Philosophie der Muster    Aufsatz "Ich"

Die Kontrollillusion des Ich (2017)

Thesen zu meinem Buch Wie Denken funktioniert

Das Ich scheint immer noch zu den »heiligen Kühen« zu gehören, die bisher weitgehend von der philosophischen Kritik verschont geblieben sind. Dennoch gibt es viele Gründe, die für die These sprechen, dass das Ich eine Fiktion ist, die unter sozialen Lebensbedingungen entstanden ist, die mit großen Unsicherheiten und Bedürfnisverletzungen verbunden sind. Das Ich rechtfertigt eine bestimmte Einstellung zum Leben. Alternative Modelle des Lebens, die mehr Zufriedenheit und Ausgeglichenheit gewähren, geraten in Vergessenheit.

Verdankt sich das Ich dem gestiegenen Bedürfnis nach Kontrolle des eigenen Lebens? Diese Frage liegt nahe, da das Ich historisch erst in der Phase der Aufklärung, also relativ spät in den allgemeinen Sprachgebrauch aufgenommen wurde.

1. Das Ich als Produkt der Sprache

Viele Sprachen kamen lange Zeit ohne das Pronomen ich aus. Um auf einen bestimmten Akteur zu verweisen, wird die Flexion der verwendeten Verben verwendet. Wenn später zusätzlich das Pronomen ich eingeführt wurde, um den Akteur hervorzuheben, wurde es regelmäßig mit bereits bestehenden Begriffen bezeichnet. Interessanterweise wird z.B. in der indonesischen Sprache dafür der Begriff des Sklaven und Dieners verwendet. Offensichtlich sollte damit zum Ausdruck gebracht werden, dass man selbst dann, wenn man sich mit dem Pronomen ich als Urheber einer Handlung hervorhebt, nach wie vor ein Diener der Gruppe ist. In Sprachen ohne das Pronomen ich kann es auch kein Ich als Substantiv geben.

Es scheint noch nicht geklärt zu sein, wann in den indogermanischen Sprachen das Substantiv Ich aufgekommen ist. Manche Philosophen meinen, dass das Ich erst von Meister Eckart im 13. Jh. eingeführt worden ist. Größere Bedeutung hat es in der philosophischen Fachsprache erst durch Descartes im 17. Jh. erhalten. Fritz Breithaupt vertritt die Auffassung, dass das Ich erst in dem letzten Drittel des 18. Jh. in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen ist. → [1]

Ohne Zweifel ist das deutsche Ich erst durch die Substantivierung des Pronomens ich entstanden. Nirgends ist eine Substanz oder Instanz auszumachen, die die Grundlage des Ich sein könnte. Auch die Hirnforschung ist bei der Suche nach dem Ich nicht fündig geworden.

Das Ich als Substantiv verdankt sich dem seit Aristoteles vorherrschenden Denkmuster, dass alle Verben ein Subjekt brauchen. Ansonsten wird ein Satz als unvollständig empfunden. Da alle Begriffe auf etwas in der Realität verweisen, wird intuitiv angenommen, dass auch dem neu gebildeten Begriff Ich etwas Reales entspricht. Wie bei allen abstrakten Allgemeinbegriffen wie Geist, Seele, Vernunft, Wahrheit u.Ä. wird bald vergessen, dass es ursprünglich nur ein Kunstbegriff war, mit dem Erfahrungen bezeichnet werden sollte, für die man keine eindeutigen Begriffe bilden kann, weil man nicht auf sie direkt zeigen kann.

Die empirische Grundlage für das Ich war sicherlich, dass man sich beim Denken und Handeln als eine unteilbare Einheit, also als ein Individuum erfährt. Häufig wird auch von dem Gefühl der Identität gesprochen, weil im Handeln alle Fähigkeiten auf ein Ziel fokussiert werden. Es ist aber keineswegs zwingend, aus dieser Selbstwahrnehmung die Existenz eines Ich abzuleiten. Genauso gut kann dies mit der Seele oder dem Geist erklärt werden, wie dies die Kulturgeschichte zeigt. Es müssen bestimmte soziale Bedingungen hinzukommen, damit der Bedarf an einem Ich überhaupt entstehen kann.

