Philosophie der Muster    Aufsatz "Sprachholismus"

Der Mythos des Sprachholismus
Woher erhalten die Begriffe ihre Bedeutung (2017)

Zur Kritik an Charles Taylor: Das sprachbegabte Tier, Berlin 2017

1. Sprache als Rätsel

Die Vertreter des Sprachholismus behaupten, dass sich die Bedeutung der Wörter → [1] aus dem Zusammenhang der ganzen Sprache ergibt. Um einzelne Wörter zu verstehen, muss man die ganze Sprache kennen muss. Der These liegt die Intuition zugrunde, dass die Sprache ein geistiges Phänomen ist, das alle seine Bestandteile durchdringt und prägt. So nimmt Taylor an, dass die Sprache neue Bedeutungen schaffen könne. Sie können sozusagen ihre Inhalte selbst schaffen. Diese These stellt sich bewusst gegen das Alltagsverständnis, dass jeder Begriff seine Bedeutung aus dem direkten Bezug zu einem Gegenstand erhält und dass die Sprache bloß eine Ansammlung von Wörtern darstellt. Diese Gegenthese wird von Taylor als Bedeutungsatomismus abgewertet.

Ich möchte die These begründen, dass der Sprachholismus ein Irrtum ist. Diese Auffassung konnte entstehen, weil es den Sprachforschern bisher nicht gelungen ist, die Bedeutung von Begriffen zu erklären. Da es sich als schwierig herausgestellt hatte, die Bedeutung der Begriffe mit den Eigenschaften der Dinge zu erklären, verfiel man auf den Ausweg, sie im Kontext der ganzen Sprache selbst zu suchen. Dies ist ein rationalistischer Ansatz, da damit die Sprache als ein geistiges Phänomen sui generis verstanden wird. Nach meiner Auffassung kann die Sprache aber nur verstanden werden, wenn sie als das Produkt eines evolutionären Prozesses betrachtet wird, der vom Handeln vorangetrieben wird.

Das Thema des Sprachholismus ist insofern sehr aktuell, da es um das bisher ungelöste Problem geht, ob das Denken von der Sprache geprägt wird oder ob die Sprache nur ein Mittel ist, um vorsprachlich gebildete Gedanken mitteilbar zu machen. Die Vertreter des Sprachholismus – und die meisten Sprachforscher – gehen implizit davon aus, dass das Denken auf die Sprache angewiesen ist. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass diese Annahme ins Wanken gerät, wenn die Frage geklärt wird, woher die Begriffe ihre Bedeutung haben.

2. Woher haben die Begriffe ihre Bedeutung?

Es ist unumstritten, dass Begriffe Zeichen für etwas sind. Allerdings ist völlig unklar, was dieses »etwas« ist: sind es Gegenstände direkt, nur die Abbildungen der Gegenstände im Bewusstsein oder sind es mentale Ideen. Welche Eigenschaften und Merkmale werden von den Zeichen erfasst? Auffällig ist, dass sich alle Definitionsversuche auf Zeichen für Gegenstände beziehen. Dies drückt sich darin aus, dass in der Regel von Aussagesätzen ausgegangen wird. Damit bleibt ungeklärt, wie die Bedeutung von Verben zustandekommt, die sich nicht auf Gegenstände, sondern auf Handlungen beziehen. Hier macht der Bezug auf Eigenschaften und Merkmale wenig Sinn.

Es ist zweifelhaft, ob den Aussagesätzen in der Sprache tatsächlich ein Vorrang zukommt. Denn die meisten Sätze berichten davon, was passiert ist oder passieren könnte. Der typische Satz stellt dar, dass ein Subjekt etwas tut; meist spielt dabei noch ein Gegenstand eine Rolle. Diese Struktur von Sätzen (Subjekt, Prädikat, Objekt) hängt offensichtlich damit zusammen, dass die Sprache im Zusammenhang mit dem kooperativen Handeln entstanden ist. Es soll anderen mitgeteilt werden, welche Mittel geeignet sind, um ein gemeinsam angestrebtes Ziel zu erreichen. Da es primär darum geht, bestimmte Handlungsweisen zu bezeichnen, haben Verben in typischen Sätzen einen absoluten Vorrang.

