Philosophie der Muster    Aufsatz "Denken"

Klaus Neubeck (Juli 2012)

Ich denke sowieso mit dem Knie

Regeln - die Bausteine des Denkens

1. Denken - ein ungelöstes Problem

Als der Künstler Joseph Beuys sein Denken mit dem im Titel ausgeführten provokative Spruch charakterisierte, wollte er deutlich machen, dass die üblichen Antworten, dass man mit dem Kopf, dem Geist oder dem Gehirn denkt, völlig schief sind, dass ihm aber keine Theorie bekannt ist, die der Komplexität des kreativen Denkens gerecht wird. In dem vorliegenden Aufsatz soll gezeigt werden, dass die Antworten, die die Philosophen auf die Frage nach dem Denken gefunden haben, nicht nur wenig zum Verständnis des Menschen beigetragen haben, sondern dass sie im Gegenteil seine Entwicklung behindert haben.

Die traditionelle Antwort war, dass die Gedanken ein Werk der Seele sind. Die Seele wird als eine außerkörperliche Instanz verstanden, die sich im Körper verwirklicht. Sie kann denken, weil sie über angeborene Ideen verfügt. Diese Idee wurde in dem Moment hinfällig, als die Existenz der Seele infrage gestellt wurde. Die theoretischen Konzepte des Materialismus und Rationalismus, das Denken als die Bewegung von Atomen zu begreifen (Hobbes) oder das Gehirn als eine Rechenmaschine zu verstehen (Leibniz), hatten keinen Bestand, weil an die Stelle eines Problems ein anderes Problem gesetzt wurde, das viele neue unlösbare Fragen aufwirft. Als seit dem 19.Jahrhundert der Geist oder das Ich als Träger des Denkens definiert wurden, wurde weiterhin mit inneren Instanzen gearbeitet, deren Zusammenhang mit dem Körper unklar blieb.

In der Neuzeit hat sich das idealistische Dogma durchgesetzt, dass das Denken eine Ausdrucksform des Geistes ist. Es entstand das problematische Bild des Menschen als geistiges Wesen. Die Menschen sind demnach in ihrem Denken frei und für ihr Denken verantwortlich. Alle Probleme lassen sich durch richtige Einsichten lösen. Und wenn man selbst nicht in der Lage, die richtige Erkenntnis zu finden, muss die Hilfe kompetenter Denker in Anspruch genommen werden. Zur Vorstellung des geistigen Menschen gehört auch, dass alle Handlungen von den Gedanken geführt werden. Der Geist wurde damit zur zentralen Schaltstelle des Handelns.

Im Allgemeinen herrscht die Auffassung vor, dass beim Denken die Begriffe mit Hilfe ihrer Vorstellungsbilder verknüpft werden. Es wird angenommen, dass die mit einem Begriff verbundenen Vorstellungen andere Vorstellungen aktivieren. Welche Vorstellungen aber aus dem Gedächtnis geholt werden, ist nicht steuerbar. Damit wird das Postulat des bewussten Denken infrage gestellt. Außerdem ist nicht nachvollziehbar, wie aus der Kaskade von Vorstellungen eine Problemlösung hervorgehen soll. David Hume nahm an, dass die Verknüpfungsmöglichkeiten als Gewohnheitsmuster gelernt werden. Damit ist aber gerade die herausragende Fähigkeit des Denkens zu kreativen Gedanken nicht erklärbar.

Zu Recht ist in der philosophischen Fachliteratur immer wieder die provokative These zu finden, dass das Problem, wie Gedanken aus dem Körper hervorgehen, heute von seiner Lösung so weit entfernt ist wie im 17. Jahrhundert. 1 Offensichtlich befinden sich die bisherigen Konzepte in einer Sackgasse. Auch die heutige Neurowissenschaft ist weit davon entfernt, die psychischen und mentalen Phänomene auf neurobiologische Grundlagen zurückzuführen. Die Erwartung, dass das Denken verstanden werden kann, wenn man die Arbeitsweise der Neuronen versteht, hat sich bisher nicht erfüllt.

2. Ein neues Paradigma

Die Idee für einen neuen Ansatz zum Verständnis des Denkens entstand, als mir beim Lösen handwerklicher Probleme, beim Schachspielen und beim Entwickeln von EDV-Programmen immer wieder auffiel, dass sich das Denken dadurch auszeichnet, dass geprüft wird, ob mit früher gelernten Bewegungsmustern aktuelle Probleme gelöst werden können. Das Denken schien in allen Fällen die gleiche Struktur zu haben, dass in der Einbildungskraft Bewegungen probeweise durchgeführt wurden, um ihre Wirkungsweise zu prüfen. Wenn Probleme auf die Weise gelöst werden, dass dafür angemessene Bewegungen ausgewählt werden, könnte das Denken als eine Variante des normalen körperlichen Vermögens begriffen werden, zur Lösung von Aufgaben oder Problemen geschickt verschiedene Bewegungen zu koordinieren. Der Unterschied zwischen dem Versuch, über einen breiten Bach zu springen, eine Denksportaufgabe zu lösen oder ein philosophisches Problem durchzudenken, wäre dann nur noch graduell.

Tatsächlich beginnt das Denken damit, dass man vor einer Aufgabe steht, die nicht ohne weiteres mit den erlernten Bewegungen bewältigt werden kann. Es muss eine passende Bewegung gefunden werden. Es werden alle verfügbaren Bewegungsmuster geprüft, die für das akute Problem als geeignet erscheinen. Wenn für das beabsichtigte Ziel noch kein festes Bewegungsmuster vorhanden ist, muss die Bewegung innerlich eventuell aus Einzelbewegungen neu zusammengesetzt oder zunächst erst gelernt werden. So wird z.B. die Aufgabe, einen Holzstabzu teilen, die Bewegungsmuster des Sägens, Schlagensoder Brechens hervorrufen. Es wird dann geprüft, welches Bewegungsmuster angesichts der Stärke des Stabes Erfolg versprechender erscheint. Oder wenn ein Haus gebaut werden soll, werden im Planungsprozessalle Bewegungen der Reihe nach vorgestellt, die nach der Erfahrung für den Bau erforderlich sind. Dabei wird z.B. klar, welche Materialien benötigt werden und bei welchen Arbeiten die Unterstützung durch andere Menschen gebraucht wird. Die Prüfung, ob bestimmte Bewegungen zur Lösung eines Problems geeignet sind, wird als Denken erfahren.

Es stellte sich so die Intuition ein, dass das Denken nicht in der Verknüpfung von Begriffen, sondern von Bewegungsmustern bestehen könnte. Daraus entstand die Hypothese, dass Bewegungsmuster die eigentlichen Bausteine des Denkens sind und dass die Begriffe ihre Bedeutung dadurch erhalten, dass sie sich auf bestimmte Bewegungsmuster beziehen. Das würde bedeuten, dass das, was für meine Erfahrungsquellen des Schachspielens, des Programmierens und Handwerkens gilt, auch für alle als geistig bezeichnete Probleme zutreffen müsste. Allgemeiner ausgedrückt, es bildete sich die Hypothese heraus, dass das Denken ein Bestandteil des Handelns, also des motorischen Systems ist.

Zur Prüfung der Hypothese muss davon ausgegangen werden, dass die Besonderheit des menschlichen Handelns darin besteht, dass fast alle menschlichen Bewegungen erlernt werden müssen, indem sie von anderen Menschen nachgeahmt werden. Um eine Bewegung nachzuahmen, muss zunächst eine innere Kopie in Form von Vorstellungen aufgebaut werden. Dann muss die Bewegung durch mehrfaches Wiederholen eingeübt werden. Wenn neu Bewegungen beherrscht werden, werden sie abgespeichert. In Situationen, in denen die neu erlernte Bewegung als nützlich erscheint, kann sie dann automatisch bzw. gewohnheitsmäßig eingesetzt werden. Beim Abspeichern wird aber offensichtlich nicht ihr tatsächlicher Ablauf, sondern nur ihr Prinzip bzw. ihr Muster zugrunde gelegt.

