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Philosophie der Muster    Aufsatz "Gewohnheiten"

"Die Gewohnheit ist der große Führer durchs Leben"

Der englische Philosoph David Hume, von dem dieses Zitat stammt, war einer der wenigen Philosophen, die von der großen Bedeutung der Gewohnheit im menschlichen Leben überzeugt waren. Heute haben die Gewohnheiten eher einen schlechten Ruf. Es wird ihnen vorgeworfen, dass sie starr und unflexibel machen. Im gewohnheitsmäßigen Handeln gehe die Freiheit verloren. In der abschätzigen Formulierung vom Mensch als Gewohnheitstier klingt sogar an, dass man im reflexhaften Reagieren sein Menschsein verliert.

Im vorliegenden Aufsatz soll dargestellt werden, dass die Gewohnheiten völlig zu Unrecht abgewertet werden. Bei genauerer Betrachtung erweisen sie sich als die Basis von emotionaler Stabilität und geistiger Kreativität. Ohne Gewohnheiten hätte sich das reiche geistige Leben der Menschen nicht entwickeln können. Der Preis der Abwertung war, dass ein verzerrtes Bild vom Wesen des Denkens entwickelt wurde. Wenn die zentrale Bedeutung der Gewohnheiten für das menschliche Denken und Fühlen ins Blickfeld gerät, öffnet sich die Möglichkeit, für die ungelösten Probleme der menschlichen Freiheit, des Ichs und des intuitiven und kreativen Denkens endlich plausible Lösungen zu finden.

Das Bewusstsein als knappe Ressource

Da beim Menschen die Bewegungen nicht angeboren sind, müssen sie erlernt werden. Für jede der vielfältigen Aufgaben, die zu erledigen sind, um das Leben zu bewältigen, muss ein eigenes Bewegungsmuster gelernt werden, z.B. für das Treppensteigen, für das Schreiben eines bestimmten Buchstabens, für den Ausdruck von Gefühlen oder für die Kommunikation mit anderen Menschen. In der Gehirnforschung ist erkannt worden, dass beim Lernen von Bewegungen die Tendenz besteht, sie solange einzuüben, bis sie gewohnheitsmäßig ausgeführt werden können. Es werden sozusagen Programme für die Bewegungen im Gedächtnis abgelegt, damit sie schnell und sicher ausgeführt werden können. Wenn bestimmte Situationen wahrgenommen werden, können die dabei auftretenden Wünsche und Bedürfnisse unbewusst diese Programme aufrufen und ausführen lassen. Und da man aus Erfahrung weiß, dass man die betreffende Handlung erfolgreich ausführen kann, ist es überflüssig, zunächst noch darüber nachzudenken.

Die Gewohnheitsbildung hat extrem große Vorteile für den Organismus. Ihr größter Nutzen besteht darin, rasches Handeln zu ermöglichen. Sie geben das Gefühl der Sicherheit und die Gewissheit, dass das Handeln richtig ist. Wie die Erfahrung zeigt, haben die Gewohnheiten außerdem den großen Vorteil, dass die Bewegungen wesentlich fehlerfreier sind, wenn sie unwillkürlich ablaufen.

Noch wichtiger ist, dass es die Gewohnheitsbildung möglich macht, dass der Blick des Bewusstseins voll auf das angestrebte Ziel gerichtet werden kann. Wenn das Bewusstsein ständig von den Details Bewegung in Anspruch genommen werden würde, wäre es völlig überfordert, so dass der Blick auf das Ziel leicht verloren gehen könnte. Gewohnheiten haben offensichtlich den Sinn, dass das Handeln mit einem Minimum an Bewusstsein auskommt. Umso wachsamer kann das Bewusstsein in Problemphasen der Handlung sein, in denen man auf unerwartete Schwierigkeiten stößt. Insofern ist hat die Gewohnheitsbildung die äußerst nützliche Wirkung, dass das Bewusstsein freigesetzt wird, sich auf die akuten Probleme zu konzentrieren, für deren Bewältigung noch keine Gewohnheiten zur Verfügung stehen.

Jede Bewegung hat in sich die Tendenz, möglichst effizient, also mit geringstem Zeit- und Energieaufwand abzulaufen. Das wird durch die in alle Bewegungen eingebaute Rückkoppelung erreicht. Solange eine Bewegung noch nicht reibungslos abläuft, werden Signale ans Bewusstsein gesandt, um den Bewegungsablauf zielsicherer zu organisieren. Das bedeutet, dass die Gewohnheiten eine eingebaute Selbstreflexivität haben.