Um die Bedeutung von bestimmten Handlungsweisen zu bestimmen, muss ihr Wesentliches erfasst werden. Das können nicht ihre Eigenschaften sein, sondern das kann nur in ihrer Funktion bestehen. So besteht z. B. die Funktion des Werfens darin, einen Gegenstand von sich weg zu schleudern. Vermutlich wird in der Bedeutung auch das typische Bewegungsmuster erfasst, weil damit eine Handlungsweise bei anderen wiedererkannt werden kann. Insofern kann die Bedeutung von Verben damit bestimmt werden, dass sie sich auf das Muster von bestimmten Handlungsweisen bezieht.

Aus der Perspektive der Verben kann die Bedeutung von Gegenständen neu bestimmt werden. Bei den Gegenständen geht es im praktischen Handeln primär nicht darum, welche Eigenschaften die Gegenstände haben, sondern was mit ihnen getan werden kann, welche Funktion sie also für das Handeln haben. Der Zugang zu den Gegenständen ist primär ein handelnder, nicht ein erkennender. So ist z. B. ein Stuhl nicht primär ein Objekt mit bestimmten Eigenschaften, sondern es wird vielmehr seine Funktion wahrgenommen, dass man sich darauf setzen kann. Demnach bezieht sich die Bedeutung des Begriffs Stuhl auf das Muster, das festhält, wie er im praktischen Handeln benutzt wird. Daraus folgt, dass sich die Bedeutung von Begriffen für Gegenstände im Prinzip nicht von der Bedeutung für Handlungsweisen unterscheiden. In beiden Fällen ergibt sich die Bedeutung aus den Mustern, die sich auf Handlungsweisen beziehen. Das Verständnis von Sätzen ergibt sich demnach daraus, welche Bewegungen von einem Subjekt ausgeführt werden. → [2]

In meinem Buch »Wie Denken funktioniert« habe ich dargestellt, dass die Muster spontan vom Gehirn produziert werden. → [3] In den Mustern wird erfasst, was an einer Handlungsweise bzw. dem Gebrauch eines Gegenstandes als wesentlich erscheint. Wie bei jeder Wahrnehmung werden auch beim Umgang mit Gegenständen Gestalten erfasst. Muster sind stets Abstraktionen. Sie sind aber nichts Geistiges, da sie nicht bewusst hergestellt werden können. Sie haben eher den Charakter von Bewegungsprogrammen, die spontan aus Erfahrungen aufgebaut und modifiziert werden und die das Handeln strukturieren. Auf jeden Fall lassen sie sich nicht direkt wahrnehmen, sondern nur aus dem Verhalten erschließen. Wenn man z. B. auf ähnliche Erfahrungen immer auf die gleiche Weise reagiert, liegt das daran, dass stets das gleiche Muster aktiviert wird.

Aus diesen Überlegungen folgt die Hypothese, dass die Bedeutung von Begriffen auf spontan gebildeten Mustern basiert. Sprache wird verstanden, weil die Muster bekannt sind, die mit den Begriffen assoziiert sind. Um z. B. den Begriff Hammer zu verstehen, muss man seine praktische Verwendungsweise kennen. Nur bei mehrdeutigen Begriffen (z. B. Bank) ist zusätzlich das Wissen erforderlich, um welchen Kontext es geht. Aber die Gesamtheit der Sprache muss nicht bekannt sein. Daraus ergeben sich Zweifel an der These des Sprachholismus!

