In einer Welt, in der erwartet wird, dass die Bedürfnisse der anderen beachtet werden, wirkt der Mangel an Empathie als befremdlich, wenn nicht sogar als inhuman.

Alle anderen Gefühlszustände beim Verstehen anderer, die oben beschrieben wurden, haben mit der Empathie nichts tun. Wer Empathie als Mitfühlen oder Miterleben versteht, verfehlt das Wesen der Empathie. Es ist deshalb auch nicht sinnvoll, von reifer Empathie zu sprechen. → [10] Entweder drückt sich Empathie im Verhalten aus oder es muss von einer beschädigten oder reduzierten Empathie ausgegangen werden.

Empathie bleibt unterbestimmt, wenn damit verstanden wird, den egozentrischen Standpunkt zu überwinden und andere Personen als autonome Wesen zu erfassen. Ausschlaggebend ist der Handlungsimpuls.

Bei allen Definitionen, die der Empathie negative Eigenschaften zuschreiben (unparteiisch, fehlerhaft, ohne Blick auf das Ganze u.a.) wird der Fehler gemacht, von einer zu weiten Definition der Empathie auszugehen. Es ist völlig abwegig, wenn Breithaupt die Empathie als egoistisch bezeichnet, da bei der Empathie die eigenen Gefühle im Mittelpunkt stehen würden. → [11] Damit werden im Grunde alle Gefühle als egoistisch abgewertet.

Im Grunde war die Wahl des Begriffs der Empathie von Anfang an eine Fehlentscheidung. Für das normale Mitfühlen ist er nicht erforderlich, weil er zur falschen Annahme verleitet, dass es sich dabei um eine eigenständige Fähigkeit handelt. Für die hier vorgeschlagene Verwendung ist er verwirrend, da er durch seinen etymologischen Bezug zu den Gefühlen (pathos (griechisch)= Gefühl) den Gehalt, nämlich die Bedürfnisse, verfehlt, um den es eigentlich geht. Insofern ist es irreführend, aus dem Begriff der Empathie seine Bedeutung abzuleiten.

Wenn der Begriff dennoch weiterhin für das Phänomen, dass die Bedürfnisse anderer unmittelbar verstanden werden und darauf reagiert wird, verwendet wird, muss beachtet werden, dass es sich nur um eine analogische Verwendung handelt, da der Begriff sich ja ursprünglich nur auf die künstlerische Wahrnehmung bezogen hat.

4. Neuinterpretation der Phänomene, die nach Auffassung von Breithaupt Ausdruck von Empathie sind.

Breithaupt behauptet, dass sich viele negativen Seiten des menschlichen Verhaltens direkt aus der Empathie erklären ließen. Es wird sich zeigen, dass es sich dabei um krasse Fehlinterpretationen handelt, die mit seinem völlig unscharfen Empathiebegriff zusammenhängen.

4.1. Sadismus/ Strafe

Breithaupt behauptet, dass die Lust des Sadisten damit zusammenhängt, dass er mit dem Opfer mitfühlt. → [12] Das eigentliche Ziel der Verletzungen sei, mit den Qualen des anderen mitzufühlen. Nach den obigen Überlegungen kann das Mitfühlen nicht die eigentliche Ursache für das Zufügen von Qualen sein. Das Mitfühlen ist lediglich die Voraussetzung dafür, dass das Quälen möglich ist. Ohne die wahrgenommenen Qualen des anderen wäre die Handlung sinnlos. Dem Sadismus liegen stärkere Motive zugrunde, wie die breite Literatur zum Sadismus belegt. Wenn diese vernachlässigt werden, kommt es zu der absurden Annahme, dass sadistische Handlungen um des Genusses der Empathie willen begangen werden.

Ebenso abwegig ist die Theorie, dass die Bestrafung anderer wegen der damit verbundenen Lust vorgenommen wird. → [13] Damit wird der soziale Sinn von Strafe missverstanden. Die Bestrafung ist im Grunde eine sozial verträglichere Alternative zur Rache, die mit dem großen Nachteil verbunden ist, dass sie neue Gewalt erzeugt. Mit der moralischen Bestrafung kann die durch die Verletzung von sozialen Normen gestörte Ordnung wiederhergestellt und ein Neuanfang gefunden werden. Darauf beruht die mit der Bestrafung oft verbundene Befriedigung.

4.2. Vergewaltigung

Auch beim Vergewaltiger muss davon ausgegangen werden, dass das eigentliche Ziel nicht darin besteht, mit dem leidenden Opfer mitzufühlen, wie Breithaupt darstellt. → [14] Die Fähigkeit, andere Menschen zu demütigen, ihnen Schmerzen zuzufügen und ihre Bedürfnisse zu missachten, weist auf ein großes Empathiedefizit hin. Die Erklärung von Breithaupt vereinfacht das komplexe Phänomen der Vergewaltigung und ignoriert alle anderen Erklärungen, wie zum Beispiel, dass der Vergewaltiger das Verhaltensmuster gelernt hat, dass intimer Kontakt nur über Gewaltanwendung erlangt werden kann.

4.3. Schwarz-Weiß-Denken

Breithaupt vertritt die These, dass es eine natürliche Tendenz ist, bei einem Konflikt zwischen zwei Menschen oder Gruppen die Partei einer der beiden Seiten zu ergreifen. Die Parteinahme würde durch die Empathie schrittweise befestigt. → [15] Konflikte würden dadurch verschärft werden. Empathie verstärke so das Denken in dualen Kategorien wie Gut und Böse oder Freund und Feind.

