Philosophie der Muster    Aufsatz "Atemmembra"n

Die Atemmembran

Reflexionen zur verbindenden und heilenden Kraft des Atems

(veröffentlicht in: Information AFA, Verband der AtempädagogInnen/Atemtherapeuten  Arbeits- und Forschungsgemeinschaft, Heft  3/2003)

Der Aufsatz stellt eine knappe Zusammenfassung einiger zentraler Gedanken meines Buches "Psychosomatik des Atems" (Frankfurt/M 2000) dar. Teilweise beziehe ich mich auch auf mein neues Buch "Atem und Glück"

Ein Ersatz für den mythologischen Begriff der Seele

1 Einleitung

Wer nach dem Wesen des Atems fragt, stößt bald auf Formulierungen wie: »Der Atem befindet sich an der Nahtstelle zwischen Körper und Geist«, »Der Atem verbindet Leib und Seele«, oder »Der Atem ist das Tor zur Transzendenz«. Solche Formulierungen haben mich immer wieder neugierig gemacht: Was macht den Atem dazu fähig, zwischen Körperlichem und Seelischen zu vermitteln, obwohl er doch etwas rein Körperliches zu sein scheint? Muss der Atem nicht auch etwas Seelisch-Geistiges besitzen, damit er fähig ist, das völlig Unterschiedliche zu verbinden? Mich haben diese Fragen aus zwei Gründen interessiert:

1) Von Anfang hat mich am Atem das Versprechen angesprochen, dass man damit besser in Kontakt mit seinen Gefühlen kommen könnte. Kann ich auf dem Weg von Atemübungen die starke Neigung, meine Gefühle übermäßig zurückzuhalten, auflösen und meinen Gefühlen mehr Freiheit geben? Was passiert eigentlich auf der körperlichen Ebene, wenn Gefühle zurückgehalten werden und warum kann der Atem hier befreiend wirken?

2) In meiner soziologischen Ausbildung habe ich die Grundeinstellung gelernt, dass alle Theorien von ihrer Funktion für die sozialen Lebensbedingungen her erklärt werden müssen ("Geist als Überbau"). Ich bin deshalb sehr skeptisch gegenüber allen Theorien, die den Atem als eine höheren Kraft ansehen. Es regt sich bei mir der Verdacht, dass der Atem zu einer transzendenten oder spirituellen Kraft überhöht wird.

Bei der Suche nach Erklärungen, was den Atem dazu befähigt, Körper und der Seele miteinander zu verbinden, und warum ihm häufig eine Sonderstellung eingeräumt wird, habe ich in der Literatur keine befriedigenden Antworten gefunden. Fast alle Antworten sind vom esoterischen Denken geprägt. Solange aber der Atem in die esoterische Ecke geschoben wird,  ist es in einer vom naturwissenschaftlichen Denken geprägten Zeit schwierig, öffentliche Anerkennung für die Atemarbeit zu finden.

2 Die soziale Membran

Ein neue Antwort auf meine Frage nach der verbindenden Kraft des Atems stellte sich spontan ein, als ich das Buch "Die Sprache des Herzens" las, in dem James Lynch darstellt, wie bei jedem Gespräch vielfältige physiologische Veränderungen stattfinden. Dazu gehören Verände­rungen des Blutdrucks, der Herzfrequenz, des intrapleuralen Drucks, des peripheren Widerstandes, des Herzminutenvolumens und des Sauerstoffgehalts im Körpergewebe. Er war überrascht von der Entdeckung, wie stark der gesamte Körper bis hinab zur mikroskopischen Ebene der Blutzirkulation und des Gasaustausches in einzelnem Gewebe am Dialog beteiligt ist (Lynch 1987, S.237). Lynch schloss aus seinen Messungen, dass es eine Art sozialer Membran geben müsste, die den einzelnen Menschen umschließt, die ihn von der übrigen menschlichen Gemeinschaft trennt und zugleich ihn mit ihr verbindet. Diese Vorstellung half ihm zu verstehen, wie die Außenwelt einer Person mit der inneren Welt der Physiologie verzahnt ist. Jetzt konnte er die innere Physiologie als ein System betrachten, das sowohl durch innere, als auch durch äußere Kräfte nachhaltig beeinflusst wird.