Man muss davon ausgehen, das sich im praktischen Handeln ganz von selbst eine Verständnis herausbildet, was mit den Dingen getan werden kann, wie sie miteinander zusammenhängen und wie bestimmte Wirkungen erzielt werden können. Da sich dieses Verständnis unabhängig von der Sprache herausbildet, wird auch von Vorverständnis gesprochen. Dieses Vorverständnis geht in alle Begriffe ein. Mit seiner Hilfe wird spontan geprüft, ob Sätze sinnvoll sind oder nicht. So wird z. B. der Satz »Sokrates fliegt« spontan als sinnlos abgelehnt, weil Menschen der Erfahrung nach nicht fliegen können. Die These des Sprachholismus basiert offensichtlich darauf, dass das ganzheitliche Verständnis, das sich im Vorverständnis herausbildet, auf die Sprache projiziert wird.

Die Idee, dass Muster die Grundelemente des Denkens sind, ist nicht neu. In der Regel werden dafür andere Begriffe verwendet: Schemata, Konzept, Form, Kategorie, Schablone, Symbol u. a. All diesen Begriffen liegt die Annahme zugrunde, dass das Denken nicht mit der Realität direkt, sondern mit Hilfe von abstrakten Stellvertretern arbeitet. Da diese Stellvertreter nicht direkt wahrgenommen werden können, müssen Metaphern benutzt werden. Ich bevorzuge die Metapher des Musters, da sie am wenigsten mit mentalistischen Assoziationen belastet ist.

3. Braucht das Denken Begriffe?

Da die Begriffe ihre Bedeutung aus dem Bezug zu Mustern erhalten, kann daraus die Hypothese abgeleitet werden, dass das Denken direkt mit Mustern arbeitet. In den Mustern ist im Grunde alles enthalten, was für das Denken benötigt wird. Das Denken kann unbewusst damit operieren, weil die Muster unbewusst gebildet wurden. Dafür sprechen die intuitiven Einfälle, die für produktives Denken typisch sind. Wenn man das bewusste Denken beobachtet, fällt auf, dass es sich kaum vom realen Handeln unterscheidet. Es wird deshalb hier die Hypothese vertreten, dass das Denken am Besten verstanden werden kann, wenn es als ein probeweises, vorweg genommenes virtuelles Handeln betrachtet wird. Das wird unten am Beispiel des Nachdenkens über Gefühle und moralisches Verhalten demonstriert.

Wenn von der Hypothese ausgegangen wird, dass das Denken ohne Begriffe operiert, können viele Rätsel des Denken relativ einfach geklärt werden. So ist das intuitive Denken überhaupt nichts Geheimnisvolles. Es ist damit zu erklären, dass alle persönlichen Erfahrungen im unbewussten Denken verarbeitet werden. Erfahrungen können erst vom Denken verarbeitet werden, wenn sie in Muster umgesetzt wurden. Ebenso muss angelesenes Wissen in Muster transformiert werden, damit es vom Denken benutzt werden kann. Worüber keine Muster gebildet wurden, kann auch nicht nachgedacht werden.

Vor allem kann jetzt erklärt werden, warum das Denken auf das Handeln Einfluss nehmen kann. Wenn das Denken als ein probeweises, virtuelles Handeln begriffen wird, gibt es keine Kluft mehr zwischen Denken und Handeln, die überbrückt werden muss. Da die Elemente des Denkens Bewegungsmuster sind, ist alles Denken immer schon ein Vorgriff auf mögliches Handeln. Zum Handeln muss bloß noch der Handlungsimpuls, der im Denken immer mit enthalten ist, aktiviert werden. → [4]

Andere verstehen heißt, dass man die Muster, die ihren Begriffe zugrunde liegen, kennt und deshalb nachvollziehen kann. Philosophische Texte sind deshalb meist so schwer verständlich, weil man die Muster der verwendeten Begriffe nicht kennt und sie auch nicht aus praktischen Erfahrungen ableiten kann. Über die transzendente Welt kann nur spekuliert werden, weil alle Begriffe ihre Muster aus praktischen Erfahrungen herleiten.