Es ist eine herausragende Fähigkeit des Gehirns, überall spontan Muster zu erkennen. Muster werden nicht nur bei sinnlichen Wahrnehmungen, sondern auch bei Bewegungen gebildet. Die Musterbildung ist eine Abstraktionsleistung des Gehirn, da dabei die Fülle der Wahrnehmungen auf die wesentlichen Elemente reduziert wird. Sie hat offensichtlich die Funktion, Wahrnehmungen und Bewegungen ökonomisch abspeichern zu können. Bei den Bewegungen kommt noch die Möglichkeit hinzu, dass sie leichter an wechselnde Bedingungen angepasst werden können.

Da das Muster einer Bewegung praktisch eine Anweisung ist, wie die Bewegung optimal ablaufen soll, kann als Regel bezeichnet werden. Normalerweise wird der Begriff »Regel« mit den von Menschen gesetzten Regeln (Spielregeln, Verkehrsregeln, Regeln des Zusammenlebens) gleichgesetzt. Regeln werden demnach immer absichtlich, d.h. mit Bewusstsein geschaffen. Die Regeln müssen aber viel grundsätzlicher verstanden werden, da sie eine zentrale biologische Funktion für die Organisation von Bewegungen haben. Denn für alle gelernten Bewegungen bildet der Organismus spontan, also ohne Beteiligung des Bewusstseins Regeln, mit denen der Bewegungsablauf strukturiert wird. Da fast das gesamte Verhalten der Menschen gelernt werden muss, gibt es keine Bewegung, für die es keine Regeln gibt. Ohne Regeln wäre das Handeln der Menschen undenkbar. Bereits einfache Lebewesen arbeiten mit dem Steuerungsmechanismus der Regeln. Zu Recht hat der Gehirnforscher Manfred Spitzer das Gehirn als eine Regelextraktionsmaschine bezeichnet. Er will damit hervorheben, dass die Hauptleistung des Gehirns darin besteht, für alle Aktivitäten des Organismus Regeln auszubilden, um damit das Handeln zu erleichtern.

Die Regeln beziehen sich nicht nur auf Bewegungen, sondern auch auf Objekte, da es dem Organismus darum geht, sein Verhalten gegenüber den Objekten zu steuern. Im Zentrum der Regeln für Objekte steht, wofür sie praktisch verwendet werden können und evtl. zusätzlich bei Werkstoffen, wie sie sich bearbeiten lassen. Insofern besteht zwischen den Regeln für Bewegungen und denen für Objekte kein wesentlicher Unterschied. Auch bei den Objekten geht es letztlich darum, wie sie behandelt werden.

Die große Bedeutung der Regeln ergibt sich daraus, dass mit ihrer Hilfe alle Verhaltensweisen so organisiert werden können, dass sie als Gewohnheiten automatisch ablaufen können. So wäre das Sprechen undenkbar, wenn nicht für jeden Begriff eine Regel gebildet werden könnte. Auch beim Schreiben und allen sonstigen kulturellen Fertigkeiten braucht man nicht zu denken, weil sie unbewusst anhand der gelernten Regeln gesteuert ablaufen können. Der Organismus kann sich auf diese Weise von vielen kleinen Entscheidungen entlasten und sich auf die Kontrolle des situationsgemäßen Ablaufs der Bewegungen konzentrieren. Die bewusste Aufmerksamkeit kann sich voll und ganz evtl. auftretenden Problemen zuwenden. Die Regelbildung ist unbedingt erforderlich, weil das Bewusstsein eine knappe Ressource ist.

Die Bildung von Verhaltensgewohnheiten ist praktisch eine Selbstkonditionierung. Nur darf sie nicht wie üblich negativ bewertet werden, da die Gewohnheiten unter optimalen Bedingungen so gelernt werden, dass sie jederzeit wieder aufgegeben oder modifiziert werden können, wenn sie sich nicht mehr im Handeln bewähren. Nur unter Angst gelernte Verhaltensgewohnheiten laufen wie konditionierte Reflexe ab.

Da die Regeln überwiegend unbewusst wirksam sind, dürfen sie nicht als Vorschriften oder Handlungsanweisungen in dem Sinne verstanden werden, dass sie das Handeln absichtlich anleiten. Regeln wirken als Muster, da sie die Bewegungen formen, ohne sie im Detail festzulegen. Da sie implizit in den abgespeicherten Bewegungsgewohnheiten enthalten sind, brauchen sie nicht als mentale Einheiten abgespeichert zu werden. Die Regeln dürfen auch nicht als Gesetze verstanden werden, da sich Gesetze gerade dadurch auszeichnen, dass sie alles bis ins Einzelne festlegen. Deshalb müssen Formulierungen wie »eine Regel befolgen« oder »die Regeln leiten das Handeln an« sehr kritisch verstanden werden.

Seitdem die Menschen sprechen können, sind sie in der Lage, die Regeln ins Bewusstsein zu heben und mit Hilfe der Sprache weiterzugeben. Dadurch ist die Möglichkeit entstanden, durch bewusstes Nachdenken neue Regeln zu bilden. Dazu gehören alle von staatlichen Instanzen verordneten Regeln, alle Spielregeln, die Regeln des Handwerks und der industriellen Produktion, sportliche Wettkampfregeln, die Regeln des wissenschaftlichen Arbeitens u.Ä. Offensichtlich sind die Menschen dazu in der Lage, weil sie die Regelbildungskapazität der Natur in sich selbst zur Verfügung haben und bewusst nutzen können. Sobald solche Regeln beherrscht werden, werden sie genauso wie die spontan gebildeten Regeln unbewusst befolgt. Zu Recht spricht man davon, dass sie zur zweiten Natur werden.

Da die Regeln aus einem Abstraktionsvorgang hervorgehen und sie etwas Allgemeines darstellen, scheinen sie etwas Mentales zu sein. Auf jeden Fall gehören sie nicht zur sinnlichen Welt. Da sie aber auf der anderen Seite auch einen körperlichen Aspekt haben, weil sie sich auf körperliche Bewegungsprozesse beziehen, können sie nicht eindeutig nur dem mentalen Bereich zugeordnet werden. Sie sind also weder etwas rein Geistiges noch etwas rein Körperliches. Überhaupt passt der Begriff des Mentalen nicht so richtig, da er normalerweise für bewusste geistige Leitungen verwendet wird, es sich aber bei der Regelbildung um einen unbewussten Prozess handelt. Ebenso wenig passt der Begriff des Körpers, weil das Ergebnis der Analyse der körperlichen Bewegung, die Regelbildung, etwas Abstraktes ist. Offensichtlich sind die üblichen begrifflichen Schubladen, insbesondere der Begriffsdualismus von Körper und Geist, ungeeignet, das Phänomen der Regeln zu erfassen.

3. Denken als Probehandeln

Aus der Hypothese, dass das Denken auf die Weise arbeitet, dass erlernte Regeln innerlich miteinander verknüpft werden, ergibt sich die Auffassung, dass Probleme auf die Weise gelöst werden, dass dafür geeignete Regeln ausgewählt und miteinander verbunden werden. Das Denken kann damit als eine Variante des normalen körperlichen Vermögens begriffen werden, zur Lösung von Aufgaben geschickt verschiedene Bewegungen zu koordinieren. Die Verknüpfung der einzelnen Elemente erfolgt nach den gleichen Methoden, wie einzelne körperliche Bewegungen miteinander verbunden werden. So wie beim Schreibenlernen für jeden Buchstaben eine Regel gelernt wird, wie er mit anderen Buchstaben verkettet werden kann, so werden bei allen Bewegungsregeln die wichtigsten Verknüpfungen mit anderen Bewegungsregeln gelernt. Da man keine zusätzlichen Regeln braucht, um Bewegungsregeln miteinander zu verknüpfen, können Bewegungsregeln problemlos mit anderen Bewegungsregeln oder mit Regeln für Objekte miteinander verbunden werden.

Das Denken darf man sich nicht so vorstellen, als würden die Bewegungsregeln als geistige Faktoren miteinander in Beziehung gesetzt. Vielmehr wird im inneren Raum des Denkens so gehandelt, als ob man im realen Raum handeln würde. Jeder Gedanke besteht aus innerlich gedachten, d.h. virtuell vollzogenen Bewegungen. Eine Bewegung denken heißt, sie andeutungsweise ausführen. Man könnte vermuten, dass im Denken das Handeln innerlich imitiert wird. Das ist aber nicht der Fall. In Wirklichkeit wird im Denken probeweise gehandelt. Zu Recht hat Sigmund Freud das Denken als Probehandeln bezeichnet. 2 Allerdings hat er nicht erkannt, dass der Begriff des Probehandelns sehr wörtlich genommen werden muss.