Die Gewohnheitsbildung sichert so, dass die Bewegungen in einem entspannten körperlichen Zustand ablaufen und damit dementsprechend wenig Energie verbrauchen. Deshalb können die Bewegungen fast mühelos ablaufen. Dadurch wird die Ermüdung verringert. Der Organismus kann seine ganzen Kräfte darauf konzentrierten, weitere Gewohnheiten für noch komplexere Tätigkeiten zu entwickeln. Gewohnheiten sind deshalb die Voraussetzung für motorisches, emotionales und geistiges Wachstum.

Definition der Gewohnheiten

Unter Gewohnheitsbildung ist nicht zu verstehen, dass die Bewegungen mechanisch, d.h. ohne Beteiligung der Person und des Bewusstseins ablaufen, sondern nur, dass den gewohnheitsmäßigen Bewegungen kein bewusster Entschluss vorausgeht, also die Entscheidungen auf einer Ebene unterhalb des Bewusstseins getroffen werden, und dass beim Ablauf der Handlung relativ wenig Bewusstsein erforderlich ist. Wenn z.B. gesagt wird, dass jemand wie »im Schlaf Auto fahren kann«, soll damit gesagt werden, dass er das Autofahren seinem »inneren Autopiloten«, also tiefen unbewussten Mechanismen überlässt, und sich deshalb dem Gespräch mit dem Beifahrer widmen kann. Denn die Bewegungen werden so gelernt, dass sie problemlos spontan an wechselnde Verhältnisse angepasst werden können.

Zur Charakterisierung der Gewohnheiten wird häufig der Begriff automatisch verwendet. Es darf nicht so verstanden werden, dass die Bewegung wie bei einer Maschine abläuft. Der Begriff automatisch ist lediglich eine Metapher dafür, dass gewohnheitsmäßige Bewegungen mit relativ wenig Bewusstsein auskommen. Es gibt wahrscheinlich keine erlernte menschliche Gewohnheit, die völlig bewusstlos abläuft. So lässt sich beim Schreiben gut beobachten, dass es gewohnheitsmäßig beherrscht werden muss, damit man sich auf die Inhalte konzentrieren kann, dass aber stets ein Teil des Bewusstseins beim Schreibvorgang selbst bleibt, da ständig kontrolliert werden muss, ob die beim Schreiben zu beachtenden Regeln eingehalten werden. Denn schließlich soll das Geschriebene später wieder gelesen werden können.

Für jede einzelne Teilbewegung muss eine Entscheidung getroffen werden. Es gibt keine Bewegung, der nicht eine Entscheidung zugrunde liegt. Auch beim Start jeder Gewohnheit muss eine Entscheidung getroffen werden. Auch wenn man sich dieser Entscheidungen nicht bewusst ist, muss davon ausgegangen werden, dass es sich hier um Entscheidungen handelt. Es wäre deshalb ein Fehler, den Begriff der Entscheidung auf bewusst getroffene Entscheidungsakte einzuschränken. Wenn man bedenkt, wie viel unbemerkte Entscheidungen bei jeder Aktivität wie z.B. beim Schreiben getroffen werden, sind bewusste Entscheidungen eher die seltene Ausnahme.

Beim Lernen von Gewohnheiten wird immer auch abgespeichert, für welches Ziel sie geeignet sind. Die Ziele werden mit konkreten Vorstellungsbildern und Erwartungen verbunden. Da die Ziele immer als etwas Positives und Wertvolles erlebt werden, enthalten die Gewohnheiten auch Emotionen und Bewertungen. Die Bewertungen basieren auf der fundamentalen biologischen Fähigkeit aller Lebewesen, spontan zu entscheiden, ob eine Erfahrung für den eigenen Organismus nützlich oder schädlich ist.

Am Lernen der Gewohnheiten ist auch das Denken beteiligt, weil es die Regeln aufspürt, die den Bewegungen zugrunde liegen. In den Regeln wird das Typische einer Bewegung festgehalten. So werden z.B. beim Erlernen der Muttersprache ganz intuitiv die grammatikalischen Regeln der Sprache erfasst. Die Kenntnis der Regeln macht erst die Abspeicherung der Bewegungen als Gewohnheiten. Denn Gewohnheiten werden nicht als fester Ablauf, sondern nur mit ihrem typischen Muster abgespeichert.