Hoch entwickelte Sprachen besitzen viele Begriffe, bei denen ein direkter Bezug zu Gegenständen oder Bewegungen fehlt. Dazu zählen z. B. Begriffe wie Vernunft, Gerechtigkeit, Wahrheit, Freiheit, Geist, Seele, Bewusstsein u. v. m. Solchen Begriffen ist gemeinsam, dass sie nicht exakt definiert werden können, weil sie eingeführt wurden, um damit eine bestimmte individuelle Erfahrung zu bezeichnen. Ihre Bedeutung ist davon abhängig, welche Funktion diesen Begriffen innerhalb einer bestimmten historischen Lebensweise und einem theoretischem Weltverständnis gegeben wurde. Diese Begriffe lassen sich als abstrakte Allgemeinbegriffe kennzeichnen, da sie nur das Wesentliche an individuellen Erfahrungen festhalten. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich nicht auf spontan gebildete Muster wie bei konkreten Gegenständen und Handlungsweisen zurückführen lassen, sondern dass ihre Bedeutung auf sprachlichemn Wege von sozialen Autoritäten weitergegeben werden muss. Da sie sich auf komplexe theoretische Zusammenhänge beziehen, haben sie einen holistischen Charakter. Es darf aber nicht übersehen werden, dass es sich bei den abstrakten Allgemeinbegriffen um Hilfsbegriffe handelt, die für das Handeln nicht benötigt werden und die primär im Bereich des abstrakten Denkens, insbesondere in der Religion und Philosophie zuhause sind. Aus den abstrakten Allgemeinbegriffen darf nicht auf das Wesen der Sprache geschlossen werden. Insofern ist es irreführend, wenn Charles Taylor den holistischen Charakter Sprache am Beispiel des abstrakten Allgemeinbegriffs Dreieck veranschaulicht (S. 40).

Sprechen besteht darin, dass unbewusste gebildete Gedanken verbal ausgedrückt werden. Die Sprache kommt also erst ins Spiel, wenn Gedanken mitteilbar gemacht werden sollen. Sprache wird verstanden, wenn der andere die Muster kennt, die benutzt werden. Menschen mit ähnlichen praktischen Erfahrungen verstehen sich, weil sie einen gemeinsamen Grundbestand an Mustern haben.

Die Auffassung, dass das Denken nur mit Hilfe der Sprache möglich sei, konnte entstehen, weil die Menschen von Anfang an darauf trainiert werden, ihre Gedanken sofort zu artikulieren. Deshalb spürt man nicht mehr die Differenz zwischen den Gedanken und ihrer sprachlichen Artikulation. Alle Weisheitslehren, die auffordern, in sich hinein zu hören oder sich in den Gesamteindruck zu vertiefen, basieren darauf, dass man skeptisch gegenüber den eigenen Verbalisierungen sein muss, da nicht gewährleistet ist, dass die Gedanken in der spontanen Artikulation exakt wiedergegeben werden.

4. Werden Gefühle durch Begriff verändert?

Ebenso wie bei den abstrakten Allgemeinbegriffen haben sich die Menschen auch bei den Begriffen für Gefühle bisher immer schwer getan, ihre Bedeutung zu bestimmen. Das hängt damit zusammen, dass die Gefühle keine objektiv fassbaren Eigenschaften wie Gegenstände haben. Immerhin sind die sogenannten Basisgefühle wie Wut, Angst, Freude, Trauer mit typischen physiologischen Begleiterscheinungen (Herz- und Atemrhythmus) verbunden. → [5] Deshalb konnten für sie Begriffe gewählt werden, die von allen Menschen als relativ gleichartig erlebt werden. Schwierig wird die Definition für die Vielzahl der anderen Gefühle, die als innere seelische Zustände begriffen werden, weil sie keine klar erkennbaren körperlichen Symptome aufweisen. Da diese seelischen Zustände unfassbar sind, entziehen sie sich einer begrifflichen Definition. Deshalb vertritt Taylor die Auffassung, dass die Gefühle erst durch ihre begriffliche Benennung hervorgebracht werden und dass die sprachlichen Ausdrücke die Bedeutung in eine neue Richtung ablenken. Die Gefühle der Freude, Empörung und Reue seien ein Produkt ihrer sprachlichen Artikulation (S. 359). Vor allem die Gefühle bestärken Taylor in seiner Überzeugung, dass die Sprache eine konstitutive Kraft hat.