Als ich diese Überlegungen las, kam mir die Intuition, dass es der Atem sein könnte, der die soziale Membran bildet, von der Lynch sprach. Rein physiologisch betrachtet, muss der Sauerstoff der Atemluft auf seinem Weg ins Innere der Körperzellen mehrere Membranen passieren. Aber diese physiologischen Membranen erfüllen nicht die Funktion einer sozialen Membran. Dagegen könnten alle Muskelwände, die den Körper und seine Organe umhüllen, in ihrer Einheit als eine soziale Membran begriffen werden. Denn mit ihrer Hilfe werden die Gesten und Emotionen ausgedrückt, mit denen die Menschen den größten Teil ihrer Kommunikation gestalten. Auch die verbale Sprache benutzt diese Muskeln, denn ohne das Zwerchfell und die Muskeln im Brustkorb und Hals- und Gaumenbereich wäre die Sprache nicht möglich.

Membrane haben in der Natur die Funktion, den Stoffwechsel zwischen Zellen und ihrem äußeren Milieu zu regulieren. Sie grenzen die Zelle von ihre Umwelt ab, sind aber so durchlässig, dass alles in die Zelle hineinströmen kann, was die Zelle für ihr Überleben und ihrer Funktionen benötigt, und dass alle Abfallstoffe die Zelle verlassen können. Im Grunde kann auch die Haut des menschlichen Körpers als eine Membran betrachtet werden, da sie vielfältige Ausgleichs- und Kommunikationsfunktionen (z. B. das Erröten bei der Scham) mit der Umwelt übernimmt. In diesem Sinne kann auch die muskuläre Hülle des menschlichen Körpers als eine Membran betrachtet werden, da sie die Emotionen ausdrückt und somit offensichtlich für den emotionalen Austausch mit der Umwelt zuständig ist.

3 Körper als Bühne

Das Gemeinsame aller einfachen und komplexeren Membranen besteht darin, dass sie den Austausch mit dem äußeren Milieu mit Hilfe von Schwingungen herstellen. Sie weiten sich, wenn sie sich für äußere Reize öffnen und ziehen sich zusammen, wenn sie sich verschließen. Die muskuläre Hülle des menschlichen Körpers hat tatsächlich den Charakter einer Membran, da sie als Ganze schwingt, wenn ein emotionaler Kontakt aufgenommen wird.  Jedes Gefühl ist am ganzen Körper abzulesen. Jeder kennt die Erfahrung, dass man von den Emotionen anderer Menschen berührt wird und dass man sich häufig der Einwirkung der Emotionen anderer Menschen kaum entziehen kann. Es ist nicht zufällig, dass bei Zuneigung auch von Sympathie oder von einer harmonischen Beziehung gesprochen wird.

Die französische Neurologin Susana Bloch hat mit Messungen nachgewiesen, dass Emotionen den Charakter von Schwingungen haben. Interessant ist, dass sich alle von ihr verwendeten Messgrößen wie Amplitude, Frequenz  und andere Merkmale auf die Dynamik der Atmung beziehen. Für das Verständnis der Emotionen bedeutet dies, dass sie als ein körperliches Geschehen aufzufassen sind, das untrennbar mit dem Atem verbunden ist. Emotionen sind offensichtlich dadurch möglich geworden, dass die körperlichen Schwingungen, die vom Atemrhythmus erzeugt werden, zur Darstellung der Emotionen ummoduliert werden. Da die Emotionen auf den Schwingungen des Atems aufbauen, können sie als Atemschwingungen begriffen werden. Damit wird verständlich, warum Emotionen bewusst nachgeahmt werden können, indem man deren körperlichen Merkmale nachahmt, oder warum auf die eigenen Emotionen Einfluss genommen werden kann, indem man direkt den Atem beeinflusst. Wenn sie Schwingungen sind, wird auch verständlich, dass sie so leicht in Resonanz mit den Emotionen anderer Menschen treten.

Auch die verbale Sprache basiert darauf, dass Atemschwingungen umgeformt werden können. Bekanntlich hat jeder einzelne Vokal und Konsonant eine spezifische Atemschwingung. Begriffe sind damit komplexe Schwingungsmuster, die mit Hilfe des Atems produziert werden. Wie bei den Emotionen ist dabei nicht nur das Zwerchfell, der Kehlkopf und der Rachenraum, sondern praktisch der ganze Körper beteiligt. Der Tonus des ganzen Körpers bestimmt den Klang der Stimme. Daraus kann gefolgert werden, dass auch das Denken auf den Schwingungen des Atems aufbaut. 