Aus diesen Überlegungen folgt, dass Gewohnheiten eine komplexe Einheit von Zielen, Gedanken, Gefühlen, Bewertungen und motorischen Abläufen sind. Es ist nicht sinnvoll, den Begriff der Gewohnheit auf Reaktionsweisen zu beschränken, die unter gleichartigen Bedingungen reflexhaft und wie »automatisch« ablaufen (Internetlexikon Wickipedia). Alle in Schule und Lehre gezielt eingeübten Verhaltensweisen (Muttersprache, Schreiben, Handwerk, Musizieren u.Ä.), die normalerweise als Fertigkeiten bezeichnet werden, sind in Wirklichkeit auch Gewohnheiten. Da auch das Denken und Fühlen aus differenzierten körperlichen Bewegungen besteht,muss man davon ausgehen, dass auch im Denken und Fühlen Gewohnheiten dominant sind. Deshalb wird vorgeschlagen, den Begriff der Gewohnheit sehr weit zu fassen und damit alle Bewegungen zu umfassen, die häufig wiederholt werden.#

Die Führungskraft der Gewohnheiten

Gewohnheiten können das Handeln führen, weil sie aus dem Bestreben hervorgehen, für alle typischen Situationen funktionierende Verhaltensweisen auszubilden. Wenn jemandem empfohlen wird, sich beim Handeln von seinen Gefühlen leiten zu lassen, bedeutet das im Grunde nichts anderes, als seinen eigenen Gewohnheiten zu vertrauen. Es ist ein Fehler, die Gefühle als eigenständige Größen zu betrachten. Da sie aus den spontanen Bewertungsprozessen aller Erfahrungen mit der Realität hervorgehen, sind sie lediglich deren Begleiterscheinungen. Sie kennzeichnen die Gewohnheiten damit, mit welcher Intensität etwas angestrebt oder vermieden wird. Sie drücken aus, in welcher Form der Organismus aktiviert werden muss, um die Gewohnheit durchführen zu können.

In der Empfehlung, sich beim Handeln von seinen Gefühlen leiten zu lassen, steckt der Rat, sich aus der Abhängigkeit von Erwartungen anderer Menschen zu befreien und den eigenen Gewohnheiten zu vertrauen, auch wenn sie nicht mit den Erwartungen anderer Menschen übereinstimmen. Emotionale Autonomie besteht darin, sich von den eigenen Gewohnheiten leiten zu lassen.

Negative Gewohnheiten

Die emotionalen Gewohnheiten, wie man sich gegenüber anderen Menschen verhält und wie man mit sich selbst umgeht, zeichnen sich durch große Stabilität aus. Sie werden in der frühen Kindheit gelernt und prägen dann mit nahezu unentrinnbarer Kraft unbewusst die Beziehungen zu anderen Menschen und den Umgang mit sich selbst. Sie werden so sehr zum Bestandteil der eigenen Person, dass man sich dieser Gewohnheiten kaum bewusst ist. Wer z.B. gegenüber anderen Menschen extrem misstrauisch ist oder sich bei jeder Kritik sofort verteidigt, wird dies als ganz natürlich und nicht als eine Gewohnheit begreifen.

Als negativ werden Gewohnheiten bezeichnet, bei denen man das Gefühl hat, die Kontrolle über das eigene Verhalten verloren zu haben. Man fühlt sich als Opfer der eigenen Gewohnheiten, weil man anders handelt, als man eigentlich handeln möchte. Viele Menschen setzen die emotionalen Gewohnheiten mit den negativen Gewohnheiten gleich. Aber diese Gleichsetzung ist nicht berechtigt. Beim normalen Verhalten fühlt man sich durchaus mitden eigenen Gewohnheiten identisch. Da sie der Ausdruck der eigenen Bewertungen sind, gibt es keinen Grund, sich davon zu distanzieren. Deshalb werden sie auch gar nicht als Gewohnheit wahrgenommen. Man kann sich mit seinen Gewohnheiten auch deshalb identifizieren, weil man immer wieder die Erfahrung macht, dass sie sich ändern bzw. geändert werden können, wenn es die Situation erfordert.