2. Die Funktion des Ich

Warum das Ich historisch so relativ spät entstanden ist, hängt vermutlich mit sozial-strukturellen Veränderungen zusammen. Da die Geschichte des Ich noch nicht geschrieben wurde, können hier nur einige Spekulationen vorgenommen werden. Sie gehen von der Grundannahme aus, dass das Ich historisch eine bestimmte Funktion übernommen hat, die in früheren historischen Phasen nicht benötigt wurde.

Die Übernahme des philosophischen Fachbegriffs in die Umgangssprache fand sicherlich nicht zufällig in der Phase der Aufklärung statt. Die intensive Kritik an der Religion hatte die religiöse Überzeugung, dass das Leben von Gott bzw. den Göttern gelenkt wird, infrage gestellt und den Anspruch aufgestellt, dass man sich selbst bestimmen kann und soll. In dieser Zeit wurde das lateinische Sprichwort »Sapere aude« von Immanuel Kant (1784) wiederentdeckt und mit »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!« übersetzt. Gleichzeitig wurden zunehmend alle gesellschaftlichen Regeln (z. B. Zunftschranken, feudale Ordnung) aufgelöst, die das Handeln des Einzelnen in der Vergangenheit sehr stark eingezäunt hatten. Die gewaltigen Veränderungen im ökonomischen Leben seit Beginn der industriellen Revolution Ende des 18. Jh. haben den Einzelnen einer nie dagewesenen Konkurrenz ausgesetzt. Um im Wettbewerb zu überleben, muss die frühere Empathie mit anderen Menschen eingeschränkt werden. Man musste sich auf seine eigenen Interessen konzentrieren und sich gegebenenfalls über die Interessen der anderen hinwegsetzen. Es ging immer mehr die Fähigkeit verloren, sich seine Arbeitszeit selbst einzuteilen und die Qualität seiner Arbeit selbst zu bestimmen. Die Arbeit wurde immer weniger als befriedigend und sinnvoll erlebt. Der Anpassungsdruck hatte sich ohne Zweifel verstärkt.

In der neuen Konkurrenzgesellschaft musste sich jeder in stärkerem Maße als früher an den Erfordernissen des Marktes und den Erwartungen anderer Menschen orientieren. Dementsprechend gelang es immer weniger, sich an den eigenen Bedürfnissen auszurichten. Die zunehmende Außenorientierung ist mit Unsicherheit und der Angst vor Versagen und Scheitern verbunden.

Die Veränderungen in der Selbstwahrnehmung wurden dadurch verstärkt, dass man nicht mehr mit der Unterstützung durch seinen Stamm rechnen konnte, die früher jeden in Notlagen aufgefangen hatte. In den alten Stammesgesellschaften, die das soziale Leben bis zur Antike geprägt und sich danach allmählich aufgelöst haben, gab es mit Sicherheit kein Ich, weil es dort ganz selbstverständlich war, dass man nicht für sich, sondern primär für die Gruppe handelt. Da man im Notfall mit der Solidarität der Gruppe rechnen konnte, wurde das eigene Handeln freiwillig in den Dienst der Gruppe gestellt.

In der neuen historischen Situation lässt die soziale Unsicherheit das Bedürfnis nach Selbstkontrolle entstehen. Man muss jetzt für seinen sozialen Schutz selber sorgen, da er nicht mehr von der sozialen Gemeinschaft übernommen wird. Es wird ein neues mentales Zentrum benötigt, das die Funktion der Kontrolle übernehmen kann. Dafür wurde das Ich ausgewählt. Die Begriffe Seele und Geist kamen nicht mehr in Frage, weil sie zu stark mit religiösen Bedeutungen aufgeladen waren. Das Ich scheint dem Einzelnen zusätzlich die Legitimation zu geben, sich ohne Rücksicht auf die anderen für sich selbst zu sorgen.