Das Denken ist praktisch eine Vorbereitung des Handelns. Im virtuellen Raum des Denkens wird geprüft, ob eine Idee, wie ein Problem gelöst werden könnte, brauchbar ist. Für diese Auffassung hat die Gehirnforschung einen wichtigen Beleg gefunden. Es konnte nachgewiesen werden, dass wahrgenommene Bewegungen vom Gehirn in den gleichen Arealen verarbeitet, in denen diese Bewegungen ausgeführt werden. Bloß gedachte Bewegungen aktivierten ebenfalls diese Areale. Das spricht dafür, dass das Denken im Grunde nichts anderes als eine innere probeweise Ausführung von Bewegungen anhand ihrer Regeln ist. Nur weil die Menschen die Fähigkeit besitzen, Bewegungen innerlich nachzuvollziehen und damit mitzudenken, können sie denken und Geschichten erzählen und verstehen. Mitdenken heißt, dass nicht nur die Begriffe gehört, sondern die Bewegungsregeln, die von den Begriffen aufgerufen werden, innerlich ausgeführt werden. Ohne das innere Als-ob-Handeln blieben die Gedanken anderer Menschen und Geschichten unverständlich.

Letztlich sind auch philosophische Theorien auf das Handeln bezogen, auch wenn dies oft nicht mehr erkennbar ist. So hat z.B. die Frage nach der Wahrheit den praktischen Zweck, Kriterien zu ermitteln, mit denen die Tauglichkeit von Erkenntnissen für das praktische Handeln geprüft werden kann. Oder von der Frage nach dem Sinn des Lebens wird eine Orientierung erwartet, wie man das Leiden am Leben und die Endlichkeit des Lebens bewältigen kann.

Zu welchen Ergebnissen das Denken gelangt, ist nicht vorauszusehen. Es hängt von den persönlichen Kenntnissen, von den früheren Erfahrungen und den daraus abgeleiteten Regeln und von der unbewussten Bewertung der aktuellen Situation ab. Das Denken kann nur die Alternativen wählen, deren Bausteine es kennt. Deshalb kann man nie sicher sein, ob wirklich alle denkbaren Alternativen berücksichtigt worden sind. Das Denken hängt natürlich auch von der historischen Situation ab, die immer nur eine beschränkte Auswahl an Fähigkeiten und materiellen Möglichkeiten zur Verfügung stellt. Insofern ist die Art und Qualität des Denkens in hohem Maße auch von den historischen Bedingungen abhängig. Denken ist insofern sowohl ein höchst persönlicher als auch ein allgemeiner Akt.

Die vielfältige Abhängigkeit des Denkens von den äußeren Umständen bedeutet, dass das Denken häufig allein nicht in der Lage ist, schwierige oder neue Probleme zu lösen. Bei neuen Problemen ist es meist unmöglich, alle Lösungsalternativen zu durchdenken. Erst im praktischen Handeln wird deutlich, ob die gewählten Mittel geeignet sind, das beabsichtigte Ziel zu erreichen und falls sie sich als ungeeignet erweisen, welches Wissen fehlt. Daraus ergibt sich eine eindeutige Priorität des Handelns vor dem Denken.

Die Erfahrung lehrt, dass man erst denkt, wenn man dazu gezwungen wird. Dies ist in der Regel dann der Fall, wenn die bisherigen Verhaltensmuster versagen, mit anderen Menschen oder Objekten umzugehen. Es wird dann spontan geprüft, welche anderen Regeln zur Verfügung stehen, um das angestrebte Ziel dennoch zu erreichen. Eventuell werden auch neue Regeln gebildet. Der Anstoß zum Denken geht also regelmäßig von Problemen aus, die auftreten, wenn die persönlichen Ziele nicht mehr auf gewohntem Wege erreicht werden können. Insofern werden Probleme als schwierig zu lösende Aufgaben empfunden. Probleme stellen sich von selbst ein, man wird mit ihnen konfrontiert, so dass man sich ihnen nicht ohne weiteres entziehen kann. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht mit den verfügbaren Regeln gelöst werden können und deshalb das Denken anregen.

Die weit verbreitete Überzeugung, dass das Denken in allen seinen Phasen vom Bewusstsein gesteuert wird, muss aus der Sicht der Regeltheorie des Denkens infrage gestellt werden. So wie man sich nicht alle Schritte im Einzelnen überlegt, die erforderlich sind, um über einen Bach zu springen, so stellen sich regelmäßig Gedanken ein, wie ein Problem zu lösen ist, ohne dass man angeben kann, mit welchen einzelnen Schritten das Ergebnis zustande gekommen ist. Das kann damit erklärt werden, dass die Regeln meistens unbewusst gebildet werden und so lange eingeübt werden, bis sie unbewusst vollzogen werden können. Deshalb sind sie von Haus aus für eine unbewusste Verarbeitung geeignet. Ihre Verarbeitung kann unbewusst erfolgen, da in ihnen alle Erfahrungen der Realität enthalten sind. Das erklärt auch, warum intuitive Gedanken entstehen können.

Wenn man den Eindruck hat, bewusst zu denken, ist das im Grunde nur ein Zeichen dafür, dass für das aktuell zu lösende Problem noch geeignete Regeln fehlen. Es wird die Bemühung angestoßen, nach geeigneten Kenntnissen zu suchen bzw. sich passende Regeln anzueignen. Was normalerweise als bewusstes Denken bezeichnet wird, besteht im Grunde darin, dass die Aufmerksamkeit auf ein Problem gelenkt wird, so dass möglichst viele Details wahrgenommen und daraus Regeln abgeleitet werden können. Offensichtlich kann das unbewusste Denken nur dann nach sinnvollen Lösungen suchen, wenn es genügend Details eines Problems kennt. Die Erfahrung zeigt, dass am ehesten eine gute Lösung gefunden wird, wenn man sich eine Problemsituation so exakt und bildhaft wie möglich vorstellt. Je mehr Erfahrungen aufgenommen und daraus Regeln abgeleitet werden, umso präziser kann das unbewusste Denken arbeiten.

Sobald die fehlenden Regeln vorliegen, schaltet sich das unbewusste Denken von selbst wieder ein und versucht, die Problemlösung zu Ende zu bringen. Das Denken ist also dadurch charakterisiert, dass es bei ungewohnten Problemen immer wieder durch Phasen der bewussten Achtsamkeit und des bewussten Lernens unterbrochen wird. Im Grunde ist das, was im Allgemeinen als bewusstes Denken bezeichnet wird, gar kein richtiges Denken, sondern nur seine Vorbereitung, so wie ein Handwerker erst alle Werkzeuge zusammenstellt, die für die Aufgabe benötigt werden, bevor er mit der Arbeit beginnt. Es ist nicht in der Lage, eigenständig eine Problemlösung zu finden. Um nicht die helfende Funktion dieser suchenden Aktivität zu vergessen, sollte es nicht als Denken bezeichnet werden. Bewusstes Denken ist eine Fiktion. Beide mentale Aktivitäten als Denken zu kennzeichnen, verwischt die große Differenz zwischen ihnen und lässt die Illusion entstehen, dass die bewusste mentale Aktivität beim Suchen zur Problemlösung fähig ist.

Das Denken richtet sich nicht nach den Regeln der formalen Logik, sondern nach den Regeln, die sich aus der Logik der Objekte, d.h. aus den Anforderungen der Objekte ergeben. Jemand denkt demnach rational, wenn er aus Erfahrungen Regeln ableitet, sein Denken an den Regeln ausrichtet und seine erlernten Regeln jederzeit überprüft. Rationales Denken ist demnach nichts anderes als ein Denken, das erlernte Regeln sachgemäß kombiniert. Da das Denken ausschließlich darin besteht, Regeln zu kombinieren, ist es ein rein formaler, wertneutraler Prozess.