In der Psychotherapie ist erkannt worden, dass sich die negativen Gewohnheiten unter dem Einfluss von emotionalen Verletzungen bilden. Wer wiederholt emotionalen Verletzungen ausgesetzt war, für deren Verarbeitung keine ausreichenden seelischen Kräfte zur Verfügung standen, muss Gewohnheiten aufbauen, die Schutz vor weiteren Verletzungen versprechen. Denn die bei der emotionalen Verletzung ausgelöste Angst bedroht das seelische Gleichgewicht. Diese Gewohnheiten werden in kritischen Situationen, die an die früheren emotionalen Verletzungen erinnern, automatisch ausgelöst. Da sie in der Regel mit überschießenden Aggressionen oder mit starkem Rückzug verbunden sind, stören sie das soziale Miteinander. Wenn dies über viele Jahre praktiziert wird, wird die emotionale Bindung mit anderen Menschen immer brüchiger, bis schließlich deutlich wird, dass das Verhalten, das eigentlich dem eigenen Schutz dienen sollte, auf die Dauer angewandt, zur Selbstzerstörung führt. Insofern könnte man sagen, dass die Gewohnheiten eine Eigendynamik entwickeln, die die Menschen scheinbar auf die Stufe eines Automaten herabsetzen. Aber bei genauerer Betrachtung ist die Dynamik der negativen Gewohnheiten die Folge der Unfähigkeit, Verletzungen aus eigener Kraft zu verarbeiten und der fehlenden Bereitschaft des sozialen Umfeldes, den Geschädigten bei der Bewältigung der emotionalen Verletzung zu helfen.

Wer das Glück hatte, ohne übermäßige Angst aufzuwachsen, kann alle Gewohnheiten entwickeln, die erforderlich sind, das Leben aus eigener Kraft zu bewältigen und sich in Konflikten für die eigenen Bedürfnisse kraftvoll einzusetzen. Da Menschen mit starken Verletzungen diese Fähigkeiten nicht lernen, neigen sie dazu, sich an die Erwartungen anderer Menschen anzupassen und die eigenen Bedürfnisse unterzuordnen. Der Eindruck, dass sie fremdbestimmt handeln, ist falsch. In Wirklichkeit haben sie sich aus Angst vor Verletzungen entschlossen, den Ausdruck ihrer Gefühle und Bedürfnisse zu vermeiden. Sie verleugnen ihre Gefühle und Bedürfnisse, weil sie die Erfahrung gemacht haben, dass sie sich auf diese Weise schützen können. Die häufig zu hörende Behauptung, dass die Gewohnheiten die Neigung haben, die Menschen in ihre Abhängigkeit zu bringen, verkennt die Dynamik die Gewohnheiten, die unter dem Druck von Angst entwickelt wurden.

Intuition

Das rätselhafte Phänomen der Intuition zeigt, dass es auch im mentalen Bereich quasi automatische, d.h. nicht bewusst kontrollierbare Prozesse gibt. Beim intuitiven Einfall ist nur das Ergebnis im Bewusstsein präsent. In der Regel ist nicht erklärbar, über welche einzelnen Schritte man zu dem Ergebnis gekommen ist. Für die Intuition ist bisher keine plausible Erklärung gefunden worden. Wenn aber davon ausgegangen wird, dass es auch beim Denken Gewohnheiten gibt, ist das intuitive Denken relativ leicht erklärbar. Nach meiner Auffassung sind die Bausteine des Denkens nicht Bilder, sondern gewohnheitsmäßig erlernte Bewegungen, die mit visuellen Elementen zu inneren Vorstellungen verbunden werden. Da alle Probleme letztlich mit einer geschickten Auswahl von Bewegungen gelöst werden können, besteht das Denken darin, Bewegungen in der Einbildungskraft probeweise so miteinander zu verknüpfen, dass damit die Problemlösung erreichbar erscheint. Da man aus Erfahrung weiß, mit welchen Bewegungen bestimmte Ziele erreicht werden können, ist es nicht weiter überraschend, dass das Denken über weite Strecken auch unbewusst abläuft. Es ist immer wieder faszinierend festzustellen, wie das unbewusst ablaufende Denken produktive Gedanken hervorbringt. Offensichtlich gewinnen die Gedanken ihre Kreativität aus der inneren Verarbeitung von erlernten Gewohnheiten.