Das Ich ist demnach mehr als eine bloße Selbstbeschreibung.→ [2] Es bezeichnet nicht nur ein geistiges Lebewesen, das sich bewusst erleben und etwas wissen und mitteilen kann. Das Ich ist auch nicht bloß das Resultat menschlicher Interaktion und Kommunikation. → [3] Es ist vielmehr ein Versuch, mit der radikalen Vereinzelung durch die Zerstörung der Stammeszugehörigkeiten zurechtzukommen und frühere Verbindlichkeiten gegenüber der Gemeinschaft aufzulösen. Nachdem die sozialen Kontrollen weggefallen sind, die das Leben des Einzelnen vorgezeichnet hatten, muss jetzt jeder sein Leben selbst führen und mit den Risiken des Lebens aus eigener Kraft fertig werden.

Das Fazit dieser Überlegungen ist, dass das Ich nicht zur natürlichen Ausstattung des Menschen gehört. Alle Behauptungen, dass das Ich vom Gehirn hervorgebracht wird oder dass sich das Ich in der Intuition aufdrängt, sind anzuzweifeln. Das Ich ist eine mentale Konstruktion, in der sich historisch veränderte Lebensbedingungen ausdrücken. Es wurde zum Zentrum der Selbstherrschaft und Selbstsorge gemacht.

3. Ich als Lebensform

Im Laufe der Zeit ist das Ich zu mehr als einer Fiktion geworden, da es eine eigene Lebensform konstituiert hat. Die mit dem Ich verbundenen Überzeugungen gestalten das gesamte soziale Zusammenleben um.

a) Das Ich ist zwangsläufig mit der Überzeugung von der Willensfreiheit des menschlichen Handelns verbunden. Demnach basiert alles Handeln auf bewussten Entscheidungen, die aus einem Abwägen von Alternativen hervorgehen.

b) Aus der Freiheit des Handelns folgt die moralische Verantwortung für das eigene Handeln. Übertretungen moralischer Normen müssen bestraft werden, da man sich aus freier Entscheidung schuldig gemacht hat.

c) Das Handeln orientiert sich einerseits an den sozialen Normen und andererseits an den eigenen Idealvorstellungen.

d) Für persönliches Versagen wird die Ursache in der eigenen Schwäche gesucht. Erfolge rechnet man sich als Verdienst an.

e) Es gilt, das wahre Ich, das häufig auch als wahres Selbst oder wahre Natur bezeichnet wird, als den inneren Wesenskern zu verwirklichen.

Die Lebensform des Ich ist im Grunde ein individualistisches Lebensmodell, das als selbstverständlich erscheint, dass man sich seiner Beschränktheit selten bewusst ist. Erst im Vergleich mit dem Lebensmodell der alten Stammesgesellschaften mit seiner starken sozialen Eingebundenheit und Absicherung werden die Einschränkungen des individualistischen Lebensmodells sichtbar.

4. Psychosomatik der Kontrolle

In der Lebensform des Ich wird im Allgemeinen angenommen, dass der Einzelne fähig ist, sich selbst zu kontrollieren. Die Kontrolle wird als eine Funktion des Ich aufgefasst. Da aber die Existenz eines Ich infrage zu stellen ist, muss angenommen werden, dass die Kontrollfähigkeit nur ein Wunschgedanke ist.

Tatsächlich zeigt die Erfahrung, dass das Verhalten nur verändert wird, wenn eine unmittelbare Notwendigkeit dazu besteht, um z.B. konkrete Verletzungen oder andere Nachteile zu vermeiden. Wenn die Nachteile erst in der Zukunft eintreten und dazu ungewiss sind, fehlt der Druck zu Verhaltensveränderungen. Das bloße Gefühl, dass etwas verändert werden müsste, ist in der Regel ohnmächtig.

Verhaltensgewohnheiten, unter denen man leidet und die man gern ändern möchte, sind als Reaktionen auf emotionale Verletzungen entstanden, die man nicht abwehren konnte. Unter dem Druck der emotionalen Verletzungen werden die Bedürfnisse, die ursprünglich befolgt wurden, deformiert. Die Art der Reaktion wird keineswegs bewusst gewählt, sondern stellt sich von selbst ein. Nach dem gleichen Muster verlaufen auch Verhaltensänderungen. Die Kraft dazu ist dann vorhanden, wenn man unter den bisherigen Verhaltensgewohnheiten leidet. Erst dann ist man bereit, die mit neuen Verhaltensmustern verbundene Unsicherheit auf sich zu nehmen.