Da in den Regeln alle Erfahrungen beim erfolgreichen Handeln so aufbereitet werden, dass sie für effizientes Handeln benutzt werden können, sind sie die Basis der Intelligenz. Das Denken kann umso intelligenter sein, je mehr Regeln beherrscht werden. Intelligentes Handeln ist effizientes Handeln. Zu Recht wird das Denken als intelligent bezeichnet, das sich an die Regeln erfolgreichen Handelns hält. Das Denken kann kreativ sein, weil die Regeln einen abstrakten Charakter haben und ohne weiteres auf andere Problemfelder übertragen werden können.

Trotz der vielfältigen Abhängigkeiten des Denkens fühlt man sich in seinem Denken nicht reglementiert. Es ist sinnlos, von Unfreiheit des Denkens zu reden. Da das Denken spontan abläuft, ist Freiheit ein falsches Bewertungskriterium. Auch daraus, dass beim Denken ständig Regeln befolgt werden, folgt nicht, dass man von Regeln reglementiert wird. Schließlich wurden die eigenen Regeln aus den individuellen Erfahrungen abgeleitet und besteht jederzeit die Möglichkeit, Regeln abzuwandeln, wenn dies die Situation erfordert. Entscheidend ist die problemlösende Qualität des Denkens. Sie wird umso größer sein, je mehr Erfahrungen und Fähigkeiten man sich aneignen konnte und je mehr man angstfrei handeln kann.

Wenn das Denken als ein verinnerlichtes Handeln verstanden wird, können die Eigenschaften des Denkens besser verstanden werden. So kann die Selbstreflexivität des Denkens unmittelbar aus der natürlichen Selbstreflexivität des Handelns abgeleitet werden. Bei jeder Handlung wird spontan geprüft, inwieweit damit das beabsichtigte Ziel erreicht worden ist. Eine Bewegung kann nur erfolgreich auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtet werden kann, wenn jede Bewegungsphase an Kontrollzentren im Gehirn zurückgemeldet wird. Die Selbstreflexivität des Handelns ist deshalb auch ein Bestandteil des das Handeln vorbereitenden Probehandeln. Es wird beim Denken ständig spontan geprüft, ob die angedachten mittel für die gewählten Ziele tauglich sind. Ihre Tauglichkeit zeigt sich am Gefühl der Stimmigkeit.

Auch die herausragende Fähigkeit des Denkens zur Abstraktion erklärt sich aus den Eigentümlichkeiten des menschlichen Handelns. Da die Regeln eine Abstraktionsleistung des Gehirns und die Regeln die Bausteine des Denkens sind, ist es nicht weiter überraschend, dass sich das Denken durch Abstraktion auszeichnet. Es wäre deshalb falsch, die Fähigkeit zum abstrakten Denken als ein geistiges Vermögen zu bezeichnen.

Das menschliche Denken ist demnach möglich geworden, weil der Organismus fähig ist, Regeln von wahrgenommenen Bewegungen zu erkennen und mit ihrer Kombination das Handeln vorzubereiten. Da sich somit das Denken der biologischen Fähigkeit verdankt, Regeln zu erfassen und Bewegungen innerlich nachzuvollziehen, kann es als eine Funktion verstanden werden, die analog zum normalen Handeln erklärt werden kann.

Die Hypothese, dass das Denken mit Bewegungsmustern arbeitet, wird durch die These einiger Gehirnforscher unterstützt, dass das Gehirn nichts anderes kann, als Bewegungen zu organisieren. Wenn diese These richtig ist, müssen auch die Gedanken als Bewegungsprozesse verstanden werden können. Die Gehirnforscher haben diese Konsequenz nicht gezogen. Aber aus der Perspektive der Intuition, dass Bewegungsmuster der gemeinsame Nenner aller Phänomene im geistig-psychischen Bereich sind, kann die Idee, dass das Gehirn nur Bewegungen organisieren kann, konsequent zu Ende gedacht werden.

4. Wissen als Handlungsanleitung

Wer die Regeln kennt, wie etwas hergestellt oder bearbeitet werden kann, besitzt Wissen. Sind Regeln identisch mit dem, was üblicherweise unter Wissen verstanden wird? Vieles spricht dafür. Wissen besteht nach der hier entwickelten Regeltheorie des Denkens darin, dass aufzeigt wird, wie etwas erreicht werden kann bzw. wie praktische Probleme gelöst werden können. So hat z.B. optisches Wissen den praktischen Zweck, gute Brillen und Ferngläser produzieren zu können. Daraus ergibt sich die These, dass Wissen kein Abbild der Wirklichkeit ist, wie gemeinhin angenommen wird, sondern aus Regeln, d.h. aus Handlungsanweisungen, besteht.

Neues Wissen entstammt dem Handeln, sowohl was die Eigenschaften von Objekten als was deren Nutzen für das menschliche Handeln betrifft. Wissen enthält die Regelmäßigkeiten, die im handelnden Kontakt mit der Realität und anderen Menschen erfahren wurden. Wie bereits erwähnt worden ist, sind Erfahrungen nichts anderes als neu entwickelte oder modifizierte Regeln. Beim praktischen Alltagswissen geht es darum, wie praktische Probleme am besten bewältigt werden können. Auch beim technischen Wissen besteht überhaupt kein Zweifel daran, dass es auf das Handeln bezogen ist. Wenn wissenschaftliche Forschung oft als praxisunabhängiges Erkenntnisstreben verstanden wird, liegt das daran, dass sich der Wissenschaftsbetrieb gegenüber den ursprünglichen praktischen Fragestellungen scheinbar verselbständigt hat. In Wirklichkeit ist bloß der zeitliche Abstand zwischen den praktischen Problemen und dem Finden von neuen Lösungswegen teilweise extrem lang geworden.

Da Wissen aus Handlungsanleitungen besteht, kann es nicht einfach übertragen werden. Aus Sätzen, in denen Wissen übertragen wird, muss die gemeinte Handlungsanweisung erschlossen und eine entsprechende Regel abgeleitet werden. Während die Regelbildung bei persönlich gemachten Erfahrungen mehr oder minder automatisch abläuft, ist sie beim Lesen nicht gesichert. Denn die Regeln gehen nicht direkt aus dem Text selbst hervor, sondern müssen erarbeitet werden. Wer Sätze nur auswendig lernt, kann ihren Inhalt nicht sinnvoll anwenden. Denn beim bloßen Auswendiglernen werden die Regeln nicht erfasst. So kann niemand das Fahrradfahren anhand eines Handbuches lernen. Damit die Erfahrungen anderer Menschen zum Bestandteil des eigenen Denkens werden können, müssen sie innerlich nachvollzogen und als überzeugend bewertet werden. Erst dann können daraus neue Regeln abgeleitet werden. Wenn man angelesene Gedanken in eigenen Worten ausdrücken kann, ist dies ein Zeichen dafür, dass sie verarbeitet wurden. Aber es ist noch keine Gewähr dafür, dass man sie richtig verstanden hat. Erst das Handeln zeigt, ob die Gedanken wirklich verstanden worden sind.

Deshalb ist die Lektüre von Texten über fremde Erfahrungswelten so schwierig. Es besteht die Neigung, die Aufgabe der Verarbeitung zu überspringen und sich nur die zentralen Begriffe zu merken. Besonders schwierig wird es, wenn angelesene Erfahrungen von den eigenen Erfahrungen radikal abweichen. Dann ist die Neigung groß, sie entweder nach dem Muster der eigenen Erfahrungen zu verarbeiten und damit das Neue auszumerzen oder sie als untauglich abzulehnen. Deshalb haben es neue Gedanken so schwer, sich durchzusetzen. Auch wird das, was unzureichend verarbeitet wurde, schnell wieder vergessen.

Aus diesen Überlegungen folgt, dass die philosophische Auffassung, dass Wissen der Inbegriff wahrer, gerechtfertigter Überzeugungen ist, infrage gestellt werden muss. 3 Da Wissen immer eine Anleitung zum Handeln ist, darf es nicht als ein Abbild der Wirklichkeit verstanden werden. Und da Wissen nur wirksam ist, wenn Regeln sicher beherrscht werden, ist Wissen letztlich Können.