Das bewusste Denken kommt ins Spiel, wenn man auf einen Widerstand stößt. Man wird mit einem Problem konfrontiert, für das man noch keine geeigneten Gewohnheiten entwickelt hat. Das Denken steht dann vor der Aufgabe, nach Bewegungen zu suchen, die ersatzweise eingesetzt werden können. Es kann aber auch den Impuls geben, dass die Lösung des Problems zurückgestellt wird und zunächst neue Bewegungen gelernt werden. Offensichtlich wird das Bewusstsein aktiviert, wenn neue Gewohnheiten gelernt werden müssen. Das Bewusstsein ist dafür unbedingt erforderlich, da die einzelnen Zwischenschritte genau daraufhin kontrolliert werden müssen, ob damit das angestrebte Ziel effizient erreicht werden kann. Deshalb ist die emotionale Fähigkeit, sich Problemen zu stellen, die zentrale Voraussetzung für die Entwicklung eines produktiven Denkens. Nur wenn man sensibel wahrnimmt, dass Gewohnheiten fehlen oder sie nicht mehr effizient genug sind, nimmt man die Mühe auf sich, den Schutz der alten Gewohnheiten zu verlassen und neue zu erlernen.

Bei der Frage, wer im eigenen Inneren denkt, ist davon auszugehen, dass Gewohnheiten Bewegungen sind, die sich weitgehend selbst steuern. Da das Denken aus dem inneren Hantieren mit Bewegungen besteht, ist des nichts anderes als die Anwendung der motorischen Selbstreflexivität auf die in der Einbildungskraft aufgerufenen Bewegungen. Auch wenn das Denken im Bewusstsein abläuft, verläuft es spontan nach seinen eigenen Regeln. Das bedeutet, dass es falsch wäre anzunehmen, dass das Denken vom Ich, vom Geist oder vom Bewusstsein gesteuert wird. Trotzdem ist es richtig, dass sich die Menschen als Urheber ihrer Gedanken empfinden. Schließlich drückt sich darin die ganze Person mit ihren Bedürfnissen, Zielen und Überzeugungen aus. Deshalb identifizieren sich die Menschen ganz selbstverständlich mit ihren Gedanken.

Wenn Gewohnheiten im Kontext von Angst gelernt werden, wird die Selbstreflexivität beeinträchtigt. Deshalb schwindet die Fähigkeit, über seine eigenen Denkergebnisse reflektieren zu können, wenn man immer wieder die Erfahrung macht, dass man für »falsches« Denken bestraft oder gedemütigt wurde.

Kreativ denken

Wenn man sich klarmachen würde, wie stark das eigene Denken im Korsett persönlicher Denkgewohnheiten steckt, würde man sicherlich erschrecken. Auf dem Denken lastet der Druck des Konformismus nicht weniger mächtig als auf den Gefühlen. Der häufige Appell, kreativ zu denken, zeigt, wie wenig kreatives Denken stattfindet.

Nach den bisherigen Überlegungen ist die erste Voraussetzung für kreatives Denken, dass man sich in einer Problemsituation befindet, in der die bisherigen Problemlösungsmuster nicht zu zufriedenstellenden Lösungen führen und das Denken herausgefordert wird. Ob die Situation tatsächlich als Problemsituation wahrgenommen wird, hängt von der individuellen Sensibilität ab.

Selbsterkenntnis

Da alles Denken und Fühlen auf Gewohnheiten basiert, kennt man sich erst, wenn man weiß, über welche Gewohnheiten man verfügt. Selbsterkenntnis hat das Ziel zu wissen, von welchen Gewohnheiten das eigene Handeln geprägt wird. Mit sich in Kontakt kommen, bedeutet demnach, sich der eigenen Gewohnheiten gewahr werden. Dementsprechend kann vermutet werden, dass das Gefühl der persönlichen Identität in der Gesamtheit der persönlich erworbenen Gewohnheiten gründet. Da in allen Gewohnheiten auch persönliche Bewertungen enthalten sind, besteht die Identität aus der Summe der Bewertungen, die mit den Gewohnheiten gelebt werden. Was als Selbst bezeichnet wird, kann auf die Gesamtheit der persönlichen Gewohnheiten zurückgeführt werden.