4 Die Hypothese der Atemmembran

Wenn davon auszugehen ist, dass die kommunikativen Fähigkeiten der Emotionen und der verbalen Sprache des Menschen auf dem Atem basieren, stellt sich die Frage, was den Atem dazu befähigt, diese komplexen Fähigkeiten zu leisten. Meine Hypothese ist, dass die kommuni­kativen Potenzen des Atems dadurch möglich wurden, dass der Atem­prozess den ganzen Körper in Schwingungen versetzt. Diese Schwingun­gen können dazu benutzt werden,  Emotionen und Be­griffe auszudrücken, so wie die Saiten eines Klaviers einen völlig unter­schiedlichen Klang annehmen, je nachdem wie sie angeschlagen werden.

Der Atemrhythmus kann tatsächlich bis in die peripheren Körperteile hinein gespürt werden und die Anspannung von einzelnen Muskeln beeinflusst den Atem insgesamt. Diese Erfahrungen sprechen dafür, dass die gesamte muskuläre Hülle des Körpers als eine geschlossene Membran betrachtet werden kann. Mediziner weisen daraufhin, dass es falsch ist, die Muskeln isoliert zu betrachten. In der körperlichen Realität stellen sie ein riesiges Netzwerk dar, das darin zum Ausdruck kommt, dass die Bindegewebshüllen der einzelnen Muskeln ohne Trennlinien miteinander verbunden sind. Das Bindegewebe muss deshalb als ein einheitliches Organ angesehen werden, das zentrale Aufgaben in der körperlichen Organisation übernimmt.

Das macht verständlich, warum die Entspannung eins Körperteils (z.B. des Kiefers) zur Entspannung weit entfernt liegender anderer Körperteile (z.B. Becken) führen kann und warum mit der Anspannung eines peripheren Körperteils der Atem insgesamt beeinflusst werden kann. Es würde auch das Phänomen erklären, dass sich der seelische Zustand immer im ganzen Körper ausdrückt, so dass z.B. allein am Augenausdruck die seelische Verfassung abgelesen werden kann.

Da fast jeder Muskel im Atemrhythmus mitschwingt, nehme ich an, dass die soziale Membran, von der James Lynch sprach, aus der Muskelschicht besteht, die den ganzen Körper umhüllt. Ich habe vorgeschlagen, diese muskuläre Hülle als Atemmembran zu bezeichnen, da ihr Charakteristikum darin besteht, dass ihre Schwingungen identisch mit den Atemschwingungen sind. Die Atemmembran beschränkt sich also nicht nur auf die Muskelhülle die inneren Atemräume, sondern bezieht auch die peripheren Körperteile mit ein. Der Vergleich des menschlichen Körpers mit einem Musikinstrument ist völlig zutreffend, da die Atemmembran den Körper zu einem Resonanzkörper macht und somit der Körper mit seiner Atemmembran dem gleichen Naturgesetz der Resonanz wie jedes Musikinstrument gehorcht.

Bisher war immer nur von den Emotionen die Rede. Ich verstehe unter Emotionen die körperlichen Reaktionsmuster, die in Reaktion auf als nützlich oder schädlich bewertete Situationen spontan ausgelöst werden. Die Emotionen werden zu Gefühlen, wenn sie ins Bewusstsein treten. Oftmals bleiben die Emotionen unbewusst, ohne deshalb an Wirksamkeit zu verlieren. Aber erst wenn die Emotionen bewusst werden, können sie gestaltet und verändert werden.

5 Selbstregulation

Analog zu den Musikinstrumenten werden bei den Menschen die Emoti­onen umso klarer ausgedrückt, je weniger ihr körperlicher Ausdruck durch Verspannungen gestört wird. Das bedeutet, dass die inneren Prozesse umso besser anderen Menschen mitgeteilt werden können, je ge­löster der Atem ist. Umgekehrt geht die Zurückhaltung von Emotionen immer mit einer verspannten Atemmembran einher. Zu Recht gilt der Atem als ein sensibler Seismograph für die inneren gefühlsmäßigen Prozesse.