Das Fazit dieser Überlegungen ist, dass Verhaltensänderungen nicht das Ergebnis einer bewussten Kontrolle sind, sondern sich nur dann einstellen, wenn sie von der Umwelt gefordert werden. Gedanken, Gefühle und Handlungen sind spontane Reaktionen auf gelebte Situationen. Sie werden sich nur verändern, wenn sich die Situationen selbst oder die Einstellung dazu verändern.

Die Vorstellung, sein Leben kontrollieren zu können, erweist sich als eine Fiktion. Sie basiert auf dem falschen Menschenbild, das vom bewussten rationalen Denken und Handeln ausgeht. In meinem Buch habe ich begründet, dass das Denken, Fühlen und Handeln spontan ablaufen. Das Denken wird also nicht bewusst ausgeführt. Vielmehr werden bloß die Ergebnisse des unbewussten Denkens bewusst erlebt. Ebenso wenig werden die Gefühle und das Handeln aktiv ausgeführt, sondern treten bloß ins Bewusstsein. All diese Prozesse können auch weitgehend ohne Bewusstsein ablaufen, ohne dass dadurch ihre Qualität leidet.

Dieses Konzept wird damit begründet, dass das Denken, Fühlen und Handeln durch Muster organisiert werden, die sich spontan im Kontakt mit der Realität herausbilden. Welche Muster gewählt werden, darauf hat man keinen Einfluss. So werden in Situationen, in denen man von Angst überwältigt wird, Reaktionsmuster gebildet, die später kaum noch verändert werden können. So wenig wie man sich entscheiden kann, welche Gefühle sich einstellen, so wenig kann bestimmt werden, welche Gedanken in welcher Qualität auftauchen. Das Handeln wird nicht aktiv gesteuert. Man erlebt bloß, wie es sich selbst steuert. Da die Muster des Denkens und Fühlens auf der Basis der persönlichen Erfahrungen gebildet werden, identifiziert man sich mit ihnen uneingeschränkt. So kann der falsche Eindruck entstehen, dass es eine innere Instanz (Ich, Geist, Seele, Denken u.Ä.) gibt, von der die Steuerung ausgeht. Selbstbestimmung basiert auf einer Selbsttäuschung.

Diese Überlegungen basieren auf der biologischen Theorie der Selbstorganisation. Demnach laufen alle physiologischen Prozesse (Kreislauf, Atmung, Nervensystem, Verdauung u.a.) selbsttätig, also ohne einem zentralen Dirigenten ab. Es wird im Buch nachgewiesen, dass dies auch für die emotionalen und mentalen Prozesse anzunehmen ist.

Auch das Handeln im Kontrollmodus ist selbstorganisiertes Handeln. Da die Kontrolle grundsätzlich nicht gelingen kann, produziert die Kontrollillusion Enttäuschungen. Auch die von Psycho-Gurus proklamierten Patentrezepte wie Positives Denken, Achtsamkeit, Meditation u.Ä. können nichts daran ändern.

5. Nachteile des Ich

Für die Überzeugung, sein Verhalten jederzeit verändern zu können, muss ein hoher Preis bezahlt werden.

a) Die Überzeugung, dass sich jeder für eine von mehreren Alternativen entscheiden könne, führt zwangsläufig dazu, dass die vielfältigen Einflüsse, die das Handeln bestimmen, ausgeblendet werden. Dadurch wird eine Fixierung auf das eigene Ich begünstigt. Sie lässt es als berechtigt erscheinen, von den eigenen Interessen auszugehen und die Interessen der Partner zu vernachlässigen. Dadurch wird die Sensibilität für die Bedürfnisse der anderen geschwächt. Es gelingt nicht mehr, das eigene Verhalten mit dem der anderen ausreichend abzustimmen. Durch den Mangel an Empathie wird der Zusammenhalt der Gesellschaft geschwächt. Der Preis sind Konflikte und emotionale Verletzungen.