Wenn in einer Lebensgemeinschaft bei den Basisgefühlen ein breiter Konsens über ihre Bedeutung besteht, hängt das damit zusammen, dass die physiologischen Begleiterscheinungen mit bestimmten Handlungsimpulsen verbunden sind. So drängt die Wut dazu, sich zur Wehr zu setzen, die Angst, zu fliehen, die Reue, eine Verletzung wiedergutzumachen, die Trauer, einen Verlust zu verarbeiten. Viele Psychologen vertreten die Auffassung, dass die Handlungsimpulse die eigentliche Funktion der Gefühle sind. Die Gefühle erleichtern das Überleben, da sie die Richtung vorgeben, wie am besten zu handeln ist. Da die Gefühle lernfähig sind, gehen in sie alle Erfahrungen mit ein, wie bestimmte Probleme gut zu bewältigen sind.

Die Theorie der Handlungsimpulse ist umstritten, weil bei vielen Gefühlen wie z.B. beim Neid, beim Ärger oder bei der Eifersucht keine Handlungsimpulse nachzuweisen sind. Das hängt vermutlich damit zusammen, dass die Menschen die einzigartige Fähigkeit haben, ihre Handlungsimpulse völlig zu blockieren. Aus blockierten Gefühlen entstehen neue Gefühle, die bei anderen Säugetieren nicht zu beobachten sind. Wenn Wut blockiert wird, entsteht Ärger, aus Hass wird Eifersucht, aus Angst vor Strafe entstehen Schuldgefühle. Insofern muss bei allen Gefühlen, die keine Handlungsimpulse haben, vermutet werden, dass sie mit dem Impuls verbunden sind, nicht zu handeln, obwohl eigentlich gehandelt werden müsste. Insofern muss davon ausgegangen werden, dass allen Gefühlen ein physiologisches Fundament zugrunde liegt.

Der Eindruck des Sprachholismus konnte vermutlich deshalb entstehen, da alle Gefühle mit kulturell bedingten Vorstellungen verbunden sind, die festlegen, auf welche Weise z. B. ein Verlust zu betrauern ist. Es wäre aber falsch zu behaupten, dass die Begriffe die Gefühle in eine neue Richtung drängen. Vielmehr werden bloß die kulturell bedingten Bedeutungen aktualisiert, wenn ein Gefühlszustand unter einen Begriff subsumiert wird.

Bei den Gefühlen treten allerdings erhebliche Probleme auf, wenn versucht wird, Gefühlszustände mit abstrakten Begriffen wie Integrität, Sinn, Gleichgewicht, Aufrichtigkeit, Kohärenz oder Authentizität u. Ä. zu begreifen. Wie die oben erwähnten abstrakten Allgemeinbegriffe sind solche abstrakten Begriffe Bestandteile von psychologischen Theorien, die bestimmen, wie die Gefühle zu verstehen und mit ihnen umzugehen ist. Sie können deshalb nur auf dem Hintergrund ihrer konstituierenden Theorien verstanden werden. Insofern verleiten solche Begriffe zum Sprachholismus. Dem muss entgegengehalten werden, dass alle Gefühle ihre Grundbedeutung primär von den Handlungsimpulsen erhalten und dass die kulturell bedingten Bedeutungen lediglich die Mittel vorgeben, wie die Handlungsimpulse umgesetzt werden.