5. Die Bedeutung der Begriffe

Die Bedeutung von Begriffen wird im Allgemeinen daraus abgeleitet, dass sie auf etwas gerichtet sind, d.h. dass sie Intentionalität besitzen. Oft wird auch gesagt, dass die Begriffe etwas repräsentieren. Dabei bleibt allerdings unklar, worin die Intentionalität besteht bzw. was sie repräsentieren. Ist sie eine Assoziation, eine geistige Aktivität, ein Gedanke, eine Vorstellung eins reales Merkmal oder eine Handlungsanleitung?

Aus den bisherigen Überlegungen zur Funktion der Regeln kann die Hypothese abgeleitet werden, dass Begriffe Zeichen für Regeln sind. Da die Regeln das Allgemeine an Bewegungen und beim Gebrauch der Objekte erfassen, sind sie etwas Abstraktes. Deshalb können ihnen problemlos abstrakte Zeichen zugeordnet werden. Begriffe bestehen aus dieser Sicht aus der Zuordnung eines bestimmten Bewegungsmusters zu einem komplexen Lautmuster. Begriffe entstehen somit auf die Weise, dass einem motorischem Bewegungsmuster ein akustisches Bewegungsmuster zugeordnet wird.

Begriffe werden verstanden, wenn man die Bewegungsmuster kennt, auf die sie Bezug nehmen. Da mit jedem Bewegungsmuster etwas Bestimmtes erreicht werden soll, erhält jedes Bewegungsmuster die Aussage, mit welchen Mitteln ein bestimmtes Ziel erreicht werden kann. Insofern ergibt sich die Bedeutung von Begriffen wohl aus ihrer Intentionalität, aber diese ist kein geistiger Zustand, weil sie mit dem inhärenten Ziel der gedachten Bewegung zusammenhängt.

Während die klassische Begriffserklärung vom visuellen Erscheinungsbild eines Objektes ausgeht, setzt der neue Ansatz primär bei seiner Funktion im Rahmen des menschlichen Handelns an. Während z. B. im klassischen Denken ein Teller mit seiner typischen Form definiert wird, geht der hier vorgeschlagene Denkansatz von der Funktion des Tellers aus und betrachtet Form, Farbe und Material des Tellers als völlig nebensächlich. Ein anderes Beispiel: Nach dem neuen Denkansatz wird der Begriff der Kirche nicht durch eine bestimmte Bauform definiert, sondern durch die Aktivitäten, die in dem Gebäude stattfinden (Gebete zu Gott, religiöse Feiern u.Ä.). Deshalb kann auch ein Raum, dem alle Attribute einer traditionellen Kirche (Kirchturm u.Ä.) fehlen, in dem aber religiöse Aktivitäten vollzogen werden, dennoch als Kirche betrachtet werden. Oder: Der Begriff »Haus« wird am besten verstanden, wenn das bezeichnete Objekt dafür geeignet ist, dass man darin wohnen kann. Begriffe können also besser verstanden werden, wenn davon ausgegangen wird, dass sie durch die Bewegungen geprägt werden, wie mit den Objekten der Realität umgegangen wird.

Dass Begriffe auf Bewegungsmuster verweisen, ist bei den Verben evident. Dies trifft auch für die Begriffe zu, die aus der Versubstantivierung von Verben entstanden sind (z.B. Erkenntnis oder Wahrnehmung). Aber auch den Begriffen für Objekte und ihre Eigenschaften liegen letztlich Bewegungsmuster zugrunde. Da die Objekte mit ihren Eigenschaften nur insofern für die Menschen eine Bedeutung haben, als sie für ihre Lebenserhaltung wichtig sind, wird in diesen Begriffen immer auch mitgedacht, wofür sie nützlich sind und was mit ihnen gemacht werden kann. Man kann z.B. den Begriff Ziegelstein nicht denken, ohne bewusst oder unbewusst mitzudenken, dass Ziegelsteine für den Bau von Häusern gebraucht werden.

Es ist nicht zufällig, dass die meisten Begriffe für Objekte ursprünglich von den Aktivitäten abgeleitet wurden, die im Umgang mit den Objekten ausgeübt werden. So leitet sich z.B. der Begriff Holz von »schlagen« (Baum fällen) ab. Es wurde offensichtlich bei der Begriffsbildung davon ausgegangen, dass das Typische an allen Bäumen ist, dass daraus Holz für die Herstellung von kulturellen Artefakten gewonnen werden kann. Die typische Gestalt von Bäumen mit ihren relativ geraden Stämmen spielt dagegen offensichtlich nur eine untergeordnete Funktion bei der Begriffsbestimmung. Andere Beispiele: Der Begriff »Wand« geht ursprünglich auf »winden« zurück. Um eine Wand herzustellen, musste früher ein Flechtwerk gewunden werden, das mit Lehm ausgefüllt wurde. Der Begriff Tisch leitet sich von »Teller« und dieser wiederum von »schneiden« (»Speisen schneiden«) ab. Zum Begriff »Hand« ist es über das altdeutsche Verb für greifen gekommen. Der Begriff »Spiegel« geht auf das lateinische Verb »spicere« für sehen und schauen zurück. Im Duden Herkunftswörterbuch kann für fast jedes Substantiv nachgelesen werden, wie es ursprünglich aus einem Verb abgeleitet wurde.

Obgleich die Begriffe einen direkten sinnlichen Bezug haben, sind sie abstrakte Gebilde, da sie auf abstrakte Bewegungsmuster verweisen. Die Begriffe sind zwangsläufig mit Vorstellungsbildern verbunden, da sie auf Bewegungen bezogen sind, die im Raum ablaufen und mit bestimmten Zielen verbunden sind. Das erklärt die starke Neigung, die Bedeutung von Begriffen mit Vorstellungsbildern zu erklären. Aber die Vorstellungsbilder sind nicht konstitutiv für die Begriffe. Ohne die Kenntnis seines Bewegungsmusters wäre ein Begriff absolut unverständlich. Der Abstraktionsgrad der Begriffe kann beliebig gesteigert werden. Abstrakte Allgemeinbegriffe wie Geist, Seele oder Wahrheit, die keinen direkten sinnlichen Bezug mehr haben, können nur deshalb benutzt werden, weil sie auf bestimmte Regeln verweisen. So kann z.B. der Begriff des Geistes mit der Regel verbunden werden, dass er der Initiator der Gedanken ist oder dass er ein Kürzel für die Gesamtheit der mentalen Prozesse ist. Da sich aber die Regeln von abstrakten Allgemeinbegriffen nicht ohne weiteres aus der sinnlichen Wahrnehmung ableiten lassen, sind abstrakte Allgemeinbegriffe so schwierig zu begreifen und zu lernen.

Alle Begriffe sind ursprünglich im Zusammenhang mit dem Handeln entstanden. Sie sollten die Kooperation der Menschen miteinander erleichtern. Deshalb hatten sie ursprünglich einen direkten Bezug zu sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen und Bewegungen. Im Laufe der Geschichte wurden Allgemeinbegriffe gebildet, um die Zusammengehörigkeit ähnlicher Objekte zu kennzeichnen. Ebenso wurden viele metaphorische Begriffe geschaffen, da sich damit viele Phänomene – wie z.B. Gefühlsausdrücke, Farben u.Ä. - leichter bezeichnen lassen. Dadurch kann der Bezug zum Handeln verloren gehen und der Eindruck entstehen, dass die Begriffe die Wirklichkeit direkt abbilden.

Zwischen Begriffen und Regeln gibt es keinen zwingenden Zusammenhang. Regeln können mit beliebigen Zeichen bezeichnet werden: mit Gesten, Gebärden, akustischen Lauten (Begriffe, Töne, Melodien u.a.) oder Schildern (Zeichen auf Papier, Tafeln u.Ä.). Zeichen sind etwas Sinnliches, da sie selbst aus etwas Wahrnehmbarem bestehen und zugleich auch etwas Allgemeines, da sie ihre Bedeutung aus einer Verweisung auf etwas anderes erhalten. Deshalb können Begriffe nicht durch ausdrückliche Definitionen, Introspektion oder andere Verfahren der Begriffsbestimmung, sondern nur durch das Nachahmen im alltäglichen Umgang mit den bezeichneten Objekten und Aktivitäten gelernt werden. Die Zeichen können nur für die Kommunikation genutzt werden, wenn man weiß, wie sie in der Praxis von anderen Menschen gebraucht werden.