Wer viel Gewalt, Demütigungen, Liebesentzug und andere seelische Verletzungen erfahren hat, dessen Atemmembran wird in weiten Bereichen hart, abweisend und undurchlässig sein. Liebe und Achtung hingegen machen die Atemmembran weich, durchlässig und bereit, sich für alle äußeren Reize zu öffnen. Ich schließe daraus, dass sich alle Erfahrungen in der Atemmembran niederschlagen und deren Gestalt verändern. Alle Gewohnheiten und Verdrängungen können als komplexe Verspannungs­muster der Atemmembran verstanden werden. Auch der Charakter einer Person ist aus dieser Sicht eine besondere Gestalt der Atemmembran.

Wenn man sich unvoreingenommen beobachtet, wird man feststellen, dass sich die Emotionen wie von selbst einstellen. Daraus ist zu folgern, dass es die Eigenart der Atemmembran ist, dass sich ihre jeweilige Gestalt ohne Zutun des Bewusstseins herausbildet. Man kann deshalb auch von der Selbstregulation der Atemmembran sprechen. Offensichtlich kann sich das seelische Innenleben am besten organisieren, wenn es nicht durch äußere Zwänge und Kontrollen gestört wird.

Es ist hervorzuheben, dass sich die Atemmembran von Anfang an im Austausch mit der Umwelt strukturiert. Sie öffnet sich, wenn sie positive Entfaltungsbedingungen vorfindet und verschließt sich, wenn dies nicht der Fall ist. Das kleine Kind wird z.B. seine Wut über Einschränkungen seiner Neugierde zurückhalten, wenn es merkt, dass es damit die Mutter unglücklich macht. Es ist davon auszugehen, dass die Gestalt der Atemmembran immer auch durch die äußeren Lebensbedingungen mitgeprägt wird. Denn emotionale Zurückhaltung hilft nicht nur dem Einzelnen, sondern auch der sozialen Umwelt. Deshalb ist alles, was in der Atemmembran festgeschrieben wird - die emotionalen Reaktionsgewohnheiten und die Denkmuster -, immer auch ein Teil der Umwelt. Insofern verbindet die Atemmembran den einzelnen Menschen mit seiner Umwelt.

Das Konzept der Atemmembran basiert auf der Erfahrung, dass die emotionalen und mentalen Prozesse weitgehend wie von selbst ablaufen. Es lehnt die wahnhafte Vorstellung ab, dass man »Herr im eigenen Hause« sei oder sein müsste. Es zeigt, dass die esoterischen Empfehlungen, der »Stimme des Herzens«, den "inneren Stimmen" oder der »Weisheit des Körpers« zu vertrauen, keine hohlen Phrasen sind, da sie darauf basieren, dass die Atemmembran ständig alle Signale der Umwelt unbewusst verarbeitet und Entscheidungen nahe legt, die geeignet sind, sich im Verhalten daran zu orientieren und das gestörte Gleichgewicht wiederherzustellen. Verantwortung besteht demnach darin, sich für diese inneren Botschaften zu öffnen und sie zu akzeptieren, auch wenn sie schmerzhaft sind.

6 Wo ist der Sitz der Seele?

Als Sitz der Seele wurden bisher verschiedene Körperorgane diskutiert: das Herz, das Zwerchfell, die Wirbelsäule, das Gehirn, die Zirbeldrüse u.a. Aber kein Organ konnte sich bisher durchsetzen. Einige Außenseiter haben behauptet, dass sich die Seele im ganzen Körper befinden würde. Warum konnte bei einem so zentralen Thema keine Einigkeit erzielt werden? Meine Vermutung ist, dass der enge Zusammenhang zwischen Seele und Atem, der früher in den für die Seele verwendeten Begriffen offen zutage lag (z.B. pneuma oder anima), verdrängt worden ist, weil das vorherrschende Lebensmodell mit der Orientierung an den eigenen Emotionen unvereinbar ist.