Normalerweise überlässt man sich beim Handeln seinen Gefühlen. Ob man flieht oder sich zur Wehr setzt, wird außerhalb des Bewusstseins – bestärkt durch frühere Erfahrungen – entschieden. Wenn die Gefühle als diffus erlebt werden, hängt dies stets damit zusammen, dass man unsicher ist, in welche Richtung gehandelt werden soll. Sobald ein sinnvoller Weg des Handelns erkannt wird, stellt sich ein klares Gefühl ein und kann entschlossen gehandelt werden.

Über Gefühle nachzudenken, heißt zu klären, wie man auf Erfahrungen der Verletzung, der Kränkung oder des Verlustes handelnd reagieren soll. Sind meine bisherigen Reaktionsmuster angemessen? Ist es z. B. angemessen, sich stets als Opfer zu erleben? Aus dieser Sicht ist die Auffassung, dass sprachliche Ausdrücke den Gefühlen ihre Bedeutung geben, als irrig zurückzuweisen. Gerade beim Denken über die Gefühle wird deutlich, dass das Denken nichts mit Sprache, sondern ausschließlich mit dem Handeln zu tun hat. Das Denken kommt in Gang, weil die üblichen Reaktionsgewohnheiten versagen und neue Verhaltensweisen gesucht werden müssen.

5. Erschließt die Sprache die Moral?

Taylor vertritt die Auffassung, dass die Sprache die Moral erschließt. Er vermittelt den Eindruck, dass die Moral erst mit der Sprache entstanden ist. Diese Auffassung widerspricht der Erfahrung. Kleine Kinder reagieren moralisch, bevor sie die Sprache beherrschen und die moralischen Regeln kennen. Auch bei den Erwachsenen ist zu beobachten, dass das moralische Handeln weitgehend nach gelernten Gewohnheiten und moralischen Intuitionen erfolgt. Dass moralische Entscheidungen bewusst auf der Basis von moralischen Prinzipien getroffen werden, ist der absolute Ausnahmefall. Wenn man mit neuartigen Problemen konfrontiert wird, kann bei moralischen Prinzipien Hilfe gesucht erden. Aber dies gelingt in der Regel nicht, da sich die allgemeinen, abstrakten Prinzipien nicht bruchlos auf konkrete Fälle anwenden lassen.

Moralische Intuitionen haben eine gewisse Ähnlichkeit mit den Gefühlen. Sie zeigen auf der vorsprachlichen Ebene an, wie gehandelt werden sollte. Wenn man unsicher ist, bedeutet dies, dass man unter dem Druck von ungelösten seelischen Konflikten steht. Die psychologische Analyse legt regelmäßig offen, dass solche Unsicherheiten damit zusammenhängen, dass man sich symbiotisch an den Erwartungen von anderen orientiert, aber das Gefühl nicht verdrängen kann, dass man sich eigentlich nach seinen eigenen Bedürfnissen richten sollte.

Gemäß der Gewohnheitstheorie der Moral besteht moralisches Handeln darin, dass sich die moralischen Handlungsimpulse spontan einstellen. Es ist ein Irrtum, dass die moralischen Handlungsimpulse durch bewusstes Nachdenken mit Hilfe von moralischen Prinzipien ersetzt werden können. Insofern existiert die Sphäre der Moral bereits auf der vorsprachlichen Ebene. Wer keine moralischen Handlungsgewohnheiten gelernt hat, wird sich allenfalls aus Angst vor Strafen oder opportunistisch moralisch verhalten.

Moralische Regeln entstehen erst, wenn über die moralischen Verhaltensgewohnheiten nachgedacht wird. Dann fällt auf, dass den Verhaltensgewohnheiten gewisse Regeln oder Werte zugrunde zu liegen scheinen. Moralische Regeln und Werte sind demnach bloße Abstraktionsprodukte.