In meinem Buch wird begründet, dass die Kategorie der Freiheit bei der Erklärung des Handelns irreführend ist. → [4] Da das Handeln nach gelernten Verhaltensmustern organisiert wird, kann man in einer gegebenen Handlungssituation nicht anders handeln, als wie es von den Verhaltensmustern vorgegeben wird. Selbst wenn man sich Alternativen überlegen würde, wird die Entscheidung entsprechend der mit den gelernten Verhaltensmustern verbundenen Präferenzen vorgenommen. Wie unten gezeigt wird, kann nur versucht werden, das zukünftige Handeln in eine andere Richtung zu lenken.

b) Die Überzeugung, dass jeder für die Übertretung von sozialen Normen verantwortlich sind, lässt deren Bestrafung als gerechtfertigt erscheinen. In der Regel wird aber das damit verbundene Ziel, künftige Übertretungen zu verhindern, nicht erreicht. Strafen haben den Nachteil, dass sie meistens als ungerecht empfunden werden und den Impuls zur Rache entstehen lassen. Strafen vergiften so die sozialen Beziehungen. Die einzig sinnvolle Alternative zur Strafe ist der Versuch, mit Hilfe von Nacherziehung und Therapie die gelernten destruktiven Verhaltensmuster durch soziale verträgliche Verhaltensmuster zu ersetzen. Noch besser wäre es natürlich, für Lebensbedingungen zu sorgen, unter denen keine sozial schädlichen Verhaltensgewohnheiten entstehen können.

c) Die Überzeugung, dass man sich in seinen Entscheidungen auf seine eigenen Idealvorstellungen und vernünftigen Grundsätze stützt, hat den Nachteil, dass man sich allzu leicht über seine Bedürfnisse hinwegsetzt. Denn die Idealvorstellungen werden in der Regel von Autoritätspersonen übernommen, ohne dass geprüft wird, ob sie mit den eigenen Bedürfnissen verträglich sind. Idealvorstellungen führen zur selbst gewählten Fremdbestimmung. Erst wenn man sich auf seine eigenen Bedürfnisse besinnt, kann es zu authentischem Handeln kommen.

d) Die Überzeugung der Handlungsfreiheit führt dazu, dass persönliches Versagen als eigenes Verschulden verstanden wird. Damit macht man sich für etwas verantwortlich, das in erster Linie auf widrige Umstände zurückzuführen ist. Man neigt dazu, sich Vorwürfe zu machen, zu kritisieren und unter Druck zu setzen. Man macht sich unzufrieden und unglücklich, obwohl man aufgrund seiner gelernten Verhaltensmuster nicht anders handeln konnte. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass man sich durch Selbstkritik verändern kann.

Umgekehrt schreibt man alle Erfolge dem eigenen Verdienst zu und lehnt es ab, die eigenen Einnahmen mit anderen zu teilen. Es wird übersehen, dass sich die Erfolge der Förderung durch andere Menschen und günstigen Umständen verdanken. Alle Versuche, die ökonomischen Ungleichheiten unten den Menschen mit dem Privateigentum, der eigenen Begabung oder den eigenen Anstrengungen und Fleiß zu rechtfertigen, erscheinen nur deshalb als plausibel, weil das Ich die soziale Verbundenheit mit allen Mitmenschen ignorieren lässt. Das Ich macht blind für die soziale Prägung des eigenen Handelns.

e) Die Überzeugung, dass das wahre Ich zu verwirklichen ist, gründet in obsoletem metaphysischen Denken. Das wahre Ich ist bloß eine Metapher für die ursprünglichen Bedürfnisse, die unter dem Druck von Anpassung und emotionalen Verletzungen deformiert wurden. Es bewirkt, dass die eigentliche Aufgabe nicht aufgegriffen wird, einen Ausgleich zwischen den eigenen Bedürfnissen und den gesellschaftlichen Anforderungen zu finden. Unter einschränkenden Lebensbedingungen ist es erforderlich, sich der Differenz bewusst zu sein. Nur dann kann ein akzeptabler Kompromiss gefunden werden.