Natürlich kann die Frage nach dem Sitz der Seele nur geklärt werden, wenn definiert wird, was unter Seele verstanden werden soll. Aus meiner Sicht ist die Seele die Gesamtheit der mentalen und emotionalen Fähigkeiten, um mit anderen Menschen  kommunizieren zu können. Die bisherigen Gedanken laufen darauf hinaus, dass die Atemmembran das körperliche Zentrum der Gefühle und Gedanken ist. Demnach ist der Atem mit seinen emotionalen und mentalen Schwingungen die Grundlage dessen, was mit »Seele« bezeichnet wird. So gesehen befindet sich die »Seele« tatsächlich nicht in einem einzelnen Organ, sondern eher im ganzen Körper. Die Tatsache, das in vielen Sprachen der Begriff der Seele aus dem Atem abgeleitet wurde, sehe ich als Bestätigung dieser Gedanken an.

Aus der Sicht der Atemmembran wird verständlich, warum viele Menschen glauben, dass das Herz der Sitz der Seele sei. Wenn z.B. vom »verhärteten Herzen« gesprochen wird, dann wird hier eine Metapher benutzt, die sich primär auf die Empfindungen bezieht, die sich aus der  verspannten Atemmembran im Bereich des Brustkorbes ergeben. Indirekt wirken diese Spannungen auch auf die inneren Organe wie das Herz, aber das Herz reagiert nicht eigenständig auf die Emotionen. Die Rede vom emotional reagierenden Herz ist deshalb immer nur metaphorisch zu verstehen.

Es ist eine alte Frage, ob die Gefühle letztlich etwas Immaterielles sind, die sich nur im Körper manifestieren. Im Konzept der Atemmembran kann auf diesen spekulativen Gedanken  verzichtet werden. Wenn man davon ausgeht, dass die Emotionen aus spezifischen Atemschwingungen bestehen und die Gefühle mit den Schwingungen der Atemmembran funktionell identisch sind, dann ist es nicht mehr nötig, ein imaginäres Gefühlszentrum anzunehmen. Wenn Novalis von der Seele sagte, dass sie sich dort befindet, wo sich Innenwelt und Außenwelt berühren, dann scheint genau die Atemmembran dieser körperliche Ort zu sein.

Die alte Erfahrung, dass sich alle seelischen Regungen im Körper ausdrücken und nicht von Körper abgelöst werden können, wird oft mit dem altertümlich klingenden Begriff des Leibes zu begreifen versucht. Unter Leib wird die Gesamtheit der Persönlichkeit verstanden, also die geistige und seelische Dimension, die die Person ausmacht und die sich in seinem Körper »verleiblicht« bzw.»inkarniert« . Im Leibbegriff wird ein geistiges Zentrum angenommen, das sich wesentlich vom Körper als dem anatomisch-physikalischen Teil des Menschen unterscheidet. Die Leibphilosophie  hält demnach an dem problematischen Dualismus von Geist und Körper fest. Sie hat das Verdienst, hervorgehoben zu haben, dass nicht die bewusste Vernunft, sondern eine unbewusste innere Instanz, der die Bezeichnung Leib gegeben wurde, die Beziehung zur Umwelt herstellt und dass der Mensch nur aus seiner Vernetzung mit der Umwelt verstanden werden kann. Aber diese wichtige Einsicht kann durch das Konzept der Atemmembran klarer formuliert werden. Ich kann deshalb auch auf den problematischen Begriff des Leibes verzichten.

7 Theoretischer Nutzen

Das Konzept der Atemmembran hat sich für mein Denken als sehr fruchtbar erwiesen, weil sich damit viele Fragen, die das Verhältnis von Körper – Geist – Seele – Atem betreffen, plausibel erklären lassen.

* Warum können Bewegungen die »Seele« beeinflussen?

Die Kardinalfrage der Körpertherapie,  warum mit körperlichen Bewegungen der Zustand des seelischen Innenlebens verändert werden kann, kann jetzt damit beantwortet werden, dass die gesamte körperliche Gestalt von der aktuellen emotionalen Verfassung geprägt, ohne dass man sich dessen immer  bewusst ist. In allen Bewegungen  – den rein körperlichen, aber auch den emotionalen und sprachlichen Bewegungen -  drückt sich die Atemmembran aus. Jede manuelle Berührung der Atemmembran wirkt deshalb zwangsläufig auf die emotionale Verfassung zurück. Schließlich wird jede Berührung genauso wie jeder Kontakt automatisch vom Körper emotional bewertet. Wenn durch die Berührung der Körper von Verspannungen befreit wird, kann dies auch zu einer Befreiung der Emotionen und des Denkens führen.