Es trifft zu, dass es ohne die Sprache keine Möglichkeit geben würde, sich der dem Handeln zugrunde liegenden Regeln zu vergewissern und sie reflexiv zu verändern. Ebenso wenig würde es die philosophischen moralischen Prinzipien geben. Das verändert aber nichts daran, dass die Moral ihre eigentliche Wirksamkeit auf der vorsprachlichen Ebene ausübt. Moral besteht nicht darin, dass die moralischen Regeln aus bewusster Entscheidung heraus angewandt werden, sondern dass man aufgrund von Handlungsgewohnheiten spontan moralisch handelt.

Über moralische Probleme nachzudenken, heißt nicht, moralische Prinzipien anzuwenden, sondern zu klären, welche Handlungsalternativen problemgerecht sind. Moralisches Denken ist das virtuelle Ausprobieren von Alternativen. Anhand von intuitiven Rückmeldungen wird gespürt, welche Alternative als günstig erscheint. Die moralischen Verhaltensgewohnheiten werden spontan verändert, wenn sie sich nicht mehr als angemessen erweisen.

Wer die These des Sprachholismus vertritt, neigt zu der Auffassung, dass die moralischen Werte objektiv vorgegeben sind. So behauptet Taylor, dass die Motivation des moralischen Handeln auf der Einsicht in das Gute beruht und die moralischen Intuitionen einen tieferen Grund haben, der letztlich nicht geklärt werden kann. Es gibt nach seiner Auffassung das intrinsisch Richtige (S. 126).

Wie oben bereits dargestellt wurde, basieren moralische Intuitionen auf Erfahrungen, wie typische menschliche Konflikte optimal gelöst wurden. Die Basis der Intuitionen sind individuelle Erfahrungen. Solche ethischen Überzeugungen können durchaus »einen auf das Ganze abhebenden Charakter« haben, weil sie aus der Gesamtheit der persönlichen Erfahrungen hervorgehen. Schließlich gehen sie aus der vorsprachlichen Lebensweise hervor. Daraus darf aber nicht geschlossen werden, dass der ganzheitliche Charakter etwas mit der Sprache zu tun hat. Werte werden nicht erst durch die Sprache erschlossen (S. 475), sondern werden lediglich aus dem konkreten Verhalten herausdestilliert und als abstrakte Größen verbal fixiert.

6. Fazit

Diese Überlegungen zur Funktion der Sprache beim Sprechen, Fühlen und moralischen Handeln zeigen, dass die Sprache durchaus im Sinne der Sprachlehren von Hobbes, Locke und Condillac, die Taylor als Bezeichnungstheorien bezeichnet und mit dem Begriff des Bedeutungsatomismus abwertet, als instrumentell verstanden werden kann. Wenn bei der Verwendung von abstrakten Begriffen ein holistischer Eindruck entsteht, beruht dies auf einem Missverständnis. Die ganzheitlichen Zusammenhänge werden von dem vorsprachlichen Vorverständnis hergestellt, das aller Sprache zugrunde liegt. Es wird irrtümlicherweise auf die Sprache projiziert. Sprache macht keine neuen Bedeutungen zugänglich, sondern hebt lediglich hervor, was auf der vorsprachlichen Ebene in den Fokus gerückt wurde.

1 Begriff und Wort werden hier als synonym verwendet. 2 Vgl. die ausführliche Darstellung der Mustertheorie der Begriffe in meinem Buch Wie Denken funktioniert. 3 Neubeck,Klaus: Wie Denken funktioniert, München 2017 4 In meinem Buch Wie Denken funktioniert wird nachgewiesen, dass auch das abstrakte Denken als ein virtuelles Handeln verstanden werden kann. 5 Die Unterscheidung zwischen Emotionen und Gefühlen wird hier um der Kürze des Textes willen ausgeklammert.