Die Begriffe werden primär dazu benutzt, etwas zu bewirken. So sollen andere Menschen zu einer bestimmten Handlung angeregt, von einem Gedanken überzeugt oder auf etwas Bestimmtes aufmerksam gemacht werden. Mit der Sprache kann auch ein Kontakt hergestellt werden, getröstet oder etwas versprochen werden. Der Unterschied zum Werkzeuggebrauch besteht bloß darin, dass man beim Gebrauch der Sprache nie sicher sein kann, ob die gewünschte Wirkung erzielt wird.

Da sich der Gehalt der Begriffe aus ihrem Bezug zu Regeln ergibt, wäre es falsch, aus dem Phänomen der Bedeutung abzuleiten, dass es einen gibt. Der Begriff des Geistes ist keine immaterielle Instanz, sondern nichts mehr als ein abstrakter Allgemeinbegriff, der einen praktischen Nutzen hat, wenn über das Denken nachgedacht wird.

6. Zum Verhältnis von Sprache und Denken

Warum ist man sich dessen kaum bewusst, dass im Denken virtuell gehandelt wird? Da liegt vermutlich daran, dass das innere Handeln von einem ständigen Wortstrom überdeckt wird, der das Denken begleitet. Wenn man die Absicht hat, jemandem etwas zu erklären, ist man von vornherein darauf bedacht, die Gedanken in Begriffe zu fassen. Das passiert auch, wenn man vorhat, seine Gedanken niederzuschreiben. Da der größte Teil des Denkens in der Kommunikation mit anderen Menschen geschieht, entsteht die Gewohnheit, alle Gedanken immer sofort in verbale Sätze zu übersetzen. Deshalb kann allzu leicht der falsche Eindruck entstehen, dass das Denken mit Hilfe von Begriffen erfolgt. Die Tatsache, dass die Gedanken nicht als inneres Handeln wahrgenommen werden, hängt auch damit zusammen, dass das Denken normalerweise völlig unbewusst abläuft.

Die verbreitete Überzeugung, dass die Sprache die Welt ordnet, dass sie also festlegt, wie sie erfahren wird und wie die Menschen denken, kann mit dem Argument widerlegt werden, dass sich in der Sprache nur die Bedeutungen spiegeln, die sich in der kulturelle Praxis herausgebildet haben. Im gemeinsamen Handeln werden den Objekten bestimmte Bedeutungen zugewiesen, abhängig davon, welcher Gebrauch von den Objekten gemacht wird. Die Bedeutungen enthalten die Erfahrungen, welchen Nutzen die Objekte für die menschliche Praxis haben. Da alle Erfahrungen in Regeln verdichtet werden, kann beim Sprechen mit den Begriffen auf bestimmte Bedeutungen Bezug genommen werden. Aber das Denken ist nicht auf die Begriffe angewiesen, weil es direkt mit den Regeln operieren kann. Das Denken muss als ein zeichenloser Prozess verstanden werden, in dem Regeln miteinander verknüpft werden. Ohne Zweifel konnten die Menschen bereits ihr Überleben mit dem Denken sichern, bevor sie vor ca. 100.000 bis 250.000 Jahren die Sprache entwickelt haben. Damit verlieren die philosophischen Thesen von der Untrennbarkeit von Denken und Sprache und vom Denken als einem semiotischen (d.h. an Zeichen gebundenen) Prozess ihre Glaubwürdigkeit.

Viele Sprachtheoretiker sind davon überzeugt, dass die Sprache dabei hilft, das Denken zu optimieren. Sie argumentieren, dass die Sprache Struktur in das Denken bringt. Wenn aber davon ausgegangen wird, dass sich die Struktur der Sprache aus der Struktur des Handelns ergibt, lässt sich die Überlegenheit des sprachlich gebundenen Denkens nicht mehr begründen. Das Denken kann nie besser als das Handeln sein, da alle Regeln aus dem praktischen Handeln hervorgehen. Auch von anderen Menschen übernommene Regeln müssen zumindest im probeweisen Handeln überprüft und angeeignet werden, damit sie vom unbewussten Denken verwendet werden können.

Auch wenn die Sprache nicht für das Denken konstitutiv ist, kann sie für das Denken sehr nützlich sein. Ein großer Vorteil der Begriffe besteht darin, dass komplexe Sachverhalte mit einer Fülle von miteinander verbundenen Regeln mit einem einzigen Begriff assoziiert und so im Gedächtnis aufbewahrt werden können. Ein Begriff reicht dann aus, um einen bestimmten komplexen Sachverhalt ins Arbeitsgedächtnis aufzurufen. So kann z.B. mit dem Begriff »Verbrennungsmotor« das gesamte Wissen über die Funktionsweise eines Benzinmotors in Arbeitsgedächtnis geladen werden. Außerdem kann das Bewusstsein mit Hilfe von Begriffen auf Probleme fokussiert werden, die mit ihnen verbunden wurden. So lässt der Begriffe »Schere« im Kalender daran erinnern, dass noch die Aufgabe ansteht, die Schere schleifen zu lassen. Schließlich hat die Sprache den Aufbau eines kulturellen Gedächtnisses ermöglicht, da mit Hilfe der Schriftsprache alle Erfahrungen und Erkenntnisse für die Nachwelt festgehalten werden können. Dadurch ist eine gewaltige Akkumulation von Wissen möglich geworden, auf das das Denken jederzeit zugreifen kann.

Seitdem die Menschen sprechen können, können sie das innere Selbstgespräch als ein geeignetes Mittel benutzen, um das eigene Denken zu stimulieren. So wie man im realen Gespräch das Bewusstsein des Gesprächspartners gezielt auf etwas Bestimmtes lenken kann, so kann man auch das Selbstgespräch dazu benutzen, das eigene Bewusstsein auf bestimmte Aspekte zu fokussieren. So bewirkt eine verbale Frage an sich selbst, dass schlagartig alle Gedächtnisinhalte, die mit der Frage assoziiert sind, aktiviert werden. Wenn man z.B. wissen will, welche Überzeugungen man zu einem bestimmten Thema hat, muss man nur eine entsprechende Frage an sich selbst richten. In Wirklichkeit handelt es sich also bei dem inneren Gespräch um den Versuch, sich auf eine bestimmte Situation bzw. ein bestimmtes Problem so intensiv wie möglich einzulassen, um damit das unbewusste Denken wirkungsvoll anzustoßen. Es ist also nicht primär die Sprache, die das Bewusstsein schafft, sondern die Möglichkeit, mit Hilfe des inneren Gesprächs inneres Handeln zu stimulieren.

Psychologische Experimente belegen, dass Kinder, die mit sich reden, Probleme deutlich schneller und besser lösen als Kinder, denen das Selbstgespräch verweigert wurde. Eine andere Strategie zur Förderung des Denkens besteht darin, dass man sich eine Situation in allen Einzelheiten vergegenwärtigt. Wenn diese Situation mit einem Gespräch verbunden war, liegt es natürlich nahe, dass ein evtl. abgebrochenes Gespräch wieder aufgegriffen und fortgeführt wird.

Der unmittelbare Bezug aller Begriffe zum Handeln ist im Laufe der Geschichte weitgehend verdrängt worden. Immer mehr Begriffe wurden geschaffen, die sich nicht mehr direkt auf sinnlich Wahrgenommenes beziehen. So wird z.B. von Kausalität gesprochen, wenn sich Objekte auf regelmäßige Weise verhalten, obwohl man niemals sicher sein kann, dass den Regelmäßigkeiten bestimmte Ursache zugrunde liegen. Oder der menschliche Körper wird wie eine Maschine betrachtet, obwohl dies nicht mehr als eine hypothetische Analogie ist. Nur wenn immer wieder der Frage nachgegangen wird, wie die Begriffe entstanden sind und dass sie meist nur theoretische Notbehelfe sind, kann vermieden werden, dass die Begriffe mit den Objekten gleichgesetzt werden. Außerdem wird nicht so schnell vergessen, dass sich in den Begriffen eine bestimmte kulturelle Praxis spiegelt.