Das Ich erscheint für den handelnden Menschen als etwas durchaus Reales, da es mit dem Gefühl verbunden ist, dass man sich als planendes Wesen erlebt, das der Urheber seine Handlungen ist und das die Handlungen gegenüber anderen Menschen vertreten muss. Man wehrt sich zu Recht gegen die Behauptung, dass das Ich bloß eine Fiktion sei. Aus der Sicht der Gewohnheiten ergibt sich ein neues Verständnis des Ichs. Da das meiste Handeln aus Gewohnheiten hervorgeht, kann das Ich nicht als eine innere Instanz verstanden werden, die das Handeln in Gang setzt. Es hat sich in der Kommunikation und Kooperation mit anderen Menschen als eine unentbehrliche verbale Gewohnheit herausgebildet, um die Autorschaft der eigenen Handlungen und Gedanken hervorzuheben und sich mit seinen persönlichen Zielen und Überzeugungen von den anderen Menschen abzugrenzen. Wenn man vom Ich redet kann das nur so viel bedeuten, dass man als ganze Person ein bestimmtes Ziel handelnd verfolgt und zu seinem Handeln steht.

Gewohnheit und Freiheit

Wenn davon ausgegangen wird, dass das Handeln überwiegend aus Gewohnheiten hervorgeht, wird nach den gängigen Denkmustern angenommen, dass es von den Gewohnheiten determiniert wird. Dies ist ein Fehlschluss. Da in der philosophischen Diskussion das Handeln als frei gilt, das sich aus persönlichen Gründen ergibt, muss auch das gewohnheitsmäßige Handeln im Prinzip als frei bezeichnet werden. Viele Philosophen vertreten die Auffassung, dass die Gründe nicht bewusst abgewogen werden brauchen. Es reiche aus, dass das Handeln in Übereinstimmung mit den innersten Wünschen und Überzeugungen steht. Daraus folgt, dass Handeln aus Gewohnheit nicht prinzipiell im Widerspruch zur Freiheit steht.

Nur das Handeln wird als unfrei bewertet, das von der Angst von Strafe, Missbilligung oder Liebesverlust geleitet wird. Wer sich an den Erwartungen anderer Menschen orientiert und demgegenüber seine eigenen Bedürfnisse zurückstellt, entscheidet sich dafür, sich an die Bedürfnisse anderer Menschen anzupassen. Er entscheidet sich für Fremdbestimmung und gegen freies Handeln. Insofern steht nur das Handeln aus negativen Gewohnheiten im Widerspruch zur Freiheit.

Es ist problematisch, den politischen Begriff der Freiheit auf die inneren seelischen Akte anzuwenden. Da letztlich alle seelischen Prozesse nach den Regeln der Selbstorganisation ablaufen und sich zwingend aus den bisherigen Erfahrungen und der aktuellen Situationsbewertung ergeben, ist die Frage, ob die Prozesse frei oder determiniert sind, sinnlos. In Wirklichkeit geht es um das Kernproblem der seelischen Abhängigkeit, also dass man nicht genügend Kraft hat, sich von den Erwartungen anderer Menschen abzugrenzen. Das ist kein grundsätzliches theoretisches Problem, sondern ein persönliches Entwicklungproblem, das damit zusammenhängt, dass die eigenen Kommunikations- und Kontaktgewohnheiten mit relativ viel Angst gelernt wurden und zu wenig gelernt wurde, sich für seine eigenen Bedürfnisse einzusetzen.

Kreativität der Gewohnheiten

Wie oben dargestellt, machen es die Gewohnheiten möglich, dass man ohne langes Überlegen schnell und sicher handeln kann. Sie bilden das Rückgrat der eigenen Handlungsfähigkeit. Es ist sehr wichtig, dass die Überzeugungen, die den Gewohnheiten zugrunde liegen, widerspruchsfrei aufeinander abgestimmt sind. Die meisten Selbstgespräche und Gespräche mit anderen Menschen dienen dem Zweck, innere Widersprüche auszuräumen. Inkonsistenzen sind nach Überzeugung einiger Psychotherapeuten die Ursache psychischer Störungen. Auf jeden Fall beeinträchtigen sie die Handlungsfähigkeit. Deshalb macht es Sinn, dass die Gewohnheiten nicht ohne weiteres absichtlich verändert werden können. Der Organismus schützt sich so vor willkürlichen Veränderungen, die leicht zu inneren Inkonsistenzen führen könnten.