* Warum beeinflussen die Gefühle das Denken?

Wenn sowohl die Gedanken als auch die Emotionen von der Atemmembran reguliert werden, kann es gar nicht anders sein, als dass die Gedanken von den aktuell vorherrschenden Emotionen eingefärbt werden. Die Emotionen geben der Atemmembran eine bestimmte Verfassung und da die Menschen sich ständig in einem bestimmten emotionalen Zustand befinden, kann es grundsätzlich keine emotional neutralen Gedanken geben, nur solche, die von Liebe, Angst oder anderen Emotionen geprägt sind.

* "Ich bin Leib und habe einen Körper"

Diese bekannte Formulierung der Leibphilosophie ist problematisch, da sie ein instrumentelles Verhältnis zum Körper unterstellt. Wenn man ehrlich ist, kann man nur in sehr begrenztem Umfang über seinen Körper verfügen, ohne ihm zu schaden. Man wird dem Körper nur gerecht, wenn man auf seine Signale achtet und sich von seinen Emotionen leiten lässt. Die seelische Entwicklung besteht darin, die Signale der Atemmembran kennen zu lernen und zu akzeptieren. Die Trennung zwischen Leib und Körper ist eine falsche Vorstellung, die der Wirklichkeit des menschlichen Körpers nicht gerecht wird.

* Warum beeinflussen die Emotionen den Körper?

Das Konzept der Atemmembran hat den Vorzug, dass es verständlich macht, wie emotionale Erfahrungen körperliche Prozesse beeinflussen können. Der Prozess läuft wie folgt ab: Die chronische Zurückhaltung von Emotionen ist immer mit muskulären Verspannungen verbunden. Da Verspannungen nicht nur lokal wirksam sind, sondern den ganzen Körper aus dem Gleichgewicht bringen, werden dadurch die Funktionsbedingungen der inneren Organe gestört. Die Versorgung mit Sauerstoff und anderen lebenswichtigen Stoffen wird beeinträchtigt. Wenn z.B. das Zwerchfell auf Dauer verspannt ist, wird die Leber, die auf das Heben und Senken des Zwerchfells für seine Blutversorgung angewiesen ist, über kurz oder lang Schaden leiden. Die heilende Kraft des Atems hängt damit zusammen, dass der Organismus seine Selbstheilungskräfte zurückgewinnt, wenn die emotional bedingten Verspannungen, die den Atem einschränken, aufgelöst werden. Damit wird ein Konzept angeboten, dass das bisher ungelöste Rätsel klärt, warum seelische Verletzungen zu organischen Erkrankungen führen können.

* Körper und Geist

Körper und Geist sind in diesem Konzept keine eigenständigen Instanzen, sondern metaphorische Begriffe für bestimmte Fähigkeiten des menschlichen Organismus. Der Begriff des Körpers ist eine Metapher für seine stoffliche Beschaffenheit. Der Begriff  des Geistes ist eine Metapher für die komplexen Fähigkeiten zu sprechen und zu denken. Aus dem Begriff des Geistes darf nicht auf eine immaterielle Denkinstanz geschlossen werden.

Das Konzept der Atemmembran bricht mit vielen Denkgewohnheiten. Der neue Begriff der Atemmembran hat den Vorteil, dass er die körperliche Gebundenheit der Emotionen und des Denkens betont und damit die verhängnisvolle Spaltung von Körper und Geist aufhebt, die es so schwer gemacht hat, die Bedeutung der Emotionen für die Entstehung von somatischen Krankheiten zu verstehen. Das Seelisch-Geistige wird keineswegs auf das Materielle reduziert. Es wird deutlich, dass es sich nur unter dem emotionalen Bedingungen von Liebe und Zuneigung optimal entfalten kann. Dieser Ansatz macht es möglich, die Atemarbeit theoretisch in das naturwissenschaftliche Denken der Medizin einzufügen und so vielleicht ein zentrales Handikap für die Anerkennung der Atemarbeit zu beseitigen, ohne den Bereich des Seelischen aufzuheben oder  zu verkürzen.