In den bisherigen Sprachtheorien wurde zu wenig beachtet, dass Sprache auch missbräuchlich benutzt werden kann. Das ist der Fall, wenn bei abstrakten Begriffen und bei Metaphern vergessen wird, welche denkpraktische Funktion sie für das Denken haben und wenn sie mit der Wirklichkeit gleichgesetzt werden. Die unscharfen abstrakten Begriffe wie Vernunft, Geist, Seele u.Ä. waren ursprünglich nützlich, um damit die innere Welt der Gedanken und Gefühle zu verstehen. Sie haben sich aber im Laufe der Geschichte verselbständigt und wurden dazu missbraucht, damit soziale Unterdrückung zu rechtfertigen. Der Missbrauch der Sprache zur Legitimation von egoistischen Interessen hat die eigentlich erforderliche Tradierung eines kritischen Verständnisses der Sprache behindert.

7. Pragmatische Erkenntnistheorie

Wenn alle Gedanken letztlich die Funktion haben, das praktische Handeln anzuleiten, werden die Gedanken als wahr genommen, wenn sie sich im praktischen Handeln bewähren. Ob eine Theorie für wahr gehalten wird, ergibt sich also nicht aus logischen Ableitungen, sondern allein daraus, dass sie in der Praxis brauchbar ist. So werden z.B. naturwissenschaftliche optische Theorien dann für wahr gehalten, wenn damit gute Brillen und Ferngläser gebaut werden können. Auch psychologische Theorien werden daran gemessen, dass damit seelische Störungen geheilt werden können. Selbst von philosophischen Theorien wird letztlich erwartet, dass sie dem praktischen Handeln eine Orientierung geben, zumindest müssen sie geeignet sein, rätselhafte Phänomene besser erklären zu können.

Wenn Denken in der inneren Koordination von Bewegungsmustern besteht, die sich ausschließlich auf menschliche Bewegungen beziehen, folgt daraus, dass das Denken nicht beanspruchen kann, etwas Objektives erkennen zu können. Menschen können mit ihren Bewegungen auf die Dinge einwirken, aber sie können sie nicht verstehen. Man kann allenfalls wissen, wie sie regelmäßig reagieren, wenn sie auf bestimmte Weise behandelt werden. Warum sie so reagieren, dafür können wissenschaftliche Erklärungen versucht werden, aber es bleiben immer theoretische Modellvorstellungen, die letztlich ein Verständnis ausschließen.

Nur bei menschlichen Bewegungen weiß man aus dem inneren Erleben, wie sie sich anfühlen und was mit ihnen zu erreichen ist. Deshalb ist man sich sicher, einen Menschen zu verstehen, wenn man weiß, was er mit seinen Bewegungen anstrebt. Aber die äußere Natur kann nicht verstanden werden, da sie nach Regeln funktioniert, die man nicht auf diese innere Weise kennt. Sie kann nur versuchsweise verstanden werden, wenn sie so betrachtet wird, als würde sie nach dem Modell menschlichen Handelns funktionieren. Es wird immer wieder gefordert, die Natur nicht nach anthropomorphen Mustern zu erklären. Aber Naturerkenntnis kommt ohne aus menschlichen Bewegungen abgeleiteten Metaphern nicht aus. So lehnt sich z.B. das mechanistische Naturverständnis an die Metapher der selbständig ablaufenden, von Menschen produzierten Maschine an - wie z.B. ein Uhrwerk. Oder in der Evolutionstheorie wird mit der Metapher des Kampfes der Arten operiert. Da die Natur nicht anders als mit Metaphern analysiert werden kann, kann die Kritik am anthropomorphen Denken nur bedeuten, dass man sich bei Erklärungsversuchen bewusst sein muss, welche Metaphern dabei verwendet werden.

Denn die prinzipielle Unverstehbarkeit der Natur hängt also damit zusammen, dass die Menschen letztlich nur ihre eigenen Bewegungen verstehen können. Die Menschen können gar nicht anders, als die Welt nach Maßgabe ihrer Bewegungsmuster zu begreifen. So haben Religionskritiker immer wieder behauptet, dass die Götter idealisierte Abbilder der Menschen sind. Oder beim Verständnis von Tieren wird davon ausgegangen, dass sie wie Menschen handeln. Seitdem die Menschen Maschinen produzieren können, werden Tiere vorzugsweise als Automaten betrachtet, die von angeborenen Instinkten gesteuert werden. Auch der menschliche Körper wird seitdem in Analogie zu produzierten Maschinen begriffen. Offensichtlich wird etwas erst verstanden, wenn man es in Analogie zu menschlichen Bewegungen setzen oder reproduzieren kann. Was die Menschen nicht handelnd wiederholen oder verändern können, entzieht sich ihrer Erkenntnis. Die Grenzen der Erkenntnis werden damit durch die bekannten Handlungsmuster abgesteckt.

Das Ziel des Denkens ist nicht Erkenntnis – verstanden als ein Wissen über die Realität –, sondern Kenntnis darüber, wie nützliche Handlungen durchgeführt werden können. Es ist nicht zufällig, dass sich der Begriff Erkenntnis vom Können ableitet. Die alte philosophische Frage, ob die Gedanken mit der Realität identisch sind oder zumindest ihr ähnlich sind, kann damit als erledigt betrachtet werden. Wenn Theorien als Handlungsanleitungen verstanden werden, wird zwar erwartet, dass sie im Einklang mit der Realität stehen, da sie sonst nicht wirksames Handeln anleiten könnten. Ob aber eine Übereinstimmung der Gedanken mit der Realität vorliegt, ist irrelevant.

Aus diesen Überlegungen ergibt sich eine pragmatische Erkenntnistheorie, die die Grenzen des Denkens sehr eng zieht. Es kann immer nur der Nutzen der Dinge für die Menschen erkannt werden. Die Idee der objektiven Erkenntnis zerfällt. Auch die Idee der Wahrheit als Übereinstimmung zwischen Gedanke und Gegenstand verliert ihre Grundlage.

8. Jenseits des Dualismus von Körper und Geist

Die Regeltheorie des Denkens kann auf die Verwendung von metaphysischen Begriffen wie Seele und Geist verzichten. Das traditionelle Postulat einer eigenständigen, nicht an die Materie gebundenen geistig-seelischen Wirklichkeit hat zur tief verzweigten Diskussion geführt, wie Geist und Körper aufeinander einwirken, ohne dass aber ein Konsens gefunden werden konnte. Die Frage musste unbeantwortet bleiben, da Geist und Körper als Gegensätze formuliert wurden, am konsequentesten bei Descartes, und da übersehen wurde, dass die Begriffe selbst historisch als abstrakte Allgemeinbegriffe entstanden sind, die ursprünglich die Aufgabe hatten, das rätselhafte Phänomen der inneren Gedankenwelt verständlich zu machen.

Die Frage, wie Geist, Seele und Körper zusammenhängen und aufeinander einwirken, erweist sich als eine Scheinfrage. Hinter dem Dualismus von Körper und Geist steht die praktische Frage, wie das Handeln vom Denken unterstützt werden kann. Wenn das Denken als eine Phase in der Vorbereitung des Handelns verstanden wird und selbst aus nichts anderem als aus der Koordination von Regeln und das heißt aus Bewegungsmustern besteht, dann kann die Frage, wie das Denken dem Handeln nützt, so beantwortet werden, dass das Denken das Handeln vorbereitet und dass man umso besser denken kann, je mehr man die Anwendung mannigfaltiger Regeln beherrscht und Kenntnisse über ihre möglichen Auswirkungen verfügt. Damit verliert die Idee einer eigenständigen geistigen Wirklichkeit ihre Grundlage.

Die Menschen haben ein starkes Interesse an der Frage, wer im Menschen denkt. Nachdem die Gedanken nicht mehr als von den Göttern geschickt gedacht werden konnten, wurde das Denken mit dem Denkvermögen der Seele, des Geistes, der Vernunft, des Ichs u.Ä. erklärt. Aus der Sicht der Regeltheorie des Denkens sind diese Erklärungen Folgen eines unreflektierten personalisierenden Denkens. Man konnte bisher die inneren Prozesse nicht anders verstehen, als dass in Analogie zu leibhaftigen Personen eine innere denkende Wesenheit angenommen wird. Innere Denkinstanzen sind offensichtlich ein Ersatz für die denkenden Götter.