Neurowissenschaftler begründen die Mühe, die eine Veränderung von Gewohnheiten macht, damit, dass bestehende Synapsen zwischen den Nervenzellen aufgelöst und neue Synapsen gebahnt werden müssen. Erst die wiederholte Benutzung der neuen Synapsen stärkt die Verbindung so sehr, dass die neuen Gewohnheiten automatisch ablaufen können. Diese Argumentation reicht für die Begründung der Schwerkraft der Gewohnheiten nicht aus. Denn die Trägheit der Gewohnheiten hängt primär damit zusammen, dass Gewohnheiten die Stütze der Identität und der Handlungsfähigkeit sind.

Die Erfahrung zeigt, dass sich Gewohnheiten in der Regel spontan ändern, wenn sie sich als dysfunktional oder unwirksam erweisen. Wenn gespürt wird, dass man sich mit seinen Gewohnheiten selbst schadet, wird sofort versucht, sie durch neue Gewohnheiten zu ersetzen. Voraussetzung ist allerdings, dass die Gewohnheiten ohne Beteiligung von Angst gelernt wurden und dass die Umwelt sich gegenüber Verhaltensänderung tolerant verhält. Die flexible Anpassung der Gewohnheiten an veränderte Umstände ist dadurch möglich geworden, dass die Gewohnheiten – wie oben dargestellt – mit ihrem typischen Verlaufsmuster abgespeichert werden.

Man hält verbissen an Gewohnheiten fest, wenn die Angst besteht, dass jedes davon abweichende Verhalten zu emotionalen Verletzungen führen könnte. Oberflächlich sagt man dann, dass man an einer Änderung dringend interessiert sei, aber in Wirklichkeit schützt man sich mit dem geheuchelten Interesse vor dem Verlust der Sicherheit, die die Gewohnheiten gewähren. Vielleicht nimmt man sich sogar bewusst vor, bestimmte Gewohnheiten zu ändern, aber das ist nur eine Anpassung an äußere Erwartungen.

Die Chance, dass sich Gewohnheiten ändern, ist am größten, wenn starker Druck von außen kommt. So wie man als Kind viele Fähigkeiten lernt, weil die Eltern großen Wert darauf legten, so wird man Gewohnheiten ablegen, wenn die Umwelt alternatives Verhalten verlangt. Gewohnheiten ändern sich, wenn sich die sozialen Lebensbedingungen ändern. Konformismus ist für die meisten Menschen eine Frage des Überlebens. Das philosophische Ideal, dass man sich selbst verwirklichen soll, setzt voraus, dass man sich aus eigener Kraft verändern kann. Dies erweist sich immer wieder als ein Trugbild. Was den Philosophen mit ihrer speziellen Lebensform vielleicht gelingt, bleibt für andere Menschen verschlossen.

Gewohnheit und Philosophie

Die Gewohnheiten scheinen einen eigentümlichen Doppelcharakter zu haben. Einerseits werden sie mit ihren quasi automatischen Abläufen als ein Teil des Körpers wahrgenommen. Andererseits scheinen sie ein Teil der geistigen Wirklichkeit zu sein, da sie einerseits aus mentalen Entscheidungen hervorgehen und andererseits mentale Ziele und Bewertungen enthalten. Es zeigt sich, dass diese Betrachtungsweise der Gewohnheiten eine Folge der traditionellen Trennung von Körper und Geist ist. Danach gelten alle Prozesse, die nicht bewusst kontrollierbar sind, als körperlich. Die Analyse der Gewohnheiten zeigt aber, dass es auch mentale Prozesse gibt, die außerhalb der bewussten Kontrolle ablaufen. Man muss zur Kenntnis nehmen, dass der größte Teil des Denkens und Fühlens außerhalb des Bewusstseins abläuft. Umgekehrt haben alle Gewohnheiten, die scheinbar automatisch ablaufen, einen mentalen Kern und können prinzipiell durch bewusste Absichten verändert werden.

Offensichtlich zeichnen sich die Menschen dadurch aus, dass ständig ein inniges Zusammenspiel von automatischen Abläufen und bewusster Steuerung stattfindet. Die automatischen Abläufe sind nützlich, weil damit die bewusste Kontrolle entlastet werden kann. Die meisten Entscheidungen können an die Selbststeuerung übergeben werden. Die bewusste Kontrolle ist somit keine Daueraufgabe, sondern greift nur in Problem- und Krisensituationen ein.