8 Systemisches Körperverständnis

Seitdem ich die Körperhülle als eine halbdurchlässige Atemmembran wahrnehme, hat sich mein Verhältnis zum Körper wesentlich verändert. Zu der vertrauten Perspektive, die Atemmembran von innen her über die muskulären Verspannungen, den Atemrhythmus und die Gefühlen zu erfahren, tritt die Perspektive, sich von außen wahrzunehmen. Da die Atemmembran immer auch den seelischen Zustand nach außen darstellt, gehört zur ganzheitlichen Wahrnehmung von sich selbst notwendig dazu, sich aus der Perspektive der anderen Menschen zu betrachten. Dieser Blick richtet sich speziell auf die emotionalen Botschaften, die an andere gerichtet werden und von anderen Menschen wahrgenommen werden. Zwei Fragen stehen im Vordergrund: "Wovor schütze ich mich mit meinen Gefühlen und Verspannungen?" und "Wie helfe ich den anderen, wenn ich bestimmte Gefühle und Verspannungen habe?"

Aus dem neuen Körperverständnis ergab sich für mich,  dass ich viel mehr als früher Atemübungen mit offenen Augen durchführe, wobei ich konsequenterweise Partnerübungen bevorzuge. Ich habe festgestellt, dass die innere Achtsamkeit durch die geöffneten Augen nicht geschmälert wird. Im Augenkontakt mit einem Partner beim Üben komme ich an persönliche Schichten heran, die vorher verschlossen waren. Auch wurde  Kontakt zu meinen Emotionen intensiver.

Das Konzept der Atemmembran lässt es nicht zu, die Schuld für die persönlichen Schwächen anderen Menschen zuzuschieben. Wenn man in der Kindheit auf Defizite an Zuwendung und Liebe mit der Zurückhaltung von bestimmten Emotionen reagiert hat, sind das letztlich eigene Entscheidungen. Solange man aber die selbst gebildeten Reaktionsgewohnheiten ablehnt, bleibt man an sie fixiert. Erst wenn die Verantwortung für sie übernommen wird,  können sich selbst schädigende Gewohnheiten auflösen. Aber dazu braucht man psychische Kraft, die auf die Liebe anderer Menschen angewiesen ist.

Ich bezeichne das aus dem Perspektivenwechsel  sich ergebene Körpergefühl als systemisch, weil es nicht mehr die Grenzen zur Umwelt akzentuiert, sondern vom Wissen geprägt wird, dass der Körper über die Atemmembran mit dem sozialen System, zunächst mit der Familie, später auch mit anderen Gruppen verbunden ist. Deshalb gehört mir meine Atemmembran nicht allein. Als das Verbindungsmedium gehört sie genauso gut zum System der sozialen Umwelt.

Je mehr ich mich aus der Perspektive der Atemmembran wahrnahm, umso deutlicher wurde mir, dass Atemarbeit primär Arbeit an den Emotionen ist. Atemarbeit hat in meinen Augen den Sinn, das Gespür zu verbessern, wie zurückgehaltene Emotionen den ganzen Körper und das seelische Innenleben verändern, und wie sie zu Verspannungen in bestimmten Körperpartien führen und dadurch den Atem einschränken und wie die Lösungen von muskulären Verspannungen auf den Atem und die Emotionen zurückwirken.

9 Zusammenfassung

Im Konzept der Atemmembran  sind die Emotionen der zentrale Faktor zum Verständnis des Atemphänomens, da sie die Menschen miteinander verbinden, aber auch voneinander trennen. Der Atem hat auf Grund seiner Flexibilität und Gestaltbarkeit die Entstehung der reichhaltigen menschlichen Emotionen ermöglicht. Ohne Atem gäbe es keine Emotionen. Es zeigt sich, dass der Atem keine eigenständige Größe ist, sondern nur eine Hilfsfunktion für den Sauerstoffwechsel einerseits und für die Emotionen und das Denken andererseits. Aber wenn der Atem gestört wird, weil die Emotionen zurückgehalten werden, ist alles im Körper -  bis in die Physiologie hinein – gestört. Insofern ragt doch der Atem als eine Leitfunktion heraus. Die Esoterik hat mit ihrer spirituellen Überhöhung des Atems unrecht, aber Recht, wenn sie die Sonderstellung des Atems betont. Der Atem erweist sich als das Zentrum des Menschen, da er das Medium ist, in dem alles geschieht, was den Menschen zum Mensch macht, seine Gefühle und sein Denken.