Es zeigt sich, dass das Ich im praktischen Handeln nicht benötigt wird. Es dient allein der Rechtfertigung von problematischen Verhaltensweisen, die das individualistische Lebensmodell entstehen lässt.

6. Sich-führen-lassen

Die Alternative zum Modell des Ich mit seinem Anspruch, das Leben zu kontrollieren, ist das Modell des Sich-führen-Lassens. Dieses Lebensmodell drückt sich in folgenden Formeln aus: auf die innere Stimme hören, dem Herzen folgen, im Einklang mit dem wahren Selbst leben, der Intuition vertrauen u.a. Diese Formeln fordern indirekt dazu auf, sich von Kräften führen zu lassen, auf die das Denken und das Ich keinen direkten Einfluss nehmen können. Sich-führen-Lassen heißt, auf jegliche Kontrolle zu verzichten.

Die erwähnten Formulierungen, die für das Modell des Sich-führen-Lassens verwendet werden, zeigen, dass es sehr schwierig ist, das alternative Lebensmodell der Nicht-Kontrolle exakt zu umschreiben. Das liegt sicherlich daran, dass die Sprache nur die Polarität von aktiv und passiv kennt und deshalb bei einem Handeln versagen muss, dass sowohl aktive als auch passive Elemente enthält. Denn das Sich-Führen-lassen ist kein rein passives Getrieben-Werden. Man lässt sich von seinen Handlungsimpulsen führen, weil in ihnen alle persönlichen Erfahrungen enthalten sind. Deshalb fühlt man sich am meisten authentisch, wenn man sich in Aktivitäten versenkt und sich gerade nicht auf das Ich fokussiert. Im Taoismus wurde deshalb für das Sich-führen-Lassen die paradoxe Formel des Nicht-Handelns gewählt. Der Einzelne handelt aktiv, ohne sich bewusst für sein Handeln zu entscheiden.

Im Modell des Sich-führen-Lassens wird das Handeln nicht von den Erwartungen anderer Menschen, sondern von den eigenen Bedürfnissen angestoßen. Alle Bedürfnisse, die ins Bewusstsein drängen und ein bestimmtes Handeln anregen, werden uneingeschränkt bejaht. Das gilt auch für die Bedürfnisse, die eigentlich innerlich abgelehnt werden. Jeder Versuch, dagegen anzukämpfen oder sie umzuformen, unterbleibt. Auch Impulse, die eigentlich gegen die eigenen Ideale verstoßen, werden akzeptiert. Man identifiziert sich mit den Handlungsimpulsen, weil sie als Ausdruck aller bisher gesammelten Erfahrungen verstanden werden. Beim Befolgen der eigenen Impulse hat man zu Recht den Eindruck, der aktive Urheber des Geschehens zu sein.

In der Regel findet vor dem Handeln keine bewusste Überlegung statt, wie gehandelt werden soll. Dazu kommt es nur in ungewohnten Situationen, in denen nicht auf bewährte Handlungsmuster zurückgegriffen werden kann. Zu einem Handlungsimpuls kann es erst dann kommen, wenn ausreichende Informationen für die Beurteilung der Situation gesammelt wurden.

Ein aktives Moment kommt ins Spiel, wenn man sich nach beendeter Handlung mit ihr bewusst auseinandersetzt. Jede Handlung wird mit einem »Gefühl« abgeschlossen, ob das angestrebte Ziel voll und ganz, nur zum Teil oder gar nicht erreicht wurde. In der Regel wird diese Gefühl nur bei eklatantem Versagen aufgegriffen, so dass bei verminderter Effizienz der Impuls, die eigenen Handlungsmuster im Hinblick auf künftig ähnliche Fälle zu überprüfen, nicht genutzt wird. Optimales Handeln besteht darin, dass jede Handlung daraufhin überprüft wird, ob sie zur vollen Befriedigung des angestrebten Zieles geführt hat. Dabei wird deutlich, wie das Verhalten künftig verbessert werden könnte. Die Selbstreflektion des Handelns ist ein ständiger Lernprozess zu seiner Optimierung. Den eigenen Impulsen kann vorbehaltlos vertraut werden.