Aus dieser Sicht muss das Bild des Menschen als geistiges Wesen neu überdacht werden. Es ist ein falsches Ideal, dass alle Entscheidungen aus dem bewussten Abwägen von Gründen hervorgehen und alle Handlungen mit vollem Bewusstsein vollzogen werden sollen. Die Realität sieht eher so aus, dass die Menschen ihr Handeln so organisieren, dass sie mit einem Minimum an Bewusstsein auskommen, dass aber das Bewusstsein hellwach wird, wenn das Handeln auf Probleme stößt. Wenn geistige Prozesse nicht mit Bewusstsein gleichgesetzt werden dürfen, gerät die traditionelle Spaltung des Menschen in Körper und Geist ins Wanken. Die Polarisierung von Körper und Geist muss infrage gestellt werden. Die Begriffe von Körper und Geist werden dem innigen Zusammenspiel von automatischen Abläufen und bewusster Steuerung nicht gerecht und sollten deshalb vermieden werden. Da das Denken selbstorganisiert abläuft, darf es nicht länger als Werk des Geistes oder des Ichs begriffen werden. Die Analyse der Gewohnheiten legt nahe, den Menschen als ein natürliches Wesen zu begreifen, das seine Handlungsfähigkeit mit Gewohnheiten so steigert, dass es gut überleben kann. Das Denken hat seine Hauptaufgabe darin, den ständigen Auf- und Umbau von Gewohnheiten zu unterstützen.

Einige Philosophen haben die These vertreten, dass die Gewohnheiten eine Brücke zwischen Körper und Geist darstellen. Da die Begriffe Körper und Geist zu kritisieren sind, hat diese These ihre Grundlage verloren. Aber aus der Analyse der Gewohnheiten ergibt sich ein theoretischer Weg, wie der Dualismus von Körper und Geist grundsätzlich überwunden werden kann. Da das Denken aus dem inneren Hantieren von Bewegungen besteht und da es als ein natürlicher körperlicher Prozess verstanden werden muss, kann der Begriff Geist als ein mentales Konstrukt dechiffriert werden. Wenn das Denken zum größten Teil unbewusst verläuft und dabei von Faktoren beeinflusst wird, die sich nicht kontrollieren lassen, darf es nicht mit dem Bewusstsein identifiziert werden. Die traditionelle Gewohnheit, innere Prozesse als Werk des Geistes zu personalisieren, muss aufgegeben werden.

Über seine Gewohnheiten schmunzeln

Man ertappt sich immer wieder dabei, dass man etwas tut, was eigentlich dem eigenen Ich-Ideal widerspricht. Solche Erfahrungen werden normalerweise verdrängt. Es gilt als Ausdruck von Souveränität, wenn man diese Diskrepanz im eigenen Verhalten und Denken tolerant zur Kenntnis nimmt. Es stellt sich dann evtl. die Frage, wo man die betreffende Gewohnheit gelernt hat, was sie für einen persönlich bedeutet und welche Alternativen dazu denkbar wären. Die Diskrepanzerfahrung löst u.U. eine innere Selbstreflexion aus, an deren Ende möglicherweise eine Korrektur der bisherigen Gewohnheiten steht. Ob diese Chance aber ergriffen wird, hängt davon ab, dass die Gewohnheiten mit relativ wenig Angst gelernt werden und man fähig ist, die Abhängigkeit der eigenen Gewohnheiten von den Lebensumständen wahrzunehmen. Wenn dies nicht der Fall ist, nützt die Empfehlung, seine Gewohnheiten schmunzelnd und tolerant zur Kenntnis zu nehmen, wenig.

Wenn man von der zentralen Bedeutung der Gewohnheiten durchdrungen ist, ändert sich das Selbstverständnis fundamental. Man wird achtsamer für sein eigenes Verhalten und nimmt eher im konkreten Verhalten die persönlichen Gewohnheiten wahr. Damit öffnet sich die Tür zur verstärkten Selbstreflexivität der Gewohnheiten.

Für das Zitat von David Hume, dass die Gewohnheit der große Führer durchs Leben ist, können viele bestätigende Argumente gefunden werden. Die Gewohnheit scheint darüber hinaus auch ein Schlüssel zur Lösung vieler philosophischer Probleme sein. Die Gewohnheit ist nicht zufällig von den Philosophen vernachlässigt worden. Denn wenn sie einmal ins Blickfeld rückt, müssen viele gewohnte Auffassungen über das Denken, die Gefühle, das Verhältnis von Körper und Geist, das Ich, die Freiheit u.Ä. infrage gestellt werden. Auf jeden Fall gerät das Bild des Menschen als geistiges Wesen ins Wanken.