Wenn aber das Denken eine spontane Leistung des ganzen Organismus ist, um das Handeln vorzubereiten, erübrigt sich die Frage nach dem Sitz des Denkvermögens. Die Lokalisierung des Denkens im Gehirn ist zu eng. Wenn das Denken in der komplexen Bewegungsfähigkeit begründet ist, verbietet sich jede Einschränkung des Denkvermögens auf ein isoliertes Organ. Dass Gedanken tatsächlich virtuell vollzogene Bewegungen sind, zeigt sich daran, dass mit sensiblen Messgeräten nachgewiesen werden kann, dass beim Denken alle Körpermuskeln, die den gedachten Bewegungen entsprechen, eine minimale Innervation erhalten.

In der Regeltheorie des Denkens ist der Einzelne nicht für sein Denken in dem Sinne selbst verantwortlich ist, dass er auch anders hätte denken können. Es spricht vieles dafür, dass das Denken nach den Regeln der Selbstorganisation abläuft. Das zeigt sich daran, dass viele Denkprozesse unbewusst ablaufen. Das jeweils aktuelle Denken geht aus dem Geflecht der aktuellen Bedürfnisse und Erfahrungen und den früher gesammelten Erfahrungen und Bewertungen hervor. Dieses Geflecht kann vom Einzelnen nur ansatzweise aufgehellt werden. Er hat deshalb nicht die Freiheit, auch anders zu denken. Zwar kann man sich außerhalb von Handlungssituationen Alternativen ausdenken, aber in einer konkreten Handlungssituation wird man direkt nach den Gedanken handeln, die sich aus der aktuellen Konstellation von äußerer Wahrnehmung und inneren Erfahrungen ergeben. Die Erfahrung zeigt, dass man sich vieles vornehmen kann, aber unter dem Druck der Handlungssituation doch anders handelt. Es wäre deshalb falsch zu behaupten, dass das Denken von inneren Prozessen determiniert wird. Denn einerseits fühlt man sich beim Denken nicht fremdbestimmt und zum anderen kann man sich mit seinen Gedanken uneingeschränkt identifizieren, weil sie Ausdruck der eigenen Person sind, einschließlich ihrer unbewussten Anteile. Wenn vom Einzelnen verlangt wird, dass er die Verantwortung für sein Denken übernehmen soll, bedeutet dies, dass er sich die Folgen seines Handelns zurechnen lassen muss, die sich aus seinem Denken ergeben.

9. Der Mensch als natürliches Wesen

Die vorliegenden Überlegungen machen es möglich, das Denken als eine körperliche Aktivität zu begreifen. Damit kann das fragwürdige Dogma, dass die Menschen geistige Wesen seien, zerstört und mit dem Bild des Menschen als einem natürlichen Wesen ersetzt werden. Sich als ein natürliches Wesen zu verstehen bedeutet, dass man anerkennt, dass man auch in den angeblich höheren mentalen und seelischen Funktionen ein biologisches Lebewesen ist und dass die Abhängigkeit von den natürlichen Bedingungen nicht verleugnet wird. Der Unterschied zu den höheren Säugetieren liegt allein darin, dass die Menschen ihre körperlichen Bewegungsfähigkeiten und damit ihre Handlungsfähigkeit extrem gesteigert haben und damit das Gehäuse der Kultur aufbauen konnten.Der entscheidende Unterschied zwischen den Menschen und den übrigen Tieren besteht also nicht darin, dass die Menschen Geist haben und sprechen können, sondern darin, dass bei den Menschen die Instinkte fast vollständig durch Regeln ersetzt werden. Die traditionelle Auffassung, die die Menschen als denkende Wesen betrachtet, erweist sich als Ausdruck einer problematischen Überbewertung des Denkens, die die Abhängigkeiten des Denkens von den Erfordernissen des praktischen Handelns ausblendet und die Illusion stützt, dass das Denken allein schon ausreichend sei und jeder aus eigener Kraft seine Probleme lösen könne.

Als handelnde Wesen denken die Menschen keineswegs weniger, als wenn sie sich als geistige Wesen verstehen. Im Gegenteil reagieren sie dann viel kritischer auf indirekte und direkte Einschränkungen ihres Denkens durch Mythen, Weltbilder, Theorien und sozialen Druck. Da das Denken und Fühlen unbewusst abläuft, nehmen sie die daraus erwachsende Verantwortung wahr, für soziale Lebensbedingungen zu kämpfen, die dem Denken optimale Bedingungen geben. Sie wissen aus Erfahrung, dass einerseits Ängste das Denken lähmen und dass andererseits das unbewusste Denken eine Garantie für kreative und produktive Denkergebnisse darstellt.

Wenn sich Menschen als natürliche Wesen verstehen, lehnen sie alle Vorstellungen von Religion und Transzendenz ab. Der Anspruch der Religionen, den Menschen eine Orientierung zu geben und auf die Fragen nach dem Sinn des Leben und dem Leben nach dem Tod Antworten zu geben, hat sich als trügerisch herausgestellt. Die Geschichte zeigt, dass religiöse Überzeugungen dazu benutzt wurden, freies Denken zu unterdrücken und die Herrschaftsverhältnissen, die vielen Menschen das Leben erschwert haben, zu legitimieren. Auch die sogenannten Weltbilder können die existentiellen Fragen nicht lösen. Die meisten theoretischen Probleme, die von der Philosophie aufgehäuft wurden und teilweise als unbeantwortbar gelten, erweisen sich aus dieser Perspektive als Scheinprobleme, verursacht durch falsche Annahmen über die Funktion des Denkens. Die Erwartung, die Probleme theoretisch lösen zu können, ist illusionär. Da sie durch soziale Herrschaft entstanden sind, können sie nur durch praktisches Handeln beantwortet werden.

So wie jeder selbst handeln muss, so muss er auch selber denken. Seit der Entwicklung der Sprache ist dieses Prinzip nicht mehr selbstverständlich. Theorien, Glaubenssätze, Lebensweisheiten u.Ä. werden häufig anstelle des eigenen Denkens benutzt. Priestern, Philosophen, Schriftstellern u.Ä. wird oft die Autorität zugesprochen, die Ziele festzulegen, denen man sein Handeln unterordnet, zumal wenn man davon überzeugt ist, dass es objektiv gültige Wahrheiten gibt, die für alle Menschen verbindlich sind. Da diese Auffassung abgelehnt werden muss, ist es zwecklos, von anderen Menschen zu verlangen, sich ihres Verstandes zu bedienen. Wenn Ressourcen an Regeln fehlen, stellt der Appell an das vernünftige Denken nur eine demütigende Überforderung dar. Meist will der Appell ohnehin nur die Anpassung an von Autoritäten empfohlene Handlungsweisen. Im besten Fall besteht er in der Ermutigung, seine Gedanken trotz angedrohter Sanktionen zu äußern. Selber denken verlangt, dass die Barrieren des Denkens in Form von schlechter Schulbildung, verdummenden Fernsehsendungen, wenig Erfahrungen aufgrund von Handlungsohnmacht, Angst vor Sanktionen u.A. durch soziale Reformen beseitigt werden.

Die Bedeutung der Regeltheorie des Denkens reicht weiter über das Problem des Denkens hinaus. Sie stellt im Grunde einen Schlüssel zu einem neuen Verständnis des Menschen dar. Wenn Menschen handelnde Wesen sind, können sie ihre Probleme nur durch Handeln lösen. Da das Handeln nur gemeinsam mit anderen Menschen erfolgreich sein kann, muss jede individualistische Auffassung des Denkens infrage gestellt werden.

Sprache ist somit kein Medium der Erkenntnis, sondern ein pragmatisches Instrument, um mit anderen Menschen zu kommunizieren. Sie soll helfen, das gemeinsame Handeln besser zu koordinieren und ggfs. das Denken anzustoßen. Die Menschen können ihre extreme Bewegungsfähigkeit dazu benutzen, mit geeigneten Bewegungen ihrer Lautorgane die Kommunikation mit anderen Menschen inhaltsreicher zu gestalten.

1Falkenburg, Brigitte: Was heißt es, determiniert zu sein? In: Sturma, Dieter (Hrsg): Philosophie und Neurowissenschaften, S.44

2Freud, Sigmund: Gesammelte Werke, Frankfurt/Main 1961, Bd. XV, S. 96

3Vgl. Schnädelbach, Herbert: Was Philosophen wissen und was man von ihnen lernen kann, München 2012, S. 30