Die Überlegungen sind nicht nachvollziehbar, weil Parteinahme nicht voraussetzt, dass man mit den anderen mitfühlt. Man koaliert mit der Seite, die den eigenen Interessen am nächsten steht. Bei der Parteinahme handelt es sich um eine emotionale Identifizierung. Es ist fraglich, ob die Identifizierung eine natürliches Vermögen ist. Es spricht viel dafür, dass sie die Folge von sozialer Abhängigkeit ist. Um die eigene Schwäche zu kompensieren, identifiziert man sich mit dem Stärkeren oder Schwächeren.

Es ist deshalb nicht berechtigt, die Empathie als eine einfache Form der Empathie aufzufassen, wie Breithaupt vorschlägt. → [16]

4.4. Politische Gefolgschaft

Die absurde These von Breithaupt, dass der amerikanische Präsident Donald Trump ein Meister der Empathie sei, ist die Folge davon, dass auch die Identifikation in den Begriff der Empathie mit aufgenommen wird. → [17] Politiker können nur erfolgreich sein, wenn es ihnen gelingt, ihren Versprechungen Glaubwürdigkeit zu verleihen. Dafür ist es nicht erforderlich, sich in die Situation der Menschen hineinzuversetzen. Es genügt völlig, die zu kurz gekommenen Bedürfnisse der Wähler zu kennen und einfache Antworten darauf zu finden. Würden sich die Politiker wirklich die Mühe machen, sich in die Situation der Wähler hineinzuversetzen, wären sie unfähig zu einfachen Versprechungen.

4.5. Helikopter-Eltern

Das Phänomen der Helikopter-Eltern, die ihre Kinder Schritt für Schritt überwachen und klare Vorstellungen haben, welche Leistungen die Kinder zu bringen haben, wird völlig verkannt, wenn das Verhalten als Ausdruck von Mitempfinden und Mitfühlen interpretiert wird. → [18] Es kann besser damit erklärt werden, dass sich die Eltern übermäßig mit ihren Kindern identifizieren, weil sie damit Versäumnisse in ihrem eigenen Leben nachholen wollen. Es liegt hier ein totales Defizit an Empathie vor, weil die Bedürfnisse der Kinder völlig missachtet werden.

4.6. Fazit

Die kurze Analyse der Beispiele, an denen Breithaupt die dunklen Seiten der Empathie darstellt, zeigt, dass der breite Empathiebegriff keine theoretischen Vorteile bei ihrer Erklärung bietet. Es ist zweckmäßig, den Empathiebegriff so scharf zu fassen, wie es oben vorgeschlagen wurde. Empathie ist das Spüren, welche Bedürfnisse andere Menschen haben und die Bereitschaft, darauf angemessen zu reagieren.

5. Empathie und Moral

Breithaupt zieht aus seinen Überlegungen die Konsequenz, dass die Empathie kein Grundpfeiler der Moral ist. Mehr Empathie führe keineswegs zu mehr Moral. Der moralische Wert der Empathie sei in der Vergangenheit völlig übertrieben worden. Diese Auffassung folgt konsequent aus seinem verwässerten Empathiebegriff.

Stützt man sich dagegen auf den geschärften Begriff der Empathie, drängt sich der Gedanke auf, dass moralisches Verhalten überhaupt erst durch Empathie begründet wird. Nur wenn die Bedürfnisse der anderen ernst genommen werden, können sich humane moralische Regeln herausbilden. Es ist ein eklatanter Mangel der traditionellen Moraltheorien, dass sie die Bedeutung der Orientierung an den Bedürfnissen anderer nicht klar erkannt haben. Wenn die moralischen Regeln nicht in der empathischen Reaktion verwurzelt sind, sondern lediglich aus Gehorsam und Angst vor Strafe eingehalten werden, verlieren sie ihre Verbindlichkeit und werden opportunistisch übertreten. Ohne Empathie kann es keine authentische, aus Überzeugung gelebte Moral geben!



1 Rifkin, Jeremy: Die empathische Zivilisation: Wege zu einem globalen Bewusstsein Taschenbuch 2011 2 http://www.zeit.de/2015/49/psychologie-empathie-terror-mitgefuehl-interview/komplettansicht 3 Breithaupt, Fritz: Die dunklen Seiten der Empathie, Berlin 2015, S. 15 4 Neubeck, Klaus: Wie Denken funktioniert, München 2017 5 In diesem Zusammenhang wird die wichtige Unterscheidung zwischen Emotion und Gefühl vernachlässigt. Vgl. Neubeck, Klaus: Wie Denken funktioniert, München 2017 6 Frans de Waal: Das Prinzip Empathie, München 2011 7 https://www.novo-argumente.com/artikel/zu_viel_empathie_in_der_politik 8 Vgl. Fußnote 2 9 Vgl. Schopenhauer, Arthur: Über die Grundlage der Moral,Stuttgart 2013 10 Deigh, John: The Sources of Moral Agency. Essays in Moral Psychology and Freudian Theory. Cambridge. 1996 11 Süddeutsche Zeitung 4.2.2017 12 Breithaupt, Fritz: Die dunklen Seiten der Empathie, Berlin 2017, S. 158 13 Ebd. S. 164 14 Ebd. S. 178 15 Ebd. S. 104 16 Ebd. S. 134 17 Ebd. S. 211 18 Ebd. S. 189