Wenn die Selbstreflektion unterbleibt, kommt es zur starren Fixierung auf die eigenen Gewohnheiten, die aus Angst vor Sanktionen gebildet wurden. Man leidet mehr oder weniger darunter, dass man auf eine Weise handelt, die eigentlich abgelehnt wird. Man orientiert sich nicht mehr an den eigenen Bedürfnissen, sondern an den Erwartungen anderer Menschen. Ein Sich-führen-Lassen, mit dem sich identifizieren kann, wird nur gelingen, wenn die Gewohnheiten lernfähig bleiben.

Das Modell des Sich-führen-Lassens hat historisch seinen stärksten Ausdruck in den Religionen gefunden. Alle Religionen eint die Überzeugung, dass das Verhalten des Einzelnen von Gott bzw. den Göttern gelenkt wird. Es wird verlangt, alle Schicksalsschläge als gottgewollt zu akzeptieren. Sicherlich war diese Grundhaltung der Akzeptanz in den Stammesgesellschaften, die vor der Entstehung des Monotheismus existierten, dominant. Sie überlebt in der esoterischen Empfehlung, sich selbst einschließlich aller negativen Eigenschaften bedingungslos zu akzeptieren.

Im Grunde ist alles Handeln ein Sich-führen-Lassen. Der Begriff des Kontrollmodus soll lediglich deutlich machen, dass das Handeln mit Unzufriedenheit, Schuldgefühlen und Angst verbunden sein kann, wenn man sich den Erwartungen der anderen unterwirft und seine ursprünglichen Bedürfnisse unterdrückt.

7. Transzendierung des Ich

Die Transzendierung des Ich kann nicht durch einen bewussten Akt vorgenommen werden. Da das Ich in einer komplexen Lebensform wurzelt, die von dem Bedürfnis beseelt ist, das Leben zu kontrollieren, setzt seine Überwindung voraus, dass alle Ängste aufgelöst werden, die zur Anpassung an die Erwartungen anderer und zur Fixierung auf starre Gewohnheiten geführt haben. Sich-führen-Lassen verlangt, seine Ängste zu bewältigen und sich auf seine ursprünglichen Bedürfnisse zu besinnen. Dann stellt sich das Sich-führen-Lassen wie von selbst ein und die Kontrollillusion verflüchtigt sich.

Der erste Schritt zur Transzendierung des Ich besteht in der theoretischen Überzeugung, dass das Ich ein mentales Konstrukt ist und keine Substanz hat. Dazu gehört die Einsicht, dass die Kategorie der Freiheit für die Analyse des Handelns nicht benötigt wird und ein Scheinproblem ist.

Der zweite Schritt besteht darin, dass man sich bewusst wird, welche Bedürfnisse im eigenen Handeln zu kurz kommen und wie das Handeln verändert werden müsste, um die Defizite zu beseitigen.

Der dritte und entscheidende Schritt verlangt, dass die sozialen Lebensbedingungen so verändert werden müssen, dass der Zwang zur Außenorientierung gelockert wird. Man muss sich ohne Angst vor Sanktionen an seinen Bedürfnissen orientieren können. In einer Gesellschaft, die die Angst zum alltäglichen Begleiter macht, kann des Lebensmodell des Sich-führen-Lassens keine Wurzeln fassen.

Die Transzendierung des Ich ist keine theoretische, sondern eine praktische Aufgabe. Den theoretischen Einsichten müssen modifizierte Handlungen folgen. Der Umgang mit sich selbst muss vom Kontrollmodus in den Loslassenmodus wechseln.


1 Breithaupt, Fritz: Kulturen der Empathie, Frankfurt/M. 2009 2 Gabriel, Markus: Ich ist nicht Gehirn. Philosophie des Geistes für das 21. Jahrhundert, Berlin 2015, S. 261 3 Rifkin, Jeremy: Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein, Frankfurt am Main 2010, S. 403 4 Neubeck, Klaus: Wie Denken funktioniert, München 2017, Kap